Frischzelle_26: André Wischnewski
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Wischnewski hat die Raumzeichnungen als räumliche Weiterführung seiner Messerschnitte
ent wickelt (bspw. silence, Soundpiece 1, Soundbook 1, Abb. S. 12, 30, 32/33), die ebenfalls in der Ausstellung
gezeigt werden. Ihr Ausgangsmaterial sind auch Comichefte, aus denen der Künstler die
fort aufende Handlung herausschneidet und das beim Lesen eines Comics gewöhnlich nicht beachtete
Gerüst von Rahmungen und genretypischen Lautmalereien freilegt. Durch diese Reduktion
zeigt er den Comic als reines Medium, verdeutlicht dessen grundlegende Charakteristika und
macht Wesensmerkmale transparent, die sonst nicht beachtet würden: Mit dieser Geste gestaltet
er einen Comic, der spricht, ohne etwas zu sagen.
Der Künstler erweitert die Messerschnitte in den Raum und verstärkt dadurch den Eindruck
reiner Medialität, da er damit die Materialität der Konturen noch eindrücklicher herausarbeitet
und den äußeren wie inneren visuellen Sinn der Betrachter_innen sowie deren ganzheitliche
Wahrnehmung adressiert.
Dabei überträgt er den Messerschnitt nicht nur vom zweidimensionalen Format der Buchseite
in dreidimensionale Plastik, sondern in vielen seiner Arbeiten auch in räumliche Anordnungen.
Damit verändert er die Situation der Betrachter_innen auf entscheidende Weise. Können diese ein
zweidimensionales Bild oder auch eine dreidimensionale Plastik aus sicherer Distanz betrachten
und ästhetisch beurteilen, kehrt die Raumzeichnung die Blickverhältnisse diametral um: In der
Installation befinden sich die Betrachter_innen nicht vor dem Kunstwerk, sondern im Kunstwerk
(in der Ausstellung eindrücklich vorgeführt in der begehbaren Raumzeichnung einer Schublade,
gefertigt aus Schwarzstahl-Rundstäben). In Wischnewsksis Comicinstallation werden die
Betrachter_innen zu Erzähler_innen von Geschichten und zugleich zu deren Darsteller_innen.
Sie erzählen nicht nur, sie werden auch erzählt.
In die Verläufe solcher Geschichten finden sich womöglich auch jene Werke integriert, die der
Künstler innerhalb oder unweit der Zwischenräume seiner Arbeiten platziert hat. So schlängelt
sich ein Zug, dessen Waggons aus rot lackierten Metallelementen bestehen, das typische Fahrgeräusch
»DokDok« buchstabierend, auf unsichtbaren Gleisen das Parkett entlang. Folgt man dem
Zug mit dem Blick, passiert man eine fantastische Stadtlandschaft aus Plexiglas und Kalkstein
sowie diverse Orte, an denen imaginäre Passagiere aussteigen und sich anhand von Landkarten
orientieren können. Auf einer Landkarte, offensichtlich von Künstlerhand manipuliert, sind
»akustische Orte« wie »Kaufrauschen« oder »Sturzbachmurmeln« eingezeichnet (Map 1, Abb. S. 28).
Aus den Überresten des Cut-Prozesses – dem Ausschneiden der Geräuschblasen – hat sich
eine weitere abstrakte Karte ergeben, die wie eine utopische Landschaft anmutet (Map 3, S. 29).
Die installative Arbeit 101967 mm and Five Characters (Abb. S. 18/19) schließt vom Titel sowie durch
den wiederholten Einsatz von Schwarzstahl-Rundstäben an die Raumzeichnung 126315 mm with
open end an. Hier erscheinen die Comicpanels noch weiter abstrahiert, zugleich verbinden sie sich
mit narrativen Elementen wie einem skurrilen Pfeifenbaum oder einem Diabas (Ergussgestein),
der Tretpedal und Keil zugleich sein könnte. Die Installation nimmt zusätzlich subjektiv-narrativ
aufgeladene Gegenstände – »objets trouvés« – des Künstlers sowie den dauerhaft an diesem
Ort des Museums installierten Gartenzwerg (1972, Abb. S. 20) von Dieter Roth in ihren surrealen
Raum auf. Dieser ist von den für Comics typischen räumlichen Stauchungen, Dehnungen, Frag
mentie rungen und Collagierungen durchzogen.
Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan hat in seinem Hauptwerk Understanding
Media (1964) 1 die Lektüre von Comics als eine der wichtigsten Einübungen in das elektronische
Zeitalter der Kommunikation beschrieben. Mit seiner maximal reduzierten Informationsdichte
provoziert der Comic – ähnlich dem mittelalterlichen Holzschnitt – die größtmögliche Partizipation
des Rezipienten, der angehalten wird, die vielen Leerstellen des karg gestalteten Informa tions
rasters visuell mit Wahrnehmungen zu füllen: »Comics […] being low in definition, are a highly
participational form of expression.« 2
McLuhans euphorischer Beschreibung der Wirkung von Comics lässt sich entgegenhalten, dass
hier doch immer nur die Einbindung einzelner, isolierter Adressat_innen aktiviert wird. Heute verbindet
man mit dem Begriff der Partizipation überwiegend eine kollektive Tätigkeit. Indem André
Wischnewski die formalen Elemente der zweidimensionalen Comicoberfläche in den dreidimensionalen
Comicinstallationsraum befördert, erfüllt er McLuhans Beschwörung der partizipativen
Kraft des Comics buchstäblich – weil er den Comic für die kollektive Teilhabe im musealen Raum
öffnet und das Medium Comic als kommunikativen Raum erschließt. Ausgestattet mit dem Blick
für die Welt als Comic, könnte so manche_r Betrachter_in den öffentlichen Raum und das Geschehen
darin fortan als Comic betrachten.
Elisabeth Kuon
1 Marshall McLuhan: Understanding Media. The extensions of man. Routledge, 1964.
2 Ebenda. S. 179. 7