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Frischzelle_26: André Wischnewski

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Wischnewski hat die Raumzeichnungen als räumliche Weiterführung seiner Messerschnitte

ent wickelt (bspw. silence, Soundpiece 1, Soundbook 1, Abb. S. 12, 30, 32/33), die ebenfalls in der Ausstellung

gezeigt werden. Ihr Ausgangsmaterial sind auch Comichefte, aus denen der Künstler die

fort aufende Handlung herausschneidet und das beim Lesen eines Comics gewöhnlich nicht beachtete

Gerüst von Rahmungen und genretypischen Lautmalereien freilegt. Durch diese Reduktion

zeigt er den Comic als reines Medium, verdeutlicht dessen grundlegende Charakteristika und

macht Wesensmerkmale transparent, die sonst nicht beachtet würden: Mit dieser Geste gestaltet

er einen Comic, der spricht, ohne etwas zu sagen.

Der Künstler erweitert die Messerschnitte in den Raum und verstärkt dadurch den Eindruck

reiner Medialität, da er damit die Materialität der Konturen noch eindrücklicher herausarbeitet

und den äußeren wie inneren visuellen Sinn der Betrachter_innen sowie deren ganzheitliche

Wahrnehmung adressiert.

Dabei überträgt er den Messerschnitt nicht nur vom zweidimensionalen Format der Buchseite

in dreidimensionale Plastik, sondern in vielen seiner Arbeiten auch in räumliche Anordnungen.

Damit verändert er die Situation der Betrachter_innen auf entscheidende Weise. Können diese ein

zweidimensionales Bild oder auch eine dreidimensionale Plastik aus sicherer Distanz betrachten

und ästhetisch beurteilen, kehrt die Raumzeichnung die Blickverhältnisse diametral um: In der

Installation befinden sich die Betrachter_innen nicht vor dem Kunstwerk, sondern im Kunstwerk

(in der Ausstellung eindrücklich vorgeführt in der begehbaren Raumzeichnung einer Schublade,

gefertigt aus Schwarzstahl-Rundstäben). In Wischnewsksis Comicinstallation werden die

Betrachter_innen zu Erzähler_innen von Geschichten und zugleich zu deren Darsteller_innen.

Sie erzählen nicht nur, sie werden auch erzählt.

In die Verläufe solcher Geschichten finden sich womöglich auch jene Werke integriert, die der

Künstler innerhalb oder unweit der Zwischenräume seiner Arbeiten platziert hat. So schlängelt

sich ein Zug, dessen Waggons aus rot lackierten Metallelementen bestehen, das typische Fahrgeräusch

»DokDok« buchstabierend, auf unsichtbaren Gleisen das Parkett entlang. Folgt man dem

Zug mit dem Blick, passiert man eine fantastische Stadtlandschaft aus Plexiglas und Kalkstein

sowie diverse Orte, an denen imaginäre Passagiere aussteigen und sich anhand von Landkarten

orientieren können. Auf einer Landkarte, offensichtlich von Künstlerhand manipuliert, sind

»akustische Orte« wie »Kaufrauschen« oder »Sturzbachmurmeln« eingezeichnet (Map 1, Abb. S. 28).

Aus den Überresten des Cut-Prozesses – dem Ausschneiden der Geräuschblasen – hat sich

eine weitere abstrakte Karte ergeben, die wie eine utopische Landschaft anmutet (Map 3, S. 29).

Die installative Arbeit 101967 mm and Five Characters (Abb. S. 18/19) schließt vom Titel sowie durch

den wiederholten Einsatz von Schwarzstahl-Rundstäben an die Raumzeichnung 126315 mm with

open end an. Hier erscheinen die Comicpanels noch weiter abstrahiert, zugleich verbinden sie sich

mit narrativen Elementen wie einem skurrilen Pfeifenbaum oder einem Diabas (Ergussgestein),

der Tretpedal und Keil zugleich sein könnte. Die Installation nimmt zusätzlich subjektiv-narrativ

aufgeladene Gegenstände – »objets trouvés« – des Künstlers sowie den dauerhaft an diesem

Ort des Museums installierten Gartenzwerg (1972, Abb. S. 20) von Dieter Roth in ihren surrealen

Raum auf. Dieser ist von den für Comics typischen räumlichen Stauchungen, Dehnungen, Frag ­

mentie rungen und Collagierungen durchzogen.

Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan hat in seinem Hauptwerk Understanding

Media (1964) 1 die Lektüre von Comics als eine der wichtigsten Einübungen in das elektronische

Zeitalter der Kommunikation beschrieben. Mit seiner maximal reduzierten Informationsdichte

provoziert der Comic – ähnlich dem mittelalterlichen Holzschnitt – die größtmögliche Partizipation

des Rezipienten, der angehalten wird, die vielen Leerstellen des karg gestalteten Informa tions ­

rasters visuell mit Wahrnehmungen zu füllen: »Comics […] being low in definition, are a highly

participational form of expression.« 2

McLuhans euphorischer Beschreibung der Wirkung von Comics lässt sich entgegenhalten, dass

hier doch immer nur die Einbindung einzelner, isolierter Adressat_innen aktiviert wird. Heute verbindet

man mit dem Begriff der Partizipation überwiegend eine kollektive Tätigkeit. Indem André

Wischnewski die formalen Elemente der zweidimensionalen Comicoberfläche in den dreidimensionalen

Comicinstallationsraum befördert, erfüllt er McLuhans Beschwörung der partizipativen

Kraft des Comics buchstäblich – weil er den Comic für die kollektive Teilhabe im musealen Raum

öffnet und das Medium Comic als kommunikativen Raum erschließt. Ausgestattet mit dem Blick

für die Welt als Comic, könnte so manche_r Betrachter_in den öffentlichen Raum und das Geschehen

darin fortan als Comic betrachten.

Elisabeth Kuon

1 Marshall McLuhan: Understanding Media. The extensions of man. Routledge, 1964.

2 Ebenda. S. 179. 7

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