ZAP-2020-01
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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
1 <strong>2020</strong><br />
6. Januar<br />
32. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />
BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />
Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />
Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />
Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />
} Mit dem <strong>ZAP</strong> Berufsrechtsreport (Deckenbrock/Markworth)<br />
Inklusive<br />
<strong>ZAP</strong> App!<br />
Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
<strong>2020</strong> – Es wird nicht langweilig! (S. 1)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Restschuldbefreiung künftig nach drei Jahren (S. 3) • EU verschärft Verbraucherschutzvorschriften (S. 4) •<br />
Änderungen beim beA (S. 5)<br />
Aufsätze<br />
Brändle, Die Rechtsmittelbeschwer im Immobilien‐ und Wohnungseigentumsrecht (S. 31)<br />
Viefhues, Basiswissen: Was der anwaltliche Berufsanfänger vom Unterhaltsrecht wissen muss (S. 43)<br />
Rödel, Rechtsschutzmöglichkeiten in kommunalabgabenrechtlichen Streitigkeiten (S. 55)<br />
Rechtsprechung<br />
BGH: Inkassodienstleistung durch Legal‐Tech‐Portal „wenigermiete.de“ (S. 25)<br />
BGH: Behindertentestament (S. 28)<br />
BAG: Eigenbeitrag zur betrieblichen Altersversorgung (S. 30)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 1–2<br />
Anwaltsmagazin – – 2–6<br />
Berufsrechtsreport – – 7–24<br />
Rechtsprechung 1 1–6 25–30<br />
Brändle, Die Rechtsmittelbeschwer im Immobilienund<br />
Wohnungseigentumsrecht 7 551–562 31–42<br />
Viefhues, Basiswissen 1: Was der anwaltliche Berufsanfänger<br />
vom Unterhaltsrecht wissen muss – materielles<br />
Recht 11 1549–1560 43–54<br />
Rödel, Rechtsschutzmöglichkeiten in kommunalabgabenrechtlichen<br />
Streitigkeiten 19 953–962 55–64<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />
Gelsenkirchen • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg • Dr. Christian Deckenbrock, Köln • RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum •<br />
Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar • RA<br />
Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • Prof. Dr. Martin<br />
Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst, Hannover/Solingen • RA Günter Lange, Haltern • PräsSG a.D. RA<br />
Dr. Klaus Louven, Geldern • Dr. David Markworth, Köln • RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann,<br />
Frankfurt/M. • RA beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />
PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Dr. Harald Schneider, Siegburg • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt<br />
Stollenwerk, Bergisch Gladbach • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RiAG a.D. Dr.<br />
Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
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(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />
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service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
<strong>2020</strong> – Es wird nicht langweilig!<br />
Beim Rückblick auf 2<strong>01</strong>9 kommt das Gefühl auf, es<br />
sei in rechtlicher Hinsicht nicht viel geschehen.<br />
Einer Phase der Stagnation im BMJV folgt seit der<br />
Amtsübernahme durch Frau Bundesministerin<br />
CHRISTINE LAMBRECHT das beherzte Anpacken einer<br />
Vielzahl von Vorhaben. Diskutiert werden neben<br />
vielen Änderungen im Netzwerkdurchsetzungsgesetz<br />
zur Bekämpfung der Hasskriminalität, in<br />
der StPO, im Inkassorecht und mit Blick auf die<br />
europäische Dimension der Digitalisierung unter<br />
dem Stichwort „E-evidence Verordnung“ Fragestellungen<br />
bei grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahmen.<br />
Viele dieser Vorhaben folgen<br />
einem berechtigten Ziel. Gleichwohl ist es notwendig,<br />
diese auch kritisch zu begleiten, um<br />
garantierte Grundsätze der Gewaltenteilung, die<br />
Wahrung grundrechtlicher und datenschutzrechtlicher<br />
Belange, insb. bei der Abgrenzung<br />
zwischen Freiheitsrechten des Einzelnen und<br />
einem staatlichen Sicherheitsbedürfnis, immer<br />
wieder in den Blick zu nehmen.<br />
Aus der Vielzahl von Gesetzesvorhaben ist die<br />
Reform der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO)<br />
von großer Bedeutung. Hierzu liegt das Eckpunktepapier<br />
vor. Die Fristen zur Stellungnahme dazu<br />
sind abgelaufen. Die Arbeiten schreiten voran. Die<br />
Reform der BRAO zielt auf eine zeitgemäße<br />
Gestaltung des Berufsrechts. Sie sieht vor, dass<br />
der Anwaltschaft zukünftig alle im In- und europäischen<br />
Ausland vorhandenen Gesellschaftsformen<br />
offenstehen sollen. Die Berufsausübung soll<br />
zukünftig mit Berufsträgern anderer Berufe zulässig<br />
sein, die der Rechtsanwalt selbst als Zweitberuf<br />
ausüben könnte. Die Einhaltung der „core values“<br />
der Anwaltschaft, insb. des Verbots der Vertretung<br />
widerstreitender Interessen, der Verschwiegenheitspflicht<br />
und der Unabhängigkeit, ist in derartigen<br />
Formen der Zusammenarbeit durch vertragliche<br />
Regelungen sicherzustellen und in der Praxis zu<br />
beachten. Der Versicherungsschutz soll dem Mandat<br />
folgen – da dieses der Berufsausübungsgesellschaft<br />
erteilt wird, soll die Berufsausübungsgemeinschaft<br />
auch Subjekt des Versicherungsschutzes<br />
werden. Und schließlich ist auch an ein elektronisches<br />
Kanzleipostfach gedacht. Vom Eckpunktepapier<br />
bis zur Verkündung im Bundesgesetzblatt ist<br />
noch ein Weg zurückzulegen. Der Wille zu einer<br />
raschen Umsetzung ist aber erkennbar.<br />
Demgegenüber hinterlässt der Blick auf die seit<br />
langem notwendige und noch immer nicht in Kraft<br />
getretene RVG-Anpassung im günstigsten Fall nur<br />
Unmut. Hier werden die Verbände nicht müde<br />
werden, die zeitnahe, dringend notwendige Umsetzung<br />
weiter beharrlich zu fordern. Eine gesetzliche<br />
Gebührenordnung, die sich nicht von ihrer<br />
Funktion entfernt, kann nicht von der Lohnentwicklung<br />
abgekoppelt werden. Sie stellt aus der Sicht<br />
des BVerfG ein Leitbild für eine in ihrer Gesamtheit<br />
auskömmliche Vergütungsregelung dar. Da das<br />
RVG die Lohnentwicklung jeweils nur nachholt<br />
und nicht vorwegnimmt, hinken die Sätze inzwischen<br />
wieder rd. 6,5 Jahre hinterher. Ein Ausweichen<br />
in Vergütungsvereinbarungen benachteiligt<br />
Teile der Anwaltschaft, da nach den vorliegenden<br />
empirischen Untersuchungen die Möglichkeit zum<br />
Abschluss von Vergütungsvereinbarungen faktisch<br />
davon abhängt, in welchem Rechtsgebiet, für<br />
welche Klientel und in welcher Region eine anwaltliche<br />
Tätigkeit entfaltet wird. Zudem sind erhebliche<br />
Unterschiede beim Abschluss von Vergütungsvereinbarungen<br />
zwischen Männern und Frauen zu<br />
beobachten – und zwar auf beiden Seiten einer<br />
Vergütungsvereinbarug. Das Gefälle zwischen Stadt<br />
und Land, Mandaten für Unternehmer oder Verbraucher,<br />
Ost und West sowie zwischen Männern<br />
und Frauen nimmt auf diese Weise zu.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 1
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Und schließlich schreitet die Digitalisierung voran.<br />
Schleswig-Holstein hat über die Opt-in-Klausel die<br />
zwingende Einreichung von bestimmenden Schriftsätzen<br />
für alle Arbeitsgerichte sowie das Landesarbeitsgericht<br />
in Schleswig-Holstein vorgeschrieben.<br />
Damit mahnt es letztlich alle Anwältinnen<br />
und Anwälte, sich nicht nur mit der seit langem<br />
bestehenden passiven Nutzungspflicht des beA zu<br />
befassen, sondern auch die aktive Nutzung in den<br />
Blick zu nehmen und sich vor der Einreichung eines<br />
Schriftsatzes zu vergewissern, ob nur noch die<br />
elektronische Einreichung zulässig ist. Zudem ist<br />
die obligatorische Nutzungspflicht bei allen Gerichten<br />
in allen Bundesländern zum 1.1.2022 nicht<br />
mehr weit. Justiz und Anwaltschaft sollten hierbei<br />
im Gespräch bleiben und die Aufgabe miteinander<br />
bewältigen. Sie ist sowohl für die Anwaltschaft als<br />
auch für die Justiz eine große Herausforderung, die<br />
es anzunehmen gilt. Die Notarinnen und Notare<br />
leben vor, dass die Digitalisierung mit großen<br />
Schritten vorangehen kann.<br />
Mit Blockchain, smartcontract und weiteren Begriffen<br />
stellen wir fest, dass die Digitalisierung<br />
nicht nur den elektronischen Rechtsverkehr und<br />
die Frage betrifft, auf welchen Wegen wir zukünftig<br />
mit den Gerichten kommunizieren und diese<br />
mit uns.<br />
Gespannt sein dürfen wir auch auf die Entwicklungen<br />
im Bereich künstlicher Intelligenz (KI). Die<br />
EU will hierzu in den ersten 100 Tagen unter der<br />
neuen Kommissionspräsidentin erste Überlegungen<br />
vorlegen. Überlegungen zum Einsatz von KI<br />
sind aber bereits heute Wirklichkeit, so z.B., wenn<br />
die Justiz Entwicklungen prüft, um unvorstellbar<br />
große Datenmengen zu sichten und zu bewältigen.<br />
Der Ausblick auf <strong>2020</strong> zeigt daher, dass neben<br />
einigen gewichtigen Gesetzesvorhaben viele alltägliche<br />
Abläufe einem Wandel unterworfen sein<br />
werden. Dem sollten wir nicht mit Unsicherheit<br />
und Angst begegnen, sondern mit Neugier und<br />
einem gleichzeitig kritischen Geist für die ethischen<br />
Grenzen des technisch Machbaren. Die Frage nach<br />
dem „Ja – aber:“ ist daher ein guter Zwischenschritt,<br />
um alle Fragen einer Veränderung zu erfassen und<br />
den Weg zu einer ausgewogenen Antwort zu<br />
finden. Und schließlich: Bei der Umsetzung in den<br />
Alltag ist keiner von uns allein. Der Austausch<br />
untereinander wird wieder wichtiger und wird sich<br />
– weniger als in der jüngsten Vergangenheit –<br />
nicht mehr vor allem auf fachliche Fragen, sondern<br />
zunehmend auf Organisationsfragen erstrecken.<br />
Ich freue mich, dass die <strong>ZAP</strong> uns hierbei ein<br />
zuverlässiger Begleiter sein wird, der die Diskussion<br />
abbildet und praktische Handreichungen liefert.<br />
Rechtsanwältin und Notarin EDITH KINDERMANN,<br />
Bremen<br />
Anwaltsmagazin<br />
Wirtschaft erwartet „Meldeflut“<br />
Am 14.11.2<strong>01</strong>9 hat der Bundestag das von der<br />
Bundesregierung vorgelegte Gesetz zur Einführung<br />
einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender<br />
Steuergestaltungen beschlossen,<br />
das nun auch vom Bundesrat gebilligt wurde.<br />
Strengere Meldevorschriften für Immobilienmakler,<br />
Notare, Goldhändler und Auktionshäuser<br />
sollen den Kampf gegen Geldwäsche und Terrorfinanzierung<br />
verbessern (s. dazu auch Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong> 5/2<strong>01</strong>9, S. 225).<br />
2 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Noch kurz zuvor hatten sich Vertreter der Wirtschaft<br />
und der beratenden Berufe massiv gegen<br />
das Vorhaben ausgesprochen. Die Meldepflicht<br />
führe nur zu zusätzlichem administrativen Aufwand<br />
und einer steigenden Anzahl von Meldungen,<br />
„und sie wahrt die gesetzliche Verschwiegenheitspflicht<br />
von Berufsgeheimnisträger allenfalls<br />
formal, aber nicht materiell“, so Bundessteuerberaterkammer,<br />
Wirtschaftsprüferkammer und Bundesrechtsanwaltskammer<br />
gemeinsam in einer<br />
öffentlichen Anhörung des Bundestags-Finanzausschusses<br />
Anfang November. Es werde eine<br />
regelrechte „Meldeflut“ erwartet, meinte etwa die<br />
Bundessteuerberaterkammer. Und der Deutsche<br />
Steuerberaterverband befürchtet, dass Steuerpflichtigen<br />
und ihren Beratern durch die Ausgestaltung<br />
der EU-Richtlinie ein massiver zusätzlicher<br />
Bürokratieaufwand entstehen wird.<br />
Die genannten Berufsverbände gehen davon aus,<br />
dass nicht nur aggressive Steuergestaltungen,<br />
sondern in erster Linie alltägliche Vorgänge<br />
gemeldet werden müssen, unabhängig davon,<br />
dass sie der Finanzverwaltung ohnehin bereits<br />
bekannt seien. Um einen Aufbau von unnötigen<br />
„Datenfriedhöfen“ vorzubeugen, empfahlen sie<br />
eine Rückführung der Meldepflicht auf tatsächlich<br />
aggressive Gestaltungen.<br />
Genauso skeptisch äußerten sich acht Spitzenverbände<br />
der deutschen Wirtschaft in einer<br />
gemeinsamen Stellungnahme. Sie wiesen darauf<br />
hin, dass eine Nichtmeldung als Ordnungswidrigkeit<br />
geahndet werden solle. Daher sei anzunehmen,<br />
dass Intermediäre, Nutzer von Steuergestaltungen<br />
und vor allem auch Unternehmen<br />
ohne jede steuerliche Gestaltungsabsicht im<br />
Zweifel vielfach auch alltägliche steuerliche Sachverhalte<br />
melden würden, um einer Geldbuße von<br />
vornherein aus dem Weg zu gehen. „Eine überbordende<br />
Meldeflut von steuerlichen Sachverhalten<br />
kann weder im Interesse der meldepflichtigen Unternehmen<br />
noch im Interesse der Finanzverwaltung sein“,<br />
argumentierten die Wirtschaftsverbände.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
Restschuldbefreiung künftig nach<br />
drei Jahren<br />
Zum Thema Überschuldung hat sich Anfang November<br />
auch die Bundesregierung zu Wort gemeldet.<br />
Bundesjustizministerin CHRISTINE LAMBRECHT verkündete<br />
am 7. November auf dem diesjährigen<br />
Deutschen Insolvenzverwalterkongress, dass die<br />
Bundesregierung die Verkürzung des regulären<br />
Restschuldbefreiungsverfahrens von derzeit sechs<br />
auf drei Jahre plant und damit eine zügige Umsetzung<br />
europäischer Vorgaben vornehmen will.<br />
Diese finden sich in der Richtlinie (EU) 2<strong>01</strong>9/1023<br />
v. 20.6.2<strong>01</strong>9 über Restrukturierung und Insolvenz,<br />
die vorschreibt, dass unternehmerisch tätige<br />
Personen Zugang zu einem Verfahren haben<br />
müssen, das es ihnen ermöglicht, sich innerhalb<br />
von drei Jahren zu entschulden. Die Richtlinie ist<br />
von den Mitgliedstaaten bis zum 17.7.2021 umzusetzen;<br />
die Umsetzungsfrist kann aber einmalig<br />
um ein Jahr verlängert werden.<br />
Den Anforderungen der Richtlinie genügt das<br />
geltende deutsche Recht nicht, obwohl hierzulande<br />
Schuldner auch bereits jetzt eine Restschuldbefreiung<br />
nach drei Jahren erlangen können.<br />
Allerdings setzt dies voraus, dass bis zum<br />
Ende des Verfahrens nicht nur die Verfahrenskosten,<br />
sondern auch 35 % der Insolvenzforderungen<br />
gedeckt werden. Eine vom Bundesministerium<br />
der Justiz und für Verbraucherschutz<br />
(BMJV) durchgeführte Evaluation dieser Regelung<br />
im Jahr 2<strong>01</strong>8 hatte gezeigt, dass dieses<br />
Mindestbefriedigungserfordernis von nicht einmal<br />
2 % der Schuldner erfüllt werden kann. Künftig<br />
soll daher eine Restschuldbefreiung nach drei<br />
Jahren auch dann möglich sein, wenn es nicht<br />
gelingt, die bisherige Mindestbefriedigungsquote<br />
zu erzielen. Ebenso wenig soll es erforderlich sein,<br />
dass die Verfahrenskosten gedeckt sind. In den<br />
Fällen der Verfahrenskostenstundung soll der<br />
Schuldner oder die Schuldnerin aber weiterhin<br />
einer vierjährigen Nachhaftung unterliegen.<br />
Um einen geordneten Übergang vom geltenden<br />
Recht zum künftigen Recht sicherzustellen, insb.<br />
um zu verhindern, dass Schuldnerinnen und<br />
Schuldner bis zum Inkrafttreten des neuen<br />
Rechts systematisch dazu übergehen, die Einleitung<br />
des Verfahrens zu verzögern, um sich in<br />
den Genuss einer substanziell kürzeren Frist zu<br />
bringen, soll die dreijährige Frist allmählich und<br />
kontinuierlich eingeführt werden.<br />
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat die Ankündigung<br />
bereits begrüßt. Die Bundesregierung<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 3
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
komme damit einer langjährigen Forderung des<br />
DAV nach. Auch die geplante stufenweise Einführung<br />
sieht der Verein positiv: Zum einen<br />
könnten die Schuldner schon zeitnah von einer<br />
zumindest teilweisen Verkürzung des Verfahrens<br />
profitieren und zum anderen würden größere<br />
Friktionen durch zunächst ausbleibende und dann<br />
in großer Zahl gestellte Anträge verhindert.<br />
[Quellen: BMJV/DAV]<br />
EU verschärft<br />
Verbraucherschutzvorschriften<br />
Im November 2<strong>01</strong>9 hat der Europäische Rat als<br />
letztes EU-Organ einem Richtlinienvorschlag zur<br />
besseren Durchsetzung und Modernisierung der<br />
EU-Verbraucherschutzvorschriften zugestimmt.<br />
Die Novelle muss jetzt noch im EU-Amtsblatt<br />
veröffentlicht werden und kann anschließend in<br />
Kraft treten. Die einzelnen EU-Staaten müssen die<br />
Änderungen anschließend innerhalb von zwei Jahren<br />
in ihre nationalen Verbraucherschutzvorschriften<br />
überführen. Insgesamt wurden vier Richtlinien<br />
überarbeitet. Sie betreffen unlautere Geschäftspraktiken,<br />
Verbraucherrechte, Vertragsbedingungen<br />
und das Preisangabenrecht.<br />
Mit den nun erfolgten Änderungen soll zum einen<br />
mehr Transparenz bei Online-Geschäften erreicht<br />
werden, insb. was die Nutzung von Online-Bewertungen,<br />
die personalisierte Preisgestaltung mit<br />
Hilfe von Algorithmen oder die Heraufstufung von<br />
Produkten infolge „kostenpflichtiger Platzierungen“<br />
betrifft. Auch sind Regelungen hinsichtlich „Produkten<br />
von zweierlei Qualität“ und der Einbeziehung<br />
von Waren mit digitalen Elementen sowie<br />
zur Bereitstellung digitaler Inhalte und Dienstleistungen<br />
enthalten. Desweiteren werden klarere<br />
Sanktionsregelungen bei Verstößen gegen Verbraucherschutzvorschriften<br />
vorgesehen. Die EU-<br />
Vorgaben erlauben es außerdem, dass die Mitgliedstaaten<br />
noch weitergehende Bestimmungen gegen<br />
unerbetene Besuche eines Gewerbetreibenden und<br />
sog. Kaffeefahrten erlassen. [Quelle: BRAK]<br />
DAV bemängelt Rechtsunsicherheit<br />
im Internet<br />
Auch der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat kürzlich<br />
das Thema Rechtssicherheit im Internet<br />
aufgegriffen. Er bemängelt, dass zwei der zentralen<br />
deutschen Gesetze zu diesem Thema, das Telemediengesetz<br />
(TMG) und das Telekommunikationsgesetz<br />
(TKG), immer noch nicht vollständig an die<br />
EU-Vorgaben, insb. die Datenschutzgrundverordnung<br />
(DSGVO) angepasst sind, obwohl diese<br />
bereits seit eineinhalb Jahren gelte.<br />
Angesichts der Rechtsprechung des EuGH sei die<br />
deutsche Rechtslage umso bedenklicher. So<br />
habe der EuGH u.a. deutlich gemacht, dass bei<br />
vielen Cookies ein aktives Akzeptieren nötig ist,<br />
etwa ein Klick auf einen „OK“-Button (sog. Optin-Verfahren).<br />
Die deutsche Regelung im TMG<br />
scheine aber etwas anderes zu besagen. Dies sei<br />
nur einer von vielen Bereichen, in dem der<br />
deutsche Gesetzgeber seit Jahren erhebliche<br />
Rechtsunsicherheit zulasse, indem er im TMG<br />
und TKG einen veralteten Wortlaut stehen lasse.<br />
Beide Gesetze müssten endlich an bindende<br />
europarechtliche Vorgaben angepasst werden.<br />
[Quelle: DAV]<br />
Schärfere Ahndung antisemitischer<br />
Straftaten<br />
Bundesjustizministerin CHRISTINE LAMBRECHT will,<br />
dass antisemitische Straftaten künftig härter<br />
geahndet werden. Antisemitische Motive sollen<br />
bei allen Straftaten strafverschärfend wirken<br />
können. Hintergrund ihres Vorstoßes sind mehrere<br />
antisemitische Vorfälle aus jüngster Zeit; so<br />
sind etwa in Halle bei dem Versuch eines bewaffneten<br />
Mannes, in eine Synagoge einzudringen,<br />
zwei Menschen ums Leben gekommen.<br />
„Es ist für mich unfassbar und ich schäme mich dafür,<br />
dass sich Juden in Deutschland nicht mehr sicher<br />
fühlen, dass sogar viele darüber nachdenken, das Land<br />
zu verlassen“, erklärte LAMBRECHT Ende November<br />
im Bundestag. Doch bei dieser Scham wolle sie es<br />
nicht belassen, es seien deutliche Signale nötig.<br />
Bereits nach den Morden des sog. Nationalsozialistischen<br />
Untergrunds (NSU) gab es eine Verschärfung<br />
im StGB; danach können rassistische,<br />
fremdenfeindliche und sonstige menschenverachtende<br />
Motive strafverschärfend berücksichtigt<br />
werden; Antisemitismus als Motiv ist jedoch nicht<br />
ausdrücklich in den Wortlaut der Novelle aufgenommen<br />
worden. Das solle angesichts zahlreicher<br />
Diffamierungen, Bedrohungen und Gewalt-<br />
4 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
taten gegen Juden in Deutschland nun geändert<br />
werden, so LAMBRECHT, um Polizei, Justiz und<br />
Gesellschaft zu sensibilisieren. „Die Bundesregierung<br />
kommt mit der geplanten Gesetzesergänzung ihrem<br />
Bekenntnis nach, Antisemitismus entschlossen zu<br />
bekämpfen und jüdisches Leben zu schützen“, erklärte<br />
die Ministerin.<br />
Für eine solche Novelle hatten sich bereits<br />
mehrere Bundesländer stark gemacht. Die Bundesjustizministerin<br />
hob besonders das Land<br />
Bayern lobend hervor. Dort hat die Staatsregierung<br />
beschlossen, Verfahren bei antisemitischen<br />
Straftaten nicht mehr wegen Geringfügigkeit<br />
oder geringer Schuld einzustellen; Verfahrenseinstellungen<br />
sollen dort auf absolute Ausnahmefälle<br />
beschränkt bleiben.<br />
Polizeiliche Statistiken belegen, dass die Anzahl<br />
antisemitischer Taten, die angezeigt wurden, in<br />
letzter Zeit wieder deutlich zugenommen hat.<br />
Nachdem die Zahl gegen Ende des letzten Jahrzehnts<br />
wieder rückläufig war, stieg die Zahl der<br />
Vorfälle seit 2<strong>01</strong>0 von 1.239 wieder deutlich auf<br />
1.799 Vorfälle im Jahr 2<strong>01</strong>8 an. [Red.]<br />
Die Neuregelung hat folgenden Grund: Die alte<br />
Regelung, wonach ein elektronisches Empfangsbekenntnis<br />
zwingend in Form eines strukturierten<br />
maschinenlesbaren Datensatzes zu übermitteln<br />
ist, führte in der Praxis dann zu Problemen, wenn<br />
das Gericht einen solchen Datensatz aufgrund<br />
technischer Probleme ausnahmsweise nicht bereitstellen<br />
konnte (vgl. BT-Drucks 19/13828, S. 19).<br />
Für den Anwalt bzw. sein Kanzleipersonal bedeutet<br />
dies, dass man bei einer elektronischen<br />
Zustellung durch das Gericht zukünftig darauf<br />
achten muss, ob im beA die Möglichkeit gegeben<br />
wird, unmittelbar durch den Button „Abgabe<br />
erstellen“ einen elektronischen Datensatz für die<br />
Rücksendung zu produzieren. Ist das der Fall,<br />
dann muss diese Möglichkeit auch genutzt werden.<br />
Ansonsten dürfte sich zukünftig im elektronischen<br />
Anhang einer beA-Nachricht das bereits<br />
aus der Papierwelt bekannte „EB-Formular“ als<br />
PDF wiederfinden. Man hat es dann entweder<br />
online oder nach einem Ausdruck auszufüllen und<br />
anschließend wieder elektronisch und formwirksam<br />
entsprechend § 130a Abs. 3 ZPO an das<br />
Gericht zu übermitteln.<br />
[Quelle: BRAK]<br />
beA: Änderungen beim<br />
Empfangsbekenntnis<br />
Die Bundesrechtsanwaltskammer hat kürzlich auf<br />
eine Änderung zum Jahresbeginn <strong>2020</strong> hingewiesen.<br />
Hintergrund ist das „Gesetz zur Regelung der<br />
Wertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde<br />
in Zivilsachen, zum Ausbau der Spezialisierung<br />
bei den Gerichten sowie zur Änderung weiterer<br />
zivilprozessrechtlicher Vorschriften“, das der Bundestag<br />
Mitte November beschlossen hat. Hinter<br />
den „weiteren zivilprozessrechtlichen Vorschriften“ im<br />
Titel des Gesetzes verbirgt sich eine Änderung, die<br />
den elektronischen Rechtsverkehr betrifft: Danach<br />
tritt zum 1.1.<strong>2020</strong> eine Änderung des § 174<br />
ZPO in Kraft. Dessen bisheriger Abs. 4 S. 5 wird<br />
durch folgende Sätze ersetzt: „Wird vom Gericht<br />
hierfür mit der Zustellung ein strukturierter Datensatz<br />
zur Verfügung gestellt, ist dieser zu nutzen. Andernfalls<br />
ist das elektronische Empfangsbekenntnis abweichend<br />
von Satz 4 als elektronisches Dokument (§ 130a ZPO)<br />
zu übermitteln.“<br />
Neue Rechengrößen in der<br />
Sozialversicherung<br />
Seit dem 1. Januar gelten neue Rechengrößen in<br />
der Sozialversicherung für das Jahr <strong>2020</strong>. Danach<br />
steigen im neuen Jahr die Beitragsbemessungsgrenzen<br />
in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung<br />
sowie weitere wichtige Werte.<br />
Für die Beitragsberechnung in der gesetzlichen<br />
Rentenversicherung gilt ab 1.1.<strong>2020</strong> eine neue<br />
Einkommensgrenze. Der Beitrag bemisst sich<br />
dann bis zu einem Höchstbetrag von 6.900 € im<br />
Monat in den alten und 6.450 € in den neuen<br />
Ländern. In der knappschaftlichen Rentenversicherung<br />
steigt diese Einkommensgrenze auf 8.450 €<br />
in den alten und 7.900 € in den neuen Ländern. In<br />
der gesetzlichen Krankenversicherung steigt die<br />
Beitragsbemessungsgrenze auf jährlich 56.250 €<br />
(4.687,50 € im Monat). Die Versicherungspflichtgrenze<br />
steigt auf jährlich 62.550 € (5.212,50 € im<br />
Monat).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 5
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Die neuen Rechengrößen im Überblick:<br />
Rechengröße West Ost<br />
Beitragsbemessungsgrenze<br />
für die allgemeine<br />
6.900 € pro<br />
Monat<br />
6.450 € pro<br />
Monat<br />
Rentenversicherung<br />
Beitragsbemessungsgrenze<br />
für die knappschaftliche<br />
8.450 € pro<br />
Monat<br />
7.900 € pro<br />
Monat<br />
Rentenversicherung<br />
Versicherungspflichtgrenze<br />
in der GKV<br />
62.550 € pro Jahr<br />
(5.212,50 € pro Monat)<br />
Beitragsbemessungsgrenze<br />
in der GKV<br />
56.250 € pro Jahr<br />
(4.687,50 € pro Monat)<br />
Vorläufiges Durchschnittsentgelt<br />
für 2<strong>01</strong>9 in der<br />
allgemeinen Rentenversicherung<br />
40.551 € pro<br />
Jahr<br />
Hochwertung<br />
um 1,1339<br />
Bezugsgröße in der Sozialversicherung<br />
3.185 € pro<br />
Monat<br />
3.<strong>01</strong>0 € pro<br />
Monat<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Am Bundessozialgericht (BSG) gibt es seit dem<br />
20.11.2<strong>01</strong>9 zwei weitere Richterinnen: Neu ernannt<br />
wurden dort die bisherige Richterin am<br />
LSG Frau Dr. PETRA MARIA KNORR und die bisherige<br />
Richterin am LSG Frau JUDIT NEUMANN. Frau Dr.<br />
KNORR kommt vom LSG Nordrhein-Westfalen;<br />
zuletzt war sie allerdings für mehrere Jahre an<br />
das Landesjustizministerium in Düsseldorf abgeordnet,<br />
wo sie nacheinander mehrere Referate<br />
leitete. Frau Dr. KNORR prüft in der zweiten<br />
juristischen Staatsprüfung und ist ausgebildete<br />
Mediatorin. Sie kommentiert zudem im Recht<br />
der Gesetzlichen Rentenversicherung sowie dem<br />
Sozialgesetzbuch II. Buch Grundsicherung für<br />
Arbeitsuchende und ist Mitglied der Deutsch-<br />
Niederländischen Juristenkonferenz. Frau NEU-<br />
MANN kommt vom LSG Sachsen-Anhalt; u.a. ist<br />
sie auch Kommentatorin im SGG und im SGB.<br />
Das Präsidium des BSG hat Frau Dr. KNORR dem<br />
für die Gesetzliche Krankenversicherung, Pflegeversicherung<br />
und Künstlersozialversicherung zuständigen<br />
3. Senat und Frau NEUMANN dem für die<br />
Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen<br />
14. Senat zugewiesen. [Quellen: BAG/BSG]<br />
Personalia<br />
Am 14.10.2<strong>01</strong>9 ist der Vorsitzende Richter am<br />
Bundesarbeitsgericht (BAG) a.D. Prof. Dr. WALTER<br />
SEIDENSTICKER im Alter von 90 Jahren verstorben.<br />
Herr Prof. Dr. SEIDENSTICKER wurde 1976 zum<br />
Richter am BAG berufen. Hier gehörte er zunächst<br />
dem 5. Senat an und wechselte anschließend<br />
in den 1. Senat. Im Mai 1984 wurde er zum<br />
Vorsitzenden Richter am BAG ernannt und dem 7.<br />
Senat zugewiesen, den er bis zu seiner Pensionierung<br />
im Dezember 1993 leitete. Viele Jahre war<br />
er zudem Mitglied des Präsidiums und des Präsidialrats<br />
des BAG.<br />
Wussten Sie schon, dass … ?<br />
… Sie online bequem auf ältere <strong>ZAP</strong>-Ausgaben<br />
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[Red.]<br />
6 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
Berufsrechtsreport<br />
Von Akad. Rat Dr. CHRISTIAN DECKENBROCK und Akad. Rat Dr. DAVID MARKWORTH, Universität zu Köln<br />
I. Einleitung<br />
II.<br />
Rechtspolitische Entwicklungen<br />
Das Anwaltsrecht fristet schon lange kein Nischendasein<br />
mehr. Auch wenn nach wie vor das anwaltliche<br />
Berufsrecht nicht Gegenstand der juristischen<br />
Ausbildung ist (vgl. DECKENBROCK NJW 2<strong>01</strong>7, 1425,<br />
1430), ist es für die Anwaltschaft unverzichtbar, über<br />
die aktuellen Entwicklungen der sie betreffenden<br />
Berufsregeln informiert zu sein. Welche Dynamik<br />
das Anwaltsrecht aktuell hat, ist auch im vergangenen<br />
Berichtsjahr wieder deutlich geworden. In<br />
2<strong>01</strong>9 wurden nicht nur rechtspolitische Vorhaben<br />
wie die Reform des anwaltlichen Gesellschaftsrechts<br />
und der Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung<br />
des Verbraucherschutzes im Inkassorecht<br />
angestoßen (dazu II.), sondern es sind erneut<br />
zahlreiche Gerichtsentscheidungen zu den verschiedenen<br />
Teilbereichen des Anwaltsrechts ergangen.<br />
Im Mittelpunkt der Diskussion vor den Gerichten, in<br />
Anwaltschaft, Forschung und interessierter Öffentlichkeit<br />
stand aber der neue „Megatrend“ Legal<br />
Tech und die Frage, inwieweit nichtanwaltliche<br />
Dienstleister auf den Rechtsberatungsmarkt drängen.<br />
Die lange erwartete Entscheidung des BGH in<br />
Sachen „wenigermiete.de“ (dazu IX. 2.) hat hier zwar<br />
wichtige Fragen klären können, die Zulässigkeit von<br />
Vertragsgeneratoren und anders organisierter Online-Portale<br />
bleibt aber weiter unklar.<br />
Auch die diesjährige Ausgabe des Berufsrechtsreports,<br />
die an die Ausführungen in <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 115<br />
anknüpft, gibt wieder einen Überblick über wesentliche<br />
rechtspolitische Entwicklungen und die<br />
wichtigste Rechtsprechung im anwaltlichen Berufsrecht<br />
im vergangenen Jahr (ein weiterer Überblick<br />
findet sich bei GRUNEWALD NJW 2<strong>01</strong>9, 3620;<br />
speziell zur Entwicklung des Anwaltshaftungsrechts<br />
von Mitte 2<strong>01</strong>8 bis Mitte 2<strong>01</strong>9 s. BORGMANN<br />
NJW 2<strong>01</strong>9, 3557; zur Entwicklung der Rechtsanwaltsvergütung<br />
2<strong>01</strong>9 s. MAYER NJW 2<strong>01</strong>9, 3426).<br />
1. Anwaltliches Gesellschaftsrecht<br />
Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />
(BMJV) hat Ende August 2<strong>01</strong>9<br />
insgesamt 20 Eckdaten der geplanten Reform<br />
des anwaltlichen Gesellschaftsrechts vorgestellt.<br />
In dem Eckpunktepapier bekräftigt das Ministerium,<br />
dass reine Kapitalbeteiligungen von Gesellschaftern,<br />
die nicht in der Gesellschaft tätig sind,<br />
zum Schutz der anwaltlichen Unabhängigkeit<br />
weiterhin verboten bleiben sollen. Allerdings hat<br />
das BMJV angekündigt, gewisse Lockerungen<br />
dieses sog. Fremdkapitalverbots für eng begrenzte<br />
Fälle zu erwägen. So will es eine<br />
Ausnahme etwa für Beteiligungen nicht mehr<br />
aktiver Berufsangehöriger mit der Maßgabe<br />
prüfen, dass die Einhaltung des anwaltlichen<br />
Berufsrechts – beispielsweise durch eine Höchstgrenze<br />
für Beteiligungen und neue Berufspflichten<br />
der Rechtsanwälte – besonders abgesichert<br />
wird. Zudem steht die Überlegung im Raum,<br />
reine Kapitalbeteiligungen auch mit dem Ziel<br />
zu erlauben, alternative Finanzierungswege<br />
durch sog. Wagniskapital für solche Rechtsanwälte<br />
zu eröffnen, die sich z.B. im Legal-<br />
Tech-Bereich hohen Anfangsinvestitionen gegenübersehen.<br />
Ob diese Ausnahmen vom<br />
„Fremdbesitzverbot“ tatsächlich Gesetz werden,<br />
darf allerdings angesichts des von BRAK und<br />
DAV bereits deutlich artikulierten Widerstands<br />
bezweifelt werden.<br />
Auch im Übrigen birgt das Eckpunktepapier<br />
Sprengstoff. Nach den Vorstellungen des BMJV<br />
soll der Kreis der sozietätsfähigen Berufe, der<br />
sich bislang im Wesentlichen auf Steuerberater<br />
und Wirtschaftsprüfer begrenzt, i.R.d. anstehenden<br />
Reform deutlich erweitert werden. Künftig<br />
sollen Angehörige aller „vereinbaren“ Berufe Ge-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 7
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
sellschafter von Berufsausübungsgesellschaften<br />
sein dürfen. Hierunter fallen alle Berufe, die<br />
Rechtsanwälte bereits jetzt als Zweitberuf ausüben<br />
dürfen. Eine solche Öffnung würde bedeuten,<br />
dass Anwälte sich mit beinahe jedem Berufstätigen<br />
zur gemeinschaftlichen Berufsausübung<br />
zusammenschließen dürften. Im Wesentlichen<br />
wäre ihnen nur die berufliche Zusammenarbeit<br />
mit Maklern verwehrt, deren Provisionsinteresse<br />
sich anerkanntermaßen nicht mit der anwaltlichen<br />
Unabhängigkeit verträgt (vgl. HENSSLER in<br />
HENSSLER/PRÜTTING, BRAO, 5. Aufl. 2<strong>01</strong>9, § 7 Rn 105).<br />
Im Übrigen dürfte es gegen die Vorstellungen<br />
des BMJV, die in vielerlei Hinsicht dem Gesetzesvorschlag<br />
folgen, den der Kölner Universitätsprofessor<br />
MARTIN HENSSLER 2<strong>01</strong>8 im Auftrag des<br />
DAV (AnwBl Online 2<strong>01</strong>8, 564; vgl. auch DAV-<br />
Stellungnahme Nr. 8/2<strong>01</strong>9, AnwBl Online 2<strong>01</strong>9,<br />
257) ausgearbeitet hat, keine grundsätzlichen<br />
Vorbehalte geben. Festgeschrieben werden soll<br />
etwa, dass einer Berufsausübungsgesellschaft<br />
alle nationalen und europäischen Rechtsformen<br />
zur Verfügung stehen. Erst im Rahmen des<br />
für diese Legislaturperiode ebenfalls vorgesehenen<br />
Gesetzesvorhabens zur Modernisierung des<br />
Personengesellschaftsrechts soll allerdings entschieden<br />
werden, ob den Anwälten künftig sogar<br />
– wie von vielen Seiten gefordert – die GmbH &<br />
Co. KG als Rechtsform eröffnet wird. Dagegen<br />
soll erstmals in der BRAO das Schicksal ausländischer<br />
Berufsausübungsgesellschaften, die<br />
(auch) auf dem deutschen Markt auftreten<br />
wollen, geregelt werden.<br />
Allgemein sollen für die Berufsausübungsgesellschaften<br />
rechtsformneutrale und soweit wie<br />
möglich einheitliche berufsrechtliche Regelungen<br />
geschaffen werden. Teil dieses rechtsformneutralen<br />
Ansatzes ist es, dass künftig für sämtliche<br />
Berufsausübungsgesellschaften auf Mehrheitserfordernisse<br />
für Gesellschafter sowie Geschäftsführer<br />
verzichtet werden soll, wie sie die BRAO<br />
bislang für die interprofessionelle Zusammenarbeit<br />
in einer GmbH formuliert. Das BMJV will<br />
zudem der Berufsausübungsgesellschaft selbst<br />
und nicht mehr nur den in ihr zusammengeschlossenen<br />
Anwälten eine berufsrechtliche<br />
Stellung zubilligen. So sollen in Zukunft auch<br />
Berufsausübungsgesellschaften samt der Namen<br />
der in ihnen tätigen Rechtsanwälte in einem von<br />
der BRAK geführten elektronischen Verzeichnis<br />
erfasst werden. Auf diese Weise soll Transparenz<br />
für den Rechtsverkehr geschaffen werden. Außerdem<br />
soll im Gesetz verankert werden, dass<br />
Berufsausübungsgesellschaften jeder Rechtsform<br />
selbst befugt sind, Rechtsdienstleistungen zu<br />
erbringen, sowie dass solche Gesellschaften vor<br />
Gericht postulationsfähig sind, soweit sie durch<br />
persönlich befugte Personen handeln. Schließlich<br />
sollen Berufsausübungsgesellschaften selbst Träger<br />
von Berufspflichten und Adressaten berufsrechtlicher<br />
Sanktionen werden können. Wie<br />
eine Berufsausübungsgesellschaft die Einhaltung<br />
des Berufsrechts sicherstellt, soll ihr dabei selbst<br />
überlassen werden. Der zum Teil geäußerte<br />
Vorschlag, einen gesonderten Berufsrechtsbeauftragten<br />
oder „Compliance Officer“ zu benennen,<br />
wurde vom BMJV nicht aufgegriffen. Zudem<br />
sollen Berufsausübungsgesellschaften künftig<br />
eine eigenständige Berufshaftpflichtversicherung<br />
abschließen und unterhalten müssen.<br />
Hiermit verbunden werden soll eine eigenständige<br />
berufsrechtliche Zulassung aller anwaltlichen<br />
Berufsausübungsgesellschaften, die das<br />
Gesetz bislang nur für die Rechtsanwaltsgesellschaft<br />
mbH vorsieht. In unproblematischen<br />
Fällen wie etwa bei der Bildung monoprofessioneller<br />
Berufsausübungsgesellschaften soll aber<br />
zur Vermeidung unnötiger bürokratischer Hürden<br />
ein Anzeigeverfahren genügen.<br />
2. Verbraucherschutz im Inkassorecht<br />
Im Bereich des Inkassowesens hat der Gesetzgeber<br />
zuletzt das Gesetz gegen unseriöse Geschäftspraktiken<br />
vom 1.10.2<strong>01</strong>3 (BGBl I 2<strong>01</strong>3,<br />
S. 3714) erlassen, mit dem für Rechtsanwälte<br />
sowie Inkassodienstleister Darlegungs- und Informationspflichten<br />
eingeführt wurden, die gewährleisten<br />
sollten, dass Schuldner die gegen sie<br />
erhobenen Forderungen vollständig nachvollziehen<br />
können. Zudem wurden die Aufsichtsbefugnisse<br />
gegenüber Inkassodienstleistern erweitert.<br />
Nachdem das Gesetz im Jahr 2<strong>01</strong>8 evaluiert<br />
worden ist, hat das BMJV vor, weiterhin bestehende<br />
Missstände durch das geplante Gesetz zur<br />
Verbesserung des Verbraucherschutzes im Inkassorecht<br />
abzustellen. Dem BMJV ist v.a. die Höhe<br />
der Inkassokosten ein Dorn im Auge. Insbesondere<br />
bei geringen Forderungen werde das aktuelle<br />
Missverhältnis augenfällig. Der Referentenentwurf<br />
(s. dazu auch JÄCKLE VuR 2<strong>01</strong>9, 443) sieht<br />
in Ergänzung der in Nr. 2300 VV RVG bereits<br />
bestimmten allgemeinen Schwellengebühr auch<br />
eine besondere Schwellengebühr für die Ein-<br />
8 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
ziehung unbestrittener Forderungen vor. Die<br />
Schwelle soll dabei bei einem Gebührensatz von<br />
0,7 liegen. Zudem soll die bislang unterschiedliche<br />
kostenrechtliche Behandlung von Inkassodienstleistern<br />
und Rechtsanwälten im gerichtlichen<br />
Mahnverfahren aufgehoben werden. Darüber<br />
hinaus sollen Schuldner über die beim Abschluss<br />
von Zahlungsvereinbarungen entstehenden Kosten<br />
und die Rechtsfolgen von Schuldanerkenntnissen<br />
aufgeklärt werden müssen. Die Anforderungen<br />
an die Eignung und Zuverlässigkeit nach<br />
dem RDG zu registrierender Personen will man<br />
eindeutig im RDG selbst festschreiben. Im Bereich<br />
der Aufsicht sollen die Bedeutung von Untersagungsverfügungen<br />
sowie die Transparenz für die<br />
Bürger gestärkt und weitere Zentralisierungen<br />
gefördert werden.<br />
Das Vorhaben stößt bei BRAK und DAV auf große<br />
Kritik (vgl. Anwaltsmagazin <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 1214). Die<br />
geplanten Regelungen bei der Rechtsanwaltsvergütung,<br />
die zu einer Herabsetzung des anwaltlichen<br />
Honorars führen würden, seien v.a. in<br />
einer Zeit, in der die Anwaltschaft für eine längst<br />
überfällige Anpassung der gesetzlichen Rechtsanwaltsgebühren<br />
streite, völlig inakzeptabel. Die<br />
beabsichtigte Gleichstellung von Rechtsanwaltschaft<br />
und Inkassodienstleistern sei vor dem<br />
Hintergrund, dass Inkassodienstleistern anders<br />
als Rechtsanwälten die Vereinbarung eines Erfolgshonorars<br />
erlaubt ist, fragwürdig. Die erweiterten<br />
Hinweispflichten gegenüber der Gegenpartei<br />
würden gegen das Verbot der Vertretung<br />
widerstreitender Interessen verstoßen und den<br />
Anwalt zum „Diener zweier Herren“ machen.<br />
Weitere Kritik kommt aus der Legal-Tech-Branche.<br />
Vonseiten des Branchenverbands „Bundesverband<br />
Start-Up-Unternehmen“ wird behauptet,<br />
die Neuregelungen sollten die Zulassung und<br />
Registrierung der oftmals als Inkassodienstleister<br />
registrierten Legal-Tech-Anbieter erschweren.<br />
3. Sonstiges<br />
In der jüngeren Vergangenheit wurden weitere<br />
rechtspolitische Forderungen erhoben. Neben der<br />
überfälligen Erhöhung der RVG-Gebühren, die<br />
zurzeit noch von Bundesländern angesichts zu<br />
erwartender Mehrausgaben für Beratungs- und<br />
Prozesskostenhilfe blockiert wird, wird etwa die<br />
Reform der BGH-Anwaltschaft und des komplizierten<br />
Wahlverfahrens diskutiert (dazu DECKEN-<br />
BROCK ZRP 2<strong>01</strong>8, 106). Auch sind Forderungen laut<br />
geworden, für Insolvenzverwalter ausführlichere<br />
berufsrechtliche Regelungen zu schaffen und sie<br />
einer Kammeraufsicht zu unterwerfen. Während<br />
manche die Einführung einer Insolvenzverwalterkammer<br />
befürworten (VALLENDER NZI 2<strong>01</strong>7, 641),<br />
verweist etwa die BRAK darauf, dass 95 % der<br />
Insolvenzverfahren derzeit von Mitgliedern der<br />
Rechtsanwaltskammern betreut werden und es<br />
deshalb sinnvoll sei, die Berufsaufsicht über die<br />
Insolvenzverwalter von den Rechtsanwaltskammern<br />
vornehmen zu lassen und sie so in ein<br />
effektives und etabliertes Selbstverwaltungssystem<br />
zu integrieren.<br />
Dagegen ist das auch für die Anwaltschaft<br />
wichtige (vgl. bereits DECKENBROCK/MARKWORTH Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 115, 117 f.; UWER AnwBl<br />
Online 2<strong>01</strong>9, 327, 329 f.) Gesetz zum Schutz von<br />
Geschäftsgeheimnissen (GeschGehG) bereits am<br />
26.4.2<strong>01</strong>9 in Kraft getreten (BGBl I, S. 466). Es hat<br />
einen in sich stimmigen Schutz vor rechtswidriger<br />
Erlangung, Nutzung und Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen<br />
zum Ziel (dazu DANN/MARK-<br />
GRAF NJW 2<strong>01</strong>9, 1774).<br />
Auch auf der Ebene der Satzungsversammlung<br />
wurden wichtige Entscheidungen getroffen. Seit<br />
dem 1.7.2<strong>01</strong>9 ist es Anwälten infolge einer<br />
Ergänzung der FAO (vgl. § 5 Abs. 1 Buchst. x,<br />
§ 14q) möglich, die Verleihung einer Fachanwaltsbezeichnung<br />
für das Sportrecht zu<br />
beantragen (zu Einzelheiten DECKENBROCK/MARK-<br />
WORTH Berufsrechtsreport <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 115, 117).<br />
Zum 1.1.<strong>2020</strong> (vgl. BRAK-Mitt. 2<strong>01</strong>9, 245) trat<br />
eine Änderung des § 2 BORA in Kraft (dazu<br />
GASTEYER/HERMESMEIER BRAK-Mitt. 2<strong>01</strong>9, 227). Aus<br />
§ 2 Abs. 2 BORA ergibt sich nunmehr explizit,<br />
dass zwischen Rechtsanwalt und Mandant die<br />
Nutzung eines elektronischen oder sonstigen<br />
Kommunikationswegs, der mit Risiken für die<br />
Vertraulichkeit dieser Kommunikation verbunden<br />
ist, jedenfalls dann erlaubt ist, wenn der<br />
Mandant ihr zustimmt. Von einer Zustimmung<br />
ist dabei auszugehen, wenn der Mandant diesen<br />
Kommunikationsweg vorschlägt oder beginnt<br />
und ihn, nachdem der Rechtsanwalt zumindest<br />
pauschal und ohne technische Details auf die<br />
Risiken hingewiesen hat, fortsetzt. Allerdings<br />
bringt die Ergänzung des § 2 BORA nur in<br />
berufsrechtlicher Hinsicht Klarheit, das BMJV<br />
hat im Rahmen der Billigung der Änderung<br />
klargestellt, dass § 2 Abs. 2 BORA die Regelungen<br />
der DSGVO nicht verdränge.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 9
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
III. Zulassungsrecht<br />
1. Eintragung eines Mönchs als Rechtsanwalt<br />
Der EuGH hatte sich in seinem Urt. v. 7.5.2<strong>01</strong>9 (C-<br />
431/17 – Monachos Eirinaios m. Anm. POHL BRAK-<br />
Mitt. 2<strong>01</strong>9, 191) mit einem Mönch zu befassen,<br />
dessen Eintragung in das besondere Verzeichnis<br />
der Rechtsanwaltskammer Athen (Griechenland)<br />
als Rechtsanwalt, der seine Berufsqualifikation in<br />
einem anderen Mitgliedstaat, nämlich in Zypern,<br />
erworben hatte, abgelehnt worden war. Problematisch<br />
an dem Antrag war, dass die Eigenschaft<br />
als Mönch und die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs<br />
zwar in Zypern unproblematisch, in Griechenland<br />
jedoch als unvereinbar angesehen werden.<br />
Der EuGH kam jedoch zu dem Schluss, dass<br />
die Eintragung nicht hätte versagt werden dürfen.<br />
Denn die Niederlassungs-Richtlinie für Rechtsanwälte<br />
(RL 98/5/EG) mache die Zulassung in<br />
ihrem Art. 3 Abs. 2 lediglich von der Vorlage einer<br />
Bescheinigung aus dem Herkunftsstaat abhängig<br />
und erlaube es nicht, zusätzliche Voraussetzungen<br />
in Bezug auf die Einhaltung von berufs- und<br />
standesrechtlichen Anforderungen aufzustellen<br />
(vgl. u.a. bereits EuGH, Urt. v. 17.7.2<strong>01</strong>4 – C-58/13,<br />
C-59/13 – Torresi). Für das deutsche Recht folgt<br />
aus der Entscheidung, dass die in § 4 EuRAG<br />
enthaltene Verweisung auf die Zulassungsgründe<br />
der BRAO voraussichtlich als europarechtswidrig<br />
anzusehen ist (GRUNEWALD NJW 2<strong>01</strong>9, 3620, 3622;<br />
POHL BRAK-Mitt. 2<strong>01</strong>9, 191, 194 f.).<br />
2. Widerruf der Rechtsanwaltszulassung<br />
eines verbeamteten Hochschullehrers<br />
Nach § 14 Abs. 2 Nr. 5 BRAO ist die Zulassung zur<br />
Rechtsanwaltschaft u.a. dann zu widerrufen,<br />
wenn der Rechtsanwalt zum Beamten auf Lebenszeit<br />
ernannt wird und nicht auf die Rechte<br />
aus der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft verzichtet.<br />
Der Anwaltssenat des BGH hat – durch<br />
das BVerfG gebilligt (vgl. Beschl. v. 30.6.2009 –<br />
1 BvR 893/09; Beschl. v. 15.3.2007 – 1 BvR 1887/06)<br />
– bereits entschieden, dass diese Regelung nicht<br />
gegen das Grundgesetz verstößt (vgl. Beschl. v.<br />
10.10.2<strong>01</strong>1 – AnwZ [B] 10/10; Beschl. v. 6.7.2009 –<br />
AnwZ [B] 52/08). Es war daher absehbar, dass den<br />
durch eine Rechtsanwältin, die eine Stelle als<br />
Professorin angenommen und deshalb Beamtin<br />
(zunächst auf Probe, später auf Lebenszeit)<br />
geworden war, unternommenen erneuten Anstrengungen<br />
zur verfassungsrechtlichen Missbilligung<br />
des § 14 Abs. 2 Nr. 5 BRAO kein Erfolg<br />
beschieden sein würde. In seinem Beschl. v.<br />
26.2.2<strong>01</strong>9 (AnwZ [Brfg] 49/18 m. Anm. RING DStR<br />
2<strong>01</strong>9, 2334) stellte der Anwaltssenat insb. fest,<br />
dass die Vorschrift mit dem allgemeinen Gleichheitssatz<br />
in Einklang stehe. Es sei nicht gleichheitswidrig,<br />
dass Rechtsanwälte als Lehrbeauftragte<br />
und als Prüfer an Hochschulen tätig sein<br />
dürften, ihnen die Tätigkeit als beamtete Hochschullehrer<br />
jedoch verschlossen sei.<br />
3. Zulassungswiderruf wegen Vermögensverfalls<br />
Verfahren, die den Widerruf der Zulassung zur<br />
Rechtsanwaltschaft wegen eingetretenen Vermögensverfalls<br />
zum Gegenstand haben, machen<br />
traditionell den Hauptanteil der Entscheidungen<br />
des Anwaltssenats aus. Dies gilt auch für 2<strong>01</strong>9.<br />
Dass Anwälte, die sich gegen den Zulassungswiderruf<br />
wenden, regelmäßig keinen Erfolg haben,<br />
liegt v.a. daran, dass nach der Rechtsprechung des<br />
Anwaltssenats maßgeblicher Zeitpunkt für die<br />
Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Widerrufs<br />
der Abschluss des behördlichen Verfahrens, also<br />
der Zeitpunkt des Ausspruchs der Widerrufsverfügung<br />
bzw. – wenn das Landesrecht ein Widerspruchsverfahren<br />
vorsieht – des Erlasses des<br />
Widerspruchsbescheids ist. Eine danach eintretende<br />
Konsolidierung der wirtschaftlichen Verhältnisse<br />
ist nur in einem Wiederzulassungsverfahren<br />
zu berücksichtigen (grundlegend BGH, Beschl. v.<br />
29.6.2<strong>01</strong>1 – AnwZ [Brfg] 11/10 Rn 9 ff.; s. dazu<br />
DECKENBROCK AnwBl 2<strong>01</strong>5, 365, 373 f. sowie jetzt<br />
zudem etwa BGH, Beschl. v. 5.4.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg]<br />
3/19; Beschl. v. 18.2.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 65/17 und<br />
dazu JURETZEK DStR 2<strong>01</strong>9, 2382).<br />
Mit dem Vermögensverfall ist wiederum grds.<br />
eine Gefährdung der Interessen der Rechtsuchenden<br />
verbunden (vgl. etwa BGH, Beschl. v.<br />
5.4.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 3/19). Diese Gefährdung zu<br />
widerlegen, wird i.d.R. nicht gelingen. So betont<br />
der BGH, dass eine Widerlegung nur in Ausnahmefällen<br />
in Betracht komme und den Rechtsanwalt<br />
insofern die Feststellungslast treffe. Dafür<br />
müsste der Rechtsanwalt seine anwaltliche Tätigkeit<br />
mindestens insofern beschränkt haben,<br />
dass er sie nur noch für eine Rechtsanwaltssozietät<br />
ausübe und mit dieser rechtlich abgesicherte<br />
Maßnahmen verabredet habe, die<br />
eine Gefährdung der Mandanten effektiv verhindern.<br />
Die Anstellung des in Vermögensverfall<br />
geratenen Rechtsanwalts bei einem Einzel-<br />
10 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
anwalt reiche dagegen grds. nicht aus, da eine<br />
ausreichende Überwachung der notwendigen<br />
Sicherungsmaßnahmen dann nicht gewährleistet<br />
sei. Insbesondere während der Urlaubszeit oder<br />
bei einer etwaigen Erkrankung des Einzelanwalts<br />
werde eine Gefährdung der Rechtsuchenden<br />
nicht wirksam verhindert.<br />
ihm die Zulassung zu versagen, wenn und da ihnen<br />
kein besonderes Gewicht beizumessen ist, die<br />
Wiederzulassung des Antragstellers zu oder vor<br />
dem Zeitpunkt der Verfehlungen auf einen entsprechenden<br />
Antrag hin bereits ernstlich in Betracht<br />
gekommen wäre und seit ihrer Begehung<br />
wieder ein Zeitraum von fünf Jahren vergangen ist.<br />
4. Wiederzulassung trotz früherer Straftaten<br />
Nach § 7 Nr. 5 BRAO ist die Zulassung zur<br />
Rechtsanwaltschaft zu versagen, wenn die antragstellende<br />
Person sich eines Verhaltens schuldig<br />
gemacht hat, das sie unwürdig erscheinen lässt,<br />
den Beruf eines Rechtsanwalts auszuüben. Im<br />
vergangenen Jahr hatte der BGH wiederum Gelegenheit,<br />
diesen auslegungsbedürftigen Tatbestand<br />
auszufüllen (Urt. v. 14.1.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 70/17 m.<br />
Anm. RING DStR 2<strong>01</strong>9, 895). Unter Berücksichtigung<br />
der Rechtsprechung des BVerfG (Beschl. v.<br />
22.10.2<strong>01</strong>7 – 1 BvR 1822/16; dazu DECKENBROCK/<br />
MARKWORTH Berufsrechtsreport <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>8, 57, 62 f.)<br />
hebt der Anwaltssenat hervor, dass die Versagung<br />
der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft wegen<br />
Unwürdigkeit voraussetze, dass der Bewerber ein<br />
Verhalten gezeigt hat, dass ihn bei Abwägung aller<br />
erheblichen Umstände nach seiner Gesamtpersönlichkeit<br />
für den Anwaltsberuf nicht tragbar<br />
erscheinen lässt. Auch eine durch ein besonders<br />
schwerwiegendes Fehlverhalten begründete Unwürdigkeit<br />
könne allerdings durch Zeitablauf und<br />
Wohlverhalten des Bewerbers derart an Bedeutung<br />
verloren haben, dass sie der Zulassung des<br />
Bewerbers nicht mehr im Wege stehe. Dies sei bei<br />
Straftaten, die im Zusammenhang mit der früheren<br />
Tätigkeit als Rechtsanwalt begangen wurden,<br />
30 Jahre nach ihrer Begehung regelmäßig der Fall.<br />
Im Streitfall konnte daher dem Antragsteller, der<br />
1992 wegen in den Jahren 1987 bis 1989 begangener<br />
Straftaten der Untreue in acht Fällen sowie des<br />
Betrugs und der Gebührenüberhebung zu einer<br />
Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als drei Jahren<br />
verurteilt worden war, sein früheres Fehlverhalten<br />
nicht entgegengehalten werden. Da hinsichtlich<br />
dieser strafgerichtlichen Verurteilung die Tilgungsfrist<br />
nach §§ 36 S. 1, 46 Abs. 3 BZRG abgelaufen ist,<br />
habe sich der Anwalt in dem Fragebogen zum<br />
Antrag auf Wiederzulassung zur Rechtsanwaltschaft<br />
gem. § 53 Abs. 1 Nr. 2 BZRG zudem als<br />
unbestraft bezeichnen dürfen. Schließlich seien<br />
auch einzelne Verstöße des Antragstellers gegen<br />
das Rechtsdienstleistungsgesetz nicht geeignet,<br />
5. Verkürzung der Wiederzulassungsfrist<br />
Wurde ein Rechtsanwalt durch rechtskräftiges<br />
Urteil aus der Anwaltschaft ausgeschlossen, so<br />
ist ihm gem. § 7 Nr. 3 BRAO für acht Jahre<br />
nach Rechtskraft des Urteils die Wiederzulassung<br />
zu versagen. Offen war bislang jedoch,<br />
ob das über den Ausschluss befindende Gericht<br />
mit bindender Wirkung für das erneute<br />
Zulassungsverfahren die Wiederzulassungsfrist<br />
„kompensatorisch“ verkürzen kann, insb. um<br />
rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen<br />
Rechnung zu tragen. Der Anwaltssenat hat dies<br />
in seinem Urt. v. 30.9.2<strong>01</strong>9 (AnwZ [Brfg] 32/18)<br />
bejaht, wobei er Parallelen zur sog. Vollstreckungslösung<br />
der Strafgerichte, bei der die<br />
gerichtliche Sanktion in Ansehung der Verfahrensdauer<br />
minimiert wird, gezogen hat. Auch<br />
berufsgerichtliche Disziplinarverfahren nach der<br />
BRAO unterlägen dem Gebot der Durchführung<br />
des Verfahrens in angemessener Zeit. Zudem sei<br />
das Recht der Ahndung von Pflichtverletzungen<br />
durch Anwälte an das Straf- und das Strafprozessrecht<br />
angelehnt.<br />
6. Syndikusrechtsanwälte<br />
Inzwischen ist das vierte Jahr nach Inkrafttreten<br />
des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der<br />
Syndikusanwälte und zur Änderung der Finanzgerichtsordnung<br />
am 1.1.2<strong>01</strong>6, durch das die berufsrechtliche<br />
Stellung der Syndikusrechtsanwälte in<br />
den §§ 46 ff. BRAO neu geregelt wurde, zu Ende<br />
gegangen (vgl. zur anstehenden Evaluation des<br />
Gesetzes FREUNDORFER AnwBl Online 2<strong>01</strong>9, 646<br />
sowie zur Frage, ob Regelungsbedarf bei der<br />
rückwirkenden Befreiung von Syndikusrechtsanwälten<br />
von der Rentenversicherungspflicht besteht,<br />
BT-Drucks 19/13808 sowie Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 1215). Auch in diesem Jahr wurden viele<br />
Fragen, die die Reform aufgeworfen hat, höchstrichterlich<br />
geklärt (vgl. auch den neuen Überblicksbeitrag<br />
von KILIAN DStR 2<strong>01</strong>9, 1094 sowie zuvor<br />
bereits WALLNER BRAK-Mitt. 2<strong>01</strong>9, 58 und POSEGGA<br />
DStR 2<strong>01</strong>8, 1372).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 11
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
a) Anwaltliche Prägung<br />
Nach § 46 Abs. 3 BRAO setzt die Zulassung<br />
eines Unternehmensjuristen zur Syndikusrechtsanwaltschaft<br />
voraus, dass das Arbeitsverhältnis<br />
durch fachlich unabhängig und eigenverantwortlich<br />
auszuübende anwaltliche Tätigkeiten<br />
geprägt ist. Der Anwaltssenat hat diese gesetzliche<br />
Vorgabe nun insoweit präzisiert, als es für<br />
die anwaltliche Prägung des Arbeitsverhältnisses<br />
entscheidend darauf ankommen soll, dass die<br />
anwaltliche Tätigkeit den Kern oder Schwerpunkt<br />
der Tätigkeit darstellt, mithin dass das<br />
Arbeitsverhältnis durch die anwaltliche Tätigkeit<br />
beherrscht wird (Urt. v. 30.9.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg]<br />
63/17, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 744/2<strong>01</strong>9; s. auch Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 1278 f.). Dabei soll ein Anteil<br />
von 65 % anwaltlicher Tätigkeit am unteren<br />
Rand des für eine anwaltliche Prägung des<br />
Arbeitsverhältnisses Erforderlichen liegen. Bemerkenswert<br />
ist auch die Feststellung des<br />
Senats, dass die Darlegung der quantitativen<br />
Prägung des Arbeitsverhältnisses grds. genüge.<br />
Da anwaltliche Tätigkeit grds. keine geringwertige<br />
Tätigkeit darstelle, könne für die qualitative<br />
Prägung regelmäßig keine andere Beurteilung<br />
gelten. In einer anderen Entscheidung<br />
hat der Senat „mindestens 60 %, zeitweise eher<br />
70 %“ anwaltliche Tätigkeit als ausreichend erachtet<br />
(BGH, Urt. v. 14.1.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 25/18<br />
m. Anm. FREUNDORFER NJW 2<strong>01</strong>9, 930; vgl. auch<br />
BGH, Beschl. v. 14.1.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 29/17).<br />
Später hat er diese Ausführungen noch dahingehend<br />
präzisiert, dass 67 % anwaltliche Tätigkeit<br />
genüge (BGH, Beschl. v. 27.2.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg]<br />
36/17). Damit dürfte eine lediglich knapp einen<br />
Umfang von 50 % übersteigende anwaltliche<br />
Tätigkeit (vgl. insoweit TEMMING/DALMER AnwBl<br />
Online 2<strong>01</strong>8, 916) für eine Zulassung nicht<br />
genügen.<br />
b) Fachliche Unabhängigkeit<br />
Darüber hinaus hatte sich der Anwaltssenat auch<br />
wiederum mit dem Kriterium der fachlichen<br />
Unabhängigkeit zu beschäftigen. Nach § 46 Abs. 4<br />
S. 1 BRAO übt eine fachlich unabhängige Tätigkeit<br />
gem. § 46 Abs. 3 BRAO nicht aus, wer sich an<br />
Weisungen zu halten hat, die eine eigenständige<br />
Analyse der Rechtslage und eine einzelfallorientierte<br />
Rechtsberatung ausschließen. Dem steht<br />
nicht entgegen, wenn ein Syndikusrechtsanwalt<br />
Vorlagen zur rechtlichen Prüfung zu erstellen hat,<br />
von denen der Arbeitgeber nach eigener Entscheidung<br />
abweichen kann (BGH, Beschl. v.<br />
26.6.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 29/19). Unschädlich soll<br />
es zudem jedenfalls sein, wenn die Entscheidungsbefugnis<br />
des Antragstellers bei einem Teil seiner<br />
anwaltlichen Tätigkeit (20–30 %), durch ein<br />
Weisungsrecht eingeschränkt ist (BGH, Beschl.<br />
v. 14.1.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 29/17). Eine die Syndikuszulassung<br />
verhindernde Weisungsunterworfenheit<br />
kann sich – wie der Anwaltssenat bereits zuvor<br />
festgestellt hat – insb. aus innerbetrieblichen<br />
Vorschriften ergeben. Unternehmensinterne reine<br />
Compliance-Vorschriften ohne fachlichen Bezug<br />
spielen insofern aber keine Rolle (BGH, Beschl. v.<br />
26.6.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 29/19; Beschl. v. 29.1.2<strong>01</strong>9<br />
– AnwZ [Brfg] 16/18). Auch die Tatsache, dass die<br />
fachliche Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit<br />
faktisch durch die Möglichkeit der – missbräuchlichen<br />
– Versetzung oder der Drohung mit ihr<br />
eingeschränkt sein könne, schließt die Zulassung<br />
nicht aus (BGH, Beschl. v. 26.6.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg]<br />
29/19).<br />
c) Keine Vertretungsbefugnis erforderlich<br />
In seinem hier bereits angesprochenen Urt. v.<br />
30.9.2<strong>01</strong>9 ist der Anwaltssenat auch darauf eingegangen,<br />
was unter der für die Syndikuszulassung<br />
gem. § 46 Abs. 3 Nr. 4 BRAO erforderlichen<br />
Befugnis, nach außen verantwortlich aufzutreten,<br />
zu verstehen ist. Bereits zum Jahresanfang hatte<br />
der Anwaltssenat entschieden, dass zur Erfüllung<br />
des Merkmals das Vorliegen einer Alleinvertretungsbefugnis<br />
nicht zu fordern sei (Urt. v. 14.1.2<strong>01</strong>9<br />
– AnwZ [Brfg] 25/18 m. Anm. FREUNDORFER NJW<br />
2<strong>01</strong>9, 930; Beschl. v. 14.1.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 29/17;<br />
BGH, Beschl. v. 27.2.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 36/17).<br />
Nunmehr hat er ergänzend ausgeführt, dass<br />
die Syndikuszulassung auch eine Gesamtvertretungsbefugnis<br />
nicht zwingend voraussetze (Urt.<br />
v. 30.9.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 63/17). Die Befugnis,<br />
nach außen verantwortlich aufzutreten, könne<br />
sich im Einzelfall auch bereits aus der selbstständigen<br />
Führung von Verhandlungen im Außenverhältnis<br />
oder der wesentlichen Teilhabe an<br />
Abstimmungs- und Entscheidungsprozessen im<br />
Innenverhältnis ergeben. Dieses Ergebnis leitet<br />
der Senat aus einem Vergleich mit den typischen<br />
Handlungsbefugnissen eines externen Rechtsanwalts<br />
ab, der mit der Führung außergerichtlicher<br />
Verhandlungen beauftragt werde. Auch dessen<br />
Tätigkeit werde nicht danach bewertet, ob er<br />
schlussendlich die ausgehandelte Vereinbarung<br />
als Vertreter seines Auftraggebers verbindlich<br />
abschließe, sondern nach Umfang und Qualität<br />
seines Handelns im Vorfeld.<br />
12 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
d) Angelegenheiten des Arbeitgebers<br />
In einem weiteren Beschl. v. 16.8.2<strong>01</strong>9 hat der<br />
Anwaltssenat wieder einmal Stellung zum<br />
Merkmal der „Tätigkeit in Angelegenheiten des<br />
Arbeitgebers“ genommen (AnwZ [Brfg] 58/18).<br />
Der Senat sieht § 46 Abs. 5 BRAO nicht lediglich<br />
als Beschränkung der Rechtsdienstleistungsbefugnis,<br />
sondern neben § 46 Abs. 2–4 BRAO<br />
als weitere tatbestandliche Voraussetzung für<br />
die Zulassung als Syndikusrechtsanwalt an. Im<br />
konkreten Fall lässt der Senat die Zulassung<br />
deshalb daran scheitern, dass in Rechtsangelegenheiten<br />
des Arbeitgebers nach § 46 Abs. 2 S. 1,<br />
Abs. 5 S. 1, 2 BRAO nicht tätig sei, wer als<br />
Schadenanwältin von einem Versicherungsmakler<br />
für die Abwicklung von Großschäden eingesetzt<br />
werde. Denn der Schadenanwalt nehme<br />
(wie der externe Datenschutzbeauftragte und<br />
der Rentenberater) Angelegenheiten der Kunden<br />
und nicht solche seines Arbeitgebers wahr. Nach<br />
dieser zweifelhaften Auffassung (vgl. HUFF NJW<br />
2<strong>01</strong>9, 3456) soll es daher keine Rolle spielen, dass<br />
sich der Versicherungsmakler schuldrechtlich<br />
gegenüber seinen Kunden zur Durchführung<br />
der Schadensfallbearbeitung verpflichtet habe.<br />
e) Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst<br />
Auch im Jahr 2<strong>01</strong>9 hatte sich der Anwaltssenat<br />
mit der Frage zu befassen, inwiefern die Zulassung<br />
als Syndikusrechtsanwalt auch für ein<br />
Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst möglich<br />
ist. Nach Auffassung des Anwaltssenats (zuletzt<br />
Urt. v. 30.9.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 38/18 m. Anm.<br />
OFFERMANN-BURCKART NJW 2<strong>01</strong>9, 3648; Urt. v.<br />
6.5.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 31/17) gelte der Zulassungsversagungsgrund<br />
nach § 7 Nr. 8 BRAO<br />
gem. § 46a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BRAO auch für die<br />
Beantragung der Zulassung als Syndikusrechtsanwalt.<br />
Jedoch könnten für die Beurteilung der<br />
Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen<br />
eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst einer<br />
Zulassung als Syndikusrechtsanwalt entgegenstehen<br />
kann, die strengen Grundsätze der<br />
Rechtsprechung des Senats zu einem mit dem<br />
Beruf des Rechtsanwalts nicht zu vereinbarenden<br />
Zweitberuf nach § 7 Nr. 8 BRAO nicht<br />
uneingeschränkt übertragen werden. Im Rahmen<br />
der Prüfung nach §§ 46a Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 7<br />
Nr. 8 BRAO sei ein großzügigerer Maßstab<br />
anzulegen.<br />
So erfülle eine nicht hoheitlich tätige Angestellte<br />
einer Krankenkasse (Körperschaft des öffentlichen<br />
Rechts) die Voraussetzungen für eine Zulassung<br />
als Syndikusrechtsanwältin (Urt. v. 30.9.2<strong>01</strong>9 –<br />
AnwZ [Brfg] 38/18). Es stehe der Zulassung<br />
nicht entgegen, dass sie die Entscheidungen des<br />
Widerspruchsausschusses der Krankenkasse im<br />
Mitgliedschafts- und Beitragsrecht als „rechtliche<br />
Prüfstelle“ vorbereitet habe, da sie nicht intern<br />
verbindlich über die Widersprüche entscheide und<br />
weder für den Erlass der Bescheide zuständig noch<br />
gegenüber der entscheidenden Stelle weisungsbefugt<br />
war. Die Vorbereitung hoheitlicher Maßnahmen<br />
durch Stellungnahmen, Rechtsgutachten,<br />
mündliche oder schriftliche Beratungen<br />
sowie Fertigung von Entscheidungsentwürfen<br />
stelle kein Zulassungshindernis dar, ohne dass es<br />
darauf ankomme, wie häufig einem Entscheidungsvorschlag<br />
gefolgt wird. Auch im Rahmen<br />
der Vertretung ihrer Arbeitgeberin vor den Sozialgerichten<br />
habe die Antragstellerin nicht hoheitlich<br />
gehandelt. Dementsprechend war zuvor auch<br />
einer Angestellten im Rechtsamt eines Landkreises<br />
die Syndikuszulassung nicht versagt worden<br />
(Urt. v. 6.5.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 31/17).<br />
Demgegenüber scheidet eine Syndikusrechtsanwaltszulassung<br />
aus, wenn der Antragsteller<br />
am Erlass hoheitlicher Maßnahmen mit Entscheidungsbefugnis<br />
beteiligt ist, wobei es weder<br />
auf den Umfang der hoheitlichen Tätigkeit im<br />
Verhältnis zur Gesamttätigkeit noch darauf ankommen<br />
soll, ob der Antragsteller als Entscheidungsträger<br />
nach außen auftritt oder erkennbar<br />
ist (Urt. v. 30.9.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 38/18; sog.<br />
„Infektionstheorie“, vgl. OFFERMANN-BURCKART NJW<br />
2<strong>01</strong>9, 3648).<br />
f) Elternzeit<br />
In einem Beschl. v. 18.3.2<strong>01</strong>9 (AnwZ [Brfg] 6/18;<br />
dazu MARKWORTH WuB 2<strong>01</strong>9, 415) hatte sich der<br />
Anwaltssenat nach seiner aufsehenerregenden<br />
Betriebsrat-Entscheidung (Urt. v. 29.1.2<strong>01</strong>8 –<br />
AnwZ [Brfg] 12/17; dazu DECKENBROCK/MARKWORTH<br />
Berufsrechtsreport <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 115, 118 f.) erneut<br />
mit der Frage zu beschäftigen, inwiefern sich<br />
Tätigkeitsunterbrechungen auf die Zulassungsfähigkeit<br />
auswirken. Ein Ruhen der die Syndikusrechtsanwaltszulassung<br />
vermittelnden Tätigkeit<br />
aufgrund einer Elternzeit i.S.d. BEEG steht<br />
einer positiven Zulassungsentscheidung nach<br />
Auffassung des Anwaltssenats nicht entgegen,<br />
zumindest solange keine mit der Zulassung<br />
unvereinbare Teilzeittätigkeit i.S.d. § 15 Abs. 4<br />
BEEG aufgenommen werde. Bei dieser Gelegen-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 13
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
heit stellte der Senat auch klar, dass ein Erholungsurlaub<br />
i.S.d. BUrlG oder eine Erkrankung<br />
i.S.d. EZFG als rein vorübergehende und damit<br />
unschädliche Tätigkeitsunterbrechungen anzusehen<br />
seien. Weiterhin offen bleibt, wie Fälle zu<br />
handhaben sind, in denen die Syndikuszulassung<br />
doch einmal temporär zu versagen bzw. zu<br />
widerrufen ist (der Anwaltssenat hat dies im<br />
Hinblick auf die Betriebsratstätigkeit angenommen,<br />
weitere Fälle könnten eine länger andauernde<br />
Erkrankung oder ein Sabbatjahr sein).<br />
Der BGH hat zwar die Auffassung vertreten,<br />
dass Betroffene „keine rentenversicherungspflichtigen<br />
Nachteile zu befürchten“ hätten, es bleibt aber<br />
abzuwarten, ob die Sozialgerichte diese Meinung<br />
teilen werden.<br />
IV. Berufspflichten und -rechte<br />
1. Vertretung widerstreitender Interessen<br />
Ein Anwalt, der mehrere an einem Rechtsstreit<br />
beteiligte Parteien vertritt, spielt mit dem Feuer.<br />
Dies hatte bereits eine letztes Jahr vorgestellte<br />
(DECKENBROCK/MARKWORTH Berufsrechtsreport <strong>ZAP</strong><br />
2<strong>01</strong>9, 115, 120 f.) Entscheidung des 4. Strafsenats<br />
(Beschl. v. 21.11.2<strong>01</strong>8 – 4 StR 15/18 m. Anm.<br />
DECKENBROCK NJW 2<strong>01</strong>9, 318) illustriert (vgl. zudem<br />
BGH, Urt. v. 12.3.2<strong>01</strong>9 – VI ZR 277/18). Der IX.<br />
Zivilsenat (Urt. v. 10.1.2<strong>01</strong>9 – IX ZR 89/18 m. Anm.<br />
DECKENBROCK EWiR 2<strong>01</strong>9, 467) versagte nun einem<br />
Anwalt knapp 1,6 Mio. € Anwaltshonorar, weil er<br />
widerstreitende Interessen vertreten habe. Denn<br />
ein Rechtsanwalt, der mehrere Gesamtschuldner<br />
vertrete, handele berufsrechtswidrig, wenn<br />
das Mandat nicht auf die Abwehr des Anspruchs<br />
im gemeinsamen Interesse der Gesamtschuldner<br />
beschränkt sei und nach den konkreten Umständen<br />
des Falls ein Interessenkonflikt tatsächlich<br />
auftrete. Dies sei regelmäßig zu bejahen,<br />
wenn ein Anwalt in einem zwischen Bauherrn<br />
und Bauunternehmer wegen eines Schadensfalls<br />
geführten selbstständigen Beweisverfahren das<br />
unbeschränkte Mandat zur Vertretung mehrerer<br />
als Streithelfer beigetretener Sonderfachleute,<br />
die teils mit der Planung, teils mit der Bauüberwachung<br />
beauftragt wurden, übernommen<br />
habe. Insoweit sei zu bedenken, dass der beauftragte<br />
Sachverständige, wie in § 485 Abs. 2 ZPO<br />
vorgesehen, nicht nur das Schadensbild festhalten,<br />
sondern auch Feststellungen zu den<br />
Ursachen des Schadensbilds treffen sollte. Die<br />
Antragsteller hätten die Streitverkündungen<br />
gegenüber den Planungsgemeinschaften damit<br />
begründet, dass als Schadensursache neben<br />
Ausführungsfehlern des Antragsgegners auch<br />
Handlungen der Fachplaner und Ingenieure in<br />
Betracht kämen. Weil das Ergebnis des selbstständigen<br />
Beweisverfahrens nach § 493 ZPO in<br />
einem späteren Hauptsacheverfahren berücksichtigt<br />
werden könne, sei den Planungsgemeinschaften,<br />
die in unterschiedlichen Stadien der<br />
Planung verantwortlich gewesen seien, daran<br />
gelegen gewesen, möglichen Feststellungen zu<br />
eigenen Verursachungsbeiträgen bereits jetzt<br />
entgegenzuwirken.<br />
In seiner Entscheidung hat der Senat nochmals<br />
bekräftigt, dass ein Anwaltsvertrag, der eine Vertretung<br />
widerstreitender Interessen begründet,<br />
nichtig sei. Er hat hinzugefügt, dass ein Bereicherungsanspruch<br />
für Leistungen des Rechtsanwalts<br />
ausgeschlossen sei, wenn der Anwalt vorsätzlich<br />
gegen das Verbot verstoßen oder sich der Einsicht<br />
in das Verbotswidrige seines Handelns leichtfertig<br />
verschlossen habe.<br />
2. Fremdgeld<br />
Gemäß § 43a Abs. 5 S. 2 BRAO und § 4 BORA<br />
haben Rechtsanwälte Fremdgelder, die sie im<br />
Mandatsverhältnis erhalten, unverzüglich an den<br />
Empfangsberechtigten weiterzuleiten oder auf ein<br />
Anderkonto einzuzahlen. Bei diesem Vorgang darf<br />
nach Auffassung des OLG Düsseldorf ein Zeitraum<br />
von ca. zwei bis drei Wochen regelmäßig nicht<br />
überschritten werden (Beschl. v. 15.5.2<strong>01</strong>9 – I-24<br />
U 171/18). Eine zwei Wochen nach Zahlungseingang<br />
an den Mandanten versendete „Abschlusskostennote“,<br />
welche die Zahlung nicht aufführt, sei somit<br />
falsch und irreführend, da sie den Eindruck hervorrufe,<br />
mit dem Schreiben sei eine endgültige<br />
Abrechnung erfolgt.<br />
Um Fremdgeld handelt es sich insb. dann, wenn<br />
der unterlegene Prozessgegner die von ihm zu<br />
tragenden Kosten des Rechtsstreits auf ein Anwaltskonto<br />
überweist. Die Rechtsschutzversicherung<br />
des Mandanten kann immer dann die Auskehrung<br />
des überwiesenen Betrags verlangen,<br />
sofern der Kostenersatzanspruch des Mandanten<br />
gem. § 86 Abs. 1 S. 1 VVG auf sie übergangen ist. In<br />
einem vom VI. Senat entschiedenen Fall (Urt. v.<br />
23.7.2<strong>01</strong>9 – VI ZR 307/18 m. Anm. WACKER DStR<br />
2<strong>01</strong>9, 2559) war der Versicherung erst mehr als<br />
14 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
zwei Jahre nach Beendigung des Rechtsstreits<br />
aufgefallen, dass sie die von ihr vorgestreckten<br />
Kosten des Rechtsstreits bislang nicht zurückerhalten<br />
hatte, da die Gelder von anwaltlicher Seite<br />
versehentlich an den Mandanten ausgezahlt worden<br />
waren. Nach Aufklärung des Sachverhalts ließ<br />
der Mandant der Versicherung den fehlenden<br />
Betrag zukommen. Die Versicherung gab sich<br />
damit aber nicht zufrieden, sondern verlangte<br />
zusätzlich vom Anwalt Zinsen i.H.v. mehr als<br />
1.000 €. Der VI. Senat lehnte dieses Ansinnen ab.<br />
Ein verzugs- und verschuldensunabhängiger Zinsanspruch<br />
der Versicherung bestehe nicht. Insbesondere<br />
seien die Voraussetzungen des § 688<br />
BGB nicht erfüllt, weil der Anwalt mit der versehentlichen<br />
Weiterleitung der vom Prozessgegner<br />
geleisteten Zahlungen an den Mandanten das Geld<br />
nicht „für sich“ verwendet habe. Ein Verzinsungsanspruch<br />
unter dem Gesichtspunkt des Schuldnerverzugs<br />
scheitere an der fehlenden Mahnung.<br />
Für einen deliktischen Verzinsungsanspruch (§ 849<br />
BGB) fehle es an einem deliktischen Ersatzanspruch<br />
der Versicherung. § 43a Abs. 5 S. 2 BRAO und § 4<br />
BORA seien keine Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2<br />
BGB zugunsten der Rechtsschutzversicherung.<br />
§ 43a Abs. 5 S. 2 BRAO schütze zwar das allgemeine<br />
Vertrauen in die Korrektheit und Integrität der<br />
Anwaltschaft in allen finanziellen Fragen und damit<br />
zugleich die Funktionsfähigkeit der Anwaltschaft in<br />
der Rechtspflege, entfalte jedoch keinen Individualschutz<br />
zugunsten der Empfangsberechtigten<br />
von Fremdgeldern.<br />
3. Vereinbarung von Erfolgshonoraren<br />
Geklärt ist nun, dass es sich bei dem Verbot der<br />
Vereinbarung eines Erfolgshonorars um eine<br />
Marktverhaltensregelung handelt und das Verbot<br />
daher wettbewerbsrechtlich relevant ist (BGH, Urt.<br />
v. 6.6.2<strong>01</strong>9 – I ZR 67/18, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 516/2<strong>01</strong>9). Die<br />
Entscheidung ist insoweit zutreffend, als die einschlägige<br />
Vorschrift des § 49b Abs. 2 S. 1 BRAO –<br />
neben der anwaltlichen Unabhängigkeit – nicht<br />
nur die „Rechtsuchenden vor einer Übervorteilung<br />
durch überhöhte Vergütungssätze“ schützt, sondern<br />
zudem gleiche rechtliche Voraussetzungen für alle<br />
Wettbewerber auf dem Markt schafft und damit<br />
auch einem fairen Wettbewerb dient (DECKENBROCK<br />
NJW 2<strong>01</strong>9, 3071, 3072).<br />
4. Werberecht<br />
Der BGH hat sich erneut mit den Grenzen der<br />
grundgesetzlich geschützten anwaltlichen Werbefreiheit<br />
befassen müssen. Im Streitfall hatte<br />
sich ein Anwalt und Diplomingenieur, dem die<br />
Erlaubnis verliehen war, Fachanwaltsbezeichnungen<br />
im Arbeitsrecht und gewerblichen Rechtsschutz<br />
zu führen, und der in seiner Kanzlei zwei<br />
Fachanwälte für gewerblichen Rechtsschutz beschäftigte,<br />
in einem Branchenverzeichnis unter<br />
„Patentanwälte in O.“ eintragen lassen. Weder der<br />
Anwalt noch die angestellten Berufsträger sind<br />
zugelassene Patentanwälte. Der Anwaltssenat<br />
(Beschl. v. 25.4.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 57/18) hat<br />
dies als nicht mehr berufsrechtskonform angesehen.<br />
Aus dem Sachlichkeitsgebot folge für die<br />
Rechtsanwaltschaft, dass sie nicht sämtliche<br />
Werbemethoden verwenden dürfe, die im Bereich<br />
der werbenden allgemeinen Wirtschaft (noch)<br />
hinzunehmen wären (vgl. bereits BGH, Urt. v.<br />
27.10.2<strong>01</strong>4 – AnwZ [Brfg] 67/13); jedenfalls sei aber<br />
eine Werbung, die gegen § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 UWG<br />
verstoße, nicht nur wettbewerbs-, sondern auch<br />
berufsrechtswidrig. Nach Auffassung des Senats<br />
ist der Brancheneintrag als irreführende Werbung,<br />
die geeignet ist, bei einem erheblichen Teil<br />
der angesprochenen Verkehrskreise Fehlvorstellungen<br />
hervorzurufen und so die Entschließung<br />
der Rechtsuchenden im Wettbewerb in rechtlich<br />
relevanter Weise zu beeinflussen, anzusehen.<br />
Denn eine anwaltliche Selbsteinschätzung dürfe<br />
nicht den Eindruck erwecken, eine Qualifikation<br />
sei durch ein förmliches Verfahren erworben<br />
oder werde durch eine dritte Stelle gebilligt. Mit<br />
der Schaltung der Anzeige werde aber aus Sicht<br />
eines Rechtsuchenden der Eindruck erweckt, dass<br />
der Anwalt selbst oder zumindest ein in seiner<br />
Kanzlei beschäftigter Berufsträger Patentanwalt<br />
sei. Insoweit sei entscheidend, dass nach § 18<br />
Abs. 4 PAO die Berufsbezeichnung „Patentanwalt“<br />
nur nach der Zulassung geführt werden dürfe.<br />
Eine Irreführung sei auch nicht deshalb zu verneinen,<br />
weil Anwälte grds. berechtigt seien,<br />
Rechtsuchende in den Angelegenheiten zu vertreten,<br />
in denen Patentanwälte tätig sind. Wer<br />
nach einem Patentanwalt suche, erwarte speziell<br />
dessen Qualifikation. Diese unterscheide sich von<br />
einem normalen Rechtsanwalt erheblich, weil<br />
Voraussetzung für den Erwerb der Zulassung als<br />
Patentanwalt neben der rechtlichen Befähigung<br />
die technische Befähigung nach § 6 PAO sei.<br />
Auch wenn der Anwaltssenat dies in Abrede stellt<br />
(Rn 25 ff.), steht seine Entscheidung in Konflikt<br />
mit einem Judikat des für das Wettbewerbsrecht<br />
zuständigen und als liberaler geltenden I. Zivilsenats<br />
(Urt. v. 18.10.2<strong>01</strong>2 – I ZR 137/11). Dieser hatte<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 15
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
2<strong>01</strong>2 die Angabe „Steuerbüro“ in der Kanzleibezeichnung<br />
eines Anwalts nicht als irreführend beanstandet,<br />
wenn dieser zu einem überwiegenden Teil<br />
seiner Berufstätigkeit Hilfeleistungen in Steuersachen<br />
erbringe. Daran ändere auch der Umstand<br />
nichts, dass ein Teil der an diesen Dienstleistungen<br />
interessierten Verbraucher aus der Angabe „Steuerbüro“<br />
den unrichtigen Schluss ziehen könnte, in<br />
der Kanzlei sei auch ein Steuerberater oder ein<br />
Fachanwalt für Steuerrecht tätig.<br />
Eine liberale Auffassung hat der I. Senat auch<br />
in einem zuletzt vor dem KG Berlin geführten<br />
Verfahren vertreten. Das KG hatte einem<br />
Rechtsanwalt untersagt, im Wettbewerb als<br />
„Anwaltsforum Patientenanwälte im Geburtsschadensrecht“<br />
aufzutreten, da der beworbene Zusammenschluss<br />
über ein Vorbereitungsstadium<br />
nicht hinausgekommen sei und letztlich nur aus<br />
dem Beklagten und seinen freien Mitarbeitern<br />
bestanden habe (Urt. v. 24.8.2<strong>01</strong>8 – 5 U 134/17).<br />
Allerdings hatte der Beklagte im Verfahren noch<br />
andere vermeintliche Mitglieder seiner Arbeitsgemeinschaft<br />
benannt, bei denen es sich nicht<br />
um seine Mitarbeiter handelte. Hieran knüpfte<br />
die Kritik des I. Senats an (Beschl. v. 14.3.2<strong>01</strong>9 –<br />
I ZR 167/18, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 359/2<strong>01</strong>9). Für das<br />
Bestehen der Arbeitsgemeinschaft sei nicht der<br />
Beklagte beweisbelastet. Die Darlegungs- und<br />
Beweislast für die Irreführung, also auch für das<br />
Nichtbestehen der Arbeitsgemeinschaft, treffe<br />
vielmehr den Kläger als Anspruchsteller. Angesichts<br />
der Benennung angeblicher Mitglieder der<br />
Arbeitsgemeinschaft durch den Beklagten sei es<br />
somit Sache des Klägers gewesen zu beweisen,<br />
dass die Mitgliedschaft nicht bestand.<br />
5. Handakte und Abwickler<br />
Jüngst kam es wiederholt zu Streitigkeiten um die<br />
Herausgabe der anwaltlichen Handakte (§ 50<br />
BRAO). Auch 2<strong>01</strong>9 hatte sich der BGH mit der<br />
Reichweite dieser Herausgabepflicht zu beschäftigen<br />
(Urt. v. 7.2.2<strong>01</strong>9 – IX ZR 5/18 m. Anm. UEBERFELDT<br />
DStR 2<strong>01</strong>9, 1111). Im Streitfall machte wie so oft ein<br />
Insolvenzverwalter den Herausgabeanspruch geltend.<br />
Der beklagte Praxisabwickler einer Einzelanwaltskanzlei<br />
berief sich darauf, die Mandate, auf<br />
welche sich die Akten bezogen, im Rahmen seiner<br />
Befugnisse auf sich selbst und andere Rechtsanwälte<br />
überführt zu haben. Damit stehe der<br />
Schuldnerin auch das Eigentum an den Handakten<br />
nicht mehr zu. Der IX. Senat stimmte dem zu. Es<br />
könne offen bleiben, ob eine vom Abwickler<br />
veranlasste Überführung laufender Verfahren auf<br />
sich selbst oder andere Anwälte dem Sinn und<br />
Zweck der Abwicklung entspreche, jedenfalls hätten<br />
die Mandanten als Herren des Verfahrens die<br />
Entscheidungsbefugnis darüber, wer ihre Mandate<br />
künftig fortführe. Anlässlich der Mandatswechsel<br />
habe der Abwickler gem. §§ 53 Abs. 10 S. 1, 55 Abs. 3<br />
S. 1 BRAO die Befugnis gehabt, im Namen der<br />
ehemaligen Rechtsanwältin über die in ihrem<br />
Eigentum stehenden Teile der zum Mandat gehörenden<br />
Handakten zu verfügen. Dem ist zuzustimmen.<br />
Der Fall illustriert jedoch erneut, wie problematisch<br />
das Verhältnis von Insolvenzverwalter<br />
und Abwickler ist.<br />
6. Verbot der Umgehung des Gegenanwalts<br />
Das Anwaltsgericht Köln (Beschl. v. 16.8.2<strong>01</strong>9 –<br />
3 AnwG 15/19 R) konnte zur Reichweite des<br />
Verbots der Umgehung des Gegenanwalts (§ 12<br />
BORA) Stellung nehmen. Der Vermieter einer<br />
Wohnung war zugleich Gesellschafter einer Anwalts-<br />
und Steuerberaterkanzlei. Er hatte die<br />
Kanzlei in einem Rechtsstreit mit seiner Mieterin<br />
mandatiert. Die Mieterin war ihrerseits anwaltlich<br />
vertreten. Gleichwohl wandte sich der Vermieter/Anwalt<br />
unmittelbar an sie. Im Schreiben<br />
nahm er Bezug auf einen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten<br />
der Mieterin aus dem laufenden<br />
Prozess und forderte sie auf, diesen Vortrag<br />
zu widerrufen, nicht mehr zu wiederholen und<br />
diesbezüglich eine strafbewehrte Unterlassungserklärung<br />
abzugeben.<br />
Dieses Verhalten wertete das AnwG als Verstoß<br />
gegen das Verbot der Umgehung des Gegenanwalts,<br />
obwohl der Anwalt nicht den Kanzleibriefbogen<br />
verwendete, sondern einen Briefbogen,<br />
der seine Privatadresse, seine akademische<br />
Qualifikation und seine Berufsbezeichnungen enthielt.<br />
Entscheidend sei, dass die Kontaktaufnahme<br />
sich auf einen Bereich bezogen habe, für den der<br />
Gegenanwalt mandatiert gewesen sei. Durch<br />
Verwendung eines Briefbogens, der ausdrücklich<br />
einen Hinweis auf seine Tätigkeit als Anwalt<br />
enthalten habe, habe die Mieterin davon ausgehen<br />
müssen, dass ihr Vermieter insoweit (auch)<br />
anwaltlich tätig sein wollte.<br />
16 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
V. Fachanwaltschaften<br />
1. Vertretung in mehreren Instanzen<br />
Der Anwaltssenat hat in einem Beschl. v.<br />
25.2.2<strong>01</strong>9 (AnwZ [Brfg] 80/18) seine bisherige<br />
Rechtsprechung (vgl. Beschl. v. 27.4.2<strong>01</strong>6 – AnwZ<br />
[Brfg] 3/16) bekräftigt, nach der ein anwaltliches<br />
Mandat, das sich über mehrere Instanzen<br />
erstreckt, nur einen Fall i.S.d. Fachanwaltsordnung<br />
darstellt. Unter einem „Fall“ sei jede<br />
juristische Aufarbeitung eines einheitlichen Lebenssachverhalts<br />
zu verstehen, der sich von<br />
anderen Lebenssachverhalten dadurch unterscheidet,<br />
dass die zu beurteilenden Tatsachen<br />
und die Beteiligten verschieden sind. Ebenso wie<br />
Angelegenheiten, die ein Anwalt sowohl außergerichtlich<br />
als auch gerichtlich bearbeite, nur<br />
als ein Fall zählten, scheide eine Doppelzählung<br />
bei einem Mandat aus, das sich auf mehrere<br />
Gerichtsinstanzen erstrecke. Auch führe der<br />
Umstand, dass ein Fall in eine höhere Instanz<br />
gelangt, nicht zwingend zu einer höheren<br />
Gewichtung nach § 5 Abs. 4 FAO. Da die<br />
zusätzliche Fallbearbeitung in einem Berufungsoder<br />
sonstigen Rechtsmittelverfahren nicht<br />
schon für sich genommen eine Gewähr dafür<br />
biete, dass der Rechtsanwalt hierbei in dem<br />
betreffenden Fachgebiet besondere praktische<br />
Erfahrungen erwerbe, die über diejenigen eines<br />
„durchschnittlichen“ Falls hinausgehen, komme<br />
eine schematische Aufwertung nicht in Betracht.<br />
Anlass für eine Höhergewichtung bestünde insb.<br />
nicht, wenn die Sache in zweiter Instanz nicht<br />
rechtlich auf „neue Beine“ gestellt werde. Wesentlich<br />
sei vielmehr, ob sich aus dem Vortrag<br />
des jeweiligen Antragstellers ergebe, dass der<br />
Fall durch seine Bearbeitung in mehreren Instanzen<br />
eine höhere Gewichtung verdiene.<br />
2. Keine mehrfache Anrechnung ein und derselben<br />
Fachanwaltsfortbildung<br />
In einer aktuellen Entscheidung musste der BGH<br />
(Beschl. v. 28.10.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 14/19) die<br />
Frage beantworten, ob die Teilnahme an einer<br />
Kombinations- bzw. fachgebietsübergreifenden<br />
Veranstaltung i.R.d. § 15 Abs. 3 FAO („Die Gesamtdauer<br />
der Fortbildung darf je Fachgebiet 15 Zeitstunden<br />
nicht unterschreiten.“) gleichzeitig vollständig auf<br />
mehrere Fachanwaltsbezeichnungen angerechnet<br />
werden darf. Nach Ansicht des Anwaltssenats<br />
ergibt sich aus dem Wortlaut („je Fachgebiet“),<br />
dass in jedem Fachgebiet jeweils das<br />
volle Stundenkontingent zu erbringen ist, d.h.,<br />
dass bei zwei oder drei Fachanwaltsbezeichnungen<br />
insgesamt mindestens 30 bzw. 45 Fortbildungszeitstunden<br />
erbracht und nachgewiesen<br />
werden müssen. Eine solche Auslegung sei auch<br />
zum Schutz des rechtsuchenden Publikums<br />
gefordert. Verfüge ein Rechtsanwalt über die<br />
Erlaubnis, mehrere Fachanwaltsbezeichnungen<br />
zu führen, nehme er nicht nur im Vergleich zu<br />
anderen Anwälten ohne Fachanwaltsbezeichnung<br />
eine besondere Qualifikation auf den<br />
jeweiligen Gebieten in Anspruch, sondern auch<br />
gegenüber Anwälten mit nur einer Fachanwaltsbezeichnung.<br />
Die berechtigte Erwartung in<br />
eine weitergehende Qualifikation des Rechtsanwalts<br />
mit mehreren Fachanwaltsbezeichnungen<br />
aufgrund seiner dauerhaften intensiven<br />
Befassung mit jedem der betreffenden Spezialgebiete<br />
wäre im Fall einer Mehrfachanrechnung<br />
ein und derselben Fortbildung nicht mehr erfüllt.<br />
Vielmehr sei eine für den Rechtsuchenden nicht<br />
erkennbare und von ihm auch nicht erwartete<br />
Angleichung des Qualitätsstandards am denjenigen<br />
eines Rechtsanwalts mit nur einem Fachanwaltstitel<br />
zu fürchten. Die Ausführungen zum<br />
Schutzzweck des § 15 FAO klingen angesichts der<br />
Tatsache, dass durch die formalisierte Nachweispflicht<br />
ohnehin allenfalls ein Mindeststandard der<br />
fachlichen Qualifizierung geschaffen wurde, etwas<br />
hochtrabend. Gleichwohl ist die Entscheidung<br />
des BGH vor dem Hintergrund der in der<br />
Entscheidung ebenfalls ausführlich dargelegten<br />
Entstehungsgeschichte und des eindeutigen Regelungswillens<br />
der Satzungsversammlung zwingend.<br />
VI. Anwaltliches Gesellschaftsrecht<br />
1. Kein beA für Rechtsanwaltsgesellschaften<br />
Das besondere elektronische Anwaltspostfach<br />
(beA) sorgte bei seiner Einführung Anfang 2<strong>01</strong>8<br />
für viel Wirbel (vgl. DECKENBROCK/MARKWORTH Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>8, 57, 58), der sich inzwischen<br />
weitgehend gelegt hat. Stieß es zunächst noch<br />
auf breite Ablehnung, geht es jetzt sogar um<br />
die Frage, wem die Einrichtung eines eigenen<br />
elektronischen Anwaltspostfachs zu versagen ist.<br />
So musste sich der Anwaltssenat des BGH damit<br />
befassen, ob auch für eine Rechtsanwalts-AG ein<br />
beA einzurichten ist (Urt. v. 6.5.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg]<br />
69/18). Er hat dies verneint. §§ 31a Abs. 1 S. 1, 31<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 17
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Abs. 1 S. 1 BRAO sähen die Einrichtung des<br />
beA nur zugunsten von Mitgliedern einer Rechtsanwaltskammer,<br />
die natürliche Personen sind, vor.<br />
Rechtsanwaltsgesellschaften das beA zu versagen,<br />
obschon sie ebenfalls Kammermitglieder sind,<br />
verletze insb. auch nicht deren Berufsausübungsfreiheit<br />
(Art. 12 Abs. 1 GG). Dem ist de lege lata<br />
zuzustimmen. Es ist aber zu begrüßen, dass de lege<br />
ferenda erwogen wird (vgl. Nr. 19 des Eckpunktepunktepapiers<br />
des BMJV; dazu II. 1.), allen Berufsausübungsgesellschaften<br />
die Möglichkeit zu eröffnen,<br />
i.R.d. beA ein Kanzleipostfach zu erhalten<br />
(optionales Kanzleipostfach). Hierdurch würden<br />
nicht nur aus „Umwegen“ über empfangsbefugte<br />
natürliche Personen resultierende zeitliche Verzögerungen<br />
verhindert, sondern es würde auch der<br />
Tatsache Rechnung getragen, dass die Gesellschaft<br />
Partei des geschlossenen Anwaltsvertrags ist.<br />
2. Haftung des Mandatsbearbeiters in der<br />
Partnerschaftsgesellschaft (PartG)<br />
In einem Urt. v. 12.9.2<strong>01</strong>9 (IX ZR 190/18 m. Anm.<br />
MARKWORTH NJW 2<strong>01</strong>9, 3521; HIRTZ EWiR 2<strong>01</strong>9, 679)<br />
hatte der IX. Zivilsenat endlich wieder einmal die<br />
Gelegenheit, sich zur Gesellschafterhaftung in<br />
der PartG zu äußern. In seiner letzten einschlägigen<br />
Entscheidung aus dem Jahr 2009 (Urt. v.<br />
19.11.2009 – IX ZR 12/09 m. krit. Anm. HENSSLER/<br />
DECKENBROCK EWiR 2<strong>01</strong>0, 89) hatte der IX. Senat die<br />
Auffassung vertreten, dass die nach § 8 Abs. 2<br />
PartGG haftungsauslösende Befassung mit der<br />
„Bearbeitung eines Auftrags“ nicht voraussetzt, dass<br />
der einzelne Partner einen Verursachungsbeitrag<br />
zum eingetretenen Schaden geleistet haben<br />
muss. Dementsprechend solle ein eintretender<br />
Partner, wenn er in die Mandatsbearbeitung<br />
eingeschaltet wird, auch für irreparable Fehler<br />
eines anderen Berufsträgers aus der Zeit vor<br />
seinem Eintritt haften müssen. Von einer „Handelndenhaftung“<br />
im engeren Sinne konnte in Bezug<br />
auf § 8 Abs. 2 PartGG seitdem nicht mehr die<br />
Rede sein. Wenig überraschend blieb der IX. Senat<br />
im neuen Urteil seiner strengen Linie treu. Ein<br />
einmal befasster Partner vermag danach seiner<br />
Haftung nicht mehr zu entgehen, obschon er das<br />
Mandat abgegeben hat, bevor es zum haftungsauslösenden<br />
Fehler kam. Weitere Aspekte des<br />
Urteils betrafen die Begriffe „Befassung“ und<br />
„Auftrag“ i.S.d. § 8 Abs. 2 PartGG (näher MARKWORTH<br />
NJW 2<strong>01</strong>9, 3521). Absehbar ist, dass die Entscheidung<br />
den Bedeutungsverlust der „einfachen“ PartG<br />
gegenüber der PartG mbB weiter befeuern wird.<br />
VII. Anwaltshaftung<br />
Auch in diesem Jahr ergingen einige Entscheidungen,<br />
die sich mit den Voraussetzungen einer<br />
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei<br />
Versäumung der Frist zur Begründung eines<br />
Rechtsmittels auseinandersetzten. Nach § 233<br />
ZPO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand<br />
u.a. zu gewähren, wenn eine Partei ohne ihr<br />
Verschulden verhindert war, die Begründungsfrist<br />
einzuhalten. Dabei ist das Verschulden ihres<br />
Prozessbevollmächtigten der Partei zuzurechnen<br />
(§ 85 Abs. 2 ZPO).<br />
1. Elektronischer Fristenkalender<br />
In einem vom III. Zivilsenat zu entscheidenden<br />
Fall (Beschl. v. 28.2.2<strong>01</strong>9 – III ZB 96/18, <strong>ZAP</strong> EN-<br />
Nr. 250/2<strong>01</strong>9) beruhte die Versäumung der<br />
Begründungsfrist darauf, dass Frist und Vorfrist<br />
nicht in dem von der Kanzlei des bevollmächtigten<br />
Anwalts verwendeten elektronischen Fristenkalender<br />
gespeichert worden waren. Der<br />
Anwalt brachte zu seiner Entlastung vor, die<br />
versäumte Speicherung habe nicht auf einem<br />
Organisationsverschulden beruht, da in seiner<br />
Kanzlei eine automatisierte programmseitige<br />
Eingabekontrolle praktiziert werde. Dies reichte<br />
dem BGH jedoch nicht aus. Die Verwendung<br />
einer elektronischen Kalenderführung dürfe keine<br />
hinter der manuellen Führung zurückbleibende<br />
Überprüfungssicherheit bieten. Deshalb sei die<br />
Fertigung eines Kontrollausdrucks erforderlich,<br />
um nicht nur Datenverarbeitungsfehler des EDV-<br />
Programms, sondern auch Eingabefehler oder<br />
-versäumnisse mit geringem Aufwand rechtzeitig<br />
zu erkennen und zu beseitigen. Eine rein<br />
elektronische Kontrolle sei deutlich anfälliger als<br />
eine Kontrolle mittels eines Ausdrucks, insb. für<br />
ein sog. Augenblicksversagen der mit ihr beauftragten<br />
Mitarbeiter. Auch wenn diese Rechtsprechung<br />
wenig zeitgemäß ist, müssen Kanzleien,<br />
die derartige Programme verwenden, ihre<br />
Praxis umstellen. Es liegt nun an den Anbietern<br />
elektronischer Fristenkalender, überzeugende<br />
technische Lösungen zu entwickeln, die eine der<br />
Papierlösung äquivalente Fristenkontrolle gewährleisten.<br />
2. Verwendung des beA<br />
Gleich mehrmals hatten sich Gerichte im vergangenen<br />
Jahr mit den Sorgfaltspflichten, die<br />
einen Anwalt bei Versendung fristwahrender<br />
18 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
Schriftsätze über das beA treffen, zu befassen.<br />
Wie bei einem Faxgerät hat der Anwalt nach dem<br />
BAG das zuständige Personal auch bei Nutzung<br />
des beA dahingehend zu belehren, dass stets der<br />
Erfolg des Sendevorgangs zu kontrollieren ist<br />
(Beschl. v. 7.8.2<strong>01</strong>9 – 5 AZB 16/19; ebenso OVG<br />
Magdeburg, Beschl. 28.8.2<strong>01</strong>9 – 2 M 58/19). Hierzu<br />
muss der Erhalt der automatisierten Eingangsbestätigung<br />
überprüft und nicht nur der „Gesendet“-Ordner<br />
aufgerufen werden. Der Anwalt hat<br />
zudem zumindest stichprobenweise Überprüfungen<br />
durchzuführen, ob seine Anweisungen eingehalten<br />
werden. Allerdings gibt das beA Versand<br />
und Zugang eines Schriftsatzes nicht immer<br />
richtig an, wie eine Entscheidung des BFH (Beschl.<br />
v. 5.6.2<strong>01</strong>9 – IX B 121/18) zeigt. Im zugrunde<br />
liegenden Fall war ein über das beA versendeter<br />
Schriftsatz wegen in der Dateibezeichnung enthaltener<br />
unzulässiger Zeichen in ein für das<br />
Gericht unzugängliches Verzeichnis für „korrupte“<br />
Nachrichten verschoben wurden. Da das Postfach<br />
dem Anwalt aber signalisiert hatte, es sei alles in<br />
Ordnung, gewährte der BFH Wiedereinsetzung.<br />
3. Probleme rund um das Faxgerät<br />
Nach Auffassung des VIII. Senats (Beschl. v.<br />
20.8.2<strong>01</strong>9 – VIII ZB 19/18) können bei Übermittlung<br />
des Begründungsschriftsatzes per Fax Störungen<br />
des Empfangsgeräts im Gericht grds. kein<br />
Anwaltsverschulden begründen. Denn mit der<br />
Wahl einer Telefaxübertragung habe der Anwalt<br />
bei ordnungsgemäßer Nutzung eines funktionsfähigen<br />
Sendegeräts und der korrekten Eingabe<br />
der Empfängernummer das seinerseits Erforderliche<br />
zur Fristwahrung getan, zumindest wenn er<br />
so rechtzeitig mit der Übermittlung beginne, dass<br />
unter normalen Umständen mit ihrem Abschluss<br />
bis zum Fristablauf zu rechnen sei. Im Ausgangspunkt<br />
zutreffend hat der Senat aber weitergehend<br />
ausgeführt, dass der Anwalt seine Versendungsbemühungen<br />
nicht vorschnell weit vor<br />
Fristablauf abbrechen dürfe. Daran anknüpfend<br />
stellt sich aber die Frage, wie umfangreich die<br />
seitens des Anwalts geschuldeten Bemühungen<br />
und die einzuplanende Zeitreserve sein muss. Der<br />
VIII. Senat legt insofern einen zweifelhaften<br />
Maßstab an und überdehnt das anwaltliche<br />
Pflichtenprogramm: So soll die Gewährung von<br />
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch<br />
dann ausscheiden, wenn ein Anwalt nach mehr<br />
als 54 (!) infolge der Überlastung oder einer<br />
beschränkten technischen Störung des Empfangsgeräts<br />
gescheiterten Übermittlungsversuchen<br />
ab etwa 20 Uhr am Tag des Fristablaufs<br />
weitere Sendeversuche unterlassen hat.<br />
Weniger angreifbar ist eine Entscheidung des IX.<br />
Senats (Beschl. v. 14.11.2<strong>01</strong>9 – IX ZB 18/19) zu den<br />
Anstrengungen, die bei der Ermittlung der richtigen<br />
Faxnummer zu unternehmen sind. Danach<br />
muss ein Anwalt den Abgleich der auf dem<br />
Sendeprotokoll ausgedruckten Faxnummer anhand<br />
einer zuverlässigen Quelle, aus der die<br />
Faxnummer des Gerichts hervorgeht, für das die<br />
Sendung bestimmt ist, anweisen. Dabei kann der<br />
Vergleich mit einer bereits zuvor schriftlich niedergelegten<br />
Faxnummer genügen, wenn sichergestellt<br />
ist, dass diese ihrerseits aus einer seriösen<br />
Quelle ermittelt worden ist. Darüber hinaus muss<br />
auch noch überprüft werden, ob die in den Akten<br />
befindliche Nummer auch tatsächlich dem Gericht<br />
zuzuordnen ist und nicht etwa – wie im zu<br />
entscheidenden Fall – dem gegnerischen Anwalt.<br />
4. Erkrankung eines Einzelanwalts<br />
In drei weiteren, ähnlich gelagerten Fällen<br />
hatten sich auch unterschiedliche andere Senate<br />
des BGH mit Wiedereinsetzungsanträgen im<br />
Anschluss an versäumte Rechtsmittelbegründungsfristen<br />
auseinanderzusetzen. Nach ständiger<br />
BGH-Rechtsprechung gilt insofern, dass ein<br />
Rechtsanwalt allgemeine Vorkehrungen dafür<br />
treffen muss, dass das zur Wahrung von Fristen<br />
Erforderliche auch dann unternommen wird,<br />
wenn er unvorhergesehen ausfällt. Sei er als<br />
Einzelanwalt ohne eigenes Personal tätig, müsse<br />
er ihm zumutbare Vorkehrungen für einen<br />
Verhinderungsfall treffen, z.B. durch Absprache<br />
mit einem vertretungsbereiten Kollegen. Diesen<br />
Grundsatz konnte der BGH nunmehr nicht<br />
unwesentlich präzisieren. So führte der VI. Senat<br />
in einem Beschl. v. 19.2.2<strong>01</strong>9 (VI ZB 43/18, <strong>ZAP</strong><br />
EN-Nr. 379/2<strong>01</strong>9) aus, dass sich die Obliegenheiten<br />
eines Einzelanwalts ohne eigenes Personal,<br />
wenn er zuvor allgemeine Vorkehrungen für<br />
Verhinderungsfälle getroffen habe, bei einer<br />
unvorhergesehenen Erkrankung darin erschöpfen<br />
können, diese Vertretung zu kontaktieren<br />
und um die Beantragung einer Fristverlängerung<br />
zu bitten. Komme er sogar diesen Maßnahmen<br />
nicht nach, sei der Wiedereinsetzungsantrag<br />
aber nur dann begründet, wenn er die näheren<br />
Umstände darlegt und glaubhaft macht, dass<br />
selbst sie ihm nicht möglich waren. Es reiche<br />
nicht aus vorzubringen, aufgrund hohen Fiebers<br />
sei „gar nichts mehr möglich“ gewesen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 19
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Die skizzierte Obliegenheit, allgemein Vorkehrungen<br />
für eine anwaltliche Vertretung zu treffen,<br />
trifft den Einzelanwalt selbst. Er darf es, wie der<br />
XII. Zivilsenat in einem Beschl. v. 31.7.2<strong>01</strong>9 (XII ZB<br />
36/19) ausgeführt hat, weder einem mit ihm<br />
kooperierenden (aber im konkreten Verfahren<br />
nicht postulationsfähigen) Rechtsbeistand noch<br />
einer bei diesem beschäftigten Rechtsanwaltsfachangestellten<br />
überlassen, an seiner statt einen<br />
zur Vertretung und damit auch zur eigenverantwortlichen<br />
Unterzeichnung der Rechtsmittelbegründung<br />
bereiten Rechtsanwalt zu suchen.<br />
In einem weiteren Fall hatte sich der XII. Zivilsenat<br />
(Beschl. v. 21.8.2<strong>01</strong>9 – XII ZB 93/19, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 676/<br />
2<strong>01</strong>9) mit einem Wiedereinsetzungsantrag im<br />
Anschluss an eine versäumte Beschwerdebegründungsfrist<br />
in einem familiengerichtlichen Verfahren<br />
zu befassen. Im zugrunde liegenden Fall ging<br />
es ausnahmsweise um eine sich selbst vertretende<br />
Rechtsanwältin. Auch insofern kam es aber<br />
nicht zu einer Wiedereinsetzung, da nach dem<br />
BGH hier dieselben Grundsätze wie bei der Vertretung<br />
Dritter gelten.<br />
VIII. Vergütungsrecht<br />
1. Kündigung des anwaltlichen Mandats<br />
Mit Urt. v. 7.3.2<strong>01</strong>9 (IX ZR 221/18, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 287/<br />
2<strong>01</strong>9; zust. JURETZEK DStR 2<strong>01</strong>9, 1375) widmete sich<br />
der IX. Senat den Folgen der Kündigung eines<br />
anwaltlichen Mandats für den Honoraranspruch.<br />
Im Streitfall war der klagende Anwalt von der<br />
beklagten Mandantin damit beauftragt worden,<br />
zwei Vertragsentwürfe zu fertigen, durch welche<br />
zwei der Beklagten gehörende Grundstücke im<br />
Wege der vorweggenommenen Erbfolge auf ihre<br />
Kinder übertragen werden sollten. Dabei sollte der<br />
Beklagten jeweils ein lebenslänglicher Nießbrauch<br />
vorbehalten werden. In der Folgezeit kündigte die<br />
Beklagte den Anwaltsvertrag mit der Begründung,<br />
sie benötige noch Bedenkzeit und wolle den Wert<br />
der Häuser schätzen lassen. Daraufhin übersandte<br />
der Kläger der Beklagten zwei Vertragsentwürfe,<br />
welche er vor der Kündigung als „erste grobe“<br />
Entwürfe gefertigt habe, und zwei Kostenrechnungen<br />
über insgesamt mehr als 25.000 €. Die<br />
Beklagte trat den Rechnungen entgegen und<br />
berief sich nunmehr auf den Wegfall der Vergütungspflicht<br />
wegen einer steuerschädlichen<br />
Vertragsgestaltung.<br />
Der Senat hielt den Vergütungsanspruch für<br />
gerechtfertigt. Zwar stehe dem Anwalt, wenn er<br />
durch vertragswidriges Verhalten die Kündigung<br />
des Mandanten veranlasst habe, gem. § 628 Abs. 1<br />
S. 2 BGB ein Anspruch auf die Vergütung insoweit<br />
nicht zu, als seine bisherigen Leistungen infolge<br />
der Kündigung für den anderen Teil nicht von<br />
Interesse sind (dazu HENSSLER/DECKENBROCK NJW<br />
2005, 1). Allerdings sei die Kündigung des Dienstverhältnisses<br />
nur dann durch ein vertragswidriges<br />
Verhalten veranlasst, wenn zwischen dem vertragswidrigen<br />
Verhalten und der Kündigung ein<br />
unmittelbarer Zusammenhang besteht. Dies<br />
setze aber voraus, dass die Vertragsverletzung<br />
Motiv für die außerordentliche Kündigung gewesen<br />
sei und sie diese adäquat kausal verursacht<br />
habe (vgl. bereits BGH, Urt. v. 13.9.2<strong>01</strong>8 – III ZR<br />
294/16 m. krit. Anm. DECKENBROCK MedR 2<strong>01</strong>9, 142).<br />
In dem der Entscheidung zugrunde liegenden<br />
Sachverhalt fehlte es offensichtlich an der notwendigen<br />
Kausalität. Zu beachten ist indes, dass<br />
die jederzeit mögliche Mandatskündigung gem.<br />
§ 627 BGB auch ohne Angabe eines Grundes<br />
möglich ist. Einem Mandanten, der auf eine<br />
nähere Begründung verzichtet hat, bleibt es in<br />
diesem Fall noch möglich, die Voraussetzungen<br />
des § 628 Abs. 1 S. 2 BGB (nachträglich) darzulegen<br />
und zu beweisen.<br />
Im Übrigen können nach Ansicht des Senats aber<br />
Vorarbeiten eines Anwalts, welche noch zu<br />
keinem Arbeitsergebnis geführt haben, das an<br />
den Mandanten oder einen Dritten herausgegeben<br />
werden sollte, ohnehin keine Pflichtwidrigkeit<br />
begründen, selbst wenn sie Fehler aufweisen.<br />
Denn der klagende Anwalt hatte mit der Entwurfsbearbeitung<br />
erst begonnen, die Entwürfe<br />
hatten vor der Vertragskündigung den internen<br />
Bereich der Kanzlei aber noch nicht verlassen. Zu<br />
ihrer Vorlage an die Beklagte kam es nur, weil<br />
diese das Mandat gekündigt hatte und der Kläger<br />
ihr zur Begründung seines Honoraranspruchs<br />
nachweisen wollte, mit der Erstellung der Vertragsentwürfe<br />
bereits begonnen zu haben.<br />
2. Abrechnung von Vorschüssen<br />
Ein weiteres, ebenfalls am 7.3.2<strong>01</strong>9 ergangenes<br />
Urteil des IX. Zivilsenats (IX ZR 143/18, <strong>ZAP</strong> EN-<br />
Nr. 285/2<strong>01</strong>9) beschäftigte sich mit der Frage, wie<br />
ein Rechtsanwalt Vorschüsse bei Kündigung des<br />
Mandats abzurechnen hat. Nach Ansicht des BGH<br />
ist ein Anwalt in entsprechender Anwendung von<br />
20 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
§§ 675, 667 BGB vertraglich verpflichtet, erhaltene<br />
und nicht verbrauchte Vorschüsse nach Kündigung<br />
des Mandats an den Mandanten zurückzuzahlen.<br />
Allerdings schulde der Anwalt nicht<br />
allein deshalb die Rückzahlung geforderter und<br />
erhaltener Vorschüsse, weil er pflichtwidrig keine<br />
den gesetzlichen Anforderungen genügende<br />
Rechnung erstellt und dem Mandanten mitgeteilt<br />
hat. Zwar könne der Rechtsanwalt gem. § 10<br />
RVG die Vergütung nur aufgrund einer von ihm<br />
unterzeichneten und dem Auftraggeber mitgeteilten<br />
Berechnung einfordern. Diese Berechnung<br />
sei aber nur Voraussetzung für das Einfordern<br />
einer noch nicht gezahlten Vergütung.<br />
Fehle sie, habe der (frühere) Mandant nicht ohne<br />
Weiteres einen Anspruch auf Rückzahlung der<br />
geleisteten Vorschüsse. Wer glaube, Rückerstattungsansprüche<br />
zu haben, müsse diese notfalls<br />
gerichtlich geltend machen und seine Forderung<br />
insoweit genau beziffern. Falls erforderlich, könne<br />
der Auftraggeber zunächst gesondert oder im<br />
Wege der Stufenklage einen Anspruch auf Auskunft<br />
und Rechnungslegung (§§ 675, 666 BGB)<br />
geltend machen. Auch wenn dem Urteil im<br />
Ergebnis zuzustimmen ist, bleibt unklar, warum<br />
der Senat nicht auch in diesem Fall auf § 628<br />
Abs. 1 S. 3 BGB als Anspruchsgrundlage für<br />
den Rückzahlungsanspruch abgestellt hat. Die<br />
Entscheidung des BGH beurteilt die Abrechnungspflicht<br />
von Vorschüssen zudem nur in<br />
zivilrechtlicher Hinsicht. Berufsrechtlich ist gem.<br />
§ 23 BORA zu beachten, dass der Rechtsanwalt<br />
spätestens mit Beendigung des Mandats gegenüber<br />
dem Mandanten und/oder Gebührenschuldner<br />
über Honorarvorschüsse unverzüglich abzurechnen<br />
und ein von ihm errechnetes Guthaben<br />
auszuzahlen hat (vgl. OFFERMANN-BURCKART NJW<br />
2<strong>01</strong>9, 1460).<br />
3. Vergütungsvereinbarung eines Pflichtverteidigers<br />
Eine weitere Entscheidung des IX. Zivilsenats (Urt.<br />
v. 13.12.2<strong>01</strong>8 – IX ZR 216/17) betraf die Vergütungsvereinbarung<br />
eines Pflichtverteidigers. Zwar sei<br />
ein gerichtlich zum Verteidiger bestellter Rechtsanwalt<br />
grds. nicht gehindert, eine Honorarvereinbarung<br />
zu treffen. Allerdings müsse ein zum<br />
Pflichtverteidiger bestellter Anwalt vor Abschluss<br />
einer Vergütungsvereinbarung dem Beschuldigten<br />
einen eindeutigen Hinweis erteilen, dass er<br />
auch ohne den Abschluss der Honorarvereinbarung<br />
zu weiterer Verteidigung verpflichtet<br />
wäre (vgl. § 49 BRAO). Andernfalls stehe dem<br />
Beschuldigten ein auf § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280<br />
Abs. 1 BGB gestützter Anspruch auf Rückzahlung<br />
des Honorars, soweit es über die gesetzliche<br />
Vergütung hinausgehe, zu. Letztlich kann der<br />
Anwalt nur dann in den Genuss einer höheren<br />
Vergütung gelangen, wenn der Beschuldigte zu<br />
einer freiwilligen Leistung bereit ist.<br />
4. Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten<br />
In einem Urt. v. 24.10.2<strong>01</strong>8 (VIII ZR 66/17, <strong>ZAP</strong><br />
EN-Nr. 228/2<strong>01</strong>9) hat der VIII. Zivilsenat erstmalig<br />
die Auffassung vertreten, dass dem Käufer über<br />
§ 439 Abs. 2 BGB ein verschuldensunabhängiger<br />
Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten,<br />
die ihm entstehen, um das Vertragsziel<br />
der Lieferung einer mangelfreien Sache<br />
zu erreichen, zustehen könne. Der Käufer muss<br />
also, sofern der Verkäufer einen behebbaren<br />
Mangel nicht zu vertreten hat, seinen Ersatzanspruch<br />
nicht mehr aus dem Schadenersatzrecht<br />
herleiten. In der Konsequenz ist er nicht<br />
darauf angewiesen, den Verkäufer vor Einschaltung<br />
eines Anwalts in Schuldnerverzug zu setzen,<br />
vielmehr genügt eine vorherige erfolglose Mängelrüge.<br />
Dieses Ergebnis vermag nicht zu überzeugen,<br />
da es weder von § 439 Abs. 2 BGB noch<br />
von der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie getragen<br />
wird (näher MARKWORTH ZIP 2<strong>01</strong>9, 941). Zudem<br />
steht zu befürchten, dass zur Geltendmachung<br />
der Kaufmängelgewährleistung zukünftig vermehrt<br />
eigentlich überflüssige Anwaltskosten<br />
produziert werden.<br />
Weiterhin hat der VI. Zivilsenat am 22.1.2<strong>01</strong>9 (VI ZR<br />
402/17, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 227/2<strong>01</strong>9; dazu RÖMERMANN<br />
GRUR-Prax 2<strong>01</strong>9, 173) zutreffend geurteilt, dass im<br />
Hinblick auf den Erstattungsanspruch für vorgerichtliche<br />
Anwaltskosten ein Zusammenhang<br />
zwischen dem Innenverhältnis des Mandanten<br />
zu seinem Rechtsanwalt und dem Außenverhältnis<br />
des Mandanten zu seinem Prozessgegner<br />
bestehe. Ein Erstattungsanspruch sei nur dann<br />
gegeben, wenn der Geschädigte im Innenverhältnis<br />
zur Zahlung der in Rechnung gestellten<br />
Kosten verpflichtet und die konkrete anwaltliche<br />
Tätigkeit im Außenverhältnis aus der maßgeblichen<br />
Sicht des Geschädigten mit Rücksicht auf<br />
seine spezielle Situation zur Wahrnehmung seiner<br />
Rechte erforderlich und zweckmäßig gewesen sei.<br />
Dementsprechend sinkt der Erstattungsanspruch,<br />
wenn der eingeschaltete Anwalt im Innenverhältnis<br />
zu einer geringeren Vergütung tätig war,<br />
als es das RVG zugelassen hätte. Auch wenn dies<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 21
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
verlockend erscheint, darf dann kein Ersatz unter<br />
Anlegung des RVG-Maßstabs gefordert werden.<br />
5. Unzulässigkeit einer Zeittaktklausel<br />
Verschiedene Instanzgerichte hatten sich mit<br />
der Wirksamkeit von Klauseln einer Vergütungsvereinbarung<br />
zu befassen (dazu BLATTNER AnwBl<br />
2<strong>01</strong>9, 534 ff.). Als unzulässig wurde insb. eine<br />
Klausel angesehen, die eine Abrechnung im 15-<br />
Minuten-Takt vorsieht, wobei für jede angefangene<br />
Viertelstunde jeweils ein Viertel des Stundensatzes<br />
berechnet werden soll (OLG München,<br />
Urt. v. 5.6.2<strong>01</strong>9 – 15 U 318/18 Rae und 15 U<br />
319/18 Rae; beim BGH sind gegen beide Urteile<br />
unter den Az. IX ZR 140/19 und IX ZR 141/19<br />
Revisionen anhängig; s. dazu auch N. SCHNEIDER<br />
Kolumne <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 939 f; daneben LG Köln, Urt.<br />
v. 24.1.2<strong>01</strong>8 – 26 O 453/16; die gegen letzteres<br />
Urteil eingelegte Berufung wurde zurückgenommen,<br />
vgl. OLG Köln, Beschl. v. 4.11.2<strong>01</strong>9 –<br />
17 U 44/18). Eine Zeittaktklausel, die zur Aufrundung<br />
des Zeitaufwands für jede Tätigkeit führe,<br />
sei strukturell geeignet, das dem Dienstvertragsrecht<br />
zugrundeliegende Prinzip der Gleichwertigkeit<br />
von Leistung und Gegenleistung (Äquivalenzprinzip)<br />
empfindlich zu verletzen.<br />
IX. Rechtsdienstleistungsrecht<br />
1. Durchgriffshaftung auf Organwalter<br />
Im Streitfall hatte eine AG Inkassodienstleistungen<br />
erbracht, ohne über eine Erlaubnis als Inkassodienstleister<br />
i.S.d. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG zu<br />
verfügen. Der BGH hat nunmehr festgestellt, dass<br />
Organwalter einer juristischen Person, die unerlaubt<br />
Rechtsdienstleistungen erbringt, bei Vorsatz<br />
nicht nur gem. §§ 2 Abs. 2; 3, 10 Abs. 1 S. 1; 20 Abs. 1<br />
Nr. 2 RDG; § 9 OWiG ein Ordnungswidrigkeitenverfahren,<br />
sondern über § 823 Abs. 2 BGB auch<br />
eine zivilrechtliche Schadenersatzhaftung droht<br />
(Urt. v. 30.7.2<strong>01</strong>9 – VI ZR 486/18). Der VI. Zivilsenat<br />
hat in diesem Zusammenhang zu Recht herausgearbeitet,<br />
dass ein Täter, dem sämtliche tatsächlichen<br />
Umstände bekannt sind und der den<br />
Bedeutungssinn des Inkassogeschäfts als normatives<br />
Tatbestandsmerkmal zutreffend erfasst hat,<br />
der aber dennoch über die Registrierungspflicht<br />
nach § 10 Abs. 1. S. 1 Nr. 1 RDG irrt, einem<br />
Verbotsirrtum i.S.v. § 11 Abs. 2 OWiG und keinem<br />
Tatbestandsirrtum i.S.v. § 11 Abs. 1 OWiG unterliegt<br />
(dazu DECKENBROCK EWiR 2<strong>01</strong>9, 755).<br />
2. Mietpreisrechner und Legal Tech<br />
Mit Spannung erwartet wurde das Urteil des BGH<br />
zur Zulässigkeit sog. Legal-Tech-Anbieter. Der VIII.<br />
Zivilsenat hatte das Geschäftsmodell der Lexfox<br />
GmbH, die gem. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG als<br />
Inkassodienstleisterin registriert ist, zu beurteilen<br />
(BGH, Urt. v. 27.11.2<strong>01</strong>9 – VIII ZR 285/18, <strong>ZAP</strong><br />
EN-Nr. 2/<strong>2020</strong> [in dieser Ausgabe]; dazu auch<br />
HUFF Kolumne <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 1275). Lexfox stellt auf<br />
der von ihr betriebenen Internetseite www.weniger<br />
miete.de einen für Besucher kostenlos nutzbaren<br />
„Online-Rechner“ („Mietpreisrechner“) zur Verfügung.<br />
Die Gesellschaft wirbt damit, Rechte von Wohnraummietern<br />
aus der Mietpreisbremse „ohne Kostenrisiko“<br />
durchzusetzen; eine Vergütung in Höhe<br />
eines Drittels „der ersparten Jahresmiete“ verlange sie<br />
nur im Falle des Erfolgs. Im Streitfall beauftragte<br />
ein Wohnungsmieter aus Berlin Lexfox mit der<br />
Geltendmachung und Durchsetzung seiner Forderungen<br />
und etwaiger Feststellungsbegehren im<br />
Zusammenhang mit der „Mietpreisbremse“ (§ 556d<br />
BGB) und trat seine diesbezüglichen Forderungen<br />
an Lexfox ab. Anschließend machte Lexfox – nach<br />
vorherigem Auskunftsverlangen und Rüge gem.<br />
§ 556g Abs. 2 BGB – gegen die beklagte Wohnungsgesellschaft<br />
Ansprüche auf Rückzahlung<br />
überhöhter Miete sowie auf Zahlung von Rechtsverfolgungskosten<br />
geltend.<br />
Im Mittelpunkt der Entscheidung stand die Frage,<br />
welche Tätigkeiten einem Unternehmen aufgrund<br />
einer Registrierung als Inkassodienstleister<br />
nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz erlaubt<br />
sind. Nach Ansicht des Senats ist der Begriff<br />
Inkassodienstleistung eher weit zu verstehen.<br />
Die Rechtsberatung durch ein Inkassounternehmen<br />
beinhalte grds. die umfassende und vollwertige<br />
substanzielle Beratung der Rechtsuchenden<br />
im Bereich der außergerichtlichen Einziehung<br />
von Forderungen. Es sei nicht erkennbar, dass<br />
damit eine Gefahr für den Rechtsuchenden oder<br />
den Rechtsverkehr verbunden sein könnte. Daher<br />
seien sowohl der Einsatz des schon vor der<br />
eigentlichen Beauftragung durch den Kunden<br />
seitens Lexfox eingesetzte „Mietpreisrechners“ als<br />
auch die Erhebung der Rüge gem. § 556g Abs. 2<br />
BGB sowie das Feststellungsbegehren bezüglich<br />
der höchstzulässigen Miete noch als zulässige<br />
Inkassodienstleistungen anzusehen. Zwar wäre<br />
es einem Rechtsanwalt, wenn er anstelle von<br />
Lexfox für den Mieter tätig geworden wäre,<br />
berufsrechtlich grds. weder gestattet gewesen,<br />
22 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
mit seinem Mandanten ein Erfolgshonorar zu<br />
vereinbaren (§ 49b Abs. 2 S. 1 BRAO, § 4a RVG),<br />
noch möglich gewesen, dem Mandanten im Falle<br />
einer Erfolglosigkeit der Inkassotätigkeit eine Kostenübernahme<br />
zuzusagen (§ 49b Abs. 2 S. 2 BRAO).<br />
Hierin könne jedoch angesichts der für die Tätigkeit<br />
eines registrierten Inkassodienstleisters geltenden<br />
besonderen kosten- und vergütungsrechtlichen<br />
Vorschriften (§ 4 Abs. 1, 2 RDGEG) ein Wertungswiderspruch,<br />
der Anlass und Berechtigung zu einer<br />
engeren Sichtweise hinsichtlich des Umfangs der<br />
Inkassodienstleistungsbefugnis hätte geben können,<br />
nicht gesehen werden. Die zwischen dem<br />
Mieter und Lexfox getroffene Vereinbarung eines<br />
Erfolgshonorars und einer Kostenübernahme führe<br />
auch nicht zu einer Interessenkollision i.S.d. § 4<br />
RDG und einer daraus folgenden Unzulässigkeit der<br />
von der Klägerin für den Mieter erbrachten Inkassodienstleistungen.<br />
Bei der vereinbarten Kostenübernahme<br />
handele es sich schon nicht um eine<br />
„andere Leistungspflicht“ der Klägerin i.S.d. § 4 RDG,<br />
sondern vielmehr um einen Bestandteil der von ihr<br />
für den Mieter zu erbringenden Inkassodienstleistung<br />
(insoweit noch a.A. AG Köln, Urt. v. 2.9.2<strong>01</strong>9 –<br />
142 C 448/18). Im Übrigen bewirke das vorliegend<br />
vereinbarte Erfolgshonorar, das sich nach der Höhe<br />
der durch ihre Tätigkeit ersparten Miete richte, ein<br />
beträchtliches eigenes Interesse von Lexfox an<br />
einer möglichst erfolgreichen Durchsetzung der<br />
Ansprüche des Mieters. Der damit – jedenfalls<br />
weitgehend – vorhandene (prinzipielle) Gleichlauf<br />
der Interessen der Klägerin und des Mieters stehe<br />
der Annahme einer Interessenkollision entgegen.<br />
Infolge der Entscheidung des BGH dürften die<br />
meisten Legal-Tech-Anbieter aufatmen. Allerdings<br />
sind die Besonderheiten der jeweiligen<br />
Geschäftsmodelle zu beachten. Der Senat verweist<br />
darauf, dass es einer Gesamtwürdigung<br />
bedürfe, ob die vom Anbieter erbrachten Tätigkeiten<br />
(noch) als Inkassodienstleistung gem. § 2<br />
Abs. 2 S. 1 RDG anzusehen und deshalb von der<br />
erteilten Erlaubnis gedeckt seien. Diese nicht<br />
einfache Grenzziehung ist für Anbieter und ihre<br />
Kunden von besonderer Bedeutung: Denn sollten<br />
im Einzelfall die aufgezeigten Grenzen der Inkassoerlaubnis<br />
überschritten worden sein, führe dies<br />
laut dem Senat regelmäßig nach § 134 BGB zur<br />
Nichtigkeit der zwischen dem Rechtsdienstleistenden<br />
und dessen Kunden getroffenen Inkassovereinbarung<br />
einschließlich einer vereinbarten<br />
Forderungsabtretung.<br />
Rechtspolitisch wird diskutiert, inwieweit das RDG<br />
künftig explizit die neuartigen Geschäftsmodelle<br />
regeln sollte. So hat die Bundestagsfraktion der<br />
FDP den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung<br />
des Rechtsdienstleistungsrechts (BT-Drucks<br />
19/9527) vorgestellt und darin vorgeschlagen, den<br />
Begriff der Rechtsdienstleistung an das Zeitalter<br />
der automatisierten Prozesse anzupassen. Gleichzeitig<br />
soll es Dienstleistern nach den Vorstellungen<br />
der FDP-Fraktion künftig möglich sein, sich im<br />
Rechtsdienstleistungsregister aufgrund besonderer<br />
Sachkunde für den Bereich „automatisierte Rechtsdienstleistungen“<br />
registrieren zu lassen (vgl. zu dem<br />
Vorschlag REMMERTZ BRAK-Mitt. 2<strong>01</strong>9, 219, 221 f.).<br />
Der enorm gestiegenen Bedeutung von Legal Tech<br />
hat auch die 7. Satzungsversammlung Rechnung<br />
getragen. Sie hat in ihrer konstituierenden Sitzung<br />
am 4.11.2<strong>01</strong>9 die Einrichtung eines neuen Ausschusses<br />
für das Thema Legal Tech beschlossen.<br />
3. Zulässigkeit von Vertragsgeneratoren<br />
Für großes Aufsehen hat eine Entscheidung des LG<br />
Köln (Urt. v. 8.10.2<strong>01</strong>9 – 33 O 35/19, Brfg. anhängig<br />
beim OLG Köln – 6 U 263/19) in der Legal-Tech-<br />
Szene gesorgt. Danach soll das Angebot eines<br />
Verlags, Rechtsuchenden (Endnutzern) „Rechtsdokumente<br />
in Anwaltsqualität“ per Computer zu<br />
liefern, als unzulässige Rechtsdienstleistung zu<br />
qualifizieren sein. Denn der Vertragsgenerator<br />
erbringe Tätigkeiten in konkreten fremden Angelegenheiten,<br />
weil der Nutzer ein konkret auf<br />
den von ihm im Rahmen des Fragen-Antwort-<br />
Katalogs geschilderten Sachverhalt zugeschnittenes<br />
Produkt erhalte. Insoweit sei entscheidend,<br />
dass das vom Verlag verwandte Produkt, das auch<br />
spezifische Fragen zum Gegenstand und zur<br />
Reichweite des zu erstellenden Vertrags stelle,<br />
einen hohen Grad der Individualisierung aufweise.<br />
Zudem erfordere das mit dem Vertragsgenerator<br />
verbundene Angebot eine rechtliche Prüfung i.S.v.<br />
§ 2 Abs. 1 RDG. Entscheidend sei, dass die vom<br />
beklagten Verlag angebotenen Rechtsdokumente<br />
eine Komplexität aufweisen würden, die erkennbar<br />
über eine bloß schematische Anwendung von<br />
Rechtsnormen hinausgehe. Die vorgenommene<br />
standardisierte Fallanalyse schließe den notwendigen<br />
Subsumtionsvorgang nicht aus. Die Vorgehensweise<br />
unterscheide sich nicht grundlegend<br />
von dem Vorgehen eines Rechtsanwalts, sondern<br />
erfolge lediglich zeitlich vorgelagert und aufgrund<br />
der Standardisierung in einem mehrfach reproduzierbaren<br />
Format.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 23
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Die auch in mehreren Literaturbeiträgen (s. etwa<br />
DEGEN/KRAHMER GRUR-Prax 2<strong>01</strong>6, 363; FRIES ZRP<br />
2<strong>01</strong>8, 161; REMMERTZ BRAK-Mitt. 2<strong>01</strong>7, 55) vertretene<br />
Ansicht, dass Vertragsgeneratoren unzulässig<br />
seien, überzeugt nicht: Letztlich kombiniert<br />
das Programm auf Basis von Nutzereingaben<br />
und mithilfe von Entscheidungsbäumen Textbausteine<br />
lediglich so miteinander, dass ein<br />
Schriftstück entsteht. Die „fremde“ Leistung des<br />
Generators ist letztlich nur das „Addieren“ der<br />
ausgewählten oder eingegebenen Texte zu einem<br />
einheitlichen Dokument. Dies ist allerdings<br />
tatsächlich keine Subsumtion, sondern eine<br />
schematische Zuordnung mithilfe des Fragenkatalogs<br />
(so im Ergebnis auch WEBERSTAEDT AnwBl<br />
2<strong>01</strong>6, 535; vgl. auch BGH, Urt. v. 27.11.2<strong>01</strong>9 – VIII<br />
ZR 285/18 Rn 148 zum „Mietpreisrechner“, LS<br />
s. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 2/<strong>2020</strong> [in diesem Heft]). Insgesamt<br />
betrachtet gleicht ein Vertragsgenerator<br />
Musterformularbüchern, die unzweifelhaft als<br />
zulässig angesehen werden.<br />
Eine andere Frage betrifft freilich die Zulässigkeit<br />
der vom Verlag verwandten Werbeaussagen.<br />
Insoweit hat die 33. Zivilkammer des LG Köln zu<br />
Recht Formulierungen wie „rechtssichere Verträge<br />
in Anwaltsqualität“ und „individueller und sicherer als<br />
jede Vorlage und günstiger als ein Anwalt“ als wettbewerbswidrig<br />
irreführend beanstandet. Denn<br />
solche Aussagen lassen den Nutzer vermuten,<br />
dass man eine vergleichbare Rechtsdienstleistungsqualität<br />
wie bei einem Anwalt erhalte. Eine<br />
individuelle Einzelfallprüfung, die auch die Berücksichtigung<br />
von Sonderfällen umfasst, kann<br />
ein Vertragsgenerator aber überhaupt nicht erbringen.<br />
X. Rechtsschutzversicherung<br />
Entscheidungen, welche die Rolle der Rechtsschutzversicherungen<br />
im Berufsrecht betreffen,<br />
lassen sich nicht unter die üblichen Kategorien<br />
einordnen. Dass sie nichtsdestotrotz von Interesse<br />
sein können, zeigt eine Entscheidung des IV. Senats<br />
(Urt. v. 14.8.2<strong>01</strong>9 – IV ZR 279/17, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 693/<br />
2<strong>01</strong>9 m. Anm. GRAMS NJW 2<strong>01</strong>9, 3587). Im zugrunde<br />
liegenden Fall war gegen den Versicherungsnehmer<br />
ein Bußgeldbescheid ergangen. Gegenüber<br />
dem mit seiner Verteidigung betrauten Rechtsanwalt<br />
hatte der Rechtsschutzversicherer i.R.d.<br />
Kostendeckungszusage die Anweisung erteilt,<br />
mit dem erforderlichen Sachverständigengutachten<br />
eine bestimmte Gesellschaft zu betrauen.<br />
Dem war der Anwalt nicht nachgekommen. Stattdessen<br />
hatte er zu höheren Kosten einen anderen<br />
Sachverständigen beauftragt. Der Versicherer verweigerte<br />
daraufhin i.H.d. Mehrkosten die Freistellung<br />
des Versicherungsnehmers. Der IV. Senat<br />
kam zu dem Schluss, dass die Schadensminderungsklausel<br />
(§ 17 Abs. 1 c) bb) ARB 2<strong>01</strong>0), auf<br />
die sich die Versicherung im Rahmen ihrer Weisung<br />
berufen hatte, intransparent sei. Der um Verständnis<br />
bemühte Versicherungsnehmer könne nicht<br />
erkennen, welches bestimmte Verhalten von ihm<br />
verlangt werde, um seinen Anspruch auf die<br />
Versicherungsleistung nicht zu gefährden. Er<br />
müsse in seine Überlegungen verschiedene alternative<br />
Vorgehensweisen einbeziehen und deren<br />
jeweilige Auswirkungen in rechtlicher Hinsicht<br />
bewerten und gegeneinander abwägen, um beurteilen<br />
zu können, ob sich mit einer kostengünstigeren<br />
Vorgehensweise das angestrebte Rechtsschutzziel<br />
erreichen lasse oder ob das höhere<br />
Kosten auslösende Vorgehen derart gewichtige<br />
Vorteile biete, dass ihn der Versicherer ohne unbillige<br />
Beeinträchtigung seiner – des Versicherungsnehmers<br />
– Interessen nicht auf die kostengünstigere<br />
Alternative verweisen könne.<br />
Auch ein zur Leistungsfreiheit führendes schuldhaftes<br />
Verhalten sei dem Versicherungsnehmer<br />
nach Auffassung des IV. Senats nicht vorzuwerfen.<br />
Das Verhalten seines Rechtsanwalts müsse<br />
er sich nicht über § 17 Abs. 7 ARB 2<strong>01</strong>0 zurechnen<br />
lassen, da die Klausel ebenfalls unwirksam sei. Sie<br />
widerspreche den wesentlichen Grundgedanken<br />
der gesetzlichen Regelung, zu der auch alle von<br />
der Rechtsprechung durch Auslegung, Analogie<br />
oder Rechtsfortbildung aus einzelnen gesetzlichen<br />
Bestimmungen hergeleiteten Rechtssätze<br />
gehörten. Der bisherigen Rechtsprechung zufolge<br />
sei dem Versicherungsnehmer das Handeln und<br />
Wissen eines Dritten nur in engen Grenzen<br />
zuzurechnen. Damit sei die in § 17 Abs. 7 ARB<br />
2<strong>01</strong>0 vorgesehene uneingeschränkte Zurechnung<br />
der Kenntnisse und des Verhaltens eines durch<br />
den Versicherten zur Abwicklung des Rechtsschutzfalls<br />
gegenüber dem Versicherer eingeschalteten<br />
Rechtsanwalts unvereinbar.<br />
24 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 1<br />
Rechtsprechung<br />
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Kaufvertragsrecht<br />
Dieselskandal: Wahlgerichtsstand<br />
(OLG Hamm, Beschl. v. 3.9.2<strong>01</strong>9 – 32 SA 54/19) • Im Falle einer mit einer unerlaubten Handlung gem.<br />
§§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. 263 StGB, 826 BGB begründeten Klage eines vom Abgasskandal betroffenen<br />
Käufers gegen den Hersteller liegt der Gerichtsstand gem. § 32 ZPO wahlweise dort, wo der Täter<br />
gehandelt hat, oder dort, wo der Rechtsguteingriff erfolgt und der Schaden entstanden ist. Wird ein<br />
Kraftfahrzeug mit einem darlehensfinanzierten Kaufvertrag beim Händler erworben, liegt ein Erfolgsort<br />
i.S.v. § 32 ZPO an dem Ort, an dem der Käufer seine auf Abschluss des Darlehnsvertrags gerichtete<br />
Willenserklärung abgibt, weil er damit das seinerseits Erforderliche getan hat, um die Erfüllung der<br />
Kaufpreisforderung zu bewirken. Hinweis: Nach dieser Entscheidung kann eine Vielzahl von Verfahren<br />
gegen den Hersteller am Sitz des Autohauses geführt werden.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 1/<strong>2020</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Kein Verstoß gegen das RDG: Inkassodienstleistung durch Legal-Tech-Portal „wenigermiete.de“<br />
(BGH, Urt. v. 27.11.2<strong>01</strong>9 – VIII ZR 285/18) •<br />
1. Der Begriff der Rechtsdienstleistung in Gestalt der Inkassodienstleistung (Forderungseinziehung) gem.<br />
§ 2 Abs. 2 S. 1 RDG, die ein im Rechtsdienstleistungsregister eingetragener Inkassodienstleister nach § 10<br />
Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG erbringen darf, ist unter Berücksichtigung der vom Gesetzgeber mit dem<br />
Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) – in Anknüpfung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />
– verfolgten Zielsetzung einer grundlegenden, an den Gesichtspunkten der Deregulierung<br />
und Liberalisierung ausgerichteten, die Entwicklung neuer Berufsbilder erlaubenden Neugestaltung<br />
des Rechts der außergerichtlichen Rechtsdienstleistungen nicht in einem zu engen Sinne zu verstehen.<br />
Vielmehr ist – innerhalb des mit diesem Gesetz verfolgten Schutzzwecks, die Rechtsuchenden,<br />
den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen zu schützen<br />
(§ 1 Abs. 1 S. 2 RDG) – eine eher großzügige Betrachtung geboten (im Anschluss an BVerfG, Beschl.<br />
v. 20.2.2002 – 1 BvR 423/99, NJW 2002, 1190 und BVerfG, Beschl. v. 14.8.2004 – 1 BvR 725/03, NJW-RR<br />
2004, 1570 [jeweils zum RBerG]).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 25
Fach 1, Seite 2 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
2. Für die auf dieser Grundlage vorzunehmende Beurteilung, ob sich die Tätigkeit eines registrierten<br />
Inkassodienstleisters innerhalb seiner Inkassodienstleistungsbefugnis gem. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG hält,<br />
lassen sich keine allgemeingültigen Maßstäbe aufstellen. Erforderlich ist vielmehr stets eine am<br />
Schutzzweck des RDG orientierte Würdigung der Umstände des Einzelfalls einschließlich einer<br />
Auslegung der hinsichtlich der Forderungseinziehung getroffenen Vereinbarungen. Dabei sind die<br />
Wertentscheidungen des Grundgesetzes in Gestalt der Grundrechte der Beteiligten sowie der Grundsatz<br />
des Vertrauensschutzes zu berücksichtigen und ist den Veränderungen der Lebenswirklichkeit<br />
Rechnung zu tragen (im Anschluss an BVerfG, Beschl. v. 15.1.2004 – 1 BvR 1807/98, NJW 2004, 672;<br />
BVerfG, Beschl. v. 20.2.2002 – 1 BvR 423/99, NJW 2002, 1190, 1191 f.; BVerfG, Beschl. v.14.8.2004 – 1 BvR<br />
725/03, NJW-RR 2004, 1570 und BVerfG, Beschl. v. 29.10.1997 – 1 BvR 780/87, BVerfGE 97, 12, 32 [jeweils<br />
zum RBerG]).<br />
3. Überschreitet hiernach ein registrierter Inkassodienstleister seine Inkassodienstleistungsbefugnis<br />
nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG, kann darin ein Verstoß gegen § 3 RDG liegen. Ein solcher Verstoß hat,<br />
wenn die Überschreitung bei einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände aus der objektivierten<br />
Sicht eines verständigen Auftraggebers des Inkassodienstleisters zum einen eindeutig vorliegt<br />
und zum anderen unter Berücksichtigung der Zielsetzung des RDG in ihrem Ausmaß als nicht nur<br />
geringfügig anzusehen ist, die Nichtigkeit nach § 134 BGB der zwischen dem Inkassodienstleister und<br />
dessen Auftraggeber getroffenen Inkassovereinbarung einschließlich einer in diesem Zusammenhang<br />
erfolgten Forderungsabtretung zur Folge (Anschluss an und Fortführung von BGH, Urt. v. 30.10.2<strong>01</strong>2 –<br />
XI ZR 324/11, NJW 2<strong>01</strong>3, 59 Rn 34 ff.; v. 11.12.2<strong>01</strong>3 – IV ZR 46/13, NJW 2<strong>01</strong>4, 847 Rn 31; v. 21.10.2<strong>01</strong>4 –<br />
VI ZR 507/13, NJW 2<strong>01</strong>5, 397 Rn 5; v. 11.1.2<strong>01</strong>7 – IV ZR 340/13, VersR 2<strong>01</strong>7, 277 Rn 34 und v. 21.3.2<strong>01</strong>8 –<br />
VIII ZR 17/17, NJW 2<strong>01</strong>8, 2254 Rn 18; BVerfG, Beschl. v. 20.2.2002 – 1 BvR 423/99, NJW 2002, 1190, 1192).<br />
4. Von einer Nichtigkeit nach § 134 BGB ist danach insb. dann regelmäßig auszugehen, wenn der<br />
registrierte Inkassodienstleister Tätigkeiten vornimmt, die von vornherein nicht auf eine Forderungseinziehung<br />
i.S.d. § 2 Abs. 2 S. 1 RDG, sondern etwa auf die Abwehr von Ansprüchen gerichtet sind oder<br />
eine über den erforderlichen Zusammenhang mit der Forderungseinziehung hinausgehende Rechtsberatung<br />
zum Gegenstand haben oder wenn das „Geschäftsmodell“ des Inkassodienstleisters zu einer<br />
Kollision mit den Interessen seines Auftraggebers führt.<br />
5. Nach diesen Maßstäben ist es von der Inkassodienstleistungsbefugnis eines nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1<br />
RDG registrierten Inkassodienstleisters (noch) gedeckt, wenn dieser auf seiner Internetseite einen<br />
„Mietpreisrechner“ zur – zunächst unentgeltlichen – Berechnung der ortsüblichen Vergleichsmiete zur<br />
Verfügung stellt und im Anschluss hieran dem Mieter die Möglichkeit gibt, ihn durch Anklicken eines<br />
Buttons mit der außergerichtlichen Durchsetzung von – näher bezeichneten – Forderungen und<br />
etwaigen Feststellungsbegehren gegen den Vermieter im Zusammenhang mit der „Mietpreisbremse“ –<br />
unter Vereinbarung eines Erfolgshonorars in Höhe eines Drittels der jährlichen Mietersparnis (vier<br />
Monate) sowie einer Freihaltung des Mieters von sämtlichen Kosten – zu beauftragen und in diesem<br />
Zusammenhang die genannten Ansprüche zum Zweck der Durchsetzung treuhänderisch an den<br />
Inkassodienstleister abzutreten, der im Falle einer Erfolglosigkeit der eigenen außergerichtlichen<br />
Rechtsdienstleistungstätigkeit einen Vertragsanwalt mit der anwaltlichen und ggf. auch gerichtlichen<br />
Durchsetzung der Ansprüche beauftragen kann, zum Abschluss eines Vergleichs jedoch grds. nur mit<br />
Zustimmung des Mieters befugt ist.<br />
6. Da damit (auch) die in diesem Rahmen erfolgte treuhänderische Abtretung der genannten im<br />
Zusammenhang mit der „Mietpreisbremse“ stehenden Forderungen des Mieters (noch) nicht gegen ein<br />
gesetzliches Verbot (§ 3 RDG) verstößt und demzufolge nicht gem. § 134 BGB nichtig ist, ist der<br />
Inkassodienstleister im gerichtlichen Verfahren aktivlegitimiert, diese Ansprüche im Wege der Klage<br />
gegen den Vermieter geltend zu machen (vgl. dazu HUFF, Kolumne <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 1275 ff.; Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 1279 f.).<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 2/<strong>2020</strong><br />
26 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 3<br />
Anmietung zur Flüchtlingsunterbringung: Kein Wohnraummietvertrag<br />
(BGH, Urt. v. 23.10.2<strong>01</strong>9 – XII ZR 125/18) • Ein Mietvertrag, den eine Gemeinde abgeschlossen hat, um<br />
in dem Mietobjekt ihr zugewiesene Flüchtlinge unterbringen zu können, ist unbeschadet seiner<br />
Bezeichnung kein Wohnraummietvertrag i.S.v. § 549 Abs. 1 BGB (Fortführung von BGHZ 94, 11 = NJW<br />
1985, 1772). Eine in diesem Vertrag enthaltene formularmäßige Klausel, mit der für beide Mietvertragsparteien<br />
das Recht zur ordentlichen Kündigung für die Dauer von 60 Monaten ausgeschlossen wird, ist<br />
nicht wegen unangemessener Benachteiligung des Mieters unwirksam. Hinweis: Die Gemeinde hatte<br />
den Vertrag gekündigt, weil keine Flüchtlinge untergebracht wurden; später hatte sie unter Verweis auf<br />
einen Mietspiegel erfolglos eine wucherische Miete geltend gemacht.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 3/<strong>2020</strong><br />
Bauvertragsrecht<br />
Mindestsätze der HOAI: Europarechtswidrigkeit<br />
(OLG Schleswig-Holstein, Urt. v. 25.10.2<strong>01</strong>9 – 1 U 74/18) • Die Mindestsätze der HOAI sind wegen<br />
Verstoßes gegen europäisches Gemeinschaftsrecht auch in Altfällen nicht mehr anwendbar. Hinweis:<br />
Die Erstreckung der Nichtanwendbarkeit auch auf Altfälle könnte zu zahlreichen Auseinandersetzungen<br />
über auch bereits abgerechnete Vorhaben führen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 4/<strong>2020</strong><br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Begriff der Verwaltung im WEG: Veränderung sachenrechtlicher Grundlagen<br />
(BGH, Urt. v. 20.9.2<strong>01</strong>9 – V ZR 258/18) • Der Begriff der Verwaltung i.S.v. § 21 WEG ist weit zu verstehen<br />
und umfasst deshalb regelmäßig auch Maßnahmen, die eine Veränderung der sachenrechtlichen<br />
Grundlagen der Gemeinschaft vorbereiten sollen, damit die Wohnungseigentümer diese anschließend<br />
aus eigenem Entschluss umsetzen können; solche Maßnahmen können mehrheitlich beschlossen<br />
werden. Allerdings müssen auch Beschlüsse dieser Art ordnungsmäßiger Verwaltung entsprechen.<br />
Daran wird es regelmäßig fehlen, wenn schon bei der Beschlussfassung absehbar ist, dass einzelne<br />
Wohnungseigentümer an der späteren Umsetzung nicht mitwirken werden und hierzu zweifelsfrei<br />
auch nicht (ausnahmsweise) verpflichtet sind, die mit der Vorbereitungsmaßnahme verbundenen<br />
Kosten also aller Voraussicht nach vergeblich aufgewendet werden. Hinweis: Der BGH zieht mit dieser<br />
Entscheidung eine klare Grenzlinie in Bezug auf eine von vornherein unsinnige Beschlussfassung einer<br />
Wohnungseigentümergemeinschaft.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 5/<strong>2020</strong><br />
Bank- und Kreditwesen<br />
Verbraucherdarlehensvertrag: Verwirkung des Widerrufsrechts<br />
(BGH, Urt. v. 15.10.2<strong>01</strong>9 – XI ZR 759/17) • § 312d Abs. 3 Nr. 1 BGB in der bis zum 3.8.2009 geltenden<br />
Fassung ist auf Verbraucherdarlehensverträge, die im Wege des Fernabsatzes geschlossen wurden,<br />
nicht anwendbar (Bestätigung von Senatsurteil v. 3.7.2<strong>01</strong>8 – XI ZR 702/16, WM 2<strong>01</strong>8, 16<strong>01</strong> Rn 10 ff.).<br />
Hinweis: Der BGH befasst sich mit der Verwirkung des Rechts auf Widerruf der auf Abschluss eines<br />
beendeten Verbraucherdarlehensvertrags gerichteten Willenserklärung des Verbrauchers.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 6/<strong>2020</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 27
Fach 1, Seite 4 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Folgen eines Abschleppvorgangs: Standgeldkosten<br />
(OLG Saarbrücken, Urt. v. 10.7.2<strong>01</strong>9 – 1 U 121/18) • Standgeldkosten eines gewerblichen Abschleppdienstes,<br />
die entstehen, weil der im Auftrag eines privaten Dritten tätig gewordene Abschleppdienst<br />
sich in Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts weigert, das Fahrzeug an den Abgeschleppten ohne<br />
Ausgleich der Abschleppkosten herauszugeben, zählen nicht zu den erstattungsfähigen Kosten für die<br />
Entfernung eines unbefugt auf einem Privatgrundstück abgestellten Fahrzeugs. Ebenfalls handelt es<br />
sich nicht um für die Beseitigung der Eigentumsbeeinträchtigung erforderliche Aufwendungen i.S.v.<br />
§ 670 BGB.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 7/<strong>2020</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
Kündigung eines Versicherungsvertrags: Kündigungsbestätigung<br />
(OLG Braunschweig, Beschl. v. 2.9.2<strong>01</strong>9 – 11 U 103/18) • Zur Wirksamkeit einer durch den Versicherungsnehmer<br />
erklärten Kündigung des Versicherungsvertrags bedarf es keiner Bestätigung der Kündigung<br />
durch den Versicherer. Eine Nebenpflicht des Versicherers aus dem Vertragsverhältnis, die Kündigung<br />
des Versicherungsvertrags von sich aus zu bestätigen, besteht nicht. Hat der Versicherungsnehmer den<br />
Versicherungsvertrag gekündigt, so trifft den Versicherer aus dem Grundsatz von Treu und Glauben<br />
keine Hinweispflicht gegenüber dem Versicherungsnehmer bezüglich dessen Versicherungsstatus oder<br />
eines etwa fehlenden Versicherungsschutzes.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 8/<strong>2020</strong><br />
Familienrecht<br />
Einvernehmliche islamische Scheidung: Mitwirkungspflicht<br />
(OLG Hamburg, Beschl. v. 25.10.2<strong>01</strong>9 – 12 UF 220/17) • Ein Antrag, mit dem der Ehemann seine von ihm<br />
nach deutschem Recht rechtskräftig geschiedene Ehefrau im Wege der Leistungsklage verpflichten<br />
möchte, aus einer vertraglichen Ehescheidungsfolgenvereinbarung eine religiöse Ehescheidung nach<br />
islamischen Recht zu betreiben, ist vor einem deutschen Gericht nicht zulässig. Dem steht die Regelung<br />
des Art. 17 Abs. 3 EGBGB i.V.m. § 1564 BGB entgegen. Hinweis: In diesem Fall ging es um einen Verzicht<br />
auf eine Brautgabe nach iranischem Recht.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 9/<strong>2020</strong><br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Behindertentestament: Verwaltungsanweisungen an den Testamentsvollstrecker<br />
(BGH, Beschl. v. 24.7.2<strong>01</strong>9 – XII ZB 560/18) • Ein Behindertentestament ist nicht allein deshalb sittenwidrig,<br />
weil in der letztwilligen Verfügung konkrete Verwaltungsanweisungen an den Testamentsvollstrecker<br />
fehlen, aus denen sich ergibt, in welchem Umfang und zu welchen Zwecken der Betroffene Vorteile aus<br />
dem Nachlass erhalten soll.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 10/<strong>2020</strong><br />
28 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 5<br />
Zivilprozessrecht<br />
Arzthaftungsprozess: Unterlassung medizinisch gebotener Befunderhebung<br />
(BGH, Urt. v. 22.10.2<strong>01</strong>9 – VI ZR 71/17) • Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Erhebung und Sicherung<br />
medizinischer Befunde und zur ordnungsgemäßen Aufbewahrung der Befundträger lässt im Wege der<br />
Beweiserleichterung für den Patienten zwar auf ein reaktionspflichtiges positives Befundergebnis<br />
schließen. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn ein solches Ergebnis hinreichend wahrscheinlich ist. Es<br />
geht zu weit, als Folge der Unterlassung medizinisch gebotener Befunderhebung oder Befundsicherung<br />
unabhängig von der hinreichenden Wahrscheinlichkeit des Befundergebnisses eine Vermutung dahingehend<br />
anzunehmen, dass zugunsten des Patienten der von diesem vorgetragene Sachverhalt für den<br />
Befund als bestätigt gilt. Hinweis: Mit dem Merkmal der hinreichenden Wahrscheinlichkeit schränkt der<br />
BGH die Beweiserleichterung für Patienten zumindest etwas ein.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 11/<strong>2020</strong><br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Abgespaltene Gesellschaft: Gläubigerbenachteiligende Wirkung von Zahlungen<br />
(BGH, Urt. v. 17.10.2<strong>01</strong>9 – IX ZR 215/16) • Die gesamtschuldnerische Haftung einer vom Schuldner<br />
abgespaltenen Gesellschaft nach § 133 UmwG steht der gläubigerbenachteiligenden Wirkung von<br />
Zahlungen aus dem Vermögen des Schuldners nicht entgegen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 12/<strong>2020</strong><br />
Handels-/Gesellschaftsrecht<br />
Organentlastung: Anfechtung wegen Informationsmangels<br />
(LG Frankfurt, Beschl. v. 24.10.2<strong>01</strong>9 – 3-05 O 54/19) • Die in der Hauptversammlung beschlossene<br />
Entlastung von Organen ist anfechtbar, wenn im zugrunde liegenden Geschäftsjahr mit einem<br />
Konzernunternehmen eines Großaktionärs ein Beratungsvertrag geschlossen wurde und Fragen zum<br />
Gegenstand dieses Vertrags und der gezahlten Vergütung nur unzureichend beantwortet werden.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 13/<strong>2020</strong><br />
Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />
Vergabeverfahren: Schadenersatzanspruch<br />
(BGH, Urt. v. 17.9.2<strong>01</strong>9 – X ZR 124/18) • Der Teilnehmer an einem Vergabeverfahren nach dem Vierten<br />
Teil des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist mit einem auf einen Vergaberechtsverstoß<br />
gestützten Schadenersatzanspruch nicht ausgeschlossen, wenn er den Verstoß nicht zum Gegenstand<br />
eines Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer gemacht hat. Hat der Schadenersatz<br />
verlangende Bieter einen Vergaberechtsverstoß gerügt, kann ihm kein Mitverschulden nach § 254 BGB<br />
angelastet werden, wenn er die Rüge auf Bitten des Auftraggebers zurückgenommen hat, um das<br />
Vergabeverfahren nicht weiter zu verzögern.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 14/<strong>2020</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 29
Fach 1, Seite 6 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Eigenbeitrag zur betrieblichen Altersversorgung: Verschaffungsanspruch<br />
(BAG, Beschl. v. 22.10.2<strong>01</strong>9 – 3 AZN 934/19) • Besteht im ursprünglich zugesagten, aber nicht umsetzbaren<br />
Durchführungsweg die Pflicht des versorgungsberechtigten Arbeitnehmers zur Leistung eines Eigenbeitrags<br />
zur betrieblichen Altersversorgung, kann der Arbeitnehmer einen an diese Versorgungszusage<br />
anknüpfenden Verschaffungsanspruch nur unter Berücksichtigung eines entsprechenden Eigenbeitrags<br />
verlangen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 15/<strong>2020</strong><br />
Verfassungs-/Verwaltungsrecht<br />
Tagesordnung einer Stadtratssitzung: Kein subjektives Recht auf Änderung<br />
(VG Neustadt/Weinstraße, Beschl. v. 4.11.2<strong>01</strong>9 – 3 L 1208/19.NW) • Einem Bürger der Stadt steht kein<br />
subjektiv öffentliches Recht auf Änderung der Tagesordnung einer Stadtratssitzung durch die Vorsitzende<br />
des Stadtrats zu. Die Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen zur Ladung der Stadtratsmitglieder zur<br />
Stadtratssitzung kann von einem Bürger nicht isoliert zum Gegenstand eines Eil- oder Klageverfahrens<br />
gemacht werden. Dem Bürger einer Stadt steht grds. kein subjektiv öffentliches Recht zu, dem Stadtrat die<br />
Beschlussfassung über einen TOP der Ratssitzung gerichtlich untersagen zu lassen. Hinweis: Vorliegend<br />
ging es um eine geänderte Bebauungs- und Nutzungskonzeption im Rahmen eines vorhabenbezogenen<br />
Bebauungsplans.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 16/<strong>2020</strong><br />
Steuerrecht<br />
Steuerfestsetzung auf 0 €: Fehlende Beschwer<br />
(FG Niedersachsen, Beschl. v. 24.10.2<strong>01</strong>9 – 8 K 153/19) • Eine Klägerin ist nicht deswegen durch einen die<br />
Einkommensteuer auf 0 € festsetzenden Einkommensteuerbescheid beschwert, weil sie im Hinblick auf<br />
eine begehrte Freistellung zur Rückzahlung eines beanspruchten BAföG-Darlehens gegenüber dem<br />
Bundesverwaltungsamt ihr Einkommen nachweisen muss. Es fehlt insofern an einer Bindungswirkung<br />
des Einkommensteuerbescheids (entgegen AEAO zu § 350 Nr. 3 Buchst. d).<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 17/<strong>2020</strong><br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Verhängung einer Sperrfrist: Abkürzung<br />
(BGH, Urt. v. 30.9.2<strong>01</strong>9 -AnwZ [Brfg] 32/18) • Der zwingende Charakter der Sperrfrist des § 7 Nr. 3 BRAO<br />
steht einer Abkürzung derselben zwecks Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung<br />
in Anlehnung an die sog. Vollstreckungslösung der Strafgerichte nicht entgegen. Im Rahmen der<br />
Wiederzulassung ist die Rechtsanwaltskammer an die im Disziplinarverfahren festgesetzte Anrechnung<br />
der Verfahrensverzögerung grds. gebunden.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 18/<strong>2020</strong><br />
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30 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 551<br />
Rechtsmittelbeschwer<br />
Immobilienrecht/<br />
WEG-Recht<br />
Die Rechtsmittelbeschwer im Immobilien‐ und Wohnungseigentumsrecht<br />
Von Rechtsanwalt MICHAEL BRÄNDLE, Freiburg<br />
Hinweis:<br />
Eine grundlegende Darlegung der Problematik der Beschwer, die hier nur sehr kurz in der Einleitung<br />
zusammengefasst wird, finden Sie bei BRÄNDLE, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 753 = F. 13, S. 2247. In vorliegendem Beitrag<br />
werden hieran anknüpfend nur die Besonderheiten in Immobilien‐ und Wohnungseigentumssachen<br />
behandelt. Für die Besonderheiten im Mietrecht s. BRÄNDLE, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 843 = F. 4, S. 1813. Zur Beschwer<br />
in Wohnungseigentumssachen s. auch bereits BRÄNDLE, ZfIR 2<strong>01</strong>7, 553.<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
1. Berufung<br />
2. Revision<br />
3. Nichtzulassungsbeschwerde<br />
II. Besonderheiten der Beschwer im<br />
Immobilienrecht<br />
1. Herausgabe eines Grundstücks<br />
2. Eigentumsstörung<br />
3. Notweg; Notleitung<br />
4. Löschung Grundschuld<br />
5. Löschung Vorkaufsrecht<br />
6. Dienstbarkeit<br />
III. Besonderheiten der Beschwer im<br />
Wohnungseigentumsrecht<br />
1. Beschwer und Streitwert<br />
2. Streitgenossenschaft der „übrigen“<br />
Wohnungseigentümer<br />
3. Die Darlegung der Beschwer<br />
IV. Einzelfälle aus dem Wohnungseigentumsrecht<br />
1. Anfechtung<br />
2. Beschlussersetzungsklage<br />
(§ 21 Abs. 8 WEG)<br />
3. Verwalter und Verwaltungsbeirat<br />
4. Protokollberichtigung<br />
5. Beseitigung einer baulichen Veränderung<br />
6. Unterlassung der Wohnnutzung<br />
7. Bestehen eines Sondernutzungsrechts<br />
8. Nutzung einer Dachterrasse – unerheblicher<br />
„Sichteinfluss“<br />
9. Zustimmung zur (gewerblichen) Vermietung<br />
einer Sondereigentumseinheit<br />
10. Entziehungsklage (§ 18 WEG)<br />
11. Zustimmung zur Veräußerung<br />
(§ 12 Abs. 2 WEG)<br />
12. (Ideelles) Interesse an ordnungsmäßiger<br />
Verwaltung<br />
V. Fazit<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 31
Fach 7, Seite 552<br />
Rechtsmittelbeschwer<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
I. Einleitung<br />
In Verfahren nach der Zivilprozessordnung bedarf es sowohl für die Berufung als auch für die Beschwerde<br />
gegen die Nichtzulassung der Revision – nicht aber für die Revision (unzutreffend deshalb DRASDO,<br />
NZM 2<strong>01</strong>9, 327 im Einleitungssatz) – einer Mindestbeschwer, es sei denn, das Ausgangsgericht hat das<br />
Rechtsmittel zugelassen. Das Rechtsmittelgericht ist an eine Zulassung gebunden (§ 511 Abs. 4 S. 2 ZPO<br />
bzw. § 443 Abs. 2 S. 2 ZPO). Das Rechtsmittel ist dann ohne Weiteres, ohne dass es auf die Beschwer<br />
ankommt, statthaft.<br />
1. Berufung<br />
Die Berufung ist zulassungsfrei nur statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands 600 €<br />
übersteigt (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung gibt es nicht.<br />
Praxistipp:<br />
Wer sich bei einer (potenziellen) Beschwer des Mandanten von bis zu 600 € die Berufung offenhalten will,<br />
sollte beim Erstgericht die Zulassung der Berufung (§ 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) anregen oder, wenn möglich,<br />
durch entsprechenden Vortrag – schon in der ersten Instanz – darlegen und glaubhaft machen, dass für<br />
den Mandanten mehr als 600 € auf dem Spiel stehen.<br />
2. Revision<br />
Die Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) ist nur statthaft, wenn sie entweder vom Berufungsgericht<br />
oder vom BGH auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung zugelassen wurde (§ 543 Abs. 1 ZPO). Seit der<br />
ZPO-Reform 2002 ist die Revision ausschließlich als Zulassungsrevision statthaft; eine zulassungsfreie<br />
(Wert‐)Revision gibt es seither nicht mehr. Für die (zugelassene) Revision ist eine bestimmte Höhe der<br />
Beschwer auf der anderen Seite nicht mehr erforderlich.<br />
3. Nichtzulassungsbeschwerde<br />
Obwohl die (zugelassene) Revision keiner bestimmten Höhe der Beschwer bedarf, ist die Beschwerde<br />
gegen die Nichtzulassung der Revision nur statthaft, wenn der Wert der mit der Revision geltend zu<br />
machenden Beschwer 20.000 € übersteigt. Diese Wertgrenze hat der Gesetzgeber etwas verschämt<br />
und versteckt – und deshalb vielen Instanzanwälten nicht geläufig – in § 26 Nr. 8 S. 1 EGZPO geregelt.<br />
§ 26 Nr. 8 EGZPO war zunächst befristet bis 1.1.2007 (BGBl I 2000, 1887, 1907 re.Sp). Die Befristung wurde<br />
mehrfach verlängert, zuletzt bis 31.12.2<strong>01</strong>9 (BGBl I 2<strong>01</strong>8, 863).<br />
Hinweis:<br />
Voraussichtlich am 1.1.<strong>2020</strong> [nach Drucklegung dieses Beitrags] wird das „Gesetz zur Regelung der Wertgrenze<br />
für die Nichtzulassungsbeschwerde in Zivilsachen, zum Ausbau der Spezialisierung bei den Gerichten<br />
sowie zur Änderung weiterer zivilprozessrechtlicher Vorschriften“ (BT-Drucks 19/13828) in Kraft treten.<br />
Dieses sieht vor, § 26 Nr. 8 EGZPO durch § 544 Abs. 2 ZPO-E mit gleichem Inhalt zu ersetzen, d.h. die<br />
Wertgrenze in die ZPO zu übernehmen und damit zu entfristen. Die Beratung durch den Bundesrat im<br />
zweiten Durchgang hat am 29.11.2<strong>01</strong>9 stattgefunden, so dass das Gesetz wohl noch rechtzeitig vor Auslaufen<br />
der bis zum 31.12.2<strong>01</strong>9 befristeten Regelung des § 26 Nr. 8 EGZPO im Bundesgesetzblatt verkündet werden<br />
wird. An den Darlegungen in diesem Beitrag (und in den beiden bereits erschienenen) ändert sich durch<br />
die Rechtsänderung nichts.<br />
An der Verfassungsmäßigkeit einer Wertgrenze hat das Bundesverfassungsgericht keinen Zweifel<br />
(BVerfG, Beschl. v. 6.2.2007 – 1 BvR 191/06, juris Rn 12 = BVerfGK 10, 258).<br />
Die Wertgrenze gilt nicht, wenn das Berufungsgericht die Berufung (als unzulässig) verworfen hat, § 26<br />
Nr. 8 S. 2 EGZPO (bzw. § 544 Abs. 2 Nr. 2 ZPO-E), d.h., sie ist dann unabhängig vom Wert statthaft.<br />
32 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 553<br />
Rechtsmittelbeschwer<br />
Praxistipp:<br />
Wer bei sich bei einer (potenziellen) Beschwer des Mandanten von bis zu 20.000 € die Revision offenhalten<br />
will, sollte beim Berufungsgericht die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) anregen und/oder, wenn<br />
möglich, durch entsprechenden Vortrag – spätestens in der Berufungsinstanz, besser schon von vornherein –<br />
darlegen und glaubhaft machen, dass für den Mandanten mehr als 20.000 € auf dem Spiel stehen.<br />
Um mit der statthaften Nichtzulassungsbeschwerde erfolgreich zu sein, muss für deren Begründetheit<br />
ein Zulassungsgrund (§ 543 Abs. 2 S. 1 ZPO) vorliegen. (Zu den Zulassungsgründen, die hier nicht<br />
behandelt werden, s. GEIPEL, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>3, 453 = F. 13, S. 1857 sowie die Dissertation von RUPPRECHT, Gründe<br />
für die Zulassung der Revision in deutschen Prozessordnungen, 2<strong>01</strong>5; zur Zulassungspraxis des BGH<br />
s. WINTER, NJW 2<strong>01</strong>6, 922).<br />
II.<br />
Besonderheiten der Beschwer im Immobilienrecht<br />
1. Herausgabe eines Grundstücks<br />
Die aus der Verurteilung zur Herausgabe des Grundstücks folgende Beschwer bemisst sich im<br />
Ausgangspunkt nicht nach § 6 ZPO (nach dem Verkehrswert des Grundstücks), sondern nach § 8 ZPO<br />
(nach dem Nutzungsentgelt), denn bei einem Streit über das Bestehen eines Nutzungsverhältnisses ist<br />
die Sondervorschrift des § 8 ZPO vorrangig (BGH, Beschl. v. 12.4.2<strong>01</strong>8 – V ZR 230/17, juris Rn 5; zu den<br />
näheren Einzelheiten s. BRÄNDLE, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 843 = F. 4, S. 1813).<br />
2. Eigentumsstörung<br />
Bei der Abweisung einer Klage auf Unterlassung einer Eigentumsstörung ist auf das Interesse des<br />
Klägers an der Unterlassung dieser Störung abzustellen; dieses ist nach § 3 ZPO zu bestimmen (BGH,<br />
Beschl. v. 30.6.2<strong>01</strong>6 – V ZR 249/15, juris Rn 6; BGH, Beschl. v. 14.1.2<strong>01</strong>6 – V ZR 94/15, juris Rn 7). Für die<br />
Ermittlung des Interesses des Klägers kommt es auf die Verhinderung der Einwirkungen auf sein<br />
Grundstück an. Erforderlich ist die Darlegung möglicher entstehender Schäden (hier: durch Regenwasser)<br />
oder einer Wertminderung des Grundstücks (BGH, Beschl. v. 14.1.2<strong>01</strong>6 – V ZR 94/15, juris Rn 8).<br />
Das Interesse des Rechtsmittelklägers an der Abänderung der angefochtenen Entscheidung bemisst<br />
sich bei der Störung von Grundeigentum grds. nach dem Wertverlust, den die Sache durch die Störung<br />
erleidet (BGH, Beschl. v. 8.3.2<strong>01</strong>2 – V ZB 247/11, juris Rn 7; BGH, Beschl. v. 12.7.2<strong>01</strong>8 – V ZB 218/17, juris<br />
Rn 7). Der für die Beseitigung der Besitzstörung erforderliche Kostenaufwand ist für die Bemessung der<br />
Beschwer eines in seinem Eigentum gestörten Klägers dagegen grds. unerheblich und auch nicht dem<br />
Wert der Beschwer hinzuzurechnen (BGH, Beschl. v. 8.3.2<strong>01</strong>2 – V ZB 247/11, juris Rn 7).<br />
Das gilt aber nicht ausnahmslos: Bei Abweisung einer Klage auf Beseitigung einer Eigentumsstörung<br />
richtet sich das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche Interesse des Eigentümers, wenn sich die<br />
Störung nach Art bzw. Umfang nicht in einer Wertminderung der Sache niederschlägt, ausnahmsweise<br />
nach den Kosten, die dem Eigentümer durch die Störung entstehen und die ohne diese nicht angefallen<br />
wären. Eine Eigentumsstörung kann im Einzelfall nach ihrer Art bzw. ihrem Umfang so ausgestaltet sein,<br />
dass sie nicht zu einem Wertverlust der Sache führt, der Eigentümer aber gleichwohl ein Interesse an<br />
der Beseitigung der Störung hat, weil er in der Nutzung der Sache beeinträchtigt ist. In einem solchen<br />
Fall ist die reine Verkehrswertbetrachtung zur Ermittlung der Beschwer des Klägers ausnahmsweise<br />
ungeeignet. Ist das Fehlen einer Wertminderung trotz Beeinträchtigung des Eigentums evident oder<br />
glaubhaft gemacht, können zur Bestimmung des Interesses des Grundstückseigentümers an der<br />
Beseitigung der Störung andere Kriterien herangezogen werden. Ein solches Kriterium kann eine<br />
Belastung mit Kosten sein, die der Eigentümer allein aufgrund der Störung erleidet (BGH, Beschl.<br />
v. 12.7.2<strong>01</strong>8 – V ZB 218/17, juris Rn 10–11).<br />
Verlangt ein Grundstückseigentümer erfolglos die Beseitigung der auf seinem Grundstück verlegten<br />
Stromkabel, so richtet sich der Beschwerdewert nach § 3 ZPO nach seinem Interesse an der Beseitigung.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 33
Fach 7, Seite 554<br />
Rechtsmittelbeschwer<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Dieses bemisst sich grds. an der Wertminderung, die das in Anspruch genommene Grundstück durch die<br />
Kabelverlegung erleidet und bestimmt sich entweder durch einen hälftigen Abschlag von dem Wert der<br />
betroffenen Teilfläche oder durch einen Abschlag vom Wert der Gesamtfläche zwischen 5 % und 30 %<br />
(BGH, Beschl. v. 24.9.2<strong>01</strong>5 – V ZB 56/15, juris Rn 8). Beträgt die von der Kabelverlegung betroffene Fläche<br />
weniger als 1 % der Gesamtfläche, ist es nicht ermessensfehlerhaft, auf die Minderung des Werts<br />
der Teilfläche und nicht auf eine Wertminderung des gesamten Grundstücks abzustellen (BGH, Beschl.<br />
v. 24.9.2<strong>01</strong>5 – V ZB 56/15, juris Rn 10).<br />
Praxistipp:<br />
Sowohl der behauptete Wertverlust als auch ein behaupteter Kostenaufwand sind plausibel darzulegen<br />
und glaubhaft zu machen. Die Beibringung der Beweismittel zur Glaubhaftmachung (§ 294 ZPO) ist Sache<br />
der Parteien. Das Gericht greift nicht von Amts wegen auf zusätzliche Beweismittel zurück.<br />
3. Notweg; Notleitung<br />
Der Gegenstandswert einer Klage auf Gewährung eines Notwegs und eines Notleitungsrechts bemisst<br />
sich nicht nach den Herstellungskosten und/oder der Notwegrente, sondern gem. §§ 3, 7 ZPO nach dem<br />
Wert, den diese Rechte für das herrschende Grundstück haben (BGH, Beschl. v. 7.7.2<strong>01</strong>6 – V ZR 11/16,<br />
juris Rn 5). Umgekehrt ist zur Darlegung der Wertminderung durch ein Notleitungsrecht ein Vergleich<br />
des aktuellen Verkehrswerts des Grundstücks mit einem und ohne ein Notleitungsrecht der Beklagten<br />
erforderlich; die Darlegung von Baulandpreisen können ihn nicht ersetzen (BGH, Beschl. v. 30.6.2<strong>01</strong>6 –<br />
V ZR 260/15, juris Rn 11). Dass das Berufungsgericht das Interesse des Klägers an einem dauerhaften<br />
Notleitungsrecht über das Grundstück des Beklagten mit mindestens 20.000 € beziffert hat, ist für die<br />
Ermittlung der Beschwer des Beklagten unerheblich (BGH, Beschl. v. 30.6.2<strong>01</strong>6 – V ZR 260/15, juris Rn 13;<br />
s. hierzu ausführlich BRÄNDLE, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 753 = F. 13, S. 2247, unter II.2.).<br />
4. Löschung Grundschuld<br />
Der Streitwert einer Klage auf Zustimmung zur Löschung einer Grundschuld bemisst sich grds. auch<br />
dann nach dem eingetragenen Nennwert, wenn die Grundschuld nicht mehr valutiert ist (BGH, Beschl.<br />
v. 16.2.2<strong>01</strong>7 – V ZR 165/16, juris LS). Entsprechend ist die Beschwer zu bemessen; für ihre Bestimmung ist<br />
nicht der Grundstückswert maßgeblich (BGH, Beschl. v. 16.2.2<strong>01</strong>7 – V ZR 165/16, juris Rn 4).<br />
5. Löschung Vorkaufsrecht<br />
Klagt der Grundstückseigentümer auf Löschung eines Vorkaufsrechts, bemisst sich der Streitwert – und<br />
damit im Fall seines Unterliegens auch die Beschwer – nach seinem konkreten Interesse an der Löschung.<br />
Dieses nach freiem Ermessen zu schätzende Interesse kann nach einem Bruchteil des Grundstückswerts<br />
bemessen werden; welcher Bruchteil angemessen ist, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls<br />
(BGH, Beschl. v. 8.3.2<strong>01</strong>8 – V ZR 238/17, juris Rn 5).<br />
6. Dienstbarkeit<br />
Eine Dienstbarkeit, die dazu berechtigt, auf dem belasteten Grundstück eine Schankwirtschaft zu<br />
betreiben oder durch Dritte betreiben zu lassen, und die es dem Eigentümer des Grundstücks verbietet,<br />
Bier anzubieten, zu lagern oder auszuschenken, hat für die Brauerei auch dann einen Wert, wenn ein<br />
Bezugsvertrag nicht oder nicht mehr besteht. Sie sichert dann noch die Interessen, den Grundstückseigentümer<br />
zum Abschluss eines Bezugsvertrags zu bewegen oder zumindest eine Konkurrenz durch<br />
andere Brauereien oder Bierverleger von dem Grundstück fernzuhalten (BGH, Beschl. v. 11.2.2<strong>01</strong>6 –<br />
V ZR 180/15, juris Rn 12). Nach der Gewinnerwartung aus dem Bierausschank kann der wirtschaftliche<br />
Wert einer solchen Dienstbarkeit jedoch nur bestimmt werden, wenn auf dem belasteten Grundstück –<br />
gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft – eine Schankwirtschaft oder ein Bierverlag durch die Brauerei,<br />
den Eigentümer oder einen Dritten betrieben wird (BGH, Beschl. v. 11.2.2<strong>01</strong>6 – V ZR 180/15, juris Rn 13).<br />
34 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 555<br />
Rechtsmittelbeschwer<br />
III. Besonderheiten der Beschwer im Wohnungseigentumsrecht<br />
Die Nichtzulassungsbeschwerde wurde für Wohnungseigentumssachen erst für anzufechtende Entscheidungen<br />
eröffnet, die nach dem 31.12.2<strong>01</strong>5 verkündet worden sind, § 62 Abs. 2 WEG. ZSCHIESCHACK<br />
(NZM 2<strong>01</strong>6, 20, 21) hat bereits zu Beginn des Jahres 2<strong>01</strong>6 darauf hingewiesen, in der Praxis werde sich die<br />
Beschwer als Hauptproblem der seit dem 1.1.2<strong>01</strong>6 geltenden Rechtslage herausstellen. Auf Grund der<br />
„sperrigen und in der Praxis kaum handhabbaren“ Vorschrift des § 49a GKG entspreche der Streitwert nahezu<br />
nie der Beschwer. Dass dem in der Tat so ist, mussten seither viele Beschwerdeführer, deren Beschwerde<br />
von dem V. Zivilsenat als unzulässig verworfen wurde, erfahren. Die nachfolgende Darstellung<br />
berücksichtigt primär die Rechtsprechung des für u.a. für das Wohnungseigentumsrecht zuständigen<br />
V. Zivilsenats des BGH (s. bereits BRÄNDLE, ZfIR 2<strong>01</strong>7, 553 und BRÄNDLE, Kolumne <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>7, 1217 f).<br />
Der Wert der Beschwer bemisst sich nach dem Interesse des Rechtsmittelführers an der Abänderung der<br />
angefochtenen Entscheidung („Angreiferinteresse“; s. schon RG, Urt. v. 27.12.1899 – VI 76/99, RGZ 45, 402,<br />
403-405; im Einzelnen: BRÄNDLE, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 753 = F. 13, S. 2247). Die Parteirolle des Beschwerdeführers ist<br />
unerheblich. Die Beschwer der Parteien ist nicht zwangsläufig identisch. Es ist allein auf die Person des<br />
Rechtsmittelführers, seine Beschwer und sein Änderungsinteresse abzustellen; entscheidend ist der<br />
rechtskraftfähige Inhalt der angefochtenen Entscheidung (BGH, Beschl. v. 19.6.2<strong>01</strong>3 – V ZB 182/12, juris<br />
Rn 7). Dieses Interesse ist unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu bewerten. Nichts anderes gilt in<br />
wohnungseigentumsrechtlichen Verfahren (BGH, Beschl. v. 6.12.2<strong>01</strong>8 – V ZR 63/18, juris Rn 2).<br />
1. Beschwer und Streitwert<br />
Nach § 49a Abs. 1 S. 1 GKG ist der Streitwert in Wohnungseigentumssachen auf 50 % des Interesses der<br />
– also beider – Parteien und aller Beigeladenen an der Entscheidung festzusetzen. Die jeweiligen<br />
Interessen sind, auch soweit sie sich überschneiden, zu addieren und das Ergebnis ist sodann durch zwei<br />
zu teilen. Nach § 49a Abs. 1 S. 2 GKG wird er nach unten auf das Interesse des Klägers und der auf seiner<br />
Seite Beigetretenen und nach oben auf das Fünffache hiervon begrenzt. Nach § 49a Abs. 1 S. 3 GKG stellt<br />
der Verkehrswert des Wohnungseigentums zudem die absolute Obergrenze dar. Eine entsprechende<br />
Obergrenze gibt es in § 49a Abs. 2 GKG für Klagen gegen einzelne Wohnungseigentümer. Das Gericht<br />
muss den gem. § 49a Abs. 1 S. 3 GKG für die Obergrenze maßgeblichen Verkehrswert schätzen. Da eine<br />
sachverständige Begutachtung i.R.d. Streitwertfestsetzung nicht in Betracht kommt, ist es Sache der<br />
Partei, dem Gericht die für die Schätzung erforderliche Tatsachengrundlage zu unterbreiten (BGH,<br />
Beschl. v. 6.12.2<strong>01</strong>8 – V ZR 239/17, juris Rn 5). Die Verkehrswerte mehrerer Wohnungseigentumseinheiten<br />
desselben Klägers sind zusammenzurechnen; maßgeblich ist der Verkehrswert aller Einheiten<br />
eines Klägers, obwohl das Wohnungseigentum des Klägers in der Norm im Singular genannt wird (BGH,<br />
Beschl. v. 6.12.2<strong>01</strong>8 – V ZR 239/17, juris Rn 5).<br />
Die Vorschrift ist zwar vielleicht etwas sperrig, aber durchaus handhabbar, wenn die Parteien zu ihrem<br />
jeweiligen Interesse vortragen. Das Praxisproblem für den in dritter Instanz tätigen Rechtsanwalt beim<br />
BGH liegt eher darin, dass die Parteien gar nicht oder nicht ausreichend vortragen und sich die<br />
Instanzgerichte mit rudimentären Angaben zufriedengeben und froh sind, den Streitwert irgendwie<br />
– und sei es freihändig am Gesetz vorbei – festzusetzen.<br />
Praxistipp:<br />
Das Interesse des Mandanten ist plausibel darzulegen und glaubhaft zu machen. Freihändige Streitwertfestsetzungen<br />
durch die Instanzgerichte sind zu beanstanden.<br />
Selbst einem Kläger, der den Rückbau einer vom Beklagten eigenmächtig vorgenommenen Erneuerung der<br />
Zuwegung verlangt (BGH, Beschl. v. 6.4.2<strong>01</strong>7 – V ZR 254/16, juris Rn 1), wird es von den Instanzgerichten<br />
offenbar durchgelassen, dass er zu seinem eigenen Interesse kein Wort sagt, um den Streitwert dann<br />
kurzerhand und außerhalb des Gesetzes auf die Kosten der Baumaßnahmen festzusetzen (BGH, Beschl.<br />
v. 6.4.2<strong>01</strong>7 – V ZR 254/16, juris Rn 5). Diese Sachbehandlung war jedoch fehlerhaft. Gerade der Kläger muss<br />
– wie immer – primär sein Interesse und nicht das des Gegners darlegen, sonst kann schon nicht überprüft<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 35
Fach 7, Seite 556<br />
Rechtsmittelbeschwer<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
werden, ob ein Rechtsschutzbedürfnis besteht. Es hätte den Instanzgerichten daher oblegen, den Kläger<br />
entsprechend § 139 Abs. 2 ZPO darauf hinzuweisen, dass er nicht nur, wie offenbar geschehen, das Interesse<br />
der Beklagten (Kosten der Baumaßnahmen), sondern auch sein eigenes Interesse (z.B. den Wertverlust<br />
seines Teileigentums, erlittene Nachteile durch die Baumaßnahme) darzulegen hat. Soweit der V. Zivilsenat<br />
in der gleichen Sache bei seiner Entscheidung über die Anhörungsrüge dagegen meint, aus Sicht des<br />
Berufungsgerichts bestehe kein Anlass, im Hinblick auf ein etwaiges Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren<br />
vorsorglich auf eine Bezifferung der Beschwer hinzuwirken (BGH, Beschl. v. 22.6.2<strong>01</strong>7 – V ZR 254/16, juris<br />
Rn 2 a.E.), so ist das zwar für sich genommen richtig, trifft aber nicht den Kern des Arguments. Der<br />
V. Zivilsenat würde gut daran tun, es den Instanzgerichten nicht durchgehen zu lassen, ihre Arbeit<br />
nicht ordentlich zu machen und Streitwerte nach § 49a GKG einfach freihändig – und gesetzwidrig –<br />
festzusetzen. Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben des Revisionsgerichts, die Instanzgerichte zur<br />
Gesetzestreue anzuhalten.<br />
Hinweis:<br />
Der in wohnungseigentumsrechtlichen Verfahren gem. § 49a GKG bestimmte Streitwert entspricht i.d.R.<br />
nicht der für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels maßgeblichen Beschwer des Rechtsmittelführers (BGH,<br />
Beschl. v. 17.11.2<strong>01</strong>6 – V ZR 86/16, juris LS 1; BGH, Beschl. v. 6.4.2<strong>01</strong>7 – V ZR 254/16, juris Rn 3).<br />
Maßgebend ist das Interesse des Rechtsmittelführers an der Abänderung des angefochtenen Urteils, das<br />
unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu bewerten ist (BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 – V ZR 167/16, juris Rn 3).<br />
Das Änderungsinteresse des Rechtsmittelführers erhöht oder ermäßigt sich nicht dadurch, dass bei<br />
der Bemessung des Streitwerts auch eine Reihe anderer Kriterien Berücksichtigung findet (BGH, Beschl.<br />
v. 17.11.2<strong>01</strong>6 – V ZR 86/16, juris Rn 2). Um dem Revisionsgericht die Prüfung dieser Zulässigkeitsvoraussetzung<br />
zu ermöglichen, muss der Beschwerdeführer innerhalb der laufenden Begründungsfrist darlegen<br />
und glaubhaft machen, dass er mit der beabsichtigten Revision das Berufungsurteil in einem Umfang,<br />
der die Wertgrenze von 20.000 € übersteigt, abändern lassen will (BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 – V ZR 167/16,<br />
juris Rn 3).<br />
2. Streitgenossenschaft der „übrigen“ Wohnungseigentümer<br />
Legen mehrere Streitgenossen – z.B. Wohnungseigentümer – ein Rechtsmittel ein, werden deren<br />
Einzelbelastungen zur Bemessung der Beschwer zusammengerechnet, sofern diese nicht wirtschaftlich<br />
identisch sind (BGH, Urt. v. 2.10.2<strong>01</strong>5 – V ZR 5/15, juris Rn 6). Dies gilt bei der Bestimmung der Streitwerts<br />
auch für die Obergrenze des § 49a Abs. 1 S. 3 GKG: Bei mehreren Klägern entspricht der Verkehrswert<br />
des Wohnungseigentums, der nach § 49a Abs. 1 S. 3 GKG die absolute Obergrenze des Geschäftswerts<br />
bildet, der Summe der Einzelverkehrswerte der Wohnungseigentumsrechte aller klagenden Wohnungseigentümer<br />
(BGH, Beschl. v. 21.3.2<strong>01</strong>9 – V ZR 120/17, juris Rn 6).<br />
Bei Beschlussanfechtungsverfahren bilden die beklagten „übrigen“ Wohnungseigentümer eine notwendige<br />
Streitgenossenschaft. Der Verwalter darf in Beschlussanfechtungsverfahren bestimmte Prozesshandlungen<br />
für die beklagten Wohnungseigentümer vornehmen (BGH, Urt. v. 5.7.2<strong>01</strong>3 – V ZR 241/12, juris Rn 8).<br />
Im Innenverhältnis nehmen die in § 27 WEG geregelten Befugnisse des Verwalters den Wohnungseigentümern<br />
jedoch nicht ihre Entscheidungsmacht und ihre gemeinschaftliche Geschäftsführungsbefugnis;<br />
die Wohnungseigentümer sind deshalb nicht gehindert, die Einberufung einer Eigentümerversammlung zu<br />
verlangen und dem Verwalter Weisungen – z.B., einen bestimmten Rechtsanwalt zu beauftragen – zu<br />
erteilen (BGH, Urt. v. 5.7.2<strong>01</strong>3 – V ZR 241/12, juris Rn 15). Es besteht aber keine Kompetenz, bindend für alle<br />
verklagten Wohnungseigentümer, zu beschließen, ein Rechtsmittel nicht einzulegen (ZSCHIESCHACK, NZM<br />
2<strong>01</strong>6, 20, 21). Einzelne Wohnungseigentümer können (für sich) selbst auftreten oder einen eigenen<br />
Prozessbevollmächtigten bestellen (BGH, Urt. v. 5.7.2<strong>01</strong>3 – V ZR 241/12, juris Rn 15). Jeder einzelne<br />
Streitgenosse ist berechtigt, ein Rechtsmittel einzulegen. Er trägt dann allerdings im Unterliegensfall auch<br />
die Kosten allein. Die übrigen Wohnungseigentümer sind jedoch – wie schon in der Berufungsinstanz – nach<br />
§ 62 Abs. 2 ZPO weiterhin hinzuzuziehen; bei beklagten Wohnungseigentümern im Beschlussmängelprozess<br />
handelt es sich um notwendige Streitgenossen (BGH, Urt. v. 23.10.2<strong>01</strong>5 – V ZR 76/14, juris Rn 13).<br />
36 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 557<br />
Rechtsmittelbeschwer<br />
3. Die Darlegung der Beschwer<br />
Der BGH stellt strenge Anforderungen an die Darlegung der Beschwer, welche an anderer Stelle bereits<br />
behandelt wurden (BRÄNDLE, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 753 = F. 13, S. 2247). Der für Wohnungseigentumssachen<br />
zuständige V. Zivilsenat prüft besonders penibel. Instruktiv ist hier beispielsweise der Beschluss des BGH<br />
v. 11.4.2<strong>01</strong>9 (V ZR 91/18). Dort scheiterte die Nichtzulassungsbeschwerde daran, dass der Beschwerdeführer<br />
nichts zu seinem Kostenanteil am Wirtschaftsplan bzw. an angefochtenen baulichen Maßnahmen<br />
mitgeteilt hatte, obwohl es darauf ankam.<br />
IV.<br />
Einzelfälle aus dem Wohnungseigentumsrecht<br />
1. Anfechtung<br />
a) … eines Sanierungsbeschlusses<br />
Wendet sich der Kläger gegen einen Beschluss, das Gemeinschaftseigentum zu sanieren, ist der auf ihn<br />
entfallende Kostenanteil maßgeblich (BGH, Beschl. v. 21.4.2<strong>01</strong>6 – V ZA 2/16, juris; BGH, Beschl. v. 18.2.2<strong>01</strong>6<br />
– V ZB 103/15, juris).<br />
Bei der Anfechtung eines Beschlusses über eine Instandsetzungs‐ oder Modernisierungsmaßnahme, die<br />
der Kläger als optische Beeinträchtigung des gemeinschaftlichen Eigentums ansieht, können die auf den<br />
Kläger entfallenden Kosten der Maßnahme jedenfalls als Hilfsmittel für die Schätzung der klägerischen<br />
Beschwer dienen; wird nach dem Vortrag des Klägers das gesamte Gebäude optisch erheblich verändert,<br />
ist im Regelfall zu dem Kostenanteil ein Wert von etwa 1.000 € hinzuzurechnen, der dem ideellen<br />
Interesse an der Gebäudegestaltung Rechnung trägt (BGH, Beschl. v. 21.6.2<strong>01</strong>8 – V ZB 254/17, juris Rn 9).<br />
Hinweis:<br />
Das Interesse des einzelnen Eigentümers, eine kostenträchtige Maßnahme zu verhindern, ergibt sich stets<br />
nur aus seinem Kostenanteil und nicht etwa aus den gesamten Kosten der Maßnahme.<br />
Mehr Mühe macht das Interesse der Gemeinschaft, die Sanierungsmaßnahme durchführen zu<br />
können. Hier wird man wohl auf eine unterbliebene Werterhöhung oder auf eine eingetretene oder<br />
jedenfalls für die nähere Zukunft befürchtete Wertminderung abheben müssen (ebenso ZSCHIESCHACK,<br />
NZM 2<strong>01</strong>6, 20, 22). Weiterhin ist denkbar, dass die Gemeinschaft einen konkreten Mehraufwand<br />
(vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 – V ZR 100/16, juris Rn 9 und BGH, Beschl. v. 10.11.2<strong>01</strong>6 – V ZR 54/16,<br />
juris Rn 12) z.B. für zusätzliche Verwaltungstätigkeit (vgl. BGH, Beschl. v. 17.12.2003 – IV ZR 28/03,<br />
juris Rn 13) durch das Unterbleiben der (unterstellt notwendigen und gebotenen) Sanierung darlegt.<br />
Hinweis:<br />
Das Interesse der Gemeinschaft, die Sanierungsmaßnahme durchführen zu können, ergibt sich nicht etwa<br />
aus den gesamten Kosten der geplanten Maßnahme. Vielmehr sind eine unterbliebene Werterhöhung<br />
oder eine unterbleibende Wertminderung plausibel darzulegen.<br />
b) … der Jahresabrechnung oder des Wirtschaftsplans<br />
Das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche wirtschaftliche Interesse der Anfechtungsbeklagten,<br />
die einen für ungültig erklärten Beschluss der Wohnungseigentümer über die Genehmigung der<br />
Jahresabrechnung mit dem Ziel der Aufrechterhaltung verteidigen, bemisst sich nach dem Nennbetrag<br />
der Jahresabrechnung ohne den auf den Anfechtungskläger entfallenden Anteil (BGH, Beschl. v. 9.2.2<strong>01</strong>7<br />
– V ZR 188/16, juris LS 1 und Rn 4). Entgegen ZSCHIESCHACK (NZM 2<strong>01</strong>6, 20, 22) kommt es also nicht auf die<br />
Abrechnungsspitze, sondern auf den Nennbetrag an.<br />
Das entspricht der Bemessung der Beschwer des klagenden Wohnungseigentümers im umgekehrten Fall,<br />
wenn also die Anfechtungsklage gegen den Beschluss der Wohnungseigentümer über die Genehmigung<br />
der Jahresabrechnung abgewiesen wird. Sie bestimmt sich bei einer einschränkungslosen Anfechtung des<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 37
Fach 7, Seite 558<br />
Rechtsmittelbeschwer<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Beschlusses nach dem Anteil des Anfechtungsklägers an dem Gesamtergebnis der Abrechnung (BGH,<br />
Beschl. v. 9.2.2<strong>01</strong>7 – V ZR 188/16, juris Rn 4). Die Beschwer des Anfechtungsklägers bestimmt sich dabei<br />
allein nach seinem persönlichen wirtschaftlichen Interesse; darüber hinausgehende ideelle Zwecke (dazu<br />
nochmals unten 11.) hat die Jahresabrechnung nicht. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die<br />
Abrechnung den Grundsätzen ordnungsmäßiger Verwaltung entsprechen muss (BGH, Beschl. v. 15.5.2<strong>01</strong>2<br />
– V ZB 282/11, juris Rn 7). Die Beschwer bei der Abweisung einer gegen den Wirtschaftsplan gerichteten<br />
Anfechtungsklage bemisst sich, sofern sich diese nicht auf konkrete Teile des Plans beschränkt, in aller<br />
Regel nach dem Anteil des Klägers, und zwar auch dann, wenn dieser formale Fehler der Abrechnung<br />
bemängelt (BGH, Beschl. v. 18.9.2<strong>01</strong>4 – V ZR 290/13, juris Rn 10). Dabei ergibt sich der Anteil des Klägers im<br />
Zweifel aus den in dem Einzelwirtschaftsplan ausgewiesenen jährlichen Hausgeldzahlungen (BGH, Beschl.<br />
v. 11.4.2<strong>01</strong>9 – V ZR 91/18, juris Rn 8). Wendet sich der Kläger (nur) gegen den Ansatz einer Kostenposition<br />
in seiner Einzelabrechnung (und nicht gegen die Abrechnung insgesamt), bestimmt deren Nennbetrag<br />
seine Beschwer (BGH, Beschl. v. 9.9.2<strong>01</strong>5 – V ZB 198/14, juris Rn 11).<br />
c) … eines Negativbeschlusses bezüglich Aufwendungsersatz<br />
Wird ein Mehrheitsbeschluss für ungültig erklärt, der Zahlungsansprüche eines Wohnungseigentümers<br />
gegen die Wohnungseigentümergemeinschaft verneint, ist im Ausgangspunkt der Nennbetrag dieser<br />
Ansprüche maßgeblich für die Beschwer der übrigen Wohnungseigentümer (BGH, Beschl. v. 19.6.2<strong>01</strong>3 –<br />
V ZB 182/12, juris LS und Rn 9). Wegen der Bezifferung der abgelehnten Ansprüche spielt das konkrete<br />
wirtschaftliche Interesse der Beklagten im Grundsatz keine Rolle. Vielmehr ist üblicherweise – insb.,<br />
aber nicht nur bei einer bezifferten Klage – der volle Forderungsbetrag anzusetzen, sofern die Forderung<br />
selbst im Streit ist (BGH, Beschl. v. 19.6.2<strong>01</strong>3 – V ZB 182/12, juris LS u. Rn 10).<br />
2. Beschlussersetzungsklage (§ 21 Abs. 8 WEG)<br />
Das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche wirtschaftliche Interesse des klagenden Wohnungseigentümers,<br />
der im Wege der Anfechtungs‐ und Beschlussersetzungsklage die Geltendmachung von<br />
Schadenersatzansprüchen gegen den Verwalter erreichen will, bemisst sich nach seinem – im Zweifel nach<br />
Miteigentumsanteilen zu bestimmenden – Anteil an der Schadenersatzforderung; ebenso beschränkt sich<br />
das wirtschaftliche Interesse daran, eine Kostenmehrbelastung (hier durch die beschlossene Erhöhung<br />
einer Kostenobergrenze) zu verhindern, auf den Anteil des Wohnungseigentümers an den Mehrkosten<br />
(BGH, Beschl. v. 9.2.2<strong>01</strong>7 – V ZR 88/16, juris LS).<br />
3. Verwalter und Verwaltungsbeirat<br />
a) Abberufung und Wahl des Verwalters<br />
Das Interesse des Klägers an der vorzeitigen Abberufung des Verwalters ist regelmäßig nach seinem Anteil<br />
an dem restlichen Verwalterhonorar zu bemessen (BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 – V ZR 167/16, juris Rn 5; anders<br />
im Gesellschaftsrecht, wo das Gehalt des abberufenen Geschäftsführers keine Rolle spielt, BGH, Beschl.<br />
v. 28.6.2<strong>01</strong>1 – II ZR 127/10, juris). Für den Antrag, den Kläger zur Einberufung einer Eigentümerversammlung<br />
mit dem Tagesordnungspunkt „Wahl eines neuen Verwalters“ zu ermächtigen, ist höchstens der auf den<br />
Kläger entfallende Anteil an dem Gesamthonorar eines zu bestellenden Verwalters als Beschwer<br />
maßgeblich (BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 – V ZR 167/16, juris Rn 6). Die Entscheidung der Wohnungseigentümer<br />
über die Bestellung des Verwalters wird zwar wesentlich durch die Person, die Qualifikation<br />
und die zu erwartende bzw. bekannte Amtsführung des Verwalters bestimmt sein. Das Verwalterhonorar<br />
ist gleichwohl i.d.R. das gegebene Hilfsmittel, um das jeweilige Interesse an einer Entscheidung über die<br />
Neu‐ oder Wiederbestellung des Verwalters einzuschätzen (BGH, Beschl. v. 15.3.2<strong>01</strong>8 – V ZR 59/17, juris<br />
Rn 6). Es kommt dabei auf den Anteil des Beschwerdeführers an dem Gesamthonorar für die Zeit des<br />
beschlossenen (Wieder‐)Bestellungszeitraums an (BGH, Beschl. v. 15.3.2<strong>01</strong>8 – V ZR 59/17, juris Rn 6).<br />
b) Bestellung der Mitglieder des Verwaltungsbeirats<br />
Das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche wirtschaftliche Interesse des klagenden Wohnungseigentümers,<br />
der erfolglos einen Beschluss über die Bestellung der Mitglieder des Verwaltungsbeirats<br />
angefochten hat, ist in aller Regel auf 750 € zu schätzen (BGH, Beschl. v. 17.1.2<strong>01</strong>9 – V ZB 121/18, juris Rn 10).<br />
38 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 559<br />
Rechtsmittelbeschwer<br />
c) Entlastung des Verwalters und des Beirats<br />
Bei der Bemessung des Interesses des Klägers an der Aufhebung der Entlastung des Verwalters ist der<br />
Wert von Forderungen gegen den Verwalter zu berücksichtigen, wenn die Entlastung wegen solcher<br />
Forderungen verweigert wird oder verweigert werden soll. Denn in der Entlastung liegt dann ein<br />
negatives Schuldanerkenntnis nach § 397 Abs. 2 BGB (BGH, Beschl. v. 17.7.2003 – V ZB 11/03, juris Rn 18 =<br />
BGHZ 156, 20, 25). Maßgeblich für etwaige Ersatzansprüche gegen den Verwalter, auf die die<br />
Anfechtungsklage gestützt wird, ist der klägerische Anteil an dem Nennbetrag dieser Ansprüche (vgl.<br />
BGH, Beschl. v. 9.2.2<strong>01</strong>7 – V ZR 88/16, juris LS u. Rn 5 für Schadenersatzansprüche gegen den Verwalter<br />
und BGH, Beschl. v. 9.2.2<strong>01</strong>7 – V ZB 113/16, juris Rn 12 für die Entlastung des Beirats).<br />
Zu berücksichtigen ist bei der Bemessung des Interesses aber auch der Zweck, den die Entlastung des<br />
Verwalters neben der Verzichtswirkung hat. Sie dient nämlich dazu, die Grundlage für die weitere<br />
vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Zukunft zu legen (BGH, Beschl. v. 31.3.2<strong>01</strong>1 – V ZB 236/10, juris<br />
Rn 10). Das Interesse der Wohnungseigentümer an der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der<br />
Verwaltung der Gemeinschaft ist nicht teilbar und bei allen Wohnungseigentümern dasselbe. Es ist mit<br />
1.000 € zu bewerten (BGH, Beschl. v. 31.3.2<strong>01</strong>1 – V ZB 236/10, juris Rn 12). Anders kann es ausnahmsweise<br />
liegen, wenn der anfechtende Wohnungseigentümer eine weitere gute Zusammenarbeit mit dem<br />
Verwalter ausdrücklich nicht in Zweifel zieht, die Anfechtung des Entlastungsbeschlusses also allein<br />
wegen bestimmter Forderungen gegen den Verwalter verweigert wissen will (BGH, Beschl. v. 17.3.2<strong>01</strong>6 –<br />
V ZB 166/13, juris Rn 12).<br />
Das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche wirtschaftliche Interesse des klagenden Wohnungseigentümers,<br />
der erfolglos einen Beschluss über die Entlastung des Verwaltungsbeirats angefochten<br />
hat, bemisst sich nach dem regelmäßig mit 500 € anzusetzenden Wert, den die künftige vertrauensvolle<br />
Zusammenarbeit mit dem Verwaltungsbeirat hat, zuzüglich des klägerischen Anteils an etwaigen<br />
Ersatzansprüchen gegen den Verwaltungsbeirat, auf die die Anfechtung des Entlastungsbeschlusses<br />
gestützt wird (BGH, Beschl. v. 9.2.2<strong>01</strong>7 – V ZB 113/16, juris LS). Angesichts der unterstützenden Funktion<br />
des Beirats (vgl. § 29 Abs. 2 WEG) und des im Vergleich mit der Tätigkeit des Verwalters geringeren<br />
Umfangs seiner Tätigkeit erscheint die überwiegende gerichtliche Praxis angemessen, wonach insoweit<br />
die Hälfte des bei dem Verwalter anzusetzenden Werts von 1.000 € zugrunde zu legen ist (BGH, Beschl.<br />
v. 9.2.2<strong>01</strong>7 – V ZB 113/16, juris Rn 11). Maßgeblich für etwaige Ersatzansprüche gegen den Verwaltungsbeirat,<br />
auf die die Anfechtungsklage gestützt wird, ist der klägerische Anteil an dem Nennbetrag dieser<br />
Ansprüche (BGH, Beschl. v. 9.2.2<strong>01</strong>7 – V ZB 113/16, juris Rn 12).<br />
In den Entlastungsfällen kommt somit ausnahmsweise ein ideelles Interesse (dazu nochmals unten IV.12)<br />
in Betracht.<br />
4. Protokollberichtigung<br />
Für eine bloße Protokollberichtigung ist allenfalls ein geschätzter Wert von 1.000 € anzusetzen. Auf den<br />
Wert des sachlichen Inhalts der Beschlussanträge kommt es nicht an (OLG Frankfurt a.M., Beschl.<br />
v. 13.3.2<strong>01</strong>8 – 2 W 44/17, juris Rn 10-11).<br />
5. Beseitigung einer baulichen Veränderung<br />
Wird der Beklagte zur Beseitigung einer baulichen Veränderung verurteilt, bemisst sich seine Beschwer<br />
grds. nach den Kosten einer Ersatzvornahme des Abrisses, die ihm im Falle des Unterliegens drohen (BGH,<br />
Beschl. v. 17.11.2<strong>01</strong>6 – V ZR 86/16, juris Rn 3). Übersteigt das Interesse am Erhalt des Bauwerks die grds.<br />
maßgeblichen Kosten einer Ersatzvornahme des Abrisses, so ist die Beschwer nach dem höheren Interesse<br />
an dem Erhalt des Bauwerks zu bemessen. Dieses bestimmt sich grds. nach den für den Bau aufgewendeten<br />
Kosten. Nicht zu berücksichtigen sind dagegen mittelbare wirtschaftliche Folgen des Urteils, zu denen die<br />
Wertminderung der Wohnung sowie die Kosten für ersatzweise zu errichtende Anlage zählen (BGH, Beschl.<br />
v. 26.9.2<strong>01</strong>9 – V ZR 224/18, juris Rn 3). Der zuletzt genannte Fall ist allerdings von der Besonderheit geprägt,<br />
dass zwar nur ein Kaminrohr rückzubauen war, die ganze Heizung dadurch aber sinnlos wurde. Es lag also<br />
eine einheitliche Anlage vor, die nur mit dem (zu beseitigenden) Kaminrohr betrieben werden konnte.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 39
Fach 7, Seite 560<br />
Rechtsmittelbeschwer<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Hingegen bemisst sich das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche wirtschaftliche Interesse eines<br />
Wohnungseigentümers, dessen Klage auf Beseitigung einer eigenmächtig durch einen Miteigentümer<br />
vorgenommenen baulichen Veränderung des gemeinschaftlichen Eigentums abgewiesen worden ist,<br />
grds. nach dem Wertverlust, den sein Wohnungseigentum durch die bauliche Veränderung erleidet<br />
(BGH, Beschl. v. 6.4.2<strong>01</strong>7 – V ZR 254/16, juris LS u. Rn 4). Der Wertverlust ist vom Kläger darzulegen und<br />
gem. § 294 ZPO glaubhaft zu machen; stützt er seine Klage auf eine optische Veränderung des<br />
gemeinschaftlichen Eigentums, muss er jedenfalls Tatsachen darlegen und glaubhaft machen, die eine<br />
Schätzung seines Interesses ermöglichen (BGH, Beschl. v. 6.4.2<strong>01</strong>7 – V ZR 254/16, juris Rn 4).<br />
6. Unterlassung der Wohnnutzung<br />
Bei Verurteilung zur Unterlassung der Wohnnutzung einer Teileigentumseinheit ist für den Wert der<br />
Beschwer der Beklagten auf die diesbezüglich entstehenden Nachteile abzustellen. Sie können etwa in<br />
dem Verlust der Vorteile bestehen, die aus der Wohnnutzung gezogen werden, oder in einem mit der<br />
Unterlassung verbundenen Aufwand. Das Interesse kann geschätzt werden (BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 –<br />
V ZR 100/16, juris Rn 7). Für die Bestimmung des Werts der Beschwer kann nicht auf §§ 8, 9 ZPO<br />
zurückgegriffen werden. Es wird nicht über den Bestand oder die Dauer eines unbefristeten Miet- oder<br />
Pachtverhältnisses gestritten. Vielmehr steht die grundsätzliche Nutzungsmöglichkeit der Teileigentumseinheit<br />
zu dauernden Wohnzwecken infrage. Eine Parallele zu einer Räumungsklage wäre nicht<br />
sachgerecht. Im Übrigen ist der Mietwert der Wohnung im Hinblick darauf, dass eine gewerbliche<br />
Nutzung der Teileigentumseinheit möglich bleibt, nicht geeignet, den Nachteil der Unterlassungsverurteilung<br />
zu beziffern (BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 – V ZR 100/16, juris Rn 9). Maßgeblich ist die Differenz der<br />
Mietwerte zwischen einer Nutzung zu Wohnzwecken und einer gewerblichen Nutzung der Einheit und/<br />
oder ein konkreter Aufwand, der mit der Nutzungsänderung verbunden wäre (BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 –<br />
V ZR 100/16, juris Rn 9).<br />
7. Bestehen eines Sondernutzungsrechts<br />
Streiten die Parteien um das Bestehen eines Sondernutzungsrechts, ist zu unterscheiden: Die Beschwer<br />
des Beklagten, der sich gegen die gerichtliche Feststellung des Bestehens eines Sondernutzungsrechts<br />
eines anderen Wohnungseigentümers wendet, richtet sich nach der Wertminderung, die seine<br />
Wohneinheit erfährt, wenn es bei dem Urteil bliebe. Demgegenüber bemisst sich die Beschwer des<br />
Klägers, dessen Klage auf Feststellung des Bestehens bzw. auf Einräumung eines Sondernutzungsrechts<br />
abgewiesen worden ist, nach der Wertsteigerung, die sein Wohnungseigentum bei Stattgabe der Klage<br />
erfährt (BGH, Beschl. v. 6.12.2<strong>01</strong>8 – V ZR 338/17, juris Rn 3).<br />
8. Nutzung einer Dachterrasse – unerheblicher „Sichteinfluss“<br />
Entscheidet das Berufungsgericht, dem jeweiligem Eigentümer einer Wohneinheit stehe das alleinige<br />
Nutzungsrecht an einer Dachterrasse zu, und wendet sich der Beklagte dagegen mit der Nichtzulassungsbeschwerde,<br />
so richtet sich seine Beschwer nach der Wertminderung, die seine Wohneinheit<br />
erfährt, wenn es bei diesem Urteil bliebe (BGH, Beschl. v. 25.1.2<strong>01</strong>8 – V ZR 135/17, juris Rn 3). Auf eine<br />
angebliche Wertminderung, die die Wohnung des Beklagten durch einen von einer Nutzung der<br />
Dachterrasse ausgehenden „Sichteinfluss“ auf die darunter liegende Terrasse erleidet, kommt es nicht an.<br />
Für die Frage der Wertminderung ist allein maßgeblich, in welcher Höhe die Wohnung des Beklagten<br />
durch eine fehlende Gebrauchsmöglichkeit der Dachterrasse durch ihn und die anderen Wohnungseigentümer<br />
eine Wertminderung erleidet (BGH, Beschl. v. 25.1.2<strong>01</strong>8 – V ZR 135/17, juris Rn 4). Der<br />
Fall zeigt, dass der V. Zivilsenat des BGH sich nicht durch „trickreiche“ Konstruktionen zur Beschwer<br />
beeindrucken lässt.<br />
9. Zustimmung zur (gewerblichen) Vermietung einer Sondereigentumseinheit<br />
Das Interesse des Klägers an der (gewerblichen) Vermietung einer Sondereigentumseinheit oder einer<br />
Sondernutzungsfläche durch einen Wohnungseigentümer ist nach § 9 ZPO mit dem dreieinhalbfachen<br />
Jahresbetrag der konkret zu erzielenden Miete zu bewerten, sofern nicht eine kürzere Mietdauer<br />
vereinbart wurde oder werden sollte oder sofern als Nachteil nicht nur die Differenz zu einer niedrigeren<br />
Miete vorgetragen wird (OLG München, Beschl. v. 23.10.2<strong>01</strong>8 – 32 W 1603/18 WEG, juris, Rn 17). Das<br />
40 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 561<br />
Rechtsmittelbeschwer<br />
spiegelbildliche Interesse der beklagten Gemeinschaft besteht in der Vermeidung behaupteter Störungen<br />
durch die vom Kläger beabsichtigte Vermietung; es kann mangels näheren Vortrags auf den „Regelstreitwert“<br />
in Anlehnung an § 23 Abs. 3 S. 2 RVG mit 5.000 € angesetzt werden (OLG München, Beschl.<br />
v. 23.10.2<strong>01</strong>8 – 32 W 1603/18 WEG, juris Rn 26).<br />
10. Entziehungsklage (§ 18 WEG)<br />
Bei einer Entziehungsklage entspricht das Interesse beider Parteien dem Verkehrswert des Wohnungseigentums<br />
des zur Veräußerung Verpflichteten (BGH, Beschl. v. 19.12.2<strong>01</strong>3 – V ZR 96/13, juris Rn 10;<br />
ebenso zuvor OLG Köln, Beschl. v. 16.8.2<strong>01</strong>0 – 16 W 25/10, juris Rn 8). Für die Rechtslage vor dem 1.1.2007<br />
hat der BGH für den Streitwert einer Eigentumsentziehungsklage ebenso entschieden und weiter<br />
bemerkt, an dieser Beurteilung ändere sich nichts, wenn man berücksichtigt, dass Verlust des Eigentums<br />
nicht ohne Gegenleistung, sondern durch Veräußerung eintreten soll. Auch in dem vergleichbaren Fall<br />
der Enteignung mit der Folge des Eigentumsverlusts gegen Entschädigung werde als Streitwert der<br />
Verkehrswert des Enteignungsobjekts zugrunde gelegt, weil es allein um den Eigentumsverlust gehe<br />
(BGH, Beschl. v. 21.9.2006 – V ZR 28/06, juris). Beide Entscheidungen beziehen sich zwar auf den<br />
Streitwert und nicht auf die Beschwer. Der V. Zivilsenat spricht in seiner Entscheidung vom 19.12.2<strong>01</strong>3<br />
aber ausdrücklich vom „Interesse beider Parteien“. Das Interesse der Partei ist deren Beschwer. Wird also<br />
die Entziehungsklage abgewiesen, muss die Gemeinschaft nicht ihr (anderweitig nur schwerlich zu<br />
bezifferndes) Interesse darlegen, den Beklagten auszuschließen. Der V. Zivilsenat des BGH folgt damit<br />
dem, was auch im Gesellschaftsrecht gilt: Die Beschwer einer GmbH, die sich gegen ein kassatorisches<br />
Urteil hinsichtlich eines Beschlusses über die Einziehung eines Geschäftsanteils wendet, bemisst sich<br />
grds. nach dem Verkehrswert des von der Einziehung betroffenen Geschäftsanteils (BGH, Beschl.<br />
v. 29.7.2<strong>01</strong>4 – II ZR 73/14, juris Rn 8).<br />
11. Zustimmung zur Veräußerung (§ 12 Abs. 2 WEG)<br />
a) Klage auf Erteilung der Zustimmung<br />
Das Interesse des klagenden Wohnungseigentümers an der Erteilung der Zustimmung zur Veräußerung<br />
seines Wohnungseigentums ist i.d.R. mit 20 % des Verkaufspreises des Wohnungseigentums zu<br />
bemessen (BGH, Beschl. v. 18.1.2<strong>01</strong>8 – V ZR 71/17, juris Rn 6). Dies beruht entscheidend darauf, dass<br />
durch die Verweigerung der Zustimmung die Veräußerung nicht allgemein verhindert, sondern grds.<br />
nur verzögert wird, bis die Erteilung der Zustimmung im Klageweg durchgesetzt wird oder der<br />
Wohnungseigentümer einen Erwerber findet, gegen den kein wichtiger Grund spricht. Der Nachteil<br />
des Wohnungseigentümers, der veräußern will, liegt daher grds. nur in der Verzögerung der<br />
Veräußerung bzw. ggf. in einem geringeren Verkaufspreis. Dieser Nachteil entspricht nicht dem<br />
Kaufpreis, sondern ist mit einem Bruchteil davon zu bewerten, den der V. Zivilsenat des BGH i.d.R. auf<br />
20 % schätzt (BGH, Beschl. v. 15.11.2<strong>01</strong>8 – V ZR 25/18, juris Rn 3). Diese Überlegungen gelten auch bei<br />
der Veräußerung des Wohnungseigentums im Wege der Zwangsvollstreckung, die gem. § 12 Abs. 3<br />
S. 2 WEG einer rechtsgeschäftlichen Veräußerung gleichsteht, wobei an die Stelle des Kaufpreises das<br />
Meistgebot tritt (BGH, Beschl. v. 15.11.2<strong>01</strong>8 – V ZR 25/18, juris Rn 4).<br />
b) Klage auf Versagung der Zustimmung<br />
Daran angelehnt ist auch das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche Interesse eines Wohnungseigentümers,<br />
der erreichen will, dass die Zustimmung zur Veräußerung des Wohnungseigentums eines<br />
anderen Eigentümers versagt wird, i.d.R. auf 20 % des Verkaufspreises des Wohnungseigentums zu<br />
schätzen (BGH, Beschl. v. 19.7.2<strong>01</strong>8 – V ZR 229/17, juris Rn 3).<br />
c) Verurteilung zur Zustimmung<br />
Wird hingegen der Beklagte dazu verurteilt, der Veräußerung des Sondereigentums durch den klagenden<br />
Miteigentümer zuzustimmen, weil ein Versagensgrund nach § 12 Abs. 2 S. 1 WEG nicht vorliegt, so bemisst<br />
sich seine Beschwer nach der Wertminderung, die seine Wohnung infolge der Zustimmung zur<br />
Veräußerung der Wohnung des Klägers erfährt (BGH, Beschl. v. 28.11.2<strong>01</strong>7 – V ZB 210/17, juris).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 41
Fach 7, Seite 562<br />
Rechtsmittelbeschwer<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
12. (Ideelles) Interesse an ordnungsmäßiger Verwaltung<br />
Für das Rechtsschutzbedürfnis der Anfechtungsklage genügt zwar grds. das Interesse eines Wohnungseigentümers,<br />
eine ordnungsmäßige Verwaltung zu erreichen (BGH, Beschl. v. 17.7.2003 – V ZB 11/03,<br />
juris Rn 11 = BGHZ 156, 19, 22), für die Beschwer (hier: bezüglich der Anfechtung einer Jahresabrechnung)<br />
ist jedoch ein solches ideelles Interesse nicht hinzuzurechnen (BGH, Beschl. v. 15.5.2<strong>01</strong>2 – V ZB 282/11,<br />
juris Rn 7). Beispielsweise ist bei der Bemessung der Beschwer die von dem Kläger im Zuge der Durchführung<br />
von Trittschallmessungen befürchtete Beeinträchtigung seines Rechts auf Unverletzlichkeit der<br />
Wohnung gem. Art. 13 Abs. 1 GG und seines Sondereigentums durch Bauteilöffnungen jedenfalls dann<br />
nicht zu berücksichtigen, wenn der Kläger nicht darlegt, wie seine Beeinträchtigung zu bemessen ist<br />
oder aufgrund welcher tatsächlichen Anknüpfungspunkte sie geschätzt werden könnte (BGH, Beschl.<br />
v. 11.6.2<strong>01</strong>5 – V ZB 78/14, juris Rn 9). Nur wenn es, wie bei der Verwalter- oder Beiratsentlastung oder<br />
optischen Beeinträchtigungen (dazu jeweils oben), völlig an einem wirtschaftlichen Interesse fehlt, ist das<br />
ideelle Interesse zu schätzen.<br />
V. Fazit<br />
Praxistipp:<br />
• Hat die Klage in einer Wohnungseigentumssache keinen bezifferten Klagantrag, so ist seitens des<br />
Klägers genau zu prüfen und darzulegen, welches Interesse er verfolgt.<br />
• Dieses ist allein schon im Hinblick auf § 49a GKG anzugeben. Im Hinblick auf diese Vorschrift muss sich der<br />
Kläger überdies auch zum Interesse des Beklagten äußern, sonst kann der Streitwert nicht festgesetzt<br />
werden.<br />
• Bei Beschlussanfechtungen hat dies alles im Hinblick auf § 46 Abs. 1 S. 2 WEG spätestens in der<br />
Klagebegründung zu erfolgen.<br />
• Fehlen solche Angaben und muss das Gericht diese erst durch eine Rückfrage beim Kläger ermitteln,<br />
riskiert der Kläger, dass seine Klage – ihm zurechenbar – nicht „demnächst“ i.S.d. § 167 ZPO zugestellt<br />
wird. Stellt sich der Beschluss im Laufe des Verfahrens als nur anfechtbar heraus, war die Mühe umsonst,<br />
denn der nicht rechtzeitig angefochtene und nicht nichtige Beschluss bleibt gültig (§ 23 Abs. 4 S. 2 WEG)<br />
und die Beschlussanfechtungsklage ist abzuweisen.<br />
• Der Beklagte sollte im Hinblick auf sein mögliches Unterliegen ebenfalls sein Interesse darlegen und<br />
ggf. den entsprechenden Angaben des Klägers entgegentreten.<br />
Der Beklagte, der in erster Instanz unterliegt, hat hierzu eine letzte Möglichkeit in der Berufungsinstanz.<br />
Die Darlegung seines Interesses muss schon in der Berufungsbegründung erfolgen, um nicht zu<br />
riskieren, mit entsprechendem Vortrag präkludiert zu sein.<br />
Im Übrigen ist die Beschwer für die Berufung schon im Hinblick auf § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO darzulegen und<br />
nach § 511 Abs. 3 ZPO glaubhaft zu machen, es sei denn, das Amtsgericht hat die Berufung zugelassen.<br />
Die Instanzgerichte sind gehalten, die Parteien ggf. aufzufordern, entsprechenden Vortrag zu halten.<br />
Geschieht dies nicht, ist dies zwar verfahrensfehlerhaft, reicht allerdings wohl trotzdem nicht aus, der<br />
Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zum Erfolg zu verhelfen.<br />
Praxistipp:<br />
Bei der Beschwer eines einzelnen (oder mehrerer) Eigentümers ist stets zu beachten, dass es für ihn<br />
(bzw. sie) bei der Belastung mit Kosten in aller Regel um den/die von ihm (bzw. ihnen) zu tragenden<br />
Anteil(e) geht, was nicht mit dem insgesamt entstandenen Betrag der Kosten einer Maßnahme oder eines<br />
Schadens gleichgesetzt werden darf.<br />
Sollte das Interesse der das Rechtsmittel beabsichtigenden Partei nicht auf mehr als 20.000 € zu<br />
bemessen sein, ist die Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH nicht statthaft und es hat auch wenig Sinn,<br />
zu versuchen, einen dort in der Instanz nicht gehaltenen Vortrag erstmals anzubringen (s. hierzu<br />
ausführlich den BRÄNDLE, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 753 = F. 13, S. 2247, unter III.1.).<br />
42 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1549<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Familienrecht<br />
Unterhaltsrecht<br />
Basiswissen 1: Was der anwaltliche Berufsanfänger vom Unterhaltsrecht<br />
wissen muss – materielles Recht<br />
Von Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Weitere Aufsicht führender RiAG a.D., Gelsenkirchen<br />
Inhalt<br />
I. Voraussetzungen eines Unterhaltsanspruchs<br />
II. Die gesetzlichen Unterhaltsansprüche<br />
1. Unterhalt des minderjährigen Kindes<br />
2. Unterhalt des volljährigen Kindes<br />
3. Trennungsunterhalt (§ 1361 BGB)<br />
4. Betreuungsunterhalt (§ 1570 BGB)<br />
5. Unterhalt wegen Alters (§ 1571 BGB)<br />
6. Unterhalt wegen Krankheit (§ 1572 BGB)<br />
7. Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit (§ 1573<br />
Abs. 1 BGB)<br />
8. Aufstockungsunterhalt (§ 1573 Abs. 2 BGB)<br />
9. Anspruch bei Wegfall einer Erwerbstätigkeit<br />
(§ 1573 Abs. 4 BGB)<br />
10. Unterhalt wegen Ausbildung<br />
(§ 1575 BGB)<br />
11. Billigkeitsunterhalt (§ 1576 BGB)<br />
12. Vorsorgeunterhalt (§ 1578 Abs. 2<br />
und 3 BGB)<br />
III. Ermittlung des unterhaltsrechtlich<br />
relevanten Einkommens<br />
1. Anzurechnendes tatsächliches<br />
Einkommen<br />
2. Erzielbares (hypothetisches/fiktives)<br />
Einkommen<br />
3. Abzugspositionen bei der<br />
Einkommensberechnung<br />
4. Besonderheit: Schuldenbelastungen<br />
IV. Einschränkung des Ehegattenunterhalts<br />
nach § 1579 BGB<br />
V. Begrenzung und Befristung des nachehelichen<br />
Unterhalts (§ 1578b BGB)<br />
1. Ehebedingter Nachteil<br />
2. Nacheheliche Solidarität<br />
3. Rechtsfolgen<br />
4. Verfahrensfragen<br />
I. Voraussetzungen eines Unterhaltsanspruchs<br />
Voraussetzungen eines Unterhaltsanspruchs sind auf Seiten des Unterhaltsberechtigten:<br />
• ein Unterhaltsanspruch,<br />
• der fällig ist,<br />
• der nicht verwirkt ist und dem keine Ausübungshindernisse entgegenstehen;<br />
• ein unterhaltsrechtlich anerkannter Bedarf<br />
(vereinfachend: was dem Berechtigten unterhaltsrechtlich zusteht),<br />
• der nicht selbst durch eigene finanzielle Mittel gedeckt werden kann (sog. Bedürftigkeit)<br />
(vereinfachend: was der Berechtigte – noch – braucht).<br />
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Fach 11, Seite 1550<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Familienrecht<br />
Auf Seiten des Unterhaltspflichtigen sind die Voraussetzungen dessen finanzielle Leistungsfähigkeit<br />
unter Berücksichtigung:<br />
• seiner Einkünfte,<br />
• der unterhaltsrechtlich anzuerkennenden Abzüge,<br />
• der Ansprüche anderer vorrangiger oder gleichrangiger Unterhaltsberechtigter und<br />
• des eigenen Selbstbehaltes, der in der jeweils gültigen Düsseldorfer Tabelle festgelegt ist<br />
(vereinfachend: was der Verpflichtete zahlen kann).<br />
II. Die gesetzlichen Unterhaltsansprüche<br />
Der Unterhalt eines Kindes ergibt sich aus den §§ 1602 ff. BGB.<br />
Der getrenntlebende Ehegatte kann nach § 1361 BGB Trennungsunterhalt verlangen.<br />
Nach Rechtskraft der Scheidung stehen dem geschiedenen Ehegatten die folgenden Unterhaltsansprüche<br />
zur Verfügung:<br />
• Kindesbetreuungsunterhalt (§ 1570 BGB);<br />
• Unterhalt wegen Alters (§ 1571 BGB);<br />
• Unterhalt wegen Krankheit (§ 1572 BGB);<br />
• Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit (§ 1573 Abs. 1 BGB);<br />
• Aufstockungsunterhalt (§ 1573 Abs. 2 BGB);<br />
• Unterhaltsanspruch bei Wegfall einer Erwerbstätigkeit (§ 1573 Abs. 4 BGB);<br />
• Unterhalt wegen Ausbildung (§ 1575);<br />
• Billigkeitsunterhalt (§ 1576);<br />
• Vorsorgeunterhalt (§ 1578 Abs. 2 und 3 BGB).<br />
Einem nicht verheirateten Elternteil steht nach § 1615l BGB Unterhalt zu.<br />
Der Elternunterhalt (i.d.R. eines im Pflegeheim lebenden Elternteils) richtet sich auch nach §§ 1602 ff. BGB.<br />
1. Unterhalt des minderjährigen Kindes<br />
Beim minderjährigen Kind erfüllt ein Elternteil seine Unterhaltspflicht durch die Betreuung und<br />
Erziehung des Kindes (§ 1606 Abs. 3 S. 2 BGB); nur der andere Elternteil muss Barunterhalt leisten, der<br />
sich allein nach dessen Einkommen bemisst und nach der Düsseldorfer Tabelle festgesetzt wird, wobei<br />
das an den betreuenden Elternteil gezahlte Kindergeld zur Hälfte abgezogen wird.<br />
Minderjährigen Kindern gegenüber besteht nach § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB eine gesteigerte Unterhaltspflicht<br />
mit der Folge, dass der Unterhaltspflichtige nur einen geringeren Selbstbehalt einbehalten darf<br />
und u.U. zu einer zusätzlichen Nebentätigkeit verpflichtet ist.<br />
2. Unterhalt des volljährigen Kindes<br />
Jedes Kind hat gegen seine Eltern einen Anspruch auf eine angemessene Ausbildung, die seinen<br />
Begabungen, Fähigkeiten, Leistungswillen und Neigungen entspricht (§ 1610 Abs. 2 BGB). Unterhaltspflicht<br />
und Ausbildungspflicht stehen in einem Gegenseitigkeitsverhältnis. Während die Eltern eine Berufsausbildung<br />
ermöglichen müssen, trifft das unterhaltsberechtigte Kind die Obliegenheit, diese Ausbildung<br />
mit Fleiß und der gebotenen Zielstrebigkeit in angemessener und üblicher Zeit durchzuführen und<br />
erfolgreich abzuschließen. Vor Aufnahme seiner Ausbildung wird dem Kind eine Orientierungsphase von<br />
zwei Semestern zugebilligt. Eine verspätete Aufnahme einer – an sich angemessenen Ausbildung – durch<br />
das Kind kann einem Unterhaltsanspruch entgegenstehen (BGH, Beschl. v. 3.5.2<strong>01</strong>7 – XII ZB 415/16, BGH<br />
FamRZ 2<strong>01</strong>7, 1132 = NJW 2<strong>01</strong>7, 2278). Dies gilt insb. dann, wenn die Unterhaltsverpflichtung aufgrund der<br />
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Verzögerungen u.U. in Zeiträume fällt, in denen aufgrund des fortgeschrittenen Alters des Kindes<br />
steuerliche Erleichterungen, Bafög-Ansprüche, Kindergeld oder kindbezogene Gehaltsbestandteile nicht<br />
mehr genutzt werden können.<br />
Bei längeren Verzögerungen z.B. aufgrund von Studienplatzbeschränkungen besteht einerseits eine<br />
Nachfrageobliegenheit der Eltern, andererseits eine Informationspflicht des Kindes (BGH, a.a.O.).<br />
Besondere Probleme treten in der Praxis dann auf, wenn das Kind<br />
• einen einmal begonnenen Ausbildungsweg abbricht, um eine andere Ausbildung aufzunehmen<br />
(Ausbildungswechsel) oder<br />
• wenn nach einer abgeschlossenen Ausbildung eine weitere Ausbildung aufgenommen wird (Zusatzausbildung,<br />
Zweitstudium).<br />
Wird nach dem Abitur erst eine Lehre absolviert und dann ein Studium begonnen, schulden die Eltern<br />
nur dann Unterhalt, wenn ein enger sachlicher und zeitlicher Zusammenhang gegeben ist.<br />
Bei der Berechnung des Anspruchs ist wie folgt vorzugehen:<br />
• Der Unterhaltsbedarf des volljährigen Kindes ist nach dem zusammengerechneten bereinigten<br />
Einkommen beider Eltern festzustellen. Bei einem auswärts wohnenden Studenten wird ein fester<br />
Bedarfsbetrag angesetzt.<br />
• Hierauf ist eigenes bereinigtes Einkommen des volljährigen Kindes bedarfsmindernd anzurechnen,<br />
also auch eine Ausbildungsvergütung. Nach Abzug berufsbedingter Aufwendungen von 100 € (2<strong>01</strong>9).<br />
• Das Kindergeld wird in voller Höhe auf den Bedarf angerechnet (§ 1612b Abs. 1 Nr. 2 BGB).<br />
• Für den Restbetrag haften die Eltern anteilig.<br />
Bereinigtes Nettoeinkommen des Vaters 2.600,00 €<br />
bereinigtes Nettoeinkommen der Mutter 2.300,00 €<br />
Summe 4.900,00 €<br />
Der Unterhaltsbedarf ergibt sich dann aus der Düsseldorfer Tabelle (Werte 2<strong>01</strong>9).<br />
Unterhaltsbedarf des volljährigen Kindes 802,00 €<br />
abzgl. volles Kindergeld - 204,00 €<br />
verbleibender ungedeckter Bedarf des Kindes 598,00 €<br />
Berechnung der Haftungsverteilung<br />
bereinigtes Nettoeinkommen des Vaters 2.600,00 €<br />
Selbstbehalt gegenüber Volljährigen 1.300,00 €<br />
anzurechnen beim Vater 1.300,00 €<br />
bereinigtes Nettoeinkommen der Mutter 2.300,00 €<br />
Selbstbehalt gegenüber Volljährigen 1.300,00 €<br />
anzurechnen bei der Mutter 1.000,00 €<br />
Haftungsanteil des Vaters in % 56,52 %<br />
Haftungsanteil der Mutter in % 43,48 %<br />
Unterhaltsanspruch gegen den Vater 337,99 €<br />
Unterhaltsanspruch gegen die Mutter 260,<strong>01</strong> €<br />
Summe 598,00 €<br />
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Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Familienrecht<br />
Beschränkung auf den Betrag bei alleiniger Haftung<br />
Allerdings ist die Unterhaltspflicht bei anteiliger Haftung auf den Betrag begrenzt, den der Unterhaltspflichtige<br />
bei alleiniger Unterhaltshaftung auf der Grundlage seines Einkommens zu zahlen hätte<br />
(BGH, Beschl. v. 15.2.2<strong>01</strong>7 – XII ZB 2<strong>01</strong>/16, FamRZ 2<strong>01</strong>7, 711).<br />
Praxistipp:<br />
Diese – in der Praxis nicht selten übersehene – Vorgabe führt dazu, dass in zahlreichen Fällen eine<br />
Zahlungspflicht des in Anspruch genommenen Elternteils nach seiner anteiligen Haftung gar nicht zum<br />
Tragen kommt, sondern er nur den geringeren Betrag zu zahlen hat, der sich nach der Berechnung auf<br />
der Basis nur seines Einkommens ergibt.<br />
Unterhalt bei Einkommen 2.600 € (Gruppe 4, Wert 2<strong>01</strong>9) 607,00 €<br />
abzgl. volles Kindergeld – 204,00 €<br />
Zahlbetrag 403,00 €<br />
Betrag bei anteiliger Haftung 337,99 €<br />
= Verpflichtung aufgrund anteiliger Haftung i.H.v. 337,99 €<br />
Da der Vater bei alleiniger Haftung mehr zahlen müsste, bleibt es bei dem aufgrund der anteiligen Haftung<br />
errechneten Unterhaltsbetrag.<br />
3. Trennungsunterhalt (§ 1361 BGB)<br />
Bei Unterhaltsstreitigkeiten getrennt lebender Ehegatten geht es in der Praxis meist um die Frage, ob, ab<br />
wann und in welchem Umfang der Unterhalt beanspruchende Ehegatte einer eigenen Erwerbstätigkeit<br />
nachgehen muss. Dabei neigt die Rechtsprechung dazu, das Trennungsjahr als Orientierungsphase<br />
anzusehen mit der Folge, dass danach vielfach eine vollschichtige Erwerbsobliegenheit angenommen wird.<br />
Arbeitet der Ehegatte dennoch nicht, wird ihm ein fiktives (erzielbares) Einkommen angerechnet.<br />
4. Betreuungsunterhalt (§ 1570 BGB)<br />
Der Anspruch aus § 1570 BGB stützt sich auf die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes. Dabei sind<br />
unterschiedliche Voraussetzungen kodifiziert:<br />
• Der allein auf die Betreuung des Kindes gestützte Anspruch des § 1570 Abs. 1 BGB, der sich wiederum<br />
unterteilt in<br />
• einen verbindlichen Basisunterhalt während der ersten drei Lebensjahre des Kindes nach § 1570<br />
Abs. 1 S. 1 BGB und<br />
• einen Billigkeitsunterhalt nach § 1570 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB, wobei die Belange des Kindes und die<br />
bestehenden Möglichkeiten der Kinderbetreuung zu berücksichtigen sind<br />
• sowie der allgemeine ehebezogene Billigkeitsanspruch des § 1570 Abs. 2 BGB.<br />
Die Kosten des Kindergartenbesuchs sind (Mehr-)Bedarf des Kindes (BGH, Urt. v. 5.3.2008 – XII ZR 150/05,<br />
FamRZ 2008, 1152), während sonstige Betreuungskosten als berufsbedingte Aufwendungen des jeweiligen<br />
Elternteils behandelt werden (BGH, Beschl. v. 4.10.2<strong>01</strong>7 – XII ZB 55/17, NJW 2<strong>01</strong>7, 3786).<br />
5. Unterhalt wegen Alters (§ 1571 BGB)<br />
Dieser – praktisch seltene – Anspruch wegen Alters greift ein, wenn der Ehegatte, der Unterhalt<br />
beansprucht, das allgemeine Rentenalter erreicht hat und die eigenen Einkünfte aus der Rente nicht<br />
ausreichen, den Bedarf zu decken. Er kommt aber auch in Betracht, wenn das allgemeine Rentenalter<br />
von 65 Jahren noch nicht erreicht ist, aber eine angemessene Erwerbstätigkeit nicht mehr erwartet<br />
werden kann.<br />
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Bei diesem – und allen folgenden Ansprüchen – müssen die Tatbestandsvoraussetzungen zum Einsatzzeitpunkt<br />
gegeben sein, nämlich zum Zeitpunkt<br />
• der Scheidung,<br />
• der Beendigung der Pflege oder Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes,<br />
• der Beendigung einer Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung oder<br />
• des Wegfalls der Voraussetzungen des § 1573 BGB.<br />
6. Unterhalt wegen Krankheit (§ 1572 BGB)<br />
§ 1572 BGB ist Anspruchsgrundlage, wenn der berechtigte Ehegatte wegen Krankheit oder anderer<br />
Gebrechen ganz oder teilweise nicht arbeiten kann. Die Krankheit muss die entscheidende Voraussetzung<br />
für die Nichtaufnahme einer Erwerbstätigkeit sein.<br />
Wer sich gegenüber seiner Erwerbsobliegenheit auf eine krankheitsbedingte Einschränkung seiner Erwerbsfähigkeit<br />
berufen will, muss grds. Art und Umfang der behaupteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen<br />
oder Leiden angeben und er hat ferner darzulegen, inwieweit sich die behaupteten<br />
gesundheitlichen Störungen ganz konkret auf die Erwerbsfähigkeit auswirken. Er ist auch im Hinblick<br />
auf die Möglichkeit einer Teilerwerbsfähigkeit gehalten, Art und Umfang der gesundheitlichen<br />
Beeinträchtigungen oder Leiden darzulegen (BGH, Beschl. v. 9.11.2<strong>01</strong>6 – XII ZB 227/15, FamRZ 2<strong>01</strong>7,<br />
109; BGH, Beschl. v. 10.7.2<strong>01</strong>3 – XII ZB 297/12, NJW 2<strong>01</strong>3, 2897). Dargelegt werden muss auch, dass keine<br />
anderweitige Erwerbstätigkeit gefunden werden kann.<br />
Zudem besteht eine unterhaltsrechtliche Obliegenheit zur Behandlung der Krankheit. Daraus folgt die<br />
Notwendigkeit, substanziierte Darlegungen sowohl zu den bisherigen Therapiebemühungen in der<br />
Vergangenheit als auch zu den zukünftigen Bemühungen um eine gesundheitliche Verbesserung zu<br />
machen.<br />
Der Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens ist ohne einen ausreichenden Sachvortrag<br />
ein unzulässiger Ausforschungsbeweisantrag.<br />
Der Bezug einer Erwerbsunfähigkeitsrente genügt nicht; dieser ist ein Indiz für eine Krankheit, reicht<br />
jedoch noch nicht aus zur Darlegung der vollständigen unterhaltsrechtlichen Leistungsunfähigkeit<br />
(BGH, Beschl. v. 9.11.2<strong>01</strong>6 – XII ZB 227/15, FamRZ 2<strong>01</strong>7, 109). Denn rentenrechtlich liegt bereits eine volle<br />
Erwerbsminderung vor, wenn nur noch weniger als drei Stunden täglich eine Erwerbstätigkeit<br />
möglich ist. Aus unterhaltsrechtlicher Sicht bleibt noch eine – geringe – Erwerbstätigkeit von bis zu<br />
drei Stunden arbeitstäglich möglich. Fehlt hierzu konkreter Sachvortrag, kann in diesem Umfang ein<br />
fiktives Einkommen – geschätzt nach § 287 ZPO – zugerechnet werden.<br />
7. Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit (§ 1573 Abs. 1 BGB)<br />
Der Anspruch aus § 1573 BGB ist nachrangig zu den zuvor dargestellten Ansprüchen und greift nur dann<br />
ein, wenn keine Ansprüche aus den vorher genannten Vorschriften gegeben sind.<br />
Maßgeblich für den Anspruch aus § 1573 BGB ist, dass der unterhaltsberechtigte Ehegatte keine<br />
angemessene Erwerbstätigkeit (§ 1574 BGB) zu finden vermag.<br />
8. Aufstockungsunterhalt (§ 1573 Abs. 2 BGB)<br />
Reichen die erzielten Einkünfte aus einer angemessenen Erwerbstätigkeit nicht aus, um den vollen,<br />
angemessenen Unterhalt zu decken, so besteht nach § 1573 Abs. 2 BGB ein Anspruch auf<br />
Aufstockungsunterhalt. Dieser setzt nicht voraus, dass die angemessene Erwerbstätigkeit tatsächlich<br />
ausgeübt wird, sondern kann auch zugebilligt werden, wenn wegen Verstoßes gegen die Erwerbsobliegenheit<br />
ein fiktives Einkommen angesetzt wird. Dann berechnet sich der Aufstockungsunterhalt<br />
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aus der Differenz zwischen dem eigenen erzielbaren und daher fiktiv anzurechnenden Einkommen<br />
und dem vollen, angemessenen Unterhalt, also dem angemessenen Bedarf nach den ehelichen<br />
Lebensverhältnissen.<br />
9. Anspruch bei Wegfall einer Erwerbstätigkeit (§ 1573 Abs. 4 BGB)<br />
Nach § 1573 Abs. 4 BGB kann der geschiedene Ehegatte auch dann Unterhalt verlangen, wenn die<br />
Einkünfte aus einer angemessenen Erwerbstätigkeit wegfallen, weil es ihm trotz seiner Bemühungen<br />
nicht gelungen war, den Unterhalt durch die Erwerbstätigkeit nach der Scheidung nachhaltig zu sichern.<br />
Der Anspruch setzt also voraus, dass eine bei Scheidung bestehende Erwerbstätigkeit nach objektivem<br />
Maßstab nicht nachhaltig gesichert war, wie z.B. bei einem Arbeitsverhältnis auf Probe.<br />
10. Unterhalt wegen Ausbildung (§ 1575 BGB)<br />
Ein geschiedener Ehegatte, der in Erwartung der Ehe oder während der Ehe eine Schul- oder<br />
Berufsausbildung nicht aufgenommen oder abgebrochen hat, kann nach § 1575 Abs. 1 BGB von dem<br />
anderen Ehegatten Unterhalt verlangen, wenn er diese oder eine entsprechende Ausbildung sobald wie<br />
möglich aufnimmt, um eine angemessene Erwerbstätigkeit, die den Unterhalt nachhaltig sichert, zu<br />
erlangen, und der erfolgreiche Abschluss der Ausbildung zu erwarten ist. Der Anspruch besteht<br />
längstens für die Zeit, in der eine solche Ausbildung im Allgemeinen abgeschlossen wird; dabei sind<br />
ehebedingte Verzögerungen der Ausbildung zu berücksichtigen.<br />
11. Billigkeitsunterhalt (§ 1576 BGB)<br />
Der – in der Praxis nicht relevante – Billigkeitsunterhalt aus § 1576 BGB ist subsidiär; diese Anspruchsgrundlage<br />
ist als Ausnahmeregelung eng auszulegen.<br />
12. Vorsorgeunterhalt (§ 1578 Abs. 2 und 3 BGB)<br />
Der sog. Quotenunterhalt ist dazu bestimmt, den alltäglichen angemessenen Bedarf des<br />
geschiedenen Ehegatten – also den Basisunterhalt – sicherzustellen. Grundsätzlich umfasst der<br />
Unterhaltsanspruch aber auch die Kosten einer angemessenen Krankenversicherung (§ 1578 Abs. 2<br />
BGB) und Altersvorsorge (§ 1578 Abs. 3 BGB), sofern der Unterhaltspflichtige hierzu neben der Zahlung<br />
des Basisunterhalts in der Lage ist. Ist der Unterhaltspflichtige ausreichend leistungsfähig, muss er den<br />
Vorsorgeunterhalt zusätzlich zum normalen Unterhalt zahlen. Der Vorsorgeunterhalt wird nach der<br />
vom BGH gebilligten Bremer Tabelle errechnet. Beim Vorsorgeunterhalt sind die betreffenden<br />
Einzelbeträge für den Krankenvorsorgeunterhalt und den Altersvorsorgeunterhalt im Antrag und im<br />
Tenor der gerichtlichen Entscheidung gesondert auszuweisen (BGH, Urt. v. 18.2.2<strong>01</strong>5 – XII ZR 80/13,<br />
NJW 2<strong>01</strong>5, 1380 = FamRZ 2<strong>01</strong>5, 824 mit Anm. WITT). Die Unterhaltsberechtigte kann einen um 4 %<br />
höheren Altersvorsorgeunterhalt als nach der Bremer Tabelle errechnet jedenfalls dann beanspruchen,<br />
wenn der Unterhaltspflichtige eine zusätzliche Altersvorsorge in vergleichbarer prozentualer<br />
Größenordnung betreibt (BGH, Urt. v. 25.9.2<strong>01</strong>9 – XII ZB 25/19, NJW 2<strong>01</strong>9, 3570 = FamRZ <strong>2020</strong>,21).<br />
Rückwirkend kann Altersvorsorgeunterhalt nur verlangt werden, wenn der Unterhaltspflichtige in<br />
Verzug gesetzt worden ist. Es reicht aber aus, dass vom Unterhaltspflichtigen Auskunft mit dem Ziel<br />
der Geltendmachung eines Unterhaltsanspruchs begehrt worden ist (BGH, Beschl. v. 7.11.2<strong>01</strong>2 –<br />
XII ZB 229/11, FamRZ 2<strong>01</strong>3, 109 mit Anm. FINKE = NJW 2<strong>01</strong>3, 161 mit Anm. BORN NJW 2<strong>01</strong>3, 165 f., juris<br />
Rn 45; BGH, Urt. v. 22.11.2006 – XII ZR 24/04, FamRZ 2007, 193, 196 mit Anm. BORTH.; KG, Beschl.<br />
v. 19.7.2<strong>01</strong>3 – 13 UF 56/13).<br />
Eine Nachforderung ist ausgeschlossen, wenn im vorangegangenen Leistungsverfahren vergessen<br />
worden ist, Vorsorgeunterhalt geltend zu machen (BGH, Beschl. v. 19.11.2<strong>01</strong>4 – XII ZB 478/13, FamRZ 2<strong>01</strong>5,<br />
309 mit Anm. MAURER = NJW 2<strong>01</strong>5, 334).<br />
Unterhaltsleistungen, die für einen solchen bestimmten, besonderen Bedarf gefordert und gezahlt<br />
werden, müssen auch hierfür verwandt werden. Wer z.B. Altersvorsorgeunterhalt bezieht, muss diese<br />
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Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Zahlungen auch für seine Alterssicherung anlegen. Tut er das nicht, wird er später so behandelt, als<br />
hätte er eine entsprechende Versorgung erworben. Es werden dann fiktiv höhere Renteneinkünfte<br />
zugrunde gelegt.<br />
Der Anwalt der Unterhaltsberechtigten macht sich regresspflichtig, wenn diese nicht auf die Möglichkeit<br />
der Geltendmachung von Altersvorsorgeunterhalt hingewiesen wird (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.6.2009<br />
– I-24 U 133/08, FamRZ 2<strong>01</strong>0, 73).<br />
III. Ermittlung des unterhaltsrechtlich relevanten Einkommens<br />
Beim unterhaltsrechtlich relevanten Einkommen sind folgende Gesichtspunkte von Bedeutung:<br />
• Welche Einkommenspositionen sind anzurechnen?<br />
• Welche Abzugspositionen sind zu berücksichtigen?<br />
Dabei gelten grds. für Einkünfte des Unterhaltspflichtigen und des Unterhaltsberechtigten die gleichen<br />
Kriterien.<br />
1. Anzurechnendes tatsächliches Einkommen<br />
Für die Ermittlung des unterhaltsrechtlich relevanten Einkommens sind alle tatsächlich erzielten<br />
Einkünfte heranzuziehen, wobei der Durchschnitt aus dem Einkommen eines abhängig Beschäftigten<br />
der letzten zwölf Monate und bei Selbstständigen der letzten drei Jahre errechnet wird.<br />
Bestimmte Einkommenspositionen werden nicht oder nur teilweise angerechnet, weil sie dazu dienen,<br />
besonderen Aufwand auszugleichen (z.B. Auslösung, Fahrtkostenerstattung, Schmutzzulage), der<br />
substanziiert dargelegt werden muss. Bei sog. überobligatorischen Einkünften ist zuerst zu prüfen,<br />
ob die Tätigkeit, mit der diese Einkünfte erzielt werden, überobligatorisch – also nicht geschuldet – ist.<br />
Danach ist nach den Grundsätzen von Treu und Glauben aufgrund der konkreten Umstände des<br />
Einzelfalls zu beurteilen, in welchem Umfang das Einkommen aus überobligatorischer Tätigkeit für den<br />
Unterhalt anzurechnen ist.<br />
Freiwillige Leistungen Dritter sind nur dann anzurechnen, wenn dies dem Willen des Dritten entspricht,<br />
was im Regelfall nicht anzunehmen ist.<br />
2. Erzielbares (hypothetisches/fiktives) Einkommen<br />
Im Unterhaltsrecht spielen nicht nur tatsächliche Einkünfte eine Rolle, sondern auch solche Einkünfte (und<br />
andere finanzielle Vorteile), die der Betreffende vorwerfbar nicht erzielt, obwohl er sie erzielen könnte.<br />
Voraussetzung der Anrechnung fiktiver Erwerbseinkünfte ist also das Bestehen einer Erwerbsobliegenheit<br />
und deren schuldhafte – also unterhaltsrechtlich vorwerfbare – Nichterfüllung durch den<br />
Erwerbspflichtigen. Diese ist bei Arbeitslosigkeit regelmäßig dann gegeben, wenn der Betreffende sich<br />
nicht in ausreichendem Maße um eine Arbeitsstelle bemüht.<br />
3. Abzugspositionen bei der Einkommensberechnung<br />
Maßstab ist das sog. bereinigte Nettoeinkommen. Abzuziehen sind daher die gesetzlichen Steuern<br />
(Einkommen- und Kirchensteuer, soweit Kirchensteuerpflicht besteht) sowie der Solidaritätszuschlag.<br />
Ebenso sind die gesetzlichen Sozialabgaben (Rentenversicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung,<br />
Pflegeversicherung) abzuziehen.<br />
Aufwendungen für die private Krankenzusatzversicherung sind beim Unterhaltspflichtigen, der auf<br />
Minderjährigenunterhalt in Anspruch genommen wird, jedenfalls dann nicht anzuerkennen, wenn das<br />
Existenzminimum des Kindes nicht gesichert ist. Der Unterhaltspflichtige muss sich dann mit den<br />
Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung begnügen (BGH, Urt. v. 30.1.2<strong>01</strong>3 – XII ZR 158/10, NJW<br />
2<strong>01</strong>3, 1005 = FamRZ 2<strong>01</strong>3, 616).<br />
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Fach 11, Seite 1556<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Familienrecht<br />
Der Unterhaltspflichtige darf von seinen Einkünften neben der gesetzlichen Altersvorsorge eine<br />
zusätzliche Altersvorsorge betreiben, die bis zu 4 % des Bruttoeinkommens (BGH, Urt. v. 25.9.2<strong>01</strong>9 – XII<br />
ZB 25/19, NJW 2<strong>01</strong>9, 3570 = FamRZ <strong>2020</strong>, 21; BGH, Urt. v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817,<br />
1821 f.; BGH Urt. v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793, 795; beim Elternunterhalt bis zu 5 % des<br />
Bruttoeinkommens (BGH, Urt. v. 30.1.2<strong>01</strong>3 – XII ZR 158/10, NJW 2<strong>01</strong>3, 1005 = FamRZ 2<strong>01</strong>3, 616; BGH, Urt.<br />
v. 14.1.2004 – XII ZR 149/<strong>01</strong>, FamRZ 2004, 792, 793; BGH, Urt. v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006,<br />
1511, 1514) betragen kann.<br />
Berufsbedingte Aufwendungen sind grds. nur bei Arbeitnehmern abzugsfähig, nicht bei Selbstständigen,<br />
Rentnern usw., wobei von einigen Obergerichten Pauschalbeträge angesetzt werden, während andere<br />
eine konkrete Darlegung verlangen.<br />
Bei der konkreten Berechnung von notwendigen berufsbedingten Fahrtkosten wird bei der Benutzung<br />
eines Kraftfahrzeugs vielfach ein fester Satz pro km angesetzt, mit dem aber sämtliche Kosten des<br />
Fahrzeugs einschließlich der Anschaffungskosten und evtl. Kreditkosten abgegolten sind. Zuvor ist aber<br />
immer zu prüfen, ob nicht zur Kostenersparnis öffentliche Verkehrsmittel genutzt werden müssen.<br />
4. Besonderheit: Schuldenbelastungen<br />
Ratenverpflichtungen für Darlehen, die während der Ehe aufgenommen worden sind, werden beim<br />
Ehegattenunterhalt grds. in voller Höhe abgezogen, denn die monatlichen Raten haben in jedem Fall die<br />
ehelichen Lebensverhältnisse bestimmt. Dabei ist unerheblich, welcher Ehegatte die Kreditverbindlichkeiten<br />
eingegangen ist und wofür das Geld ausgegeben worden ist.<br />
Geht es beim Minderjährigenunterhalt um Ratenverpflichtungen des unterhaltspflichtigen Elternteils,<br />
der den Mindestunterhalt nicht leisten kann, so besteht auch dann kein genereller Vorrang des<br />
Unterhalts. Allerdings ist der Unterhaltspflichtige gehalten, sich um die Herabsetzung der monatlichen<br />
Raten zu bemühen. Fehlen dazu substanziierte Darlegungen, muss er damit rechnen, dass das Gericht<br />
fiktiv nur geringere Monatsraten anerkennt. Zudem kann sich in diesem Fall eine Obliegenheit ergeben,<br />
über die Restschuldbefreiung der Verbraucherinsolvenz eine Reduzierung der Schuldenbelastungen<br />
herbeizuführen (BGH, Beschl. v. 22.5.2<strong>01</strong>9 – XII ZB 613/16, FamRZ 2<strong>01</strong>9, 1415).<br />
IV. Einschränkung des Ehegattenunterhalts nach § 1579 BGB<br />
Voraussetzung der Anwendbarkeit des § 1579 BGB ist die grobe Unbilligkeit, die sich<br />
• aus einem vorwerfbaren Fehlverhalten des Unterhaltsberechtigten (§ 1579 Nr. 3 bis 7, Nr. 8 BGB) oder<br />
• aus einer objektiven Unzumutbarkeit der Unterhaltsleistung für den Unterhaltspflichtigen (§ 1579<br />
Nr. 1, 2, 8 BGB)<br />
ergeben kann.<br />
Rechtsfolge kann sein:<br />
• die Beschränkung des Unterhaltsanspruchs<br />
• nach Höhe,<br />
• zeitlicher Dauer der Leistung oder<br />
• einer Kombination aus Höhe und Dauer<br />
• oder seine vollständige Versagung.<br />
Die Vorschriften der § 1579 Nr. 2 bis Nr. 7 BGB sind auch beim Trennungsunterhalt anwendbar (§ 1361<br />
Abs. 3 BGB).<br />
50 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1557<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Dabei ist immer im konkreten Fall eine Billigkeitsabwägung vorzunehmen – auch unter Wahrung der<br />
Belange eines von der Unterhaltsberechtigten betreuten Kindes.<br />
Besondere praktische Bedeutung hat der Härtegrund aus § 1579 Nr. 2 BGB bei Bestehen einer neuen<br />
Partnerschaft des unterhaltsberechtigten Ehegatten. Dazu muss dieser eine verfestigte neue Lebensgemeinschaft<br />
eingegangen sein, sich damit endgültig aus der ehelichen Solidarität herausgelöst haben<br />
und zu erkennen geben, dass er diese nicht mehr benötigt. Kriterien wie die finanzielle Leistungsfähigkeit<br />
des neuen Partners spielen hingegen keine Rolle (BGH, Beschl. v. 15.5.2<strong>01</strong>3 – XII ZB 107/08, FamRZ<br />
2<strong>01</strong>3, 1387). Die volle Darlegungs- und Beweislast trägt der Unterhaltspflichtige.<br />
Ist die Beziehung auf Distanz angelegt, wird man die Lebensumstände im Einzelnen in Form einer<br />
Checkliste aufklären müssen (SCHNITZLER FF 2<strong>01</strong>1, 290, 292):<br />
• Wie wird die Freizeit miteinander verbracht?<br />
• Wie werden Feiertage durchgeführt (Weihnachten, Ostern usw.)?<br />
• Sind die Partner bei Feierlichkeiten innerhalb der Familie eingebunden (Goldene Hochzeit von<br />
Großeltern, runde Geburtstage von Eltern oder Geschwistern, Abiturfeiern oder Abschlussfeiern von<br />
Kindern des Partners)?<br />
• Solidarität in Krankheitsfällen durch den neuen Partner?<br />
• Testament oder Erbvertrag zugunsten des/der neuen Lebenspartners/Lebenspartnerin?<br />
Regelmäßig wird auf eine Mindestdauer von zwei Jahren abgestellt; jedoch können besondere<br />
Umstände des Einzelfalls auch bei einem kürzeren Zeitraum für eine ausreichende Verfestigung<br />
sprechen (OLG Oldenburg NJW 2<strong>01</strong>2, 2450), z.B. die Geburt eines Kindes aus der neuen Beziehung.<br />
V. Begrenzung und Befristung des nachehelichen Unterhalts (§ 1578b BGB)<br />
Die Begrenzung (§ 1578b Abs. 1 BGB) und die Befristung (§ 1578b Abs. 2 BGB) sind bei jedem<br />
nachehelichen Unterhaltsanspruch von Amts wegen zu prüfen. Lediglich beim Betreuungsunterhalt<br />
gem. § 1570 BGB schließt der BGH eine Befristungsmöglichkeit nach § 1578b Abs. 2 BGB aus (BGH, Urt.<br />
v. 2.2.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 11/09, FamRZ 2<strong>01</strong>1, 1377; BGH, Urt. v. 1.6.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 45/09, FamRZ 2<strong>01</strong>1, 1209 mit<br />
Anm. VIEFHUES = NJW 2<strong>01</strong>1, 2430 mit Anm. BORN; BGH, Urt. v. 30.3.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 3/09, FamRZ 2<strong>01</strong>1, 791<br />
mit Anm. NORPOTH = FamRZ 2<strong>01</strong>1, 873; BGH, Urt. v. 21.4.2<strong>01</strong>0 – XII ZR 134/08, FamRZ 2<strong>01</strong>0, 1050 mit<br />
Anm. VIEFHUES; BGH, Urt. v. 17.6.2009 – XII ZR 102/08, FamRZ 2009, 1391 ff. = NJW 2009, 2592 ff.).<br />
Allerdings lässt der BGH eine Begrenzung des Unterhaltsanspruchs der Höhe nach zu (BGH, Urt.<br />
v. 18.3.2009 – XII ZR 74/08, FamRZ 2009, 770 mit Anm. BORTH = FamRZ 2009, 960).<br />
Diese Entscheidung ist bei der erstmaligen Festsetzung des Unterhalts vorzunehmen. Wird zu diesem<br />
Zeitpunkt keine Befristung vorgenommen, ist der nacheheliche Unterhalt unbefristet – d.h. lebenslänglich<br />
– festgesetzt. Dies lässt sich aus verfahrensrechtlichen Gründen später kaum noch korrigieren,<br />
da alle maßgeblichen Umstände zum Zeitpunkt der Erstentscheidung vorliegen und in aller Regel keine<br />
nachträglichen Veränderungen eintreten, die ein späteres Abänderungsverfahren rechtfertigen können.<br />
Für die Entscheidung einer Unterhaltsbegrenzung nach § 1578b BGB sind zwei unterschiedliche<br />
Gesichtspunkte zu prüfen, nämlich:<br />
• ob ein ehebedingter Nachteil der Unterhaltsberechtigten eingetreten ist und ob dieser ggf. auf<br />
Dauer fortbesteht,<br />
• ob sonstige Billigkeitsgesichtspunkte im Rahmen der nachehelichen Solidarität für oder gegen eine<br />
Beschränkung des Unterhaltsanspruchs sprechen.<br />
1. Ehebedingter Nachteil<br />
Ein ehebedingter Nachteil der Unterhaltsberechtigten ist nur dann gegeben, wenn sie konkret aufgrund<br />
der Ehe berufliche Einschränkungen erlitten hat und daher durch eigene Erwerbstätigkeit nicht das<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 51
Fach 11, Seite 1558<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Familienrecht<br />
Einkommen erzielen kann, das sie ohne Ehe erzielen könnte. Ehebedingt – im Sinne einer echten<br />
Kausalität – ist nur ein solcher Nachteil, der auf die konkrete Lebensgestaltung – die Rollenverteilung<br />
der Ehegatten – während des Zeitraums von der Heirat bis zur Zustellung des Scheidungsantrags<br />
zurückzuführen ist (BGH, Urt. v. 23.11.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 47/10, NJW 2<strong>01</strong>2, 309; BGH, Urt. v. 30.3.2<strong>01</strong>1 – XII ZR<br />
63/09, NJW 2<strong>01</strong>1; BGH, Urt. v. 8.6.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 17/09, NJW 2<strong>01</strong>1, 2512; BGH, Urt. v. 4.8.2<strong>01</strong>0 – XII ZR 7/09,<br />
NJW 2<strong>01</strong>0, 3097).<br />
Damit scheiden alle Ursachen aus, die zum persönlichen Lebensrisiko zu zählen sind, wie z.B. Krankheit<br />
und Arbeitslosigkeit (BGH, Urt. v. 30.3.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 63/09, NJW 2<strong>01</strong>1, 1807 mit Anm. Born = FamRZ 2<strong>01</strong>1,<br />
875; BGH, Urt. v. 4.5.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 70/09, FamRZ 2<strong>01</strong>1, 189).<br />
Aber auch Umstände, die aus einem vorehelichen Zusammenleben rühren, können hier nicht<br />
berücksichtigt werden (BGH, Urt. 20.2.2<strong>01</strong>3 – XII ZR 148/10, NJW 2<strong>01</strong>3, 1444 mit Anm. BORN = FamRZ<br />
2<strong>01</strong>3, 860 mit Anm. MAURER; BGH, Urt. v. 7.3.2<strong>01</strong>2 – XII ZR 25/10, NJW 2<strong>01</strong>2, 1506 = FamRZ 2<strong>01</strong>2, 776; BGH,<br />
Urt. v. 6.10.2<strong>01</strong>0 – XII ZR 202/08, FamRZ 2<strong>01</strong>0, 1971). Maßgeblich sind nur Umstände aus dem Zeitraum<br />
zwischen Heirat und der Zustellung des Scheidungsantrags. Damit kann auch eine vor der Heirat<br />
liegende Zeit der Betreuung gemeinsamer Kinder nicht als Begründung für einen ehebedingten Nachteil<br />
herangezogen werden (BGH, Urt. v. 20.3.2<strong>01</strong>3 – XII ZR 120/11, NJW 2<strong>01</strong>3, 1447 = FamRZ 2<strong>01</strong>3, 864 mit<br />
Anm. BORN; BGH, Urt. v. 20.2.2<strong>01</strong>3 – XII ZR 148/10, NJW 2<strong>01</strong>3, 1444 mit Anm. BORN = FamRZ 2<strong>01</strong>3, 860 mit<br />
Anm. MAURER; BGH, Urt. v. 7.3.2<strong>01</strong>2 – XII ZR 25/10, FamRZ 2<strong>01</strong>2, 776).<br />
2. Nacheheliche Solidarität<br />
Im Rahmen der allgemeinen Billigkeitsabwägung können – unabhängig davon – unter dem Gesichtspunkt<br />
der nachehelichen Solidarität zahlreiche Gründe für oder gegen eine Beschränkung des Unterhaltsanspruchs<br />
eine Rolle spielen (ausführlich VIEFHUES FuR 2<strong>01</strong>1, 505 [Teil 1] und FuR 2<strong>01</strong>1, 551 [Teil 2]).<br />
Hier kommt es auf umfassenden anwaltlichen Sachvortrag an! Von Bedeutung für diese Billigkeitsentscheidung<br />
ist dabei einerseits die Notwendigkeit der Unterhaltszahlungen für die Berechtigte und<br />
andererseits die dadurch entstehende Belastung für den Unterhaltspflichtigen. Relevant sind dabei aber<br />
auch die Leistungen beider Ehegatten während der Zeit der Ehe („Lebensleistung“, BGH, Beschl.<br />
v. 4.7.2<strong>01</strong>8 – XII ZB 448/17, FamRZ 2<strong>01</strong>8, 1506), wie z.B. die Betreuung der Kinder, die Finanzierung der<br />
Ausbildung des Ehemanns usw., aber auch die Dauer und die Höhe der bisher geleisteten Unterhaltszahlungen.<br />
In die Billigkeitsabwägung im Rahmen der nachehelichen Solidarität können folgende Gesichtspunkte<br />
einfließen:<br />
Besondere Leistungen des Ehegatten (BGH, Beschl. v. 26.2.2<strong>01</strong>4 – XII ZB 235/12, NJW 2<strong>01</strong>4, 1302 =<br />
FamRZ 2<strong>01</strong>4, 823) während der Zeit des Zusammenlebens („Lebensleistung“) wie z.B.:<br />
• überobligatorischer Einsatz während der Ehe zugunsten des Partners;<br />
• Betreuung von vier Kindern während der 20 Jahre dauernden Ehe (OLG Köln FamRZ 2<strong>01</strong>4, 1207, 1208);<br />
• besonderer Einsatz bei der Betreuung der gemeinsamen Kinder (OLG Hamm, Urt. v. 20.4.2<strong>01</strong>1 – 8UF<br />
103/10, FuR 2<strong>01</strong>2, 266);<br />
• Betreuung des Partners während längerer Krankheit;<br />
• Versorgung eines Kindes des Ehegatten aus erster Ehe oder eines gemeinsamen Pflegekindes;<br />
• Finanzierung der Ausbildung (BGH, Urt. 21.9.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 121/09, NJW 2<strong>01</strong>1, 3577 mit Anm. BORN =<br />
FamRZ 2<strong>01</strong>1, 1851 mit Anm. SCHÜRMANN; OLG Hamm, Beschl. v. 13.6.2<strong>01</strong>3 – 4 UF 9/13, FamFR 2<strong>01</strong>3, 415;<br />
OLG Hamm NJW-RR 1991, 1447). Erfolgt diese Finanzierung während der Ehe, erwächst daraus auch<br />
ein ehebedingter Vorteil des anderen Ehegatten;<br />
52 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1559<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
• Mitarbeit im Erwerbsgeschäft des Ehegatten;<br />
• Pflege oder Unterstützung der Schwiegereltern;<br />
• Bereitstellung von ererbtem Vermögen für den Erwerb eines gemeinsamen Hauses (OLG Koblenz,<br />
Urt. v. 17.4.2<strong>01</strong>2 – 11 UF 205/12, FamRZ 2<strong>01</strong>2, 1395);<br />
• Tilgung von persönlichen Schulden des Ehegatten.<br />
Die wirtschaftliche Situation beider Ehegatten kann bei der Billigkeitsabwägung des § 1578b Abs. 2<br />
BGB nicht ausgeklammert werden, da es um die Abwägung der beiderseitigen Zumutbarkeit einer<br />
fortdauernden, unbefristeten Unterhaltsverpflichtung geht (BGH, Beschl. v. 26.2.2<strong>01</strong>4 – XII ZB 235/12,<br />
NJW 2<strong>01</strong>4, 1302 = FamRZ 2<strong>01</strong>4, 823). So sind auf Seiten des Unterhaltspflichtigen bei der<br />
Billigkeitsabwägung auch seine durch die Unterhaltslast bedingte gegenwärtige und zukünftige<br />
Belastung vor allem durch die Höhe des zu zahlenden Unterhaltsbetrags und das ihm danach<br />
verbleibende Resteinkommen zu berücksichtigen (BGH, Beschl. v. 26.2.2<strong>01</strong>4 – XII ZB 235/12, NJW 2<strong>01</strong>4,<br />
1302 = FamRZ 2<strong>01</strong>4, 823; BGH, Urt. v. 20.3.2<strong>01</strong>3 – XII ZR 72/11, NJW 2<strong>01</strong>3, 1530 = FamRZ 2<strong>01</strong>3, 853 mit<br />
Anm. HOPPENZ = FF 2<strong>01</strong>3, 308; BGH FamRZ 2007, 200, 204 mit Anm. BÜTTNER;BRUDERMÜLLER FF 2004, 1<strong>01</strong>,<br />
104 m.w.N.; OLG Celle FamRZ 2009, 2105, 2107).<br />
Auch die Dauer der – bisherigen – Unterhaltszahlungen spielt eine Rolle für die Möglichkeit der<br />
Befristung (KG FamRZ 2<strong>01</strong>4, 776; OLG Düsseldorf FuR 2009, 418). Dabei ist auch die Zeit der Trennung<br />
relevant (BGH, Beschl. v. 4.7.2<strong>01</strong>8 – XII ZB 448/17; BGH, Beschl. v. 8.6.2<strong>01</strong>6 – XII ZB 84/15, FamRZ 2<strong>01</strong>6,<br />
1345 Rn 15 m.w.N.). Im Rahmen des § 1578b Abs. 2 BGB ist die Gesamtbelastung des Unterhaltspflichtigen<br />
durch den Unterhalt ein Billigkeitskriterium und wird auch durch den – etwa längere Zeit<br />
gezahlten – Trennungsunterhalt mit beeinflusst. Dass die Zahlungen der gesetzlichen Verpflichtung<br />
entsprachen, steht dem ebenso wenig entgegen wie der Umstand, dass der Trennungsunterhalt<br />
selbst nicht entsprechend § 1578b BGB herabgesetzt oder befristet werden kann (BGH NJW 2<strong>01</strong>1, 1807<br />
mit Anm. BORN).<br />
Praxistipp:<br />
Der Unterhaltspflichtige sollte zur Veranschaulichung der insgesamt geleisteten Zahlungen nicht nur auf<br />
den Zeitraum verweisen, sondern eine Auflistung seiner Zahlungen nach Zeiträumen und Höhe vorlegen.<br />
Sinnvoll ist es, dies auch noch in Relation zum Einkommen und zu den ggf. getragenen sonstigen<br />
Belastungen zu setzen.<br />
Dabei gibt es keine Sperrwirkung einer bestimmten Ehedauer, nach deren Überschreiten eine<br />
Befristung generell ausgeschlossen ist. Das Zeitmoment hat der BGH lediglich als Hilfsargument<br />
verstanden, um den Umfang der wirtschaftlichen Dispositionen der Ehegatten zu erfassen. Je länger<br />
die Ehe gedauert hat, desto schwieriger wird die zeitliche Begrenzung sein, weil im Regelfall die<br />
wirtschaftliche Verflechtung der Eheleute (dazu s. BGH FamRZ 2007, 2049 mit Anm. HOPPENZ FamRZ<br />
2007, 2054, 2055; BGH, Urt. v. 26.11.2008 – XII ZR 131/07, FamRZ 2009, 406 mit Anm. SCHÜRMANN) und<br />
die Abhängigkeit normalerweise mit zunehmender Dauer stärker ausgeprägt sind. Die wirtschaftliche<br />
Verflechtung tritt insb. durch Aufgabe einer eigenen Erwerbstätigkeit wegen der Betreuung<br />
gemeinsamer Kinder oder der Haushaltsführung ein (BGH, Urt. v. 6.10.2<strong>01</strong>0 – XII ZR 202/08, FamRZ<br />
2<strong>01</strong>0, 1971; BGH, Urt. v.11.8.2<strong>01</strong>0 – XII ZR 102/09, FamRZ 2<strong>01</strong>0, 1637 mit Anm. BORTH = NJW 2<strong>01</strong>0, 3372).<br />
Entscheidend ist daher nicht der abstrakte Zeitraum der Ehedauer, sondern die Zeit der gegenseitigen<br />
wirtschaftlichen Verflechtungen und die Intensität der konkreten wirtschaftlichen Abhängigkeiten.<br />
Zu unterscheiden ist bei der praktischen Behandlung der Fälle zwischen den Gesichtspunkten der Dauer<br />
der Ehe, der Dauer einer Berufsunterbrechung bzw. beruflichen Einschränkung durch Teilzeitarbeit und<br />
dem Alter des Unterhaltsberechtigten. Diesen Unterschieden sollte auch beim Sachvortrag und bei der<br />
Argumentation Rechnung getragen werden.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 53
Fach 11, Seite 1560<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Familienrecht<br />
3. Rechtsfolgen<br />
Sind ehebedingte Nachteile eingetreten, geht es beim konkreten Unterhaltsanspruch darum, diese<br />
ehebedingten Nachteile auszugleichen und zwar so lange, bis die Nachteile entfallen sind.<br />
Dazu ist genau zu prüfen, welche nach der Scheidung fortwirkenden Nachteile im konkreten Fall<br />
entstanden sind. Denn durch die gesetzlichen Begrenzungsregelungen soll der Unterhaltsanspruch auf<br />
den Umfang reduziert werden, der zum Ausgleich dieser ehebedingten Nachteile erforderlich ist.<br />
Der Unterhalt dient dann dazu,<br />
• hinsichtlich der Höhe und<br />
• ggf. für ausreichend lange Zeit<br />
diese Nachteile auszugleichen.<br />
Im Rahmen der nachehelichen Solidarität ergeht eine reine Billigkeitsentscheidung aufgrund des<br />
vorgetragenen Sachverhalts.<br />
4. Verfahrensfragen<br />
Die Vorschrift beinhaltet eine rechtsvernichtende Einwendung, keine Einrede. Im gerichtlichen Verfahren<br />
muss also nicht ausdrücklich die Befristung geltend gemacht werden. Vielmehr hat das Gericht diese<br />
Einwendung von Amts wegen zu beachten.<br />
Im gerichtlichen Verfahren bedarf es auch keines ausdrücklichen Antrags, da eine zeitliche Begrenzung als<br />
Minus im Klagabweisungsantrag enthalten ist. Sinnvoll ist es aber, zusätzlich einen entsprechenden<br />
Hilfsantrag auf Begrenzung und Befristung des Unterhalts zu stellen. Auf jeden Fall muss entsprechender<br />
Sachvortrag vorgetragen werden.<br />
Die verfahrensrechtliche Brisanz der Regelungen besteht darin, dass die Frage einer Befristung regelmäßig<br />
bereits im gerichtlichen Unterhaltsverfahren entschieden werden muss. Denn die Begrenzung setzt nicht<br />
voraus, dass der Zeitpunkt bereits erreicht sein muss, ab dem der Unterhaltsanspruch entfällt. Soweit<br />
die dafür maßgeblichen Umstände bereits eingetreten oder zuverlässig vorhersehbar sind, ist die<br />
Entscheidung bereits im Ausgangsverfahren zu treffen und kann nicht einem späteren Abänderungsverfahren<br />
vorbehalten bleiben.<br />
54 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 953<br />
Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />
Kommunalabgabenrecht<br />
Rechtsschutzmöglichkeiten in kommunalabgabenrechtlichen Streitigkeiten<br />
Von RALF RÖDEL, RA a.D., Málaga<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
II. Grundlagen<br />
III. Widerspruchsverfahren<br />
IV. Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 VwGO<br />
1. Wegfall der aufschiebenden Wirkung bei<br />
der Anforderung von öffentlichen Abgaben<br />
und Kosten nach § 80 Abs. 2 S. 1<br />
Nr. 1 VwGO<br />
2. Aussetzung der Vollziehung gem.<br />
§ 80 Abs. 4 S. 3 VwGO<br />
3. Wiederherstellung der aufschiebenden<br />
Wirkung gem. § 80 Abs. 5 VwGO<br />
V. Beschwerde<br />
VI. Hauptsacheverfahren<br />
I. Einleitung<br />
Das kommunale Abgabenrecht gehört zu den schwierigsten Rechtsmaterien, mit denen sich die<br />
kommunale Praxis und die Rechtsanwaltschaft zu befassen haben. Landesrechtlich bedingte<br />
Divergenzen und die mangelnde wissenschaftliche Durchdringung des Stoffes tragen zu diesem<br />
Befund ebenso bei wie die Eigenart der Rechtsmaterie selbst, die weitgehend mit unbestimmten<br />
Rechtsbegriffen, außerrechtlichen Kategorien und Hilfskonstruktionen arbeiten muss (vgl. GERN,<br />
Kommunales Abgabenrecht, Bd. 1, S. 5) – also ein weites Feld für Streitigkeiten. Besondere Bedeutung<br />
kommt hier dem vorläufigen Rechtsschutz zu, weil die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und<br />
Anfechtungsklage bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten grds. entfällt.<br />
II. Grundlagen<br />
„Öffentliche Abgaben“ ist der Sammelbegriff für alle Geldleistungen, die der Bürger kraft öffentlichen<br />
Rechts an den Staat oder an sonstige Körperschaften des öffentlichen Rechts abzuführen hat. Unter<br />
Kommunalabgaben versteht man Geldleistungen, die die Kommunen von ihren Einwohnern und im<br />
Gemeindegebiet ansässigen juristischen Personen fordern. Die Rechtfertigung für die Steuererhebung<br />
besteht darin, dass der Bürger ein finanzielles Opfer bringen muss, damit der Staat und die Kommune<br />
die Mittel erhalten, die zu ihrem Funktionieren erforderlich sind (Opfertheorie). Die Steuer kann auch als<br />
Äquivalent dafür betrachtet werden, dass der Staat das Leben, die Freiheit und das Eigentum seiner<br />
Bürger schützt (Assekuranztheorie; vgl. DORN, Kommunales Abgabenrecht, Rn 39). Abgaben werden<br />
nachweislich seit über 4.500 Jahren erhoben. Bis zur Einführung der Geldwirtschaft wurden Abgaben in<br />
Form von Naturalleistungen bzw. -diensten erbracht.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 55
Fach 19, Seite 954<br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />
Beispiel:<br />
Bei einer Steuer, die das Wetten in Einrichtungen besteuert, die neben der Annahme von Wettscheinen<br />
(auch an Terminals o.Ä.) auch das Mitverfolgen der Wettereignisse auf Monitoren ermöglichen<br />
(Wettbüros), handelt es sich um den Typus einer örtlichen Aufwandsteuer i.S.d. Art. 105 Abs. 2a GG<br />
(BVerwG, Urt. v. 29.6.2<strong>01</strong>7 – 9 C 7.16).<br />
Die Basis des Kommunalabgabenrechts bildet die verfassungsmäßige Ordnung, zu der auch die<br />
Rechtsstaatsprinzipien gehören (DORN, a.a.O., Rn 23). Abgabenrecht muss sich in erster Linie am<br />
Gleichheitssatz des Art. 3 GG messen. Des Weiteren sind Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes zu<br />
beachten. Besondere Bedeutung hat auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Schlussendlich ist<br />
die Rechtsweggarantie zu nennen. Jede den Bürger belastende Maßnahme auf dem Gebiet des<br />
Abgabenrechts muss justiziabel sein.<br />
Der Begriff der Abgaben umfasst nur die aus Geldleistungen bestehenden Zwangslasten. Abgaben<br />
sind Geldleistungen, die von öffentlichen Aufgaben- oder Bedarfsträgern aufgrund gesetzlicher<br />
Vorschriften in Ausübung öffentlicher Gewalt zur Erzielung von Einnahmen dem Einzelnen auferlegt<br />
werden. Diese Definition gilt auch für Kommunalabgaben, also für diejenigen (öffentlichen) Abgaben,<br />
deren Gläubiger kommunale Körperschaften sind (vgl. BAUERNFEIND in DRIEHAUS, Kommunalabgabenrecht,<br />
§ 1 Rn 33). Abgaben i.S.v. § 1 Abs. 1 KAG NW sind Steuern, Gebühren und Beiträge. In Gesetzen<br />
einiger Länder werden daneben noch „sonstige Abgaben“ genannt; dies hat jedoch keine praktischen<br />
Auswirkungen.<br />
Steuern sind nach § 3 Abs. 1 AO Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere<br />
Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen<br />
allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht<br />
knüpft; die Erzielung von Einnahmen kann Nebenzweck sein. Zölle und Abschöpfungen sind Steuern in<br />
diesem Sinne.<br />
Gebühren sind nach § 4 Abs. 2 KAG NW Geldleistungen, die als Gegenleistung für eine besondere<br />
Leistung – Amtshandlung oder sonstige Tätigkeit – der Verwaltung (Verwaltungsgebühren) oder für die<br />
Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen und Anlagen (Benutzungsgebühren) erhoben werden.<br />
Beiträge sind nach § 8 Abs. 2 KAG NW Geldleistungen, die dem Ersatz des Aufwands für die Herstellung,<br />
Anschaffung und Erweiterung öffentlicher Einrichtungen und Anlagen i.S.d. § 4 Abs. 2 KAG NW, bei<br />
Straßen, Wegen und Plätzen auch für deren Verbesserung, jedoch ohne die laufende Unterhaltung und<br />
Instandsetzung, dienen. Sie werden von den Grundstückseigentümern als Gegenleistung dafür erhoben,<br />
dass ihnen durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Einrichtungen und Anlagen wirtschaftliche<br />
Vorteile geboten werden. Abgaben eigener Art (sui generis Sonderabgaben) sind Abgaben, die<br />
notwendige Begriffsmerkmale der übrigen Abgabenarten sowie weitere Merkmale in sich vereinbaren,<br />
ohne zu einer der jeweiligen Gruppen zu gehören, z.B.die Kurtaxe in einigen Ländern (GERN, a.a.O., S. 18<br />
Nr. 1.2.4.1.).<br />
Praxishinweis:<br />
Das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Gebot der Belastungsklarheit und-vorhersehbarkeit schützt<br />
den Bürger davor, für lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge zeitlich<br />
unbegrenzt zu Beiträgen herangezogen zu werden.<br />
Der Gesetzgeber hat aber einen weiten Gestaltungsspielraum bei seiner Aufgabe, die berechtigten<br />
Interessen der Allgemeinheit am Vorteilsausgleich und der einzelnen Vorteilsempfänger an Rechtssicherheit<br />
zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen (BVerwG, Beschl. v. 8.3.2<strong>01</strong>7 – 9 B 19.16).<br />
56 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 955<br />
Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />
Praxishinweis:<br />
Säumniszuschläge und Zwangsgelder nach den Vollstreckungsgesetzen sind hingegen keine öffentlichen<br />
Abgaben. Sie bezwecken ausschließlich ein bestimmtes Verhalten des Zahlungspflichtigen<br />
(BVerfGE 3, 407, 435).<br />
III. Widerspruchsverfahren<br />
Das Widerspruchsverfahren gem. §§ 68 ff. VwGO ist nicht mehr in allen Bundesländern vorgeschrieben;<br />
teilweise ist es fakultativ weiterhin möglich. Die Durchführung des Widerspruchsverfahrens<br />
ist – soweit noch gesetzlich vorgesehen – Sachurteilsvoraussetzung. Die Rechtslage ist aber etwas<br />
unübersichtlich.<br />
Beispiel:<br />
Für Nordrhein-Westfalen war zunächst nach § 110 Abs. 1 Justizgesetz (JustG) NRW vor einer Klage gegen<br />
einen Verwaltungsakt grds. kein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Ausnahmen waren in § 110<br />
Abs. 2 JustG NRW geregelt. Ab dem 1.1.2<strong>01</strong>6 gilt die grundsätzliche Abschaffung des Widerspruchsverfahrens<br />
unter anderem nicht mehr für Verwaltungsakte, die nach dem Unterhaltsvorschussgesetz erlassen werden,<br />
sowie für Verwaltungsakte nach dem SGB VIII i.V.m. den dazu ergangenen landesrechtlichen Regelungen<br />
(vgl. VERF., Die Klagearten im verwaltungsgerichtlichen Verfahren mit Hinweisen zur Finanzgerichtsordnung<br />
und zum Sozialgerichtsgesetz, <strong>ZAP</strong> F. 19, S. 827, 830). Aber auch für Verwaltungsakte auf Grundlage des<br />
Kommunalabgabengesetzes und des Straßenreinigungsgesetzes sowie im Bereich der von den Gemeinden<br />
zu erhebenden Realsteuern muss nach der Gesetzesänderung zumindest in Nordrhein-Westfalen wieder<br />
ein Widerspruchsverfahren für Verwaltungsakte, die nach dem 31.12.2<strong>01</strong>5 bekannt gegeben worden sind,<br />
durchgeführt werden.<br />
Von Bundesland zu Bundesland ist daher gesondert zu prüfen, ob Widerspruch eingelegt werden muss<br />
oder kann oder ob ein Wierspruchsverfahren entbehrlich ist.<br />
IV.<br />
Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 VwGO<br />
1. Wegfall der aufschiebenden Wirkung bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und<br />
Kosten nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO<br />
Nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO entfällt die aufschiebende Wirkung bei der Anforderung von öffentlichen<br />
Abgaben und Kosten. Die Bestimmung soll in erster Linie gewährleisten, dass die Finanzierung notwendiger<br />
öffentlicher Aufgaben nicht gefährdet wird (vgl. GATZ, Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5<br />
VwGO, <strong>ZAP</strong> F. 19, S. 905, 906 f.).<br />
Mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der Klage bei der Anforderung von öffentlichen<br />
Abgaben bezweckt der Gesetzgeber die Sicherstellung des stetigen Zuflusses von Finanzmitteln für<br />
die öffentlichen Haushalte, aus deren Aufkommen die Gegenleistung für die umstrittene Abgabe im<br />
Zeitpunkt ihrer Geltendmachung regelmäßig bereits erbracht oder alsbald zu erbringen ist. Er hat<br />
damit für diesen Bereich das öffentliche Interesse an einem Sofortvollzug generell höher bewertet<br />
als das private Interesse an einer vorläufigen Befreiung von der Leistungspflicht. Dieser gesetzgeberischen<br />
Wertung entspricht es, dass Abgaben im Zweifel zunächst zu erbringen sind und dass das<br />
Risiko, im Ergebnis möglicherweise zu Unrecht in Vorleistung treten zu müssen, den Zahlungspflichtigen<br />
trifft. Unzumutbare, mit dem Gebot der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nicht<br />
vereinbare Erschwernisse ergeben sich dadurch nicht. Durch eine vorläufige, zu Unrecht erbrachte<br />
Zahlung eintretende wirtschaftliche Nachteile werden durch die Rückzahlung der Abgabe weitestgehend<br />
ausgeglichen; es werden somit keine irreparablen Verhältnisse geschaffen (vgl. OVG Münster,<br />
Beschl. v. 23.8.2<strong>01</strong>2 – 15 B 894/12).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 57
Fach 19, Seite 956<br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />
Die aufschiebende Wirkung entfällt nur unter zwei Voraussetzungen:<br />
1. Es muss sich um eine öffentliche Abgabe oder um öffentliche Kosten handeln und<br />
2. diese müssen nicht nur festgesetzt, sondern auch in einer spezifischen Weise angefordert worden<br />
sein (vgl. QUAAS u.a., Prozesse in Verwaltungssachen, 3. Aufl. 2<strong>01</strong>8, § 4 Rn 126), z.B. durch<br />
Heranziehungsbescheid, Steuerbescheid, Gebührenbescheid oder Beitragsbescheid (s. FINKELNBURG<br />
u.a., Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2<strong>01</strong>7, Rn 691).<br />
Unter öffentlichen Abgaben sind zunächst Steuern, Gebühren und Beiträge im klassischen Sinn zu<br />
verstehen. Darüber hinaus sieht ein großer Teil der Rechtsprechung jegliche öffentlich-rechtliche<br />
Geldleistungspflicht mit Finanzierungsfunktion für einen öffentlichen Haushalt, die nicht gänzlich<br />
untergeordneter Zweck ist, als eine Abgabe i.S.d. Nr. 1 an (vgl. REDEKER/VON OERTZEN, Kommentar zur<br />
VwGO, 16. Aufl. 2<strong>01</strong>4, § 80 Rn 15 m.w.N.). Die Abgabe muss aber nicht primär auf die staatliche<br />
Einnahmeerzielung ausgerichtet sein. Es reicht aus, wenn die öffentliche Geldlast neben anderen<br />
Funktionen – etwa einer Lenkungs-, Antriebs-, Zwangs- oder Straffunktion – auch die der Deckung<br />
des öffentlichen Finanzbedarfs besitzt (vgl. SODAN/ZIEKOW, Kommentar zur VwGO, 5. Aufl. 2<strong>01</strong>8, § 80<br />
Rn 58 m.w.N.). Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die hinreichende Bestimmtheit<br />
öffentlich-rechtlicher Abgaben sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt<br />
(vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.7.2003 – 2 BvL 1/99, BVerfGE 108, 186, 235 f).<br />
Beispiel:<br />
Eine Steuer ist beispielsweise auch die vielfach angefochtene „neue“ Rundfunkabgabe (vgl. HUFEN,<br />
Verwaltungsprozessrecht, 10. Aufl. 2<strong>01</strong>6, § 32 Rn 10 m.w.N.). Der mit der Erhebung des Rundfunkbeitrags<br />
ausgeglichene Vorteil soll in der Möglichkeit liegen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nutzen zu<br />
können (BVerfG, Urt. v. 18.7.2<strong>01</strong>8 – 1 BvR 1675/16).<br />
§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO erfasst auch den Fall der Geltendmachung von Steuerrückständen mittels<br />
Haftungsbescheids. Denn der Haftungsbescheid nach § 191 AO erfüllt ebenso wie der Steuerbescheid<br />
den Zweck, die Erfüllung der finanziellen Verpflichtungen der öffentlichen Hand zu sichern (VG<br />
Gelsenkirchen, Beschl. v. 13.12.2<strong>01</strong>2 – 5 L 1218/12).<br />
Keine Kosten i.S.d. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO sind die i.V.m. einer Sachentscheidung in einem<br />
Verwaltungsakt oder Widerspruchsbescheid aufgrund einer Kostenentscheidung anfallenden unselbstständigen<br />
Kosten. Auch von einer Gemeinde aufgewandte Bestattungskosten sind keine<br />
solchen Kosten (vgl. SCHENKE, Kommentar zur VwGO, 24. Aufl. 2<strong>01</strong>8, § 80 Rn 63 m.w.N.). Soweit nach<br />
der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung die Kosten einer Ersatzvornahme keine<br />
öffentlichen Kosten i.S.d. § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind und deren Geltendmachung auch keine<br />
Vollstreckungsmaßnahme i.S.d. § 80 Abs. 2 S. 2 VwGO ist (vgl. u.a. OVG Koblenz, Beschl. v. 28.7.1998 –<br />
1 B 11553/98; OVG Berlin, Beschl. v. 13.4.1995 – 2 S 3.95), bezieht sich dies ausschließlich auf die bei der<br />
Ersatzvornahme anfallenden Auslagen und Kosten der Vollstreckungsbehörde, nicht dagegen auf eine<br />
in Zusammenhang mit der Vollstreckung zusätzlich anfallende Verwaltungsgebühr (VG Köln, Beschl.<br />
v. 20.07. 2<strong>01</strong>2 – 25 L 152/10).<br />
Praxishinweis:<br />
Rechtsbehelfen gegen Sachentscheidungen kommt in keinem Fall eine aufschiebende Wirkung (auch)<br />
im Hinblick auf damit zusammenhängende (Verwaltungs-)Kostenentscheidungen zu. Diese sind<br />
vielmehr stets nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO sofort vollziehbar, unabhängig davon, ob sie mit<br />
anfechtbaren Sachentscheidungen verbunden oder aber „selbstständig“ ergangen sind, ob ein Rechtsbehelf<br />
gegen die Sachentscheidung aufschiebende Wirkung hat und ob die Kostenentscheidungen<br />
vom rechtlichen Schicksal der jeweiligen Sachentscheidungen abhängig sind.<br />
58 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 957<br />
Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />
Rechtsbehelfe gegen Kostenentscheidungen haben nur dann keine aufschiebende Wirkung, wenn<br />
• sie sich gegen isolierte Kostenentscheidungen richten, die ohne materielle Entscheidung in der<br />
Hauptsache ergehen,<br />
• sie die Kostenentscheidung isoliert anfechten und der Verwaltungsakt in der Hauptsache bereits<br />
bestandskräftig ist<br />
• oder der Verwaltungsakt in der Hauptsache selbst eine Abgaben- oder Kostenstreitigkeit i.S.d. § 80<br />
Abs. 2 Nr. 1 VwGO darstellt.<br />
2. Aussetzung der Vollziehung gem. § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO<br />
In den Fällen des Abs. 2 Nr. 1 soll die Aussetzung der Vollziehung gem. § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO durch die<br />
Ausgangs- oder Widerspruchsbehörde erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des<br />
angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen<br />
eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge<br />
hätte. § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO findet bei der gerichtlichen Anordnung des Suspensiveffekts in den Fällen<br />
des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO entsprechende Anwendung (BVerwG BayVBl. 1982, 442; OVG Hamburg<br />
NVwZ-RR 1992, 318, 319; OVG Schleswig NVwZ-RR 1992, 106, 107).<br />
Praxishinweis:<br />
§ 80 Abs. 4 VwGO findet seine Entsprechung in § 86a Abs. 3 SGG. Die sozialgerichtliche Rechtsprechung<br />
zu dieser Norm kann deshalb grds. auch für die Lösung rein verwaltungsrechtlicher Fälle herangezogen<br />
werden.<br />
a) Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts<br />
Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen immer dann,<br />
wenn der Erfolg des Rechtsmittels im Hauptsacheverfahren mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie<br />
sein Misserfolg (vgl. REDEKER/VON OERTZEN, a.a.O., § 80 Rn 36). Die Rechtsprechung ist aber in diesem<br />
Punkt uneinheitlich: Nach Auffassung des OVG Hamburg (a.a.O.), des OVG Koblenz (DVBl. 1984, 1134,<br />
1135), des VGH Mannheim (VBlBW 1983, 246), des OVG Münster (NVwZ-RR 1994, 617) und des OVG<br />
Saarlouis (DÖV 1987, 1115) ist die Rechtmäßigkeit eines Heranziehungsbescheids ernstlich zweifelhaft,<br />
wenn der Erfolg des Rechtsmittels im Hauptsacheverfahren wahrscheinlicher ist als der Misserfolg.<br />
Demgegenüber halten es das BVerwG (a.a.O.), das OVG Lüneburg (NVwZ-RR 1989, 328) und das OVG<br />
Schleswig (a.a.O.) für ausreichend, wenn der Erfolg ebenso wahrscheinlich ist wie der Misserfolg (vgl.<br />
GATZ, a.a.O., S. 911). Der Regelung des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO ist nach der Rechtsprechung des OVG<br />
Münster demgegenüber die Wertung des Gesetzgebers zu entnehmen, dass er für diesen Bereich das<br />
öffentliche Interesse an einem Sofortvollzug generell höher bewertet als das private Interesse an einer<br />
vorläufigen Befreiung von der Leistungspflicht. Dieser Wertung entspricht es, für die der gesetzgeberischen<br />
Grundentscheidung im Einzelfall gegenläufige Anordnung der aufschiebenden Wirkung<br />
eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für den Erfolg des Rechtsbehelfs im Hauptsacheverfahren zu<br />
fordern. Dass der Bundesfinanzhof den Begriff der ernstlichen Zweifel in § 69 Abs. 3 S. 1 FGO i.V.m. § 69<br />
Abs. 2 S. 2 FGO in ständiger Rechtsprechung anders auslegt, ändert daran nach dieser Rechtsprechung<br />
nichts. Der Maßstab überwiegender Wahrscheinlichkeit für den Erfolg des Rechtsbehelfs in der<br />
Hauptsache ist danach auch nicht zu unbestimmt (OVG Münster, Beschl. v. 14.9.2<strong>01</strong>7 – 14 B 939/17).<br />
Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG verlange nicht, die aufschiebende Wirkung schon bei einem nur möglichen Erfolg<br />
des Rechtsbehelfs in der Hauptsache anzuordnen. Die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen<br />
gegen Verwaltungsakte sei durch Art. 19 Abs. 4 GG nicht schlechthin und ausnahmslos garantiert.<br />
Überwiegende öffentliche Belange könnten es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Einzelnen<br />
einstweilen zurückzustellen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 3.4.1992 – 2 BvR 283/92, BB 1992, 1772).<br />
Im Ergebnis ist diese Rechtsprechung vor allem unter Beachtung des Grundsatzes der Waffengleichheit<br />
zwischen Behörde und Bürger abzulehnen; eine gleiche Wahrscheinlichkeit für Erfolg oder<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 59
Fach 19, Seite 958<br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />
Misserfolg in der Hauptsache muss für eine Vollziehungsaussetzung ausreichen. Andernfalls wäre die<br />
Behörde gegenüber dem Bürger automatisch immer ein bisschen mehr im Recht. Gerade die 50 zu<br />
50-Fälle erweisen sich bei näherer Prüfung in der Hauptsache oft als für den Bürger erfolgreich.<br />
b) Unbillige Härte für den Betroffenen<br />
Eine unbillige Härte liegt vor, wenn dem Betroffenen Nachteile entstehen, die über die eigentliche<br />
Zahlung hinausgehen und die nicht oder nur schwer wiedergutgemacht werden können (h.M., vgl.<br />
KELLER in MEYER-LADEWIG/KELLER/LEITHERER, Kommentar zum SGG, 12. Aufl. 2<strong>01</strong>7, § 86a Rn 27b). Noch<br />
keine unbillige Härte liegt bei ernsthaften Liquiditätsproblemen vor, da die Beitragslast jeden<br />
Beitragspflichtigen unabhängig von seiner Einkommens- und Vermögenslage trifft. Ob allein eine<br />
drohende Insolvenz ohne Weiteres zur Annahme einer unbilligen Härte führt, wird in der Rechtsprechung<br />
unterschiedlich beurteilt. Nach einer Auffassung kommt schwierigen Vermögensverhältnissen<br />
des Beitragspflichtigen eine ausschlaggebende Relevanz im Eilverfahren regelmäßig nur dann zu,<br />
wenn dieser substantiiert darlegt und glaubhaft macht, dass es sich um einen nur vorübergehenden<br />
finanziellen Engpass bei grds. ausreichender Ertragssituation handelt, der bereits mit Zahlungserleichterungen<br />
– etwa in Form von Ratenzahlungen – erfolgreich und nachhaltig behoben werden<br />
kann (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 20.12.2<strong>01</strong>8 – L 12 BA 23/18 B ER, Rn 40, juris). Eine<br />
unbillige Härte wird weiter angenommen, wenn das Beitreiben der Forderung aktuell die Insolvenz und/<br />
oder die Zerschlagung eines Geschäftsbetriebs zur Folge hätte, die Durchsetzbarkeit der Forderung bei<br />
einem Abwarten der Hauptsache aber nicht weiter gefährdet wäre (vgl. LSG Sachsen, Beschl. v. 12.2.2<strong>01</strong>8<br />
– L 9 KR 496/17 B ER, Rn 149, juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 14.9.2<strong>01</strong>6 – L 8 R 221/14 B ER,<br />
Rn 13, juris). Das LSG Bayern hat bereits entschieden, dass von einer unbilligen Härte regelmäßig<br />
auszugehen ist, wenn schlüssig belegt ist, dass dem Betroffenen durch die sofortige Zahlung der<br />
Beitragsnachforderung Zahlungsunfähigkeit und Insolvenz droht oder seine Existenz gefährdet wird<br />
(vgl. Bayerisches LSG, Beschl. v. 29.7.2<strong>01</strong>4 – L 16 R 198/14 B ER; LSG Bayern, Beschl. v. 11.3.2<strong>01</strong>9 –L 16BA<br />
174/18 B ER).<br />
Beispiel:<br />
Allein der Hinweis auf ein negatives Betriebsergebnis besagt nicht, dass von der Vollziehung einer Abgabe<br />
wegen einer unbilligen Härte abzusehen ist.<br />
§ 80 Abs. 4 S. 3 VwGO ist eine Sollvorschrift und gewährt der Verwaltung nur ein gebundenes<br />
Ermessen. Das Ermessen ist dahingehend reduziert, dass die Aussetzung bei Vorliegen der Voraussetzungen<br />
im Regelfall erfolgen muss und nur in besonders gelagerten Fällen versagt werden darf. Die<br />
Regelung ist auf andere Fälle weder direkt noch analog anwendbar.<br />
Ordnet die Behörde bei einer Anforderung von öffentlichen Abgaben oder Kosten die Aussetzung an,<br />
kann sie dies von einer Sicherheitsleistung abhängig machen. Die Sicherheitsleistung kann durch<br />
Bankbürgschaft erfolgen. Die Höhe der Sicherheitsleistung wird durch die Forderungshöhe bestimmt<br />
(vgl. REDEKER/VON OERTZEN, a.a.O., § 80 Rn 37a).<br />
Praxishinweis:<br />
Ein eigener Rechtsbehelf gegen die Anordnung einer Sicherheitsleistung ist nicht gegeben. Dem Betroffenen<br />
steht lediglich das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zur Verfügung.<br />
3. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 5 VwGO<br />
Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und<br />
Anfechtungsklage in den Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Der Antrag<br />
ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der<br />
Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die<br />
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von<br />
anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden, § 80 Abs. 5 VwGO.<br />
60 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 959<br />
Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />
Praxishinweis:<br />
Einstweiliger Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO ist aufgrund des prozessualen Vorrangs der §§ 80 und<br />
80a VwGO in den von diesen Vorschriften erfassten Fällen, in denen in der Hauptsache um Rechtsschutz<br />
gegen einen belastenden Verwaltungsakt in Form der Anfechtungsklage ersucht wird (beispielsweise<br />
gegen einen Haftungsbescheid), ausgeschlossen (VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 28.12.2<strong>01</strong>2 – 5 L 1444/12).<br />
Gericht der Hauptsache ist das Gericht, bei dem die Anfechtungsklage anhängig ist bzw. zu erheben<br />
wäre. Eine Aussetzung bei einer Verpflichtungsklage bzw. einem Verpflichtungswiderspruch kommt<br />
nicht in Betracht.<br />
a) Antrag<br />
Die Antragstellung ist in den meisten Fällen unproblematisch und sollte in Anlehnung an den<br />
Gesetzeswortlaut erfolgen. Zudem ist das Gericht an die Fassung eines Antrags nicht gebunden und<br />
kann diesen umdeuten, weil es zu einer umfassenden Prüfung des Rechtsschutzgesuches unter allen<br />
denkbaren Kriterien verpflichtet ist (vgl. MANN/WAHRENDORF, Verwaltungsprozessrecht, 4. Aufl. 2<strong>01</strong>5,<br />
Rn 407 m.w.N.). Antragsbefugt ist derjenige, bei dem die Möglichkeit der Verletzung eigener Rechte<br />
nicht auszuschließen ist. Die Antragsfrist endet bei Unanfechtbarkeit des Ausgangsverwaltungsakts;<br />
dann und bei einer Erledigung fällt das Rechtsschutzinteresse weg.<br />
Sofern eine Behörde irrtümlich davon ausgeht, dass einem Rechtsmittel gegen einen vor ihr erlassenen<br />
belastenden Verwaltungsakt keine aufschiebende Wirkung zukommt, kann wirksamer vorläufiger<br />
Rechtsschutz nur in der Weise gewährleistet werden, dass der auf Wiederherstellung bzw. Anordnung<br />
der aufschiebenden Wirkung gestellte Antrag analog § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO in einen Antrag auf<br />
Feststellung der aufschiebenden Wirkung umgedeutet wird. Für einen solchen Antrag besteht auch ein<br />
rechtlich schützenswertes Interesse, weil ohne die begehrte Feststellung ein rechtswidriger faktischer<br />
Vollzug droht (VG Arnsberg, Beschl. v. 17.7.2<strong>01</strong>2 – 11 L 431/12).<br />
Praxishinweis:<br />
Der Vollzug oder die freiwillige Erfüllung der sich aus einem Bescheid ergebenden Forderung stellt keine<br />
Erledigung dar, vgl. auch § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO.<br />
Aus dem Gesetzeswortlaut ergibt sich, dass der Antrag bereits vor Klageerhebung zulässig ist; teilweise<br />
umstritten ist, ob dies auch für eine Widerspruchseinlegung gilt. Solange die Widerspruchsfrist noch<br />
nicht abgelaufen ist, wäre es aber reine Förmelei, auf der Einlegung als Zulässigkeitsvoraussetzung zu<br />
bestehen. Eine unterschiedliche Behandlung von Anfechtungsklage und Anfechtungswiderspruch lässt<br />
sich nur schwer begründen.<br />
b) Prüfungsumfang<br />
Der Prüfungsmaßstab für eine Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO ist gesetzlich nicht geregelt. Die<br />
Gerichte haben damit einen großen Entscheidungsspielraum und gehen nach dem sog. modellakzessorischen/interessenbewertenden<br />
Maßstab vor (QUAAS, a.a.O., Rn 252 m.w.N.).<br />
Analog zu der behördlichen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO (s.o. IV.2) sind<br />
zunächst die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels im Hauptsacheverfahren zu prüfen. Bei ernstlichen<br />
Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes überwiegt i.d.R. das Aussetzungsinteresse das<br />
Vollzugsinteresse.<br />
Bei offenen Erfolgsaussichten wird eine Abwägung der beiderseitigen Interessen vorgenommen. Die<br />
Gerichte haben insoweit ein weites Ermessen. Bei der Interessenabwägung ist der grundsätzliche<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 61
Fach 19, Seite 960<br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />
Vorrang des Vollzugsinteresses zu beachten. Eine Abweichung von der gesetzgeberischen Grundentscheidung<br />
stellt die Ausnahme dar. Zu den Einzelheiten im Zusammenhang mit den Erfolgsaussichten<br />
in der Hauptsache und der Kritik an Teilen der Rechtsprechung (s.o. IV.2.a).<br />
Beispiel:<br />
Allein die Behauptung, eine Steuer habe erdrosselnde Wirkung, rechtfertigt nicht die Anordnung der<br />
aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs.<br />
In Eilverfahren wird wegen der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit lediglich summarisch geprüft<br />
und eine Beweisaufnahme wird i.d.R. nicht durchgeführt. Es können weder schwierige Rechtsfragen<br />
abschließend entschieden noch komplizierte Tatsachenfeststellungen getroffen werden. Die erforderliche<br />
Prognose über die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs im Hauptsacheverfahren kann nur mit den<br />
Mitteln des Eilverfahrens getroffen werden. Demgemäß sind in erster Linie die vom Rechtsschutzsuchenden<br />
selbst vorgebrachten Einwände zu berücksichtigen, andere Fehler der Heranziehung<br />
hingegen nur, wenn sie sich bei summarischer Prüfung als offensichtlich aufdrängen (OVG Münster,<br />
Beschl. v. 27.10.1999 – 13 B 843/99 m.w.N.). Der anwaltliche Vortrag in einer Antragsschrift sollte sich<br />
danach ausrichten und sich zuvorderst auf Rechtsfragen beziehen. Soweit im Einzelfall geboten, sollten<br />
auch verfassungsrechtliche Bedenken vorgetragen werden. Diese lassen sich in einem Eilverfahren<br />
regelmäßig nicht klären, und damit ist man der Anordnung der aufschiebenden Wirkung schon ein gutes<br />
Stück näher.<br />
Das Gericht entscheidet über den Antrag durch Beschluss, im Zweifel ohne mündliche Verhandlung und<br />
in dringenden Fällen durch den Vorsitzenden allein.<br />
Praxishinweis:<br />
Nach Nr. 1.5 des aktuellen Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327)<br />
beträgt der Streitwert in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO ¼ des für das Hauptsacheverfahren<br />
anzunehmenden Streitwerts (GATZ, a.a.O., S. 916). Bei teilweiser oder vollständiger Vorwegnahme der<br />
Hauptsache kann der Streitwert bis zur Höhe des Hauptsachewerts angehoben werden (REDEKER/VON<br />
OERTZEN, a.a.O. § 80 Rn 69).<br />
c) Folgenbeseitigung gem. § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO<br />
Auch bei einem bereits vollzogenen Verwaltungsakt kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung<br />
anordnen.<br />
Beispiel:<br />
Der für eine vermeintliche Forderung in Anspruch genommene Bürger zahlt, um eine drohende<br />
Vollstreckung abzuwenden.<br />
Ein Eilantrag darf sich nicht nur isoliert auf die Aufhebung von Vollzugsmaßnahmen nach § 80 Abs. 5<br />
S. 3 VwGO beziehen. Es bedarf zusätzlich eines nur auf Antrag zulässigen Ausspruchs über die Aussetzung<br />
der Vollziehung nach S. 1, weil die Aufhebung der Vollziehung notwendig auch die Beseitigung<br />
der Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts, die die Grundlage der Vollziehung gebildet hat, voraussetzt.<br />
Die Aufhebung der Vollziehung eines erledigten Verwaltungsakts ist nicht mehr möglich, weil ein<br />
solcher Verwaltungsakt nicht mit einem Aussetzungsantrag angegriffen werden kann (vgl. GATZ,<br />
a.a.O., S. 909 m.w.N.).<br />
Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von<br />
anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden (§ 80 Abs. 5 S. 4 u. 5<br />
VwGO).<br />
62 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 961<br />
Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />
d) Vorheriger Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gem. § 80 Abs. 6 VwGO<br />
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist im Falle des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO nur zulässig, wenn die<br />
Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht,<br />
wenn die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist<br />
sachlich nicht entschieden hat oder eine Vollstreckung droht, § 80 Abs. 6 VwGO.<br />
Die Regelung in § 80 Abs. 6 VwGO ist als Sonderregelung einer analogen Anwendung entzogen. Durch<br />
das dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO vorgeschaltete behördliche Verfahren soll die Behörde in die<br />
Lage versetzt werden, alle im Aussetzungsverfahren vorgetragenen Gesichtspunkte zu würdigen. Die<br />
damit grds. gegebene Möglichkeit einer abweichenden Entscheidung besteht selbst noch im Zeitpunkt<br />
einer Mahnung, durch die dem Gebührenschuldner regelmäßig eine Zahlungsfrist eingeräumt wird (VG<br />
Gelsenkirchen, Beschl. v. 1.3.2<strong>01</strong>2 – 5 L 172/12). Der mit § 80 Abs. 6 VwGO verfolgte Zweck, durch das<br />
Vorschalten eines behördlichen Aussetzungsverfahrens die verwaltungsinterne Kontrolle zu stärken und<br />
die Verwaltungsgerichte zu entlasten, wird nicht oder nur unvollständig erreicht, wenn erst im Laufe des<br />
gerichtlichen Aussetzungsverfahrens eine behördliche Ablehnungsentscheidung ergehen würde. Der<br />
Aussetzungsantrag muss entweder ausdrücklich oder jedenfalls zweifelsfrei hinreichend bestimmt<br />
formuliert sein. Er ist insb. nicht in einer Widerspruchsbegründung zu sehen und auch nicht in den<br />
Sachausführungen einer Widerspruchsbegründung konkludent enthalten. Der Antrag als nicht nachholbare<br />
Zulässigkeitsvoraussetzung kann aber mit einer Widerspruchserhebung oder -begründung<br />
verbunden werden (vgl. VG Frankfurt/M., Beschl. v. 7.12.2000 – 10 G 4206/00).<br />
Praxishinweis:<br />
Anträge nach § 80 Abs. 4 VwGO und § 80 Abs. 5 VwGO schließen sich nicht aus. § 80 Abs. 6 VwGO<br />
ermöglicht eine erneute Antragstellung nach bestandskräftiger Abweisung selbst gleichlautender<br />
Anträge.<br />
Die Länge der Frist, innerhalb derer die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden<br />
Grundes eine Sachentscheidung unterlässt, muss sich unmittelbar an Art. 19 Abs. 4 GG messen lassen<br />
(vgl. EYERMANN/FRÖHLER, Kommentar zur VwGO, 5. Aufl. 2<strong>01</strong>9, § 80 Rn 75 m.w.N.). Es gibt keine starren<br />
zeitlichen Grenzen, im Ergebnis ist die Fristbemessung immer eine Einzelfallentscheidung.<br />
Der Beginn der Vollstreckung muss für einen unmittelbar bevorstehenden Termin angekündigt worden<br />
sein oder es müssen konkrete Vorbereitungen der Behörde für eine alsbaldige Vollstreckung vorliegen.<br />
Diese strengen Anforderungen sollen verhindern, das Antragserfordernis des § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO leer<br />
laufen zu lassen. Mit dieser Vorschrift wird nämlich das Ziel verfolgt, den Vorrang der verwaltungsinternen<br />
Kontrolle zu stärken und die Verwaltungsgerichte zu entlasten (VG Gelsenkirchen, Beschl.<br />
v. 22.3.2<strong>01</strong>1 – 5 L 143/11).<br />
Praxishinweis:<br />
Eine Mahnung zur Zahlung mit dem Hinweis, dass der Betrag zwangsweise eingezogen werde, ist noch<br />
keine drohende Vollstreckung.<br />
Nach § 80b Abs. 1 VwGO endet die aufschiebende Wirkung drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen<br />
Begründungsfrist des gegen die abweisende Entscheidung gegebenen Rechtsmittels auch, wenn<br />
die Vollziehung durch die Behörde ausgesetzt oder die aufschiebende Wirkung durch das Gericht<br />
wiederhergestellt oder angeordnet worden ist, es sei denn, die Behörde hat die Vollziehung bis zur<br />
Unanfechtbarkeit ausgesetzt. Nach Abs. 2 kann das Oberverwaltungsgericht auf Antrag anordnen,<br />
dass die aufschiebende Wirkung fortdauert.<br />
V. Beschwerde<br />
Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist als Rechtsbehelf die Beschwerde gem. § 146<br />
Abs. 4 VwGO gegeben. Strikt zu unterscheiden ist davon das Abänderungsverfahren gem. § 80 Abs. 7<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 63
Fach 19, Seite 962<br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />
VwGO. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass – im Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen<br />
Entscheidung – häufig nicht alle Erkenntnisquellen ausgeschöpft werden können (vgl. MANN/<br />
WAHRENDORF, a.a.O., Rn 424). Das Wiederaufnahmeverfahren nach § 153 Abs. 1 VwGO wird durch<br />
§ 80 Abs. 7 VwGO als spezialgesetzlicher Regelung verdrängt (vgl. REDEKER/VON OERTZEN, a.a.O. § 80<br />
Rn 67b m.w.N.).<br />
Die Beschwerde muss nach § 146 Abs. 4 S. 1 VwGO innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der<br />
Entscheidung des VG begründet werden. Gemäß § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO prüft das Oberverwaltungsgericht<br />
in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur die gem. § 146 Abs. 4 S. 1 und 3 VwGO<br />
dargelegten Gründe. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden<br />
ist, beim OVG einzureichen (§ 146 Abs. 4 S. 2 VwGO). Sie muss<br />
• einen bestimmten Antrag enthalten,<br />
• die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und<br />
• sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen (§ 146 Abs. 4 S. 3 VwGO) (vgl. GATZ, a.a.O.<br />
S. 915 f.).<br />
Auflagen in einem Beschluss (vgl. § 80 Abs. 5 S. 4 u. 5 VwGO) können nicht selbstständig angefochten<br />
werden, die Beschwerde muss sich gegen den Beschluss insgesamt richten (REDEKER/VON OERTZEN §80<br />
Rn 62 m.w.N.).<br />
Praxishinweis:<br />
Steuerberater sind vor den Verwaltungsgerichten und Oberverwaltungsgerichten auch in Beitragsstreitigkeiten<br />
nach § 67 Abs. 2 S. 2 Nr. 3, Abs. 4 S. 7 VwGO zur Vertretung befugt. Die Vertretung<br />
in beitragsrechtlichen Widerspruchsverfahren ist Steuerberatern als Nebenleistung zur Prozessvertretung<br />
nach § 5 Abs. 1 RDG gestattet (BVerwG, Urt. v. 20.1.2<strong>01</strong>6 – 10 C 17.14).<br />
VI. Hauptsacheverfahren<br />
In kommunalabgabenrechtlichen Streitigkeiten kommt dem Klageantrag der – regelmäßig zu erhebenden<br />
– Anfechtungsklage besondere Bedeutung zu. Zwei Fallkonstellationen sind denkbar:<br />
1. Der Bescheid soll insgesamt angefochten werden, weil es an einer Rechtmäßigkeitsvoraussetzung<br />
fehlt, oder<br />
2. der Bescheid soll in Höhe eines Teils der Abgabenforderung angefochten werden, weil die Forderung<br />
dem Grunde nach, nicht aber der Höhe nach gerechtfertigt ist.<br />
In der zweiten Fallkonstellation sollte der Klageantrag auf den zu Unrecht geforderten Teil beschränkt<br />
werden. Dies ist manchmal leichter gesagt als getan. Es sind durchaus Fälle denkbar, in denen eine<br />
Zuvielforderung offensichtlich ist, aber andererseits die Bestimmung von deren Höhe Schwierigkeiten<br />
bereitet. In einem solchen Fall sollte – nach Aufklärung des Mandanten über das Kostenrisiko – auf eine<br />
Beschränkung des Klageantrags verzichtet werden.<br />
Praxishinweis:<br />
Rettet sich eine Gemeinde in einem Klageverfahren durch Nachschieben einer wirksamen Gebührensatzung,<br />
ist die Hauptsache für erledigt zu erklären. Widerspricht die Gemeinde der Erledigungserklärung,<br />
muss die Anfechtungsklage mit dem Antrag geändert werden, dass die Hauptsache erledigt ist. Diesem<br />
Antrag ist auch dann stattzugeben, wenn andere Mängel der Satzung als der Satzungsverstoß gerügt<br />
worden sind. Bei der Erledigung wird hinsichtlich der ursprünglichen Unwirksamkeit nicht differenziert.<br />
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