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ZAP-2020-01

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<strong>ZAP</strong><br />

Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />

1 <strong>2020</strong><br />

6. Januar<br />

32. Jahrgang<br />

ISSN 0936-7292<br />

Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />

BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />

Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />

Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />

Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />

} Mit dem <strong>ZAP</strong> Berufsrechtsreport (Deckenbrock/Markworth)<br />

Inklusive<br />

<strong>ZAP</strong> App!<br />

Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />

AUS DEM INHALT<br />

Kolumne<br />

<strong>2020</strong> – Es wird nicht langweilig! (S. 1)<br />

Anwaltsmagazin<br />

Restschuldbefreiung künftig nach drei Jahren (S. 3) • EU verschärft Verbraucherschutzvorschriften (S. 4) •<br />

Änderungen beim beA (S. 5)<br />

Aufsätze<br />

Brändle, Die Rechtsmittelbeschwer im Immobilien‐ und Wohnungseigentumsrecht (S. 31)<br />

Viefhues, Basiswissen: Was der anwaltliche Berufsanfänger vom Unterhaltsrecht wissen muss (S. 43)<br />

Rödel, Rechtsschutzmöglichkeiten in kommunalabgabenrechtlichen Streitigkeiten (S. 55)<br />

Rechtsprechung<br />

BGH: Inkassodienstleistung durch Legal‐Tech‐Portal „wenigermiete.de“ (S. 25)<br />

BGH: Behindertentestament (S. 28)<br />

BAG: Eigenbeitrag zur betrieblichen Altersversorgung (S. 30)<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer


Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />

Kolumne – – 1–2<br />

Anwaltsmagazin – – 2–6<br />

Berufsrechtsreport – – 7–24<br />

Rechtsprechung 1 1–6 25–30<br />

Brändle, Die Rechtsmittelbeschwer im Immobilienund<br />

Wohnungseigentumsrecht 7 551–562 31–42<br />

Viefhues, Basiswissen 1: Was der anwaltliche Berufsanfänger<br />

vom Unterhaltsrecht wissen muss – materielles<br />

Recht 11 1549–1560 43–54<br />

Rödel, Rechtsschutzmöglichkeiten in kommunalabgabenrechtlichen<br />

Streitigkeiten 19 953–962 55–64<br />

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Redaktionsbeirat<br />

Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />

Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />

Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />

Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />

Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />

Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />

Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />

beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />

Gelsenkirchen • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg • Dr. Christian Deckenbrock, Köln • RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum •<br />

Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar • RA<br />

Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • Prof. Dr. Martin<br />

Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst, Hannover/Solingen • RA Günter Lange, Haltern • PräsSG a.D. RA<br />

Dr. Klaus Louven, Geldern • Dr. David Markworth, Köln • RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann,<br />

Frankfurt/M. • RA beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />

PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Dr. Harald Schneider, Siegburg • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt<br />

Stollenwerk, Bergisch Gladbach • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RiAG a.D. Dr.<br />

Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid.<br />

Impressum<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />

schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />

Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />

Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />

(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />

dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />

Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />

Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />

Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 249,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />

ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />

Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />

service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />

Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />

Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292


<strong>ZAP</strong><br />

Kolumne<br />

Kolumne<br />

<strong>2020</strong> – Es wird nicht langweilig!<br />

Beim Rückblick auf 2<strong>01</strong>9 kommt das Gefühl auf, es<br />

sei in rechtlicher Hinsicht nicht viel geschehen.<br />

Einer Phase der Stagnation im BMJV folgt seit der<br />

Amtsübernahme durch Frau Bundesministerin<br />

CHRISTINE LAMBRECHT das beherzte Anpacken einer<br />

Vielzahl von Vorhaben. Diskutiert werden neben<br />

vielen Änderungen im Netzwerkdurchsetzungsgesetz<br />

zur Bekämpfung der Hasskriminalität, in<br />

der StPO, im Inkassorecht und mit Blick auf die<br />

europäische Dimension der Digitalisierung unter<br />

dem Stichwort „E-evidence Verordnung“ Fragestellungen<br />

bei grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahmen.<br />

Viele dieser Vorhaben folgen<br />

einem berechtigten Ziel. Gleichwohl ist es notwendig,<br />

diese auch kritisch zu begleiten, um<br />

garantierte Grundsätze der Gewaltenteilung, die<br />

Wahrung grundrechtlicher und datenschutzrechtlicher<br />

Belange, insb. bei der Abgrenzung<br />

zwischen Freiheitsrechten des Einzelnen und<br />

einem staatlichen Sicherheitsbedürfnis, immer<br />

wieder in den Blick zu nehmen.<br />

Aus der Vielzahl von Gesetzesvorhaben ist die<br />

Reform der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO)<br />

von großer Bedeutung. Hierzu liegt das Eckpunktepapier<br />

vor. Die Fristen zur Stellungnahme dazu<br />

sind abgelaufen. Die Arbeiten schreiten voran. Die<br />

Reform der BRAO zielt auf eine zeitgemäße<br />

Gestaltung des Berufsrechts. Sie sieht vor, dass<br />

der Anwaltschaft zukünftig alle im In- und europäischen<br />

Ausland vorhandenen Gesellschaftsformen<br />

offenstehen sollen. Die Berufsausübung soll<br />

zukünftig mit Berufsträgern anderer Berufe zulässig<br />

sein, die der Rechtsanwalt selbst als Zweitberuf<br />

ausüben könnte. Die Einhaltung der „core values“<br />

der Anwaltschaft, insb. des Verbots der Vertretung<br />

widerstreitender Interessen, der Verschwiegenheitspflicht<br />

und der Unabhängigkeit, ist in derartigen<br />

Formen der Zusammenarbeit durch vertragliche<br />

Regelungen sicherzustellen und in der Praxis zu<br />

beachten. Der Versicherungsschutz soll dem Mandat<br />

folgen – da dieses der Berufsausübungsgesellschaft<br />

erteilt wird, soll die Berufsausübungsgemeinschaft<br />

auch Subjekt des Versicherungsschutzes<br />

werden. Und schließlich ist auch an ein elektronisches<br />

Kanzleipostfach gedacht. Vom Eckpunktepapier<br />

bis zur Verkündung im Bundesgesetzblatt ist<br />

noch ein Weg zurückzulegen. Der Wille zu einer<br />

raschen Umsetzung ist aber erkennbar.<br />

Demgegenüber hinterlässt der Blick auf die seit<br />

langem notwendige und noch immer nicht in Kraft<br />

getretene RVG-Anpassung im günstigsten Fall nur<br />

Unmut. Hier werden die Verbände nicht müde<br />

werden, die zeitnahe, dringend notwendige Umsetzung<br />

weiter beharrlich zu fordern. Eine gesetzliche<br />

Gebührenordnung, die sich nicht von ihrer<br />

Funktion entfernt, kann nicht von der Lohnentwicklung<br />

abgekoppelt werden. Sie stellt aus der Sicht<br />

des BVerfG ein Leitbild für eine in ihrer Gesamtheit<br />

auskömmliche Vergütungsregelung dar. Da das<br />

RVG die Lohnentwicklung jeweils nur nachholt<br />

und nicht vorwegnimmt, hinken die Sätze inzwischen<br />

wieder rd. 6,5 Jahre hinterher. Ein Ausweichen<br />

in Vergütungsvereinbarungen benachteiligt<br />

Teile der Anwaltschaft, da nach den vorliegenden<br />

empirischen Untersuchungen die Möglichkeit zum<br />

Abschluss von Vergütungsvereinbarungen faktisch<br />

davon abhängt, in welchem Rechtsgebiet, für<br />

welche Klientel und in welcher Region eine anwaltliche<br />

Tätigkeit entfaltet wird. Zudem sind erhebliche<br />

Unterschiede beim Abschluss von Vergütungsvereinbarungen<br />

zwischen Männern und Frauen zu<br />

beobachten – und zwar auf beiden Seiten einer<br />

Vergütungsvereinbarug. Das Gefälle zwischen Stadt<br />

und Land, Mandaten für Unternehmer oder Verbraucher,<br />

Ost und West sowie zwischen Männern<br />

und Frauen nimmt auf diese Weise zu.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 1


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Und schließlich schreitet die Digitalisierung voran.<br />

Schleswig-Holstein hat über die Opt-in-Klausel die<br />

zwingende Einreichung von bestimmenden Schriftsätzen<br />

für alle Arbeitsgerichte sowie das Landesarbeitsgericht<br />

in Schleswig-Holstein vorgeschrieben.<br />

Damit mahnt es letztlich alle Anwältinnen<br />

und Anwälte, sich nicht nur mit der seit langem<br />

bestehenden passiven Nutzungspflicht des beA zu<br />

befassen, sondern auch die aktive Nutzung in den<br />

Blick zu nehmen und sich vor der Einreichung eines<br />

Schriftsatzes zu vergewissern, ob nur noch die<br />

elektronische Einreichung zulässig ist. Zudem ist<br />

die obligatorische Nutzungspflicht bei allen Gerichten<br />

in allen Bundesländern zum 1.1.2022 nicht<br />

mehr weit. Justiz und Anwaltschaft sollten hierbei<br />

im Gespräch bleiben und die Aufgabe miteinander<br />

bewältigen. Sie ist sowohl für die Anwaltschaft als<br />

auch für die Justiz eine große Herausforderung, die<br />

es anzunehmen gilt. Die Notarinnen und Notare<br />

leben vor, dass die Digitalisierung mit großen<br />

Schritten vorangehen kann.<br />

Mit Blockchain, smartcontract und weiteren Begriffen<br />

stellen wir fest, dass die Digitalisierung<br />

nicht nur den elektronischen Rechtsverkehr und<br />

die Frage betrifft, auf welchen Wegen wir zukünftig<br />

mit den Gerichten kommunizieren und diese<br />

mit uns.<br />

Gespannt sein dürfen wir auch auf die Entwicklungen<br />

im Bereich künstlicher Intelligenz (KI). Die<br />

EU will hierzu in den ersten 100 Tagen unter der<br />

neuen Kommissionspräsidentin erste Überlegungen<br />

vorlegen. Überlegungen zum Einsatz von KI<br />

sind aber bereits heute Wirklichkeit, so z.B., wenn<br />

die Justiz Entwicklungen prüft, um unvorstellbar<br />

große Datenmengen zu sichten und zu bewältigen.<br />

Der Ausblick auf <strong>2020</strong> zeigt daher, dass neben<br />

einigen gewichtigen Gesetzesvorhaben viele alltägliche<br />

Abläufe einem Wandel unterworfen sein<br />

werden. Dem sollten wir nicht mit Unsicherheit<br />

und Angst begegnen, sondern mit Neugier und<br />

einem gleichzeitig kritischen Geist für die ethischen<br />

Grenzen des technisch Machbaren. Die Frage nach<br />

dem „Ja – aber:“ ist daher ein guter Zwischenschritt,<br />

um alle Fragen einer Veränderung zu erfassen und<br />

den Weg zu einer ausgewogenen Antwort zu<br />

finden. Und schließlich: Bei der Umsetzung in den<br />

Alltag ist keiner von uns allein. Der Austausch<br />

untereinander wird wieder wichtiger und wird sich<br />

– weniger als in der jüngsten Vergangenheit –<br />

nicht mehr vor allem auf fachliche Fragen, sondern<br />

zunehmend auf Organisationsfragen erstrecken.<br />

Ich freue mich, dass die <strong>ZAP</strong> uns hierbei ein<br />

zuverlässiger Begleiter sein wird, der die Diskussion<br />

abbildet und praktische Handreichungen liefert.<br />

Rechtsanwältin und Notarin EDITH KINDERMANN,<br />

Bremen<br />

Anwaltsmagazin<br />

Wirtschaft erwartet „Meldeflut“<br />

Am 14.11.2<strong>01</strong>9 hat der Bundestag das von der<br />

Bundesregierung vorgelegte Gesetz zur Einführung<br />

einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender<br />

Steuergestaltungen beschlossen,<br />

das nun auch vom Bundesrat gebilligt wurde.<br />

Strengere Meldevorschriften für Immobilienmakler,<br />

Notare, Goldhändler und Auktionshäuser<br />

sollen den Kampf gegen Geldwäsche und Terrorfinanzierung<br />

verbessern (s. dazu auch Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong> 5/2<strong>01</strong>9, S. 225).<br />

2 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Noch kurz zuvor hatten sich Vertreter der Wirtschaft<br />

und der beratenden Berufe massiv gegen<br />

das Vorhaben ausgesprochen. Die Meldepflicht<br />

führe nur zu zusätzlichem administrativen Aufwand<br />

und einer steigenden Anzahl von Meldungen,<br />

„und sie wahrt die gesetzliche Verschwiegenheitspflicht<br />

von Berufsgeheimnisträger allenfalls<br />

formal, aber nicht materiell“, so Bundessteuerberaterkammer,<br />

Wirtschaftsprüferkammer und Bundesrechtsanwaltskammer<br />

gemeinsam in einer<br />

öffentlichen Anhörung des Bundestags-Finanzausschusses<br />

Anfang November. Es werde eine<br />

regelrechte „Meldeflut“ erwartet, meinte etwa die<br />

Bundessteuerberaterkammer. Und der Deutsche<br />

Steuerberaterverband befürchtet, dass Steuerpflichtigen<br />

und ihren Beratern durch die Ausgestaltung<br />

der EU-Richtlinie ein massiver zusätzlicher<br />

Bürokratieaufwand entstehen wird.<br />

Die genannten Berufsverbände gehen davon aus,<br />

dass nicht nur aggressive Steuergestaltungen,<br />

sondern in erster Linie alltägliche Vorgänge<br />

gemeldet werden müssen, unabhängig davon,<br />

dass sie der Finanzverwaltung ohnehin bereits<br />

bekannt seien. Um einen Aufbau von unnötigen<br />

„Datenfriedhöfen“ vorzubeugen, empfahlen sie<br />

eine Rückführung der Meldepflicht auf tatsächlich<br />

aggressive Gestaltungen.<br />

Genauso skeptisch äußerten sich acht Spitzenverbände<br />

der deutschen Wirtschaft in einer<br />

gemeinsamen Stellungnahme. Sie wiesen darauf<br />

hin, dass eine Nichtmeldung als Ordnungswidrigkeit<br />

geahndet werden solle. Daher sei anzunehmen,<br />

dass Intermediäre, Nutzer von Steuergestaltungen<br />

und vor allem auch Unternehmen<br />

ohne jede steuerliche Gestaltungsabsicht im<br />

Zweifel vielfach auch alltägliche steuerliche Sachverhalte<br />

melden würden, um einer Geldbuße von<br />

vornherein aus dem Weg zu gehen. „Eine überbordende<br />

Meldeflut von steuerlichen Sachverhalten<br />

kann weder im Interesse der meldepflichtigen Unternehmen<br />

noch im Interesse der Finanzverwaltung sein“,<br />

argumentierten die Wirtschaftsverbände.<br />

[Quelle: Bundestag]<br />

Restschuldbefreiung künftig nach<br />

drei Jahren<br />

Zum Thema Überschuldung hat sich Anfang November<br />

auch die Bundesregierung zu Wort gemeldet.<br />

Bundesjustizministerin CHRISTINE LAMBRECHT verkündete<br />

am 7. November auf dem diesjährigen<br />

Deutschen Insolvenzverwalterkongress, dass die<br />

Bundesregierung die Verkürzung des regulären<br />

Restschuldbefreiungsverfahrens von derzeit sechs<br />

auf drei Jahre plant und damit eine zügige Umsetzung<br />

europäischer Vorgaben vornehmen will.<br />

Diese finden sich in der Richtlinie (EU) 2<strong>01</strong>9/1023<br />

v. 20.6.2<strong>01</strong>9 über Restrukturierung und Insolvenz,<br />

die vorschreibt, dass unternehmerisch tätige<br />

Personen Zugang zu einem Verfahren haben<br />

müssen, das es ihnen ermöglicht, sich innerhalb<br />

von drei Jahren zu entschulden. Die Richtlinie ist<br />

von den Mitgliedstaaten bis zum 17.7.2021 umzusetzen;<br />

die Umsetzungsfrist kann aber einmalig<br />

um ein Jahr verlängert werden.<br />

Den Anforderungen der Richtlinie genügt das<br />

geltende deutsche Recht nicht, obwohl hierzulande<br />

Schuldner auch bereits jetzt eine Restschuldbefreiung<br />

nach drei Jahren erlangen können.<br />

Allerdings setzt dies voraus, dass bis zum<br />

Ende des Verfahrens nicht nur die Verfahrenskosten,<br />

sondern auch 35 % der Insolvenzforderungen<br />

gedeckt werden. Eine vom Bundesministerium<br />

der Justiz und für Verbraucherschutz<br />

(BMJV) durchgeführte Evaluation dieser Regelung<br />

im Jahr 2<strong>01</strong>8 hatte gezeigt, dass dieses<br />

Mindestbefriedigungserfordernis von nicht einmal<br />

2 % der Schuldner erfüllt werden kann. Künftig<br />

soll daher eine Restschuldbefreiung nach drei<br />

Jahren auch dann möglich sein, wenn es nicht<br />

gelingt, die bisherige Mindestbefriedigungsquote<br />

zu erzielen. Ebenso wenig soll es erforderlich sein,<br />

dass die Verfahrenskosten gedeckt sind. In den<br />

Fällen der Verfahrenskostenstundung soll der<br />

Schuldner oder die Schuldnerin aber weiterhin<br />

einer vierjährigen Nachhaftung unterliegen.<br />

Um einen geordneten Übergang vom geltenden<br />

Recht zum künftigen Recht sicherzustellen, insb.<br />

um zu verhindern, dass Schuldnerinnen und<br />

Schuldner bis zum Inkrafttreten des neuen<br />

Rechts systematisch dazu übergehen, die Einleitung<br />

des Verfahrens zu verzögern, um sich in<br />

den Genuss einer substanziell kürzeren Frist zu<br />

bringen, soll die dreijährige Frist allmählich und<br />

kontinuierlich eingeführt werden.<br />

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat die Ankündigung<br />

bereits begrüßt. Die Bundesregierung<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 3


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

komme damit einer langjährigen Forderung des<br />

DAV nach. Auch die geplante stufenweise Einführung<br />

sieht der Verein positiv: Zum einen<br />

könnten die Schuldner schon zeitnah von einer<br />

zumindest teilweisen Verkürzung des Verfahrens<br />

profitieren und zum anderen würden größere<br />

Friktionen durch zunächst ausbleibende und dann<br />

in großer Zahl gestellte Anträge verhindert.<br />

[Quellen: BMJV/DAV]<br />

EU verschärft<br />

Verbraucherschutzvorschriften<br />

Im November 2<strong>01</strong>9 hat der Europäische Rat als<br />

letztes EU-Organ einem Richtlinienvorschlag zur<br />

besseren Durchsetzung und Modernisierung der<br />

EU-Verbraucherschutzvorschriften zugestimmt.<br />

Die Novelle muss jetzt noch im EU-Amtsblatt<br />

veröffentlicht werden und kann anschließend in<br />

Kraft treten. Die einzelnen EU-Staaten müssen die<br />

Änderungen anschließend innerhalb von zwei Jahren<br />

in ihre nationalen Verbraucherschutzvorschriften<br />

überführen. Insgesamt wurden vier Richtlinien<br />

überarbeitet. Sie betreffen unlautere Geschäftspraktiken,<br />

Verbraucherrechte, Vertragsbedingungen<br />

und das Preisangabenrecht.<br />

Mit den nun erfolgten Änderungen soll zum einen<br />

mehr Transparenz bei Online-Geschäften erreicht<br />

werden, insb. was die Nutzung von Online-Bewertungen,<br />

die personalisierte Preisgestaltung mit<br />

Hilfe von Algorithmen oder die Heraufstufung von<br />

Produkten infolge „kostenpflichtiger Platzierungen“<br />

betrifft. Auch sind Regelungen hinsichtlich „Produkten<br />

von zweierlei Qualität“ und der Einbeziehung<br />

von Waren mit digitalen Elementen sowie<br />

zur Bereitstellung digitaler Inhalte und Dienstleistungen<br />

enthalten. Desweiteren werden klarere<br />

Sanktionsregelungen bei Verstößen gegen Verbraucherschutzvorschriften<br />

vorgesehen. Die EU-<br />

Vorgaben erlauben es außerdem, dass die Mitgliedstaaten<br />

noch weitergehende Bestimmungen gegen<br />

unerbetene Besuche eines Gewerbetreibenden und<br />

sog. Kaffeefahrten erlassen. [Quelle: BRAK]<br />

DAV bemängelt Rechtsunsicherheit<br />

im Internet<br />

Auch der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat kürzlich<br />

das Thema Rechtssicherheit im Internet<br />

aufgegriffen. Er bemängelt, dass zwei der zentralen<br />

deutschen Gesetze zu diesem Thema, das Telemediengesetz<br />

(TMG) und das Telekommunikationsgesetz<br />

(TKG), immer noch nicht vollständig an die<br />

EU-Vorgaben, insb. die Datenschutzgrundverordnung<br />

(DSGVO) angepasst sind, obwohl diese<br />

bereits seit eineinhalb Jahren gelte.<br />

Angesichts der Rechtsprechung des EuGH sei die<br />

deutsche Rechtslage umso bedenklicher. So<br />

habe der EuGH u.a. deutlich gemacht, dass bei<br />

vielen Cookies ein aktives Akzeptieren nötig ist,<br />

etwa ein Klick auf einen „OK“-Button (sog. Optin-Verfahren).<br />

Die deutsche Regelung im TMG<br />

scheine aber etwas anderes zu besagen. Dies sei<br />

nur einer von vielen Bereichen, in dem der<br />

deutsche Gesetzgeber seit Jahren erhebliche<br />

Rechtsunsicherheit zulasse, indem er im TMG<br />

und TKG einen veralteten Wortlaut stehen lasse.<br />

Beide Gesetze müssten endlich an bindende<br />

europarechtliche Vorgaben angepasst werden.<br />

[Quelle: DAV]<br />

Schärfere Ahndung antisemitischer<br />

Straftaten<br />

Bundesjustizministerin CHRISTINE LAMBRECHT will,<br />

dass antisemitische Straftaten künftig härter<br />

geahndet werden. Antisemitische Motive sollen<br />

bei allen Straftaten strafverschärfend wirken<br />

können. Hintergrund ihres Vorstoßes sind mehrere<br />

antisemitische Vorfälle aus jüngster Zeit; so<br />

sind etwa in Halle bei dem Versuch eines bewaffneten<br />

Mannes, in eine Synagoge einzudringen,<br />

zwei Menschen ums Leben gekommen.<br />

„Es ist für mich unfassbar und ich schäme mich dafür,<br />

dass sich Juden in Deutschland nicht mehr sicher<br />

fühlen, dass sogar viele darüber nachdenken, das Land<br />

zu verlassen“, erklärte LAMBRECHT Ende November<br />

im Bundestag. Doch bei dieser Scham wolle sie es<br />

nicht belassen, es seien deutliche Signale nötig.<br />

Bereits nach den Morden des sog. Nationalsozialistischen<br />

Untergrunds (NSU) gab es eine Verschärfung<br />

im StGB; danach können rassistische,<br />

fremdenfeindliche und sonstige menschenverachtende<br />

Motive strafverschärfend berücksichtigt<br />

werden; Antisemitismus als Motiv ist jedoch nicht<br />

ausdrücklich in den Wortlaut der Novelle aufgenommen<br />

worden. Das solle angesichts zahlreicher<br />

Diffamierungen, Bedrohungen und Gewalt-<br />

4 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

taten gegen Juden in Deutschland nun geändert<br />

werden, so LAMBRECHT, um Polizei, Justiz und<br />

Gesellschaft zu sensibilisieren. „Die Bundesregierung<br />

kommt mit der geplanten Gesetzesergänzung ihrem<br />

Bekenntnis nach, Antisemitismus entschlossen zu<br />

bekämpfen und jüdisches Leben zu schützen“, erklärte<br />

die Ministerin.<br />

Für eine solche Novelle hatten sich bereits<br />

mehrere Bundesländer stark gemacht. Die Bundesjustizministerin<br />

hob besonders das Land<br />

Bayern lobend hervor. Dort hat die Staatsregierung<br />

beschlossen, Verfahren bei antisemitischen<br />

Straftaten nicht mehr wegen Geringfügigkeit<br />

oder geringer Schuld einzustellen; Verfahrenseinstellungen<br />

sollen dort auf absolute Ausnahmefälle<br />

beschränkt bleiben.<br />

Polizeiliche Statistiken belegen, dass die Anzahl<br />

antisemitischer Taten, die angezeigt wurden, in<br />

letzter Zeit wieder deutlich zugenommen hat.<br />

Nachdem die Zahl gegen Ende des letzten Jahrzehnts<br />

wieder rückläufig war, stieg die Zahl der<br />

Vorfälle seit 2<strong>01</strong>0 von 1.239 wieder deutlich auf<br />

1.799 Vorfälle im Jahr 2<strong>01</strong>8 an. [Red.]<br />

Die Neuregelung hat folgenden Grund: Die alte<br />

Regelung, wonach ein elektronisches Empfangsbekenntnis<br />

zwingend in Form eines strukturierten<br />

maschinenlesbaren Datensatzes zu übermitteln<br />

ist, führte in der Praxis dann zu Problemen, wenn<br />

das Gericht einen solchen Datensatz aufgrund<br />

technischer Probleme ausnahmsweise nicht bereitstellen<br />

konnte (vgl. BT-Drucks 19/13828, S. 19).<br />

Für den Anwalt bzw. sein Kanzleipersonal bedeutet<br />

dies, dass man bei einer elektronischen<br />

Zustellung durch das Gericht zukünftig darauf<br />

achten muss, ob im beA die Möglichkeit gegeben<br />

wird, unmittelbar durch den Button „Abgabe<br />

erstellen“ einen elektronischen Datensatz für die<br />

Rücksendung zu produzieren. Ist das der Fall,<br />

dann muss diese Möglichkeit auch genutzt werden.<br />

Ansonsten dürfte sich zukünftig im elektronischen<br />

Anhang einer beA-Nachricht das bereits<br />

aus der Papierwelt bekannte „EB-Formular“ als<br />

PDF wiederfinden. Man hat es dann entweder<br />

online oder nach einem Ausdruck auszufüllen und<br />

anschließend wieder elektronisch und formwirksam<br />

entsprechend § 130a Abs. 3 ZPO an das<br />

Gericht zu übermitteln.<br />

[Quelle: BRAK]<br />

beA: Änderungen beim<br />

Empfangsbekenntnis<br />

Die Bundesrechtsanwaltskammer hat kürzlich auf<br />

eine Änderung zum Jahresbeginn <strong>2020</strong> hingewiesen.<br />

Hintergrund ist das „Gesetz zur Regelung der<br />

Wertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde<br />

in Zivilsachen, zum Ausbau der Spezialisierung<br />

bei den Gerichten sowie zur Änderung weiterer<br />

zivilprozessrechtlicher Vorschriften“, das der Bundestag<br />

Mitte November beschlossen hat. Hinter<br />

den „weiteren zivilprozessrechtlichen Vorschriften“ im<br />

Titel des Gesetzes verbirgt sich eine Änderung, die<br />

den elektronischen Rechtsverkehr betrifft: Danach<br />

tritt zum 1.1.<strong>2020</strong> eine Änderung des § 174<br />

ZPO in Kraft. Dessen bisheriger Abs. 4 S. 5 wird<br />

durch folgende Sätze ersetzt: „Wird vom Gericht<br />

hierfür mit der Zustellung ein strukturierter Datensatz<br />

zur Verfügung gestellt, ist dieser zu nutzen. Andernfalls<br />

ist das elektronische Empfangsbekenntnis abweichend<br />

von Satz 4 als elektronisches Dokument (§ 130a ZPO)<br />

zu übermitteln.“<br />

Neue Rechengrößen in der<br />

Sozialversicherung<br />

Seit dem 1. Januar gelten neue Rechengrößen in<br />

der Sozialversicherung für das Jahr <strong>2020</strong>. Danach<br />

steigen im neuen Jahr die Beitragsbemessungsgrenzen<br />

in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung<br />

sowie weitere wichtige Werte.<br />

Für die Beitragsberechnung in der gesetzlichen<br />

Rentenversicherung gilt ab 1.1.<strong>2020</strong> eine neue<br />

Einkommensgrenze. Der Beitrag bemisst sich<br />

dann bis zu einem Höchstbetrag von 6.900 € im<br />

Monat in den alten und 6.450 € in den neuen<br />

Ländern. In der knappschaftlichen Rentenversicherung<br />

steigt diese Einkommensgrenze auf 8.450 €<br />

in den alten und 7.900 € in den neuen Ländern. In<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung steigt die<br />

Beitragsbemessungsgrenze auf jährlich 56.250 €<br />

(4.687,50 € im Monat). Die Versicherungspflichtgrenze<br />

steigt auf jährlich 62.550 € (5.212,50 € im<br />

Monat).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 5


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Die neuen Rechengrößen im Überblick:<br />

Rechengröße West Ost<br />

Beitragsbemessungsgrenze<br />

für die allgemeine<br />

6.900 € pro<br />

Monat<br />

6.450 € pro<br />

Monat<br />

Rentenversicherung<br />

Beitragsbemessungsgrenze<br />

für die knappschaftliche<br />

8.450 € pro<br />

Monat<br />

7.900 € pro<br />

Monat<br />

Rentenversicherung<br />

Versicherungspflichtgrenze<br />

in der GKV<br />

62.550 € pro Jahr<br />

(5.212,50 € pro Monat)<br />

Beitragsbemessungsgrenze<br />

in der GKV<br />

56.250 € pro Jahr<br />

(4.687,50 € pro Monat)<br />

Vorläufiges Durchschnittsentgelt<br />

für 2<strong>01</strong>9 in der<br />

allgemeinen Rentenversicherung<br />

40.551 € pro<br />

Jahr<br />

Hochwertung<br />

um 1,1339<br />

Bezugsgröße in der Sozialversicherung<br />

3.185 € pro<br />

Monat<br />

3.<strong>01</strong>0 € pro<br />

Monat<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Am Bundessozialgericht (BSG) gibt es seit dem<br />

20.11.2<strong>01</strong>9 zwei weitere Richterinnen: Neu ernannt<br />

wurden dort die bisherige Richterin am<br />

LSG Frau Dr. PETRA MARIA KNORR und die bisherige<br />

Richterin am LSG Frau JUDIT NEUMANN. Frau Dr.<br />

KNORR kommt vom LSG Nordrhein-Westfalen;<br />

zuletzt war sie allerdings für mehrere Jahre an<br />

das Landesjustizministerium in Düsseldorf abgeordnet,<br />

wo sie nacheinander mehrere Referate<br />

leitete. Frau Dr. KNORR prüft in der zweiten<br />

juristischen Staatsprüfung und ist ausgebildete<br />

Mediatorin. Sie kommentiert zudem im Recht<br />

der Gesetzlichen Rentenversicherung sowie dem<br />

Sozialgesetzbuch II. Buch Grundsicherung für<br />

Arbeitsuchende und ist Mitglied der Deutsch-<br />

Niederländischen Juristenkonferenz. Frau NEU-<br />

MANN kommt vom LSG Sachsen-Anhalt; u.a. ist<br />

sie auch Kommentatorin im SGG und im SGB.<br />

Das Präsidium des BSG hat Frau Dr. KNORR dem<br />

für die Gesetzliche Krankenversicherung, Pflegeversicherung<br />

und Künstlersozialversicherung zuständigen<br />

3. Senat und Frau NEUMANN dem für die<br />

Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen<br />

14. Senat zugewiesen. [Quellen: BAG/BSG]<br />

Personalia<br />

Am 14.10.2<strong>01</strong>9 ist der Vorsitzende Richter am<br />

Bundesarbeitsgericht (BAG) a.D. Prof. Dr. WALTER<br />

SEIDENSTICKER im Alter von 90 Jahren verstorben.<br />

Herr Prof. Dr. SEIDENSTICKER wurde 1976 zum<br />

Richter am BAG berufen. Hier gehörte er zunächst<br />

dem 5. Senat an und wechselte anschließend<br />

in den 1. Senat. Im Mai 1984 wurde er zum<br />

Vorsitzenden Richter am BAG ernannt und dem 7.<br />

Senat zugewiesen, den er bis zu seiner Pensionierung<br />

im Dezember 1993 leitete. Viele Jahre war<br />

er zudem Mitglied des Präsidiums und des Präsidialrats<br />

des BAG.<br />

Wussten Sie schon, dass … ?<br />

… Sie online bequem auf ältere <strong>ZAP</strong>-Ausgaben<br />

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Nr. 7: Kann ich auch auf ältere <strong>ZAP</strong>-Ausgaben<br />

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[Red.]<br />

6 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

Berufsrechtsreport<br />

Von Akad. Rat Dr. CHRISTIAN DECKENBROCK und Akad. Rat Dr. DAVID MARKWORTH, Universität zu Köln<br />

I. Einleitung<br />

II.<br />

Rechtspolitische Entwicklungen<br />

Das Anwaltsrecht fristet schon lange kein Nischendasein<br />

mehr. Auch wenn nach wie vor das anwaltliche<br />

Berufsrecht nicht Gegenstand der juristischen<br />

Ausbildung ist (vgl. DECKENBROCK NJW 2<strong>01</strong>7, 1425,<br />

1430), ist es für die Anwaltschaft unverzichtbar, über<br />

die aktuellen Entwicklungen der sie betreffenden<br />

Berufsregeln informiert zu sein. Welche Dynamik<br />

das Anwaltsrecht aktuell hat, ist auch im vergangenen<br />

Berichtsjahr wieder deutlich geworden. In<br />

2<strong>01</strong>9 wurden nicht nur rechtspolitische Vorhaben<br />

wie die Reform des anwaltlichen Gesellschaftsrechts<br />

und der Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung<br />

des Verbraucherschutzes im Inkassorecht<br />

angestoßen (dazu II.), sondern es sind erneut<br />

zahlreiche Gerichtsentscheidungen zu den verschiedenen<br />

Teilbereichen des Anwaltsrechts ergangen.<br />

Im Mittelpunkt der Diskussion vor den Gerichten, in<br />

Anwaltschaft, Forschung und interessierter Öffentlichkeit<br />

stand aber der neue „Megatrend“ Legal<br />

Tech und die Frage, inwieweit nichtanwaltliche<br />

Dienstleister auf den Rechtsberatungsmarkt drängen.<br />

Die lange erwartete Entscheidung des BGH in<br />

Sachen „wenigermiete.de“ (dazu IX. 2.) hat hier zwar<br />

wichtige Fragen klären können, die Zulässigkeit von<br />

Vertragsgeneratoren und anders organisierter Online-Portale<br />

bleibt aber weiter unklar.<br />

Auch die diesjährige Ausgabe des Berufsrechtsreports,<br />

die an die Ausführungen in <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 115<br />

anknüpft, gibt wieder einen Überblick über wesentliche<br />

rechtspolitische Entwicklungen und die<br />

wichtigste Rechtsprechung im anwaltlichen Berufsrecht<br />

im vergangenen Jahr (ein weiterer Überblick<br />

findet sich bei GRUNEWALD NJW 2<strong>01</strong>9, 3620;<br />

speziell zur Entwicklung des Anwaltshaftungsrechts<br />

von Mitte 2<strong>01</strong>8 bis Mitte 2<strong>01</strong>9 s. BORGMANN<br />

NJW 2<strong>01</strong>9, 3557; zur Entwicklung der Rechtsanwaltsvergütung<br />

2<strong>01</strong>9 s. MAYER NJW 2<strong>01</strong>9, 3426).<br />

1. Anwaltliches Gesellschaftsrecht<br />

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />

(BMJV) hat Ende August 2<strong>01</strong>9<br />

insgesamt 20 Eckdaten der geplanten Reform<br />

des anwaltlichen Gesellschaftsrechts vorgestellt.<br />

In dem Eckpunktepapier bekräftigt das Ministerium,<br />

dass reine Kapitalbeteiligungen von Gesellschaftern,<br />

die nicht in der Gesellschaft tätig sind,<br />

zum Schutz der anwaltlichen Unabhängigkeit<br />

weiterhin verboten bleiben sollen. Allerdings hat<br />

das BMJV angekündigt, gewisse Lockerungen<br />

dieses sog. Fremdkapitalverbots für eng begrenzte<br />

Fälle zu erwägen. So will es eine<br />

Ausnahme etwa für Beteiligungen nicht mehr<br />

aktiver Berufsangehöriger mit der Maßgabe<br />

prüfen, dass die Einhaltung des anwaltlichen<br />

Berufsrechts – beispielsweise durch eine Höchstgrenze<br />

für Beteiligungen und neue Berufspflichten<br />

der Rechtsanwälte – besonders abgesichert<br />

wird. Zudem steht die Überlegung im Raum,<br />

reine Kapitalbeteiligungen auch mit dem Ziel<br />

zu erlauben, alternative Finanzierungswege<br />

durch sog. Wagniskapital für solche Rechtsanwälte<br />

zu eröffnen, die sich z.B. im Legal-<br />

Tech-Bereich hohen Anfangsinvestitionen gegenübersehen.<br />

Ob diese Ausnahmen vom<br />

„Fremdbesitzverbot“ tatsächlich Gesetz werden,<br />

darf allerdings angesichts des von BRAK und<br />

DAV bereits deutlich artikulierten Widerstands<br />

bezweifelt werden.<br />

Auch im Übrigen birgt das Eckpunktepapier<br />

Sprengstoff. Nach den Vorstellungen des BMJV<br />

soll der Kreis der sozietätsfähigen Berufe, der<br />

sich bislang im Wesentlichen auf Steuerberater<br />

und Wirtschaftsprüfer begrenzt, i.R.d. anstehenden<br />

Reform deutlich erweitert werden. Künftig<br />

sollen Angehörige aller „vereinbaren“ Berufe Ge-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 7


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

sellschafter von Berufsausübungsgesellschaften<br />

sein dürfen. Hierunter fallen alle Berufe, die<br />

Rechtsanwälte bereits jetzt als Zweitberuf ausüben<br />

dürfen. Eine solche Öffnung würde bedeuten,<br />

dass Anwälte sich mit beinahe jedem Berufstätigen<br />

zur gemeinschaftlichen Berufsausübung<br />

zusammenschließen dürften. Im Wesentlichen<br />

wäre ihnen nur die berufliche Zusammenarbeit<br />

mit Maklern verwehrt, deren Provisionsinteresse<br />

sich anerkanntermaßen nicht mit der anwaltlichen<br />

Unabhängigkeit verträgt (vgl. HENSSLER in<br />

HENSSLER/PRÜTTING, BRAO, 5. Aufl. 2<strong>01</strong>9, § 7 Rn 105).<br />

Im Übrigen dürfte es gegen die Vorstellungen<br />

des BMJV, die in vielerlei Hinsicht dem Gesetzesvorschlag<br />

folgen, den der Kölner Universitätsprofessor<br />

MARTIN HENSSLER 2<strong>01</strong>8 im Auftrag des<br />

DAV (AnwBl Online 2<strong>01</strong>8, 564; vgl. auch DAV-<br />

Stellungnahme Nr. 8/2<strong>01</strong>9, AnwBl Online 2<strong>01</strong>9,<br />

257) ausgearbeitet hat, keine grundsätzlichen<br />

Vorbehalte geben. Festgeschrieben werden soll<br />

etwa, dass einer Berufsausübungsgesellschaft<br />

alle nationalen und europäischen Rechtsformen<br />

zur Verfügung stehen. Erst im Rahmen des<br />

für diese Legislaturperiode ebenfalls vorgesehenen<br />

Gesetzesvorhabens zur Modernisierung des<br />

Personengesellschaftsrechts soll allerdings entschieden<br />

werden, ob den Anwälten künftig sogar<br />

– wie von vielen Seiten gefordert – die GmbH &<br />

Co. KG als Rechtsform eröffnet wird. Dagegen<br />

soll erstmals in der BRAO das Schicksal ausländischer<br />

Berufsausübungsgesellschaften, die<br />

(auch) auf dem deutschen Markt auftreten<br />

wollen, geregelt werden.<br />

Allgemein sollen für die Berufsausübungsgesellschaften<br />

rechtsformneutrale und soweit wie<br />

möglich einheitliche berufsrechtliche Regelungen<br />

geschaffen werden. Teil dieses rechtsformneutralen<br />

Ansatzes ist es, dass künftig für sämtliche<br />

Berufsausübungsgesellschaften auf Mehrheitserfordernisse<br />

für Gesellschafter sowie Geschäftsführer<br />

verzichtet werden soll, wie sie die BRAO<br />

bislang für die interprofessionelle Zusammenarbeit<br />

in einer GmbH formuliert. Das BMJV will<br />

zudem der Berufsausübungsgesellschaft selbst<br />

und nicht mehr nur den in ihr zusammengeschlossenen<br />

Anwälten eine berufsrechtliche<br />

Stellung zubilligen. So sollen in Zukunft auch<br />

Berufsausübungsgesellschaften samt der Namen<br />

der in ihnen tätigen Rechtsanwälte in einem von<br />

der BRAK geführten elektronischen Verzeichnis<br />

erfasst werden. Auf diese Weise soll Transparenz<br />

für den Rechtsverkehr geschaffen werden. Außerdem<br />

soll im Gesetz verankert werden, dass<br />

Berufsausübungsgesellschaften jeder Rechtsform<br />

selbst befugt sind, Rechtsdienstleistungen zu<br />

erbringen, sowie dass solche Gesellschaften vor<br />

Gericht postulationsfähig sind, soweit sie durch<br />

persönlich befugte Personen handeln. Schließlich<br />

sollen Berufsausübungsgesellschaften selbst Träger<br />

von Berufspflichten und Adressaten berufsrechtlicher<br />

Sanktionen werden können. Wie<br />

eine Berufsausübungsgesellschaft die Einhaltung<br />

des Berufsrechts sicherstellt, soll ihr dabei selbst<br />

überlassen werden. Der zum Teil geäußerte<br />

Vorschlag, einen gesonderten Berufsrechtsbeauftragten<br />

oder „Compliance Officer“ zu benennen,<br />

wurde vom BMJV nicht aufgegriffen. Zudem<br />

sollen Berufsausübungsgesellschaften künftig<br />

eine eigenständige Berufshaftpflichtversicherung<br />

abschließen und unterhalten müssen.<br />

Hiermit verbunden werden soll eine eigenständige<br />

berufsrechtliche Zulassung aller anwaltlichen<br />

Berufsausübungsgesellschaften, die das<br />

Gesetz bislang nur für die Rechtsanwaltsgesellschaft<br />

mbH vorsieht. In unproblematischen<br />

Fällen wie etwa bei der Bildung monoprofessioneller<br />

Berufsausübungsgesellschaften soll aber<br />

zur Vermeidung unnötiger bürokratischer Hürden<br />

ein Anzeigeverfahren genügen.<br />

2. Verbraucherschutz im Inkassorecht<br />

Im Bereich des Inkassowesens hat der Gesetzgeber<br />

zuletzt das Gesetz gegen unseriöse Geschäftspraktiken<br />

vom 1.10.2<strong>01</strong>3 (BGBl I 2<strong>01</strong>3,<br />

S. 3714) erlassen, mit dem für Rechtsanwälte<br />

sowie Inkassodienstleister Darlegungs- und Informationspflichten<br />

eingeführt wurden, die gewährleisten<br />

sollten, dass Schuldner die gegen sie<br />

erhobenen Forderungen vollständig nachvollziehen<br />

können. Zudem wurden die Aufsichtsbefugnisse<br />

gegenüber Inkassodienstleistern erweitert.<br />

Nachdem das Gesetz im Jahr 2<strong>01</strong>8 evaluiert<br />

worden ist, hat das BMJV vor, weiterhin bestehende<br />

Missstände durch das geplante Gesetz zur<br />

Verbesserung des Verbraucherschutzes im Inkassorecht<br />

abzustellen. Dem BMJV ist v.a. die Höhe<br />

der Inkassokosten ein Dorn im Auge. Insbesondere<br />

bei geringen Forderungen werde das aktuelle<br />

Missverhältnis augenfällig. Der Referentenentwurf<br />

(s. dazu auch JÄCKLE VuR 2<strong>01</strong>9, 443) sieht<br />

in Ergänzung der in Nr. 2300 VV RVG bereits<br />

bestimmten allgemeinen Schwellengebühr auch<br />

eine besondere Schwellengebühr für die Ein-<br />

8 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

ziehung unbestrittener Forderungen vor. Die<br />

Schwelle soll dabei bei einem Gebührensatz von<br />

0,7 liegen. Zudem soll die bislang unterschiedliche<br />

kostenrechtliche Behandlung von Inkassodienstleistern<br />

und Rechtsanwälten im gerichtlichen<br />

Mahnverfahren aufgehoben werden. Darüber<br />

hinaus sollen Schuldner über die beim Abschluss<br />

von Zahlungsvereinbarungen entstehenden Kosten<br />

und die Rechtsfolgen von Schuldanerkenntnissen<br />

aufgeklärt werden müssen. Die Anforderungen<br />

an die Eignung und Zuverlässigkeit nach<br />

dem RDG zu registrierender Personen will man<br />

eindeutig im RDG selbst festschreiben. Im Bereich<br />

der Aufsicht sollen die Bedeutung von Untersagungsverfügungen<br />

sowie die Transparenz für die<br />

Bürger gestärkt und weitere Zentralisierungen<br />

gefördert werden.<br />

Das Vorhaben stößt bei BRAK und DAV auf große<br />

Kritik (vgl. Anwaltsmagazin <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 1214). Die<br />

geplanten Regelungen bei der Rechtsanwaltsvergütung,<br />

die zu einer Herabsetzung des anwaltlichen<br />

Honorars führen würden, seien v.a. in<br />

einer Zeit, in der die Anwaltschaft für eine längst<br />

überfällige Anpassung der gesetzlichen Rechtsanwaltsgebühren<br />

streite, völlig inakzeptabel. Die<br />

beabsichtigte Gleichstellung von Rechtsanwaltschaft<br />

und Inkassodienstleistern sei vor dem<br />

Hintergrund, dass Inkassodienstleistern anders<br />

als Rechtsanwälten die Vereinbarung eines Erfolgshonorars<br />

erlaubt ist, fragwürdig. Die erweiterten<br />

Hinweispflichten gegenüber der Gegenpartei<br />

würden gegen das Verbot der Vertretung<br />

widerstreitender Interessen verstoßen und den<br />

Anwalt zum „Diener zweier Herren“ machen.<br />

Weitere Kritik kommt aus der Legal-Tech-Branche.<br />

Vonseiten des Branchenverbands „Bundesverband<br />

Start-Up-Unternehmen“ wird behauptet,<br />

die Neuregelungen sollten die Zulassung und<br />

Registrierung der oftmals als Inkassodienstleister<br />

registrierten Legal-Tech-Anbieter erschweren.<br />

3. Sonstiges<br />

In der jüngeren Vergangenheit wurden weitere<br />

rechtspolitische Forderungen erhoben. Neben der<br />

überfälligen Erhöhung der RVG-Gebühren, die<br />

zurzeit noch von Bundesländern angesichts zu<br />

erwartender Mehrausgaben für Beratungs- und<br />

Prozesskostenhilfe blockiert wird, wird etwa die<br />

Reform der BGH-Anwaltschaft und des komplizierten<br />

Wahlverfahrens diskutiert (dazu DECKEN-<br />

BROCK ZRP 2<strong>01</strong>8, 106). Auch sind Forderungen laut<br />

geworden, für Insolvenzverwalter ausführlichere<br />

berufsrechtliche Regelungen zu schaffen und sie<br />

einer Kammeraufsicht zu unterwerfen. Während<br />

manche die Einführung einer Insolvenzverwalterkammer<br />

befürworten (VALLENDER NZI 2<strong>01</strong>7, 641),<br />

verweist etwa die BRAK darauf, dass 95 % der<br />

Insolvenzverfahren derzeit von Mitgliedern der<br />

Rechtsanwaltskammern betreut werden und es<br />

deshalb sinnvoll sei, die Berufsaufsicht über die<br />

Insolvenzverwalter von den Rechtsanwaltskammern<br />

vornehmen zu lassen und sie so in ein<br />

effektives und etabliertes Selbstverwaltungssystem<br />

zu integrieren.<br />

Dagegen ist das auch für die Anwaltschaft<br />

wichtige (vgl. bereits DECKENBROCK/MARKWORTH Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 115, 117 f.; UWER AnwBl<br />

Online 2<strong>01</strong>9, 327, 329 f.) Gesetz zum Schutz von<br />

Geschäftsgeheimnissen (GeschGehG) bereits am<br />

26.4.2<strong>01</strong>9 in Kraft getreten (BGBl I, S. 466). Es hat<br />

einen in sich stimmigen Schutz vor rechtswidriger<br />

Erlangung, Nutzung und Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen<br />

zum Ziel (dazu DANN/MARK-<br />

GRAF NJW 2<strong>01</strong>9, 1774).<br />

Auch auf der Ebene der Satzungsversammlung<br />

wurden wichtige Entscheidungen getroffen. Seit<br />

dem 1.7.2<strong>01</strong>9 ist es Anwälten infolge einer<br />

Ergänzung der FAO (vgl. § 5 Abs. 1 Buchst. x,<br />

§ 14q) möglich, die Verleihung einer Fachanwaltsbezeichnung<br />

für das Sportrecht zu<br />

beantragen (zu Einzelheiten DECKENBROCK/MARK-<br />

WORTH Berufsrechtsreport <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 115, 117).<br />

Zum 1.1.<strong>2020</strong> (vgl. BRAK-Mitt. 2<strong>01</strong>9, 245) trat<br />

eine Änderung des § 2 BORA in Kraft (dazu<br />

GASTEYER/HERMESMEIER BRAK-Mitt. 2<strong>01</strong>9, 227). Aus<br />

§ 2 Abs. 2 BORA ergibt sich nunmehr explizit,<br />

dass zwischen Rechtsanwalt und Mandant die<br />

Nutzung eines elektronischen oder sonstigen<br />

Kommunikationswegs, der mit Risiken für die<br />

Vertraulichkeit dieser Kommunikation verbunden<br />

ist, jedenfalls dann erlaubt ist, wenn der<br />

Mandant ihr zustimmt. Von einer Zustimmung<br />

ist dabei auszugehen, wenn der Mandant diesen<br />

Kommunikationsweg vorschlägt oder beginnt<br />

und ihn, nachdem der Rechtsanwalt zumindest<br />

pauschal und ohne technische Details auf die<br />

Risiken hingewiesen hat, fortsetzt. Allerdings<br />

bringt die Ergänzung des § 2 BORA nur in<br />

berufsrechtlicher Hinsicht Klarheit, das BMJV<br />

hat im Rahmen der Billigung der Änderung<br />

klargestellt, dass § 2 Abs. 2 BORA die Regelungen<br />

der DSGVO nicht verdränge.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 9


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

III. Zulassungsrecht<br />

1. Eintragung eines Mönchs als Rechtsanwalt<br />

Der EuGH hatte sich in seinem Urt. v. 7.5.2<strong>01</strong>9 (C-<br />

431/17 – Monachos Eirinaios m. Anm. POHL BRAK-<br />

Mitt. 2<strong>01</strong>9, 191) mit einem Mönch zu befassen,<br />

dessen Eintragung in das besondere Verzeichnis<br />

der Rechtsanwaltskammer Athen (Griechenland)<br />

als Rechtsanwalt, der seine Berufsqualifikation in<br />

einem anderen Mitgliedstaat, nämlich in Zypern,<br />

erworben hatte, abgelehnt worden war. Problematisch<br />

an dem Antrag war, dass die Eigenschaft<br />

als Mönch und die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs<br />

zwar in Zypern unproblematisch, in Griechenland<br />

jedoch als unvereinbar angesehen werden.<br />

Der EuGH kam jedoch zu dem Schluss, dass<br />

die Eintragung nicht hätte versagt werden dürfen.<br />

Denn die Niederlassungs-Richtlinie für Rechtsanwälte<br />

(RL 98/5/EG) mache die Zulassung in<br />

ihrem Art. 3 Abs. 2 lediglich von der Vorlage einer<br />

Bescheinigung aus dem Herkunftsstaat abhängig<br />

und erlaube es nicht, zusätzliche Voraussetzungen<br />

in Bezug auf die Einhaltung von berufs- und<br />

standesrechtlichen Anforderungen aufzustellen<br />

(vgl. u.a. bereits EuGH, Urt. v. 17.7.2<strong>01</strong>4 – C-58/13,<br />

C-59/13 – Torresi). Für das deutsche Recht folgt<br />

aus der Entscheidung, dass die in § 4 EuRAG<br />

enthaltene Verweisung auf die Zulassungsgründe<br />

der BRAO voraussichtlich als europarechtswidrig<br />

anzusehen ist (GRUNEWALD NJW 2<strong>01</strong>9, 3620, 3622;<br />

POHL BRAK-Mitt. 2<strong>01</strong>9, 191, 194 f.).<br />

2. Widerruf der Rechtsanwaltszulassung<br />

eines verbeamteten Hochschullehrers<br />

Nach § 14 Abs. 2 Nr. 5 BRAO ist die Zulassung zur<br />

Rechtsanwaltschaft u.a. dann zu widerrufen,<br />

wenn der Rechtsanwalt zum Beamten auf Lebenszeit<br />

ernannt wird und nicht auf die Rechte<br />

aus der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft verzichtet.<br />

Der Anwaltssenat des BGH hat – durch<br />

das BVerfG gebilligt (vgl. Beschl. v. 30.6.2009 –<br />

1 BvR 893/09; Beschl. v. 15.3.2007 – 1 BvR 1887/06)<br />

– bereits entschieden, dass diese Regelung nicht<br />

gegen das Grundgesetz verstößt (vgl. Beschl. v.<br />

10.10.2<strong>01</strong>1 – AnwZ [B] 10/10; Beschl. v. 6.7.2009 –<br />

AnwZ [B] 52/08). Es war daher absehbar, dass den<br />

durch eine Rechtsanwältin, die eine Stelle als<br />

Professorin angenommen und deshalb Beamtin<br />

(zunächst auf Probe, später auf Lebenszeit)<br />

geworden war, unternommenen erneuten Anstrengungen<br />

zur verfassungsrechtlichen Missbilligung<br />

des § 14 Abs. 2 Nr. 5 BRAO kein Erfolg<br />

beschieden sein würde. In seinem Beschl. v.<br />

26.2.2<strong>01</strong>9 (AnwZ [Brfg] 49/18 m. Anm. RING DStR<br />

2<strong>01</strong>9, 2334) stellte der Anwaltssenat insb. fest,<br />

dass die Vorschrift mit dem allgemeinen Gleichheitssatz<br />

in Einklang stehe. Es sei nicht gleichheitswidrig,<br />

dass Rechtsanwälte als Lehrbeauftragte<br />

und als Prüfer an Hochschulen tätig sein<br />

dürften, ihnen die Tätigkeit als beamtete Hochschullehrer<br />

jedoch verschlossen sei.<br />

3. Zulassungswiderruf wegen Vermögensverfalls<br />

Verfahren, die den Widerruf der Zulassung zur<br />

Rechtsanwaltschaft wegen eingetretenen Vermögensverfalls<br />

zum Gegenstand haben, machen<br />

traditionell den Hauptanteil der Entscheidungen<br />

des Anwaltssenats aus. Dies gilt auch für 2<strong>01</strong>9.<br />

Dass Anwälte, die sich gegen den Zulassungswiderruf<br />

wenden, regelmäßig keinen Erfolg haben,<br />

liegt v.a. daran, dass nach der Rechtsprechung des<br />

Anwaltssenats maßgeblicher Zeitpunkt für die<br />

Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Widerrufs<br />

der Abschluss des behördlichen Verfahrens, also<br />

der Zeitpunkt des Ausspruchs der Widerrufsverfügung<br />

bzw. – wenn das Landesrecht ein Widerspruchsverfahren<br />

vorsieht – des Erlasses des<br />

Widerspruchsbescheids ist. Eine danach eintretende<br />

Konsolidierung der wirtschaftlichen Verhältnisse<br />

ist nur in einem Wiederzulassungsverfahren<br />

zu berücksichtigen (grundlegend BGH, Beschl. v.<br />

29.6.2<strong>01</strong>1 – AnwZ [Brfg] 11/10 Rn 9 ff.; s. dazu<br />

DECKENBROCK AnwBl 2<strong>01</strong>5, 365, 373 f. sowie jetzt<br />

zudem etwa BGH, Beschl. v. 5.4.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg]<br />

3/19; Beschl. v. 18.2.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 65/17 und<br />

dazu JURETZEK DStR 2<strong>01</strong>9, 2382).<br />

Mit dem Vermögensverfall ist wiederum grds.<br />

eine Gefährdung der Interessen der Rechtsuchenden<br />

verbunden (vgl. etwa BGH, Beschl. v.<br />

5.4.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 3/19). Diese Gefährdung zu<br />

widerlegen, wird i.d.R. nicht gelingen. So betont<br />

der BGH, dass eine Widerlegung nur in Ausnahmefällen<br />

in Betracht komme und den Rechtsanwalt<br />

insofern die Feststellungslast treffe. Dafür<br />

müsste der Rechtsanwalt seine anwaltliche Tätigkeit<br />

mindestens insofern beschränkt haben,<br />

dass er sie nur noch für eine Rechtsanwaltssozietät<br />

ausübe und mit dieser rechtlich abgesicherte<br />

Maßnahmen verabredet habe, die<br />

eine Gefährdung der Mandanten effektiv verhindern.<br />

Die Anstellung des in Vermögensverfall<br />

geratenen Rechtsanwalts bei einem Einzel-<br />

10 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

anwalt reiche dagegen grds. nicht aus, da eine<br />

ausreichende Überwachung der notwendigen<br />

Sicherungsmaßnahmen dann nicht gewährleistet<br />

sei. Insbesondere während der Urlaubszeit oder<br />

bei einer etwaigen Erkrankung des Einzelanwalts<br />

werde eine Gefährdung der Rechtsuchenden<br />

nicht wirksam verhindert.<br />

ihm die Zulassung zu versagen, wenn und da ihnen<br />

kein besonderes Gewicht beizumessen ist, die<br />

Wiederzulassung des Antragstellers zu oder vor<br />

dem Zeitpunkt der Verfehlungen auf einen entsprechenden<br />

Antrag hin bereits ernstlich in Betracht<br />

gekommen wäre und seit ihrer Begehung<br />

wieder ein Zeitraum von fünf Jahren vergangen ist.<br />

4. Wiederzulassung trotz früherer Straftaten<br />

Nach § 7 Nr. 5 BRAO ist die Zulassung zur<br />

Rechtsanwaltschaft zu versagen, wenn die antragstellende<br />

Person sich eines Verhaltens schuldig<br />

gemacht hat, das sie unwürdig erscheinen lässt,<br />

den Beruf eines Rechtsanwalts auszuüben. Im<br />

vergangenen Jahr hatte der BGH wiederum Gelegenheit,<br />

diesen auslegungsbedürftigen Tatbestand<br />

auszufüllen (Urt. v. 14.1.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 70/17 m.<br />

Anm. RING DStR 2<strong>01</strong>9, 895). Unter Berücksichtigung<br />

der Rechtsprechung des BVerfG (Beschl. v.<br />

22.10.2<strong>01</strong>7 – 1 BvR 1822/16; dazu DECKENBROCK/<br />

MARKWORTH Berufsrechtsreport <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>8, 57, 62 f.)<br />

hebt der Anwaltssenat hervor, dass die Versagung<br />

der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft wegen<br />

Unwürdigkeit voraussetze, dass der Bewerber ein<br />

Verhalten gezeigt hat, dass ihn bei Abwägung aller<br />

erheblichen Umstände nach seiner Gesamtpersönlichkeit<br />

für den Anwaltsberuf nicht tragbar<br />

erscheinen lässt. Auch eine durch ein besonders<br />

schwerwiegendes Fehlverhalten begründete Unwürdigkeit<br />

könne allerdings durch Zeitablauf und<br />

Wohlverhalten des Bewerbers derart an Bedeutung<br />

verloren haben, dass sie der Zulassung des<br />

Bewerbers nicht mehr im Wege stehe. Dies sei bei<br />

Straftaten, die im Zusammenhang mit der früheren<br />

Tätigkeit als Rechtsanwalt begangen wurden,<br />

30 Jahre nach ihrer Begehung regelmäßig der Fall.<br />

Im Streitfall konnte daher dem Antragsteller, der<br />

1992 wegen in den Jahren 1987 bis 1989 begangener<br />

Straftaten der Untreue in acht Fällen sowie des<br />

Betrugs und der Gebührenüberhebung zu einer<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als drei Jahren<br />

verurteilt worden war, sein früheres Fehlverhalten<br />

nicht entgegengehalten werden. Da hinsichtlich<br />

dieser strafgerichtlichen Verurteilung die Tilgungsfrist<br />

nach §§ 36 S. 1, 46 Abs. 3 BZRG abgelaufen ist,<br />

habe sich der Anwalt in dem Fragebogen zum<br />

Antrag auf Wiederzulassung zur Rechtsanwaltschaft<br />

gem. § 53 Abs. 1 Nr. 2 BZRG zudem als<br />

unbestraft bezeichnen dürfen. Schließlich seien<br />

auch einzelne Verstöße des Antragstellers gegen<br />

das Rechtsdienstleistungsgesetz nicht geeignet,<br />

5. Verkürzung der Wiederzulassungsfrist<br />

Wurde ein Rechtsanwalt durch rechtskräftiges<br />

Urteil aus der Anwaltschaft ausgeschlossen, so<br />

ist ihm gem. § 7 Nr. 3 BRAO für acht Jahre<br />

nach Rechtskraft des Urteils die Wiederzulassung<br />

zu versagen. Offen war bislang jedoch,<br />

ob das über den Ausschluss befindende Gericht<br />

mit bindender Wirkung für das erneute<br />

Zulassungsverfahren die Wiederzulassungsfrist<br />

„kompensatorisch“ verkürzen kann, insb. um<br />

rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen<br />

Rechnung zu tragen. Der Anwaltssenat hat dies<br />

in seinem Urt. v. 30.9.2<strong>01</strong>9 (AnwZ [Brfg] 32/18)<br />

bejaht, wobei er Parallelen zur sog. Vollstreckungslösung<br />

der Strafgerichte, bei der die<br />

gerichtliche Sanktion in Ansehung der Verfahrensdauer<br />

minimiert wird, gezogen hat. Auch<br />

berufsgerichtliche Disziplinarverfahren nach der<br />

BRAO unterlägen dem Gebot der Durchführung<br />

des Verfahrens in angemessener Zeit. Zudem sei<br />

das Recht der Ahndung von Pflichtverletzungen<br />

durch Anwälte an das Straf- und das Strafprozessrecht<br />

angelehnt.<br />

6. Syndikusrechtsanwälte<br />

Inzwischen ist das vierte Jahr nach Inkrafttreten<br />

des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der<br />

Syndikusanwälte und zur Änderung der Finanzgerichtsordnung<br />

am 1.1.2<strong>01</strong>6, durch das die berufsrechtliche<br />

Stellung der Syndikusrechtsanwälte in<br />

den §§ 46 ff. BRAO neu geregelt wurde, zu Ende<br />

gegangen (vgl. zur anstehenden Evaluation des<br />

Gesetzes FREUNDORFER AnwBl Online 2<strong>01</strong>9, 646<br />

sowie zur Frage, ob Regelungsbedarf bei der<br />

rückwirkenden Befreiung von Syndikusrechtsanwälten<br />

von der Rentenversicherungspflicht besteht,<br />

BT-Drucks 19/13808 sowie Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 1215). Auch in diesem Jahr wurden viele<br />

Fragen, die die Reform aufgeworfen hat, höchstrichterlich<br />

geklärt (vgl. auch den neuen Überblicksbeitrag<br />

von KILIAN DStR 2<strong>01</strong>9, 1094 sowie zuvor<br />

bereits WALLNER BRAK-Mitt. 2<strong>01</strong>9, 58 und POSEGGA<br />

DStR 2<strong>01</strong>8, 1372).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 11


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

a) Anwaltliche Prägung<br />

Nach § 46 Abs. 3 BRAO setzt die Zulassung<br />

eines Unternehmensjuristen zur Syndikusrechtsanwaltschaft<br />

voraus, dass das Arbeitsverhältnis<br />

durch fachlich unabhängig und eigenverantwortlich<br />

auszuübende anwaltliche Tätigkeiten<br />

geprägt ist. Der Anwaltssenat hat diese gesetzliche<br />

Vorgabe nun insoweit präzisiert, als es für<br />

die anwaltliche Prägung des Arbeitsverhältnisses<br />

entscheidend darauf ankommen soll, dass die<br />

anwaltliche Tätigkeit den Kern oder Schwerpunkt<br />

der Tätigkeit darstellt, mithin dass das<br />

Arbeitsverhältnis durch die anwaltliche Tätigkeit<br />

beherrscht wird (Urt. v. 30.9.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg]<br />

63/17, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 744/2<strong>01</strong>9; s. auch Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 1278 f.). Dabei soll ein Anteil<br />

von 65 % anwaltlicher Tätigkeit am unteren<br />

Rand des für eine anwaltliche Prägung des<br />

Arbeitsverhältnisses Erforderlichen liegen. Bemerkenswert<br />

ist auch die Feststellung des<br />

Senats, dass die Darlegung der quantitativen<br />

Prägung des Arbeitsverhältnisses grds. genüge.<br />

Da anwaltliche Tätigkeit grds. keine geringwertige<br />

Tätigkeit darstelle, könne für die qualitative<br />

Prägung regelmäßig keine andere Beurteilung<br />

gelten. In einer anderen Entscheidung<br />

hat der Senat „mindestens 60 %, zeitweise eher<br />

70 %“ anwaltliche Tätigkeit als ausreichend erachtet<br />

(BGH, Urt. v. 14.1.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 25/18<br />

m. Anm. FREUNDORFER NJW 2<strong>01</strong>9, 930; vgl. auch<br />

BGH, Beschl. v. 14.1.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 29/17).<br />

Später hat er diese Ausführungen noch dahingehend<br />

präzisiert, dass 67 % anwaltliche Tätigkeit<br />

genüge (BGH, Beschl. v. 27.2.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg]<br />

36/17). Damit dürfte eine lediglich knapp einen<br />

Umfang von 50 % übersteigende anwaltliche<br />

Tätigkeit (vgl. insoweit TEMMING/DALMER AnwBl<br />

Online 2<strong>01</strong>8, 916) für eine Zulassung nicht<br />

genügen.<br />

b) Fachliche Unabhängigkeit<br />

Darüber hinaus hatte sich der Anwaltssenat auch<br />

wiederum mit dem Kriterium der fachlichen<br />

Unabhängigkeit zu beschäftigen. Nach § 46 Abs. 4<br />

S. 1 BRAO übt eine fachlich unabhängige Tätigkeit<br />

gem. § 46 Abs. 3 BRAO nicht aus, wer sich an<br />

Weisungen zu halten hat, die eine eigenständige<br />

Analyse der Rechtslage und eine einzelfallorientierte<br />

Rechtsberatung ausschließen. Dem steht<br />

nicht entgegen, wenn ein Syndikusrechtsanwalt<br />

Vorlagen zur rechtlichen Prüfung zu erstellen hat,<br />

von denen der Arbeitgeber nach eigener Entscheidung<br />

abweichen kann (BGH, Beschl. v.<br />

26.6.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 29/19). Unschädlich soll<br />

es zudem jedenfalls sein, wenn die Entscheidungsbefugnis<br />

des Antragstellers bei einem Teil seiner<br />

anwaltlichen Tätigkeit (20–30 %), durch ein<br />

Weisungsrecht eingeschränkt ist (BGH, Beschl.<br />

v. 14.1.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 29/17). Eine die Syndikuszulassung<br />

verhindernde Weisungsunterworfenheit<br />

kann sich – wie der Anwaltssenat bereits zuvor<br />

festgestellt hat – insb. aus innerbetrieblichen<br />

Vorschriften ergeben. Unternehmensinterne reine<br />

Compliance-Vorschriften ohne fachlichen Bezug<br />

spielen insofern aber keine Rolle (BGH, Beschl. v.<br />

26.6.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 29/19; Beschl. v. 29.1.2<strong>01</strong>9<br />

– AnwZ [Brfg] 16/18). Auch die Tatsache, dass die<br />

fachliche Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit<br />

faktisch durch die Möglichkeit der – missbräuchlichen<br />

– Versetzung oder der Drohung mit ihr<br />

eingeschränkt sein könne, schließt die Zulassung<br />

nicht aus (BGH, Beschl. v. 26.6.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg]<br />

29/19).<br />

c) Keine Vertretungsbefugnis erforderlich<br />

In seinem hier bereits angesprochenen Urt. v.<br />

30.9.2<strong>01</strong>9 ist der Anwaltssenat auch darauf eingegangen,<br />

was unter der für die Syndikuszulassung<br />

gem. § 46 Abs. 3 Nr. 4 BRAO erforderlichen<br />

Befugnis, nach außen verantwortlich aufzutreten,<br />

zu verstehen ist. Bereits zum Jahresanfang hatte<br />

der Anwaltssenat entschieden, dass zur Erfüllung<br />

des Merkmals das Vorliegen einer Alleinvertretungsbefugnis<br />

nicht zu fordern sei (Urt. v. 14.1.2<strong>01</strong>9<br />

– AnwZ [Brfg] 25/18 m. Anm. FREUNDORFER NJW<br />

2<strong>01</strong>9, 930; Beschl. v. 14.1.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 29/17;<br />

BGH, Beschl. v. 27.2.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 36/17).<br />

Nunmehr hat er ergänzend ausgeführt, dass<br />

die Syndikuszulassung auch eine Gesamtvertretungsbefugnis<br />

nicht zwingend voraussetze (Urt.<br />

v. 30.9.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 63/17). Die Befugnis,<br />

nach außen verantwortlich aufzutreten, könne<br />

sich im Einzelfall auch bereits aus der selbstständigen<br />

Führung von Verhandlungen im Außenverhältnis<br />

oder der wesentlichen Teilhabe an<br />

Abstimmungs- und Entscheidungsprozessen im<br />

Innenverhältnis ergeben. Dieses Ergebnis leitet<br />

der Senat aus einem Vergleich mit den typischen<br />

Handlungsbefugnissen eines externen Rechtsanwalts<br />

ab, der mit der Führung außergerichtlicher<br />

Verhandlungen beauftragt werde. Auch dessen<br />

Tätigkeit werde nicht danach bewertet, ob er<br />

schlussendlich die ausgehandelte Vereinbarung<br />

als Vertreter seines Auftraggebers verbindlich<br />

abschließe, sondern nach Umfang und Qualität<br />

seines Handelns im Vorfeld.<br />

12 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

d) Angelegenheiten des Arbeitgebers<br />

In einem weiteren Beschl. v. 16.8.2<strong>01</strong>9 hat der<br />

Anwaltssenat wieder einmal Stellung zum<br />

Merkmal der „Tätigkeit in Angelegenheiten des<br />

Arbeitgebers“ genommen (AnwZ [Brfg] 58/18).<br />

Der Senat sieht § 46 Abs. 5 BRAO nicht lediglich<br />

als Beschränkung der Rechtsdienstleistungsbefugnis,<br />

sondern neben § 46 Abs. 2–4 BRAO<br />

als weitere tatbestandliche Voraussetzung für<br />

die Zulassung als Syndikusrechtsanwalt an. Im<br />

konkreten Fall lässt der Senat die Zulassung<br />

deshalb daran scheitern, dass in Rechtsangelegenheiten<br />

des Arbeitgebers nach § 46 Abs. 2 S. 1,<br />

Abs. 5 S. 1, 2 BRAO nicht tätig sei, wer als<br />

Schadenanwältin von einem Versicherungsmakler<br />

für die Abwicklung von Großschäden eingesetzt<br />

werde. Denn der Schadenanwalt nehme<br />

(wie der externe Datenschutzbeauftragte und<br />

der Rentenberater) Angelegenheiten der Kunden<br />

und nicht solche seines Arbeitgebers wahr. Nach<br />

dieser zweifelhaften Auffassung (vgl. HUFF NJW<br />

2<strong>01</strong>9, 3456) soll es daher keine Rolle spielen, dass<br />

sich der Versicherungsmakler schuldrechtlich<br />

gegenüber seinen Kunden zur Durchführung<br />

der Schadensfallbearbeitung verpflichtet habe.<br />

e) Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst<br />

Auch im Jahr 2<strong>01</strong>9 hatte sich der Anwaltssenat<br />

mit der Frage zu befassen, inwiefern die Zulassung<br />

als Syndikusrechtsanwalt auch für ein<br />

Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst möglich<br />

ist. Nach Auffassung des Anwaltssenats (zuletzt<br />

Urt. v. 30.9.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 38/18 m. Anm.<br />

OFFERMANN-BURCKART NJW 2<strong>01</strong>9, 3648; Urt. v.<br />

6.5.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 31/17) gelte der Zulassungsversagungsgrund<br />

nach § 7 Nr. 8 BRAO<br />

gem. § 46a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BRAO auch für die<br />

Beantragung der Zulassung als Syndikusrechtsanwalt.<br />

Jedoch könnten für die Beurteilung der<br />

Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen<br />

eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst einer<br />

Zulassung als Syndikusrechtsanwalt entgegenstehen<br />

kann, die strengen Grundsätze der<br />

Rechtsprechung des Senats zu einem mit dem<br />

Beruf des Rechtsanwalts nicht zu vereinbarenden<br />

Zweitberuf nach § 7 Nr. 8 BRAO nicht<br />

uneingeschränkt übertragen werden. Im Rahmen<br />

der Prüfung nach §§ 46a Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 7<br />

Nr. 8 BRAO sei ein großzügigerer Maßstab<br />

anzulegen.<br />

So erfülle eine nicht hoheitlich tätige Angestellte<br />

einer Krankenkasse (Körperschaft des öffentlichen<br />

Rechts) die Voraussetzungen für eine Zulassung<br />

als Syndikusrechtsanwältin (Urt. v. 30.9.2<strong>01</strong>9 –<br />

AnwZ [Brfg] 38/18). Es stehe der Zulassung<br />

nicht entgegen, dass sie die Entscheidungen des<br />

Widerspruchsausschusses der Krankenkasse im<br />

Mitgliedschafts- und Beitragsrecht als „rechtliche<br />

Prüfstelle“ vorbereitet habe, da sie nicht intern<br />

verbindlich über die Widersprüche entscheide und<br />

weder für den Erlass der Bescheide zuständig noch<br />

gegenüber der entscheidenden Stelle weisungsbefugt<br />

war. Die Vorbereitung hoheitlicher Maßnahmen<br />

durch Stellungnahmen, Rechtsgutachten,<br />

mündliche oder schriftliche Beratungen<br />

sowie Fertigung von Entscheidungsentwürfen<br />

stelle kein Zulassungshindernis dar, ohne dass es<br />

darauf ankomme, wie häufig einem Entscheidungsvorschlag<br />

gefolgt wird. Auch im Rahmen<br />

der Vertretung ihrer Arbeitgeberin vor den Sozialgerichten<br />

habe die Antragstellerin nicht hoheitlich<br />

gehandelt. Dementsprechend war zuvor auch<br />

einer Angestellten im Rechtsamt eines Landkreises<br />

die Syndikuszulassung nicht versagt worden<br />

(Urt. v. 6.5.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 31/17).<br />

Demgegenüber scheidet eine Syndikusrechtsanwaltszulassung<br />

aus, wenn der Antragsteller<br />

am Erlass hoheitlicher Maßnahmen mit Entscheidungsbefugnis<br />

beteiligt ist, wobei es weder<br />

auf den Umfang der hoheitlichen Tätigkeit im<br />

Verhältnis zur Gesamttätigkeit noch darauf ankommen<br />

soll, ob der Antragsteller als Entscheidungsträger<br />

nach außen auftritt oder erkennbar<br />

ist (Urt. v. 30.9.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 38/18; sog.<br />

„Infektionstheorie“, vgl. OFFERMANN-BURCKART NJW<br />

2<strong>01</strong>9, 3648).<br />

f) Elternzeit<br />

In einem Beschl. v. 18.3.2<strong>01</strong>9 (AnwZ [Brfg] 6/18;<br />

dazu MARKWORTH WuB 2<strong>01</strong>9, 415) hatte sich der<br />

Anwaltssenat nach seiner aufsehenerregenden<br />

Betriebsrat-Entscheidung (Urt. v. 29.1.2<strong>01</strong>8 –<br />

AnwZ [Brfg] 12/17; dazu DECKENBROCK/MARKWORTH<br />

Berufsrechtsreport <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 115, 118 f.) erneut<br />

mit der Frage zu beschäftigen, inwiefern sich<br />

Tätigkeitsunterbrechungen auf die Zulassungsfähigkeit<br />

auswirken. Ein Ruhen der die Syndikusrechtsanwaltszulassung<br />

vermittelnden Tätigkeit<br />

aufgrund einer Elternzeit i.S.d. BEEG steht<br />

einer positiven Zulassungsentscheidung nach<br />

Auffassung des Anwaltssenats nicht entgegen,<br />

zumindest solange keine mit der Zulassung<br />

unvereinbare Teilzeittätigkeit i.S.d. § 15 Abs. 4<br />

BEEG aufgenommen werde. Bei dieser Gelegen-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 13


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

heit stellte der Senat auch klar, dass ein Erholungsurlaub<br />

i.S.d. BUrlG oder eine Erkrankung<br />

i.S.d. EZFG als rein vorübergehende und damit<br />

unschädliche Tätigkeitsunterbrechungen anzusehen<br />

seien. Weiterhin offen bleibt, wie Fälle zu<br />

handhaben sind, in denen die Syndikuszulassung<br />

doch einmal temporär zu versagen bzw. zu<br />

widerrufen ist (der Anwaltssenat hat dies im<br />

Hinblick auf die Betriebsratstätigkeit angenommen,<br />

weitere Fälle könnten eine länger andauernde<br />

Erkrankung oder ein Sabbatjahr sein).<br />

Der BGH hat zwar die Auffassung vertreten,<br />

dass Betroffene „keine rentenversicherungspflichtigen<br />

Nachteile zu befürchten“ hätten, es bleibt aber<br />

abzuwarten, ob die Sozialgerichte diese Meinung<br />

teilen werden.<br />

IV. Berufspflichten und -rechte<br />

1. Vertretung widerstreitender Interessen<br />

Ein Anwalt, der mehrere an einem Rechtsstreit<br />

beteiligte Parteien vertritt, spielt mit dem Feuer.<br />

Dies hatte bereits eine letztes Jahr vorgestellte<br />

(DECKENBROCK/MARKWORTH Berufsrechtsreport <strong>ZAP</strong><br />

2<strong>01</strong>9, 115, 120 f.) Entscheidung des 4. Strafsenats<br />

(Beschl. v. 21.11.2<strong>01</strong>8 – 4 StR 15/18 m. Anm.<br />

DECKENBROCK NJW 2<strong>01</strong>9, 318) illustriert (vgl. zudem<br />

BGH, Urt. v. 12.3.2<strong>01</strong>9 – VI ZR 277/18). Der IX.<br />

Zivilsenat (Urt. v. 10.1.2<strong>01</strong>9 – IX ZR 89/18 m. Anm.<br />

DECKENBROCK EWiR 2<strong>01</strong>9, 467) versagte nun einem<br />

Anwalt knapp 1,6 Mio. € Anwaltshonorar, weil er<br />

widerstreitende Interessen vertreten habe. Denn<br />

ein Rechtsanwalt, der mehrere Gesamtschuldner<br />

vertrete, handele berufsrechtswidrig, wenn<br />

das Mandat nicht auf die Abwehr des Anspruchs<br />

im gemeinsamen Interesse der Gesamtschuldner<br />

beschränkt sei und nach den konkreten Umständen<br />

des Falls ein Interessenkonflikt tatsächlich<br />

auftrete. Dies sei regelmäßig zu bejahen,<br />

wenn ein Anwalt in einem zwischen Bauherrn<br />

und Bauunternehmer wegen eines Schadensfalls<br />

geführten selbstständigen Beweisverfahren das<br />

unbeschränkte Mandat zur Vertretung mehrerer<br />

als Streithelfer beigetretener Sonderfachleute,<br />

die teils mit der Planung, teils mit der Bauüberwachung<br />

beauftragt wurden, übernommen<br />

habe. Insoweit sei zu bedenken, dass der beauftragte<br />

Sachverständige, wie in § 485 Abs. 2 ZPO<br />

vorgesehen, nicht nur das Schadensbild festhalten,<br />

sondern auch Feststellungen zu den<br />

Ursachen des Schadensbilds treffen sollte. Die<br />

Antragsteller hätten die Streitverkündungen<br />

gegenüber den Planungsgemeinschaften damit<br />

begründet, dass als Schadensursache neben<br />

Ausführungsfehlern des Antragsgegners auch<br />

Handlungen der Fachplaner und Ingenieure in<br />

Betracht kämen. Weil das Ergebnis des selbstständigen<br />

Beweisverfahrens nach § 493 ZPO in<br />

einem späteren Hauptsacheverfahren berücksichtigt<br />

werden könne, sei den Planungsgemeinschaften,<br />

die in unterschiedlichen Stadien der<br />

Planung verantwortlich gewesen seien, daran<br />

gelegen gewesen, möglichen Feststellungen zu<br />

eigenen Verursachungsbeiträgen bereits jetzt<br />

entgegenzuwirken.<br />

In seiner Entscheidung hat der Senat nochmals<br />

bekräftigt, dass ein Anwaltsvertrag, der eine Vertretung<br />

widerstreitender Interessen begründet,<br />

nichtig sei. Er hat hinzugefügt, dass ein Bereicherungsanspruch<br />

für Leistungen des Rechtsanwalts<br />

ausgeschlossen sei, wenn der Anwalt vorsätzlich<br />

gegen das Verbot verstoßen oder sich der Einsicht<br />

in das Verbotswidrige seines Handelns leichtfertig<br />

verschlossen habe.<br />

2. Fremdgeld<br />

Gemäß § 43a Abs. 5 S. 2 BRAO und § 4 BORA<br />

haben Rechtsanwälte Fremdgelder, die sie im<br />

Mandatsverhältnis erhalten, unverzüglich an den<br />

Empfangsberechtigten weiterzuleiten oder auf ein<br />

Anderkonto einzuzahlen. Bei diesem Vorgang darf<br />

nach Auffassung des OLG Düsseldorf ein Zeitraum<br />

von ca. zwei bis drei Wochen regelmäßig nicht<br />

überschritten werden (Beschl. v. 15.5.2<strong>01</strong>9 – I-24<br />

U 171/18). Eine zwei Wochen nach Zahlungseingang<br />

an den Mandanten versendete „Abschlusskostennote“,<br />

welche die Zahlung nicht aufführt, sei somit<br />

falsch und irreführend, da sie den Eindruck hervorrufe,<br />

mit dem Schreiben sei eine endgültige<br />

Abrechnung erfolgt.<br />

Um Fremdgeld handelt es sich insb. dann, wenn<br />

der unterlegene Prozessgegner die von ihm zu<br />

tragenden Kosten des Rechtsstreits auf ein Anwaltskonto<br />

überweist. Die Rechtsschutzversicherung<br />

des Mandanten kann immer dann die Auskehrung<br />

des überwiesenen Betrags verlangen,<br />

sofern der Kostenersatzanspruch des Mandanten<br />

gem. § 86 Abs. 1 S. 1 VVG auf sie übergangen ist. In<br />

einem vom VI. Senat entschiedenen Fall (Urt. v.<br />

23.7.2<strong>01</strong>9 – VI ZR 307/18 m. Anm. WACKER DStR<br />

2<strong>01</strong>9, 2559) war der Versicherung erst mehr als<br />

14 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

zwei Jahre nach Beendigung des Rechtsstreits<br />

aufgefallen, dass sie die von ihr vorgestreckten<br />

Kosten des Rechtsstreits bislang nicht zurückerhalten<br />

hatte, da die Gelder von anwaltlicher Seite<br />

versehentlich an den Mandanten ausgezahlt worden<br />

waren. Nach Aufklärung des Sachverhalts ließ<br />

der Mandant der Versicherung den fehlenden<br />

Betrag zukommen. Die Versicherung gab sich<br />

damit aber nicht zufrieden, sondern verlangte<br />

zusätzlich vom Anwalt Zinsen i.H.v. mehr als<br />

1.000 €. Der VI. Senat lehnte dieses Ansinnen ab.<br />

Ein verzugs- und verschuldensunabhängiger Zinsanspruch<br />

der Versicherung bestehe nicht. Insbesondere<br />

seien die Voraussetzungen des § 688<br />

BGB nicht erfüllt, weil der Anwalt mit der versehentlichen<br />

Weiterleitung der vom Prozessgegner<br />

geleisteten Zahlungen an den Mandanten das Geld<br />

nicht „für sich“ verwendet habe. Ein Verzinsungsanspruch<br />

unter dem Gesichtspunkt des Schuldnerverzugs<br />

scheitere an der fehlenden Mahnung.<br />

Für einen deliktischen Verzinsungsanspruch (§ 849<br />

BGB) fehle es an einem deliktischen Ersatzanspruch<br />

der Versicherung. § 43a Abs. 5 S. 2 BRAO und § 4<br />

BORA seien keine Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2<br />

BGB zugunsten der Rechtsschutzversicherung.<br />

§ 43a Abs. 5 S. 2 BRAO schütze zwar das allgemeine<br />

Vertrauen in die Korrektheit und Integrität der<br />

Anwaltschaft in allen finanziellen Fragen und damit<br />

zugleich die Funktionsfähigkeit der Anwaltschaft in<br />

der Rechtspflege, entfalte jedoch keinen Individualschutz<br />

zugunsten der Empfangsberechtigten<br />

von Fremdgeldern.<br />

3. Vereinbarung von Erfolgshonoraren<br />

Geklärt ist nun, dass es sich bei dem Verbot der<br />

Vereinbarung eines Erfolgshonorars um eine<br />

Marktverhaltensregelung handelt und das Verbot<br />

daher wettbewerbsrechtlich relevant ist (BGH, Urt.<br />

v. 6.6.2<strong>01</strong>9 – I ZR 67/18, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 516/2<strong>01</strong>9). Die<br />

Entscheidung ist insoweit zutreffend, als die einschlägige<br />

Vorschrift des § 49b Abs. 2 S. 1 BRAO –<br />

neben der anwaltlichen Unabhängigkeit – nicht<br />

nur die „Rechtsuchenden vor einer Übervorteilung<br />

durch überhöhte Vergütungssätze“ schützt, sondern<br />

zudem gleiche rechtliche Voraussetzungen für alle<br />

Wettbewerber auf dem Markt schafft und damit<br />

auch einem fairen Wettbewerb dient (DECKENBROCK<br />

NJW 2<strong>01</strong>9, 3071, 3072).<br />

4. Werberecht<br />

Der BGH hat sich erneut mit den Grenzen der<br />

grundgesetzlich geschützten anwaltlichen Werbefreiheit<br />

befassen müssen. Im Streitfall hatte<br />

sich ein Anwalt und Diplomingenieur, dem die<br />

Erlaubnis verliehen war, Fachanwaltsbezeichnungen<br />

im Arbeitsrecht und gewerblichen Rechtsschutz<br />

zu führen, und der in seiner Kanzlei zwei<br />

Fachanwälte für gewerblichen Rechtsschutz beschäftigte,<br />

in einem Branchenverzeichnis unter<br />

„Patentanwälte in O.“ eintragen lassen. Weder der<br />

Anwalt noch die angestellten Berufsträger sind<br />

zugelassene Patentanwälte. Der Anwaltssenat<br />

(Beschl. v. 25.4.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 57/18) hat<br />

dies als nicht mehr berufsrechtskonform angesehen.<br />

Aus dem Sachlichkeitsgebot folge für die<br />

Rechtsanwaltschaft, dass sie nicht sämtliche<br />

Werbemethoden verwenden dürfe, die im Bereich<br />

der werbenden allgemeinen Wirtschaft (noch)<br />

hinzunehmen wären (vgl. bereits BGH, Urt. v.<br />

27.10.2<strong>01</strong>4 – AnwZ [Brfg] 67/13); jedenfalls sei aber<br />

eine Werbung, die gegen § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 UWG<br />

verstoße, nicht nur wettbewerbs-, sondern auch<br />

berufsrechtswidrig. Nach Auffassung des Senats<br />

ist der Brancheneintrag als irreführende Werbung,<br />

die geeignet ist, bei einem erheblichen Teil<br />

der angesprochenen Verkehrskreise Fehlvorstellungen<br />

hervorzurufen und so die Entschließung<br />

der Rechtsuchenden im Wettbewerb in rechtlich<br />

relevanter Weise zu beeinflussen, anzusehen.<br />

Denn eine anwaltliche Selbsteinschätzung dürfe<br />

nicht den Eindruck erwecken, eine Qualifikation<br />

sei durch ein förmliches Verfahren erworben<br />

oder werde durch eine dritte Stelle gebilligt. Mit<br />

der Schaltung der Anzeige werde aber aus Sicht<br />

eines Rechtsuchenden der Eindruck erweckt, dass<br />

der Anwalt selbst oder zumindest ein in seiner<br />

Kanzlei beschäftigter Berufsträger Patentanwalt<br />

sei. Insoweit sei entscheidend, dass nach § 18<br />

Abs. 4 PAO die Berufsbezeichnung „Patentanwalt“<br />

nur nach der Zulassung geführt werden dürfe.<br />

Eine Irreführung sei auch nicht deshalb zu verneinen,<br />

weil Anwälte grds. berechtigt seien,<br />

Rechtsuchende in den Angelegenheiten zu vertreten,<br />

in denen Patentanwälte tätig sind. Wer<br />

nach einem Patentanwalt suche, erwarte speziell<br />

dessen Qualifikation. Diese unterscheide sich von<br />

einem normalen Rechtsanwalt erheblich, weil<br />

Voraussetzung für den Erwerb der Zulassung als<br />

Patentanwalt neben der rechtlichen Befähigung<br />

die technische Befähigung nach § 6 PAO sei.<br />

Auch wenn der Anwaltssenat dies in Abrede stellt<br />

(Rn 25 ff.), steht seine Entscheidung in Konflikt<br />

mit einem Judikat des für das Wettbewerbsrecht<br />

zuständigen und als liberaler geltenden I. Zivilsenats<br />

(Urt. v. 18.10.2<strong>01</strong>2 – I ZR 137/11). Dieser hatte<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 15


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

2<strong>01</strong>2 die Angabe „Steuerbüro“ in der Kanzleibezeichnung<br />

eines Anwalts nicht als irreführend beanstandet,<br />

wenn dieser zu einem überwiegenden Teil<br />

seiner Berufstätigkeit Hilfeleistungen in Steuersachen<br />

erbringe. Daran ändere auch der Umstand<br />

nichts, dass ein Teil der an diesen Dienstleistungen<br />

interessierten Verbraucher aus der Angabe „Steuerbüro“<br />

den unrichtigen Schluss ziehen könnte, in<br />

der Kanzlei sei auch ein Steuerberater oder ein<br />

Fachanwalt für Steuerrecht tätig.<br />

Eine liberale Auffassung hat der I. Senat auch<br />

in einem zuletzt vor dem KG Berlin geführten<br />

Verfahren vertreten. Das KG hatte einem<br />

Rechtsanwalt untersagt, im Wettbewerb als<br />

„Anwaltsforum Patientenanwälte im Geburtsschadensrecht“<br />

aufzutreten, da der beworbene Zusammenschluss<br />

über ein Vorbereitungsstadium<br />

nicht hinausgekommen sei und letztlich nur aus<br />

dem Beklagten und seinen freien Mitarbeitern<br />

bestanden habe (Urt. v. 24.8.2<strong>01</strong>8 – 5 U 134/17).<br />

Allerdings hatte der Beklagte im Verfahren noch<br />

andere vermeintliche Mitglieder seiner Arbeitsgemeinschaft<br />

benannt, bei denen es sich nicht<br />

um seine Mitarbeiter handelte. Hieran knüpfte<br />

die Kritik des I. Senats an (Beschl. v. 14.3.2<strong>01</strong>9 –<br />

I ZR 167/18, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 359/2<strong>01</strong>9). Für das<br />

Bestehen der Arbeitsgemeinschaft sei nicht der<br />

Beklagte beweisbelastet. Die Darlegungs- und<br />

Beweislast für die Irreführung, also auch für das<br />

Nichtbestehen der Arbeitsgemeinschaft, treffe<br />

vielmehr den Kläger als Anspruchsteller. Angesichts<br />

der Benennung angeblicher Mitglieder der<br />

Arbeitsgemeinschaft durch den Beklagten sei es<br />

somit Sache des Klägers gewesen zu beweisen,<br />

dass die Mitgliedschaft nicht bestand.<br />

5. Handakte und Abwickler<br />

Jüngst kam es wiederholt zu Streitigkeiten um die<br />

Herausgabe der anwaltlichen Handakte (§ 50<br />

BRAO). Auch 2<strong>01</strong>9 hatte sich der BGH mit der<br />

Reichweite dieser Herausgabepflicht zu beschäftigen<br />

(Urt. v. 7.2.2<strong>01</strong>9 – IX ZR 5/18 m. Anm. UEBERFELDT<br />

DStR 2<strong>01</strong>9, 1111). Im Streitfall machte wie so oft ein<br />

Insolvenzverwalter den Herausgabeanspruch geltend.<br />

Der beklagte Praxisabwickler einer Einzelanwaltskanzlei<br />

berief sich darauf, die Mandate, auf<br />

welche sich die Akten bezogen, im Rahmen seiner<br />

Befugnisse auf sich selbst und andere Rechtsanwälte<br />

überführt zu haben. Damit stehe der<br />

Schuldnerin auch das Eigentum an den Handakten<br />

nicht mehr zu. Der IX. Senat stimmte dem zu. Es<br />

könne offen bleiben, ob eine vom Abwickler<br />

veranlasste Überführung laufender Verfahren auf<br />

sich selbst oder andere Anwälte dem Sinn und<br />

Zweck der Abwicklung entspreche, jedenfalls hätten<br />

die Mandanten als Herren des Verfahrens die<br />

Entscheidungsbefugnis darüber, wer ihre Mandate<br />

künftig fortführe. Anlässlich der Mandatswechsel<br />

habe der Abwickler gem. §§ 53 Abs. 10 S. 1, 55 Abs. 3<br />

S. 1 BRAO die Befugnis gehabt, im Namen der<br />

ehemaligen Rechtsanwältin über die in ihrem<br />

Eigentum stehenden Teile der zum Mandat gehörenden<br />

Handakten zu verfügen. Dem ist zuzustimmen.<br />

Der Fall illustriert jedoch erneut, wie problematisch<br />

das Verhältnis von Insolvenzverwalter<br />

und Abwickler ist.<br />

6. Verbot der Umgehung des Gegenanwalts<br />

Das Anwaltsgericht Köln (Beschl. v. 16.8.2<strong>01</strong>9 –<br />

3 AnwG 15/19 R) konnte zur Reichweite des<br />

Verbots der Umgehung des Gegenanwalts (§ 12<br />

BORA) Stellung nehmen. Der Vermieter einer<br />

Wohnung war zugleich Gesellschafter einer Anwalts-<br />

und Steuerberaterkanzlei. Er hatte die<br />

Kanzlei in einem Rechtsstreit mit seiner Mieterin<br />

mandatiert. Die Mieterin war ihrerseits anwaltlich<br />

vertreten. Gleichwohl wandte sich der Vermieter/Anwalt<br />

unmittelbar an sie. Im Schreiben<br />

nahm er Bezug auf einen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten<br />

der Mieterin aus dem laufenden<br />

Prozess und forderte sie auf, diesen Vortrag<br />

zu widerrufen, nicht mehr zu wiederholen und<br />

diesbezüglich eine strafbewehrte Unterlassungserklärung<br />

abzugeben.<br />

Dieses Verhalten wertete das AnwG als Verstoß<br />

gegen das Verbot der Umgehung des Gegenanwalts,<br />

obwohl der Anwalt nicht den Kanzleibriefbogen<br />

verwendete, sondern einen Briefbogen,<br />

der seine Privatadresse, seine akademische<br />

Qualifikation und seine Berufsbezeichnungen enthielt.<br />

Entscheidend sei, dass die Kontaktaufnahme<br />

sich auf einen Bereich bezogen habe, für den der<br />

Gegenanwalt mandatiert gewesen sei. Durch<br />

Verwendung eines Briefbogens, der ausdrücklich<br />

einen Hinweis auf seine Tätigkeit als Anwalt<br />

enthalten habe, habe die Mieterin davon ausgehen<br />

müssen, dass ihr Vermieter insoweit (auch)<br />

anwaltlich tätig sein wollte.<br />

16 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

V. Fachanwaltschaften<br />

1. Vertretung in mehreren Instanzen<br />

Der Anwaltssenat hat in einem Beschl. v.<br />

25.2.2<strong>01</strong>9 (AnwZ [Brfg] 80/18) seine bisherige<br />

Rechtsprechung (vgl. Beschl. v. 27.4.2<strong>01</strong>6 – AnwZ<br />

[Brfg] 3/16) bekräftigt, nach der ein anwaltliches<br />

Mandat, das sich über mehrere Instanzen<br />

erstreckt, nur einen Fall i.S.d. Fachanwaltsordnung<br />

darstellt. Unter einem „Fall“ sei jede<br />

juristische Aufarbeitung eines einheitlichen Lebenssachverhalts<br />

zu verstehen, der sich von<br />

anderen Lebenssachverhalten dadurch unterscheidet,<br />

dass die zu beurteilenden Tatsachen<br />

und die Beteiligten verschieden sind. Ebenso wie<br />

Angelegenheiten, die ein Anwalt sowohl außergerichtlich<br />

als auch gerichtlich bearbeite, nur<br />

als ein Fall zählten, scheide eine Doppelzählung<br />

bei einem Mandat aus, das sich auf mehrere<br />

Gerichtsinstanzen erstrecke. Auch führe der<br />

Umstand, dass ein Fall in eine höhere Instanz<br />

gelangt, nicht zwingend zu einer höheren<br />

Gewichtung nach § 5 Abs. 4 FAO. Da die<br />

zusätzliche Fallbearbeitung in einem Berufungsoder<br />

sonstigen Rechtsmittelverfahren nicht<br />

schon für sich genommen eine Gewähr dafür<br />

biete, dass der Rechtsanwalt hierbei in dem<br />

betreffenden Fachgebiet besondere praktische<br />

Erfahrungen erwerbe, die über diejenigen eines<br />

„durchschnittlichen“ Falls hinausgehen, komme<br />

eine schematische Aufwertung nicht in Betracht.<br />

Anlass für eine Höhergewichtung bestünde insb.<br />

nicht, wenn die Sache in zweiter Instanz nicht<br />

rechtlich auf „neue Beine“ gestellt werde. Wesentlich<br />

sei vielmehr, ob sich aus dem Vortrag<br />

des jeweiligen Antragstellers ergebe, dass der<br />

Fall durch seine Bearbeitung in mehreren Instanzen<br />

eine höhere Gewichtung verdiene.<br />

2. Keine mehrfache Anrechnung ein und derselben<br />

Fachanwaltsfortbildung<br />

In einer aktuellen Entscheidung musste der BGH<br />

(Beschl. v. 28.10.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg] 14/19) die<br />

Frage beantworten, ob die Teilnahme an einer<br />

Kombinations- bzw. fachgebietsübergreifenden<br />

Veranstaltung i.R.d. § 15 Abs. 3 FAO („Die Gesamtdauer<br />

der Fortbildung darf je Fachgebiet 15 Zeitstunden<br />

nicht unterschreiten.“) gleichzeitig vollständig auf<br />

mehrere Fachanwaltsbezeichnungen angerechnet<br />

werden darf. Nach Ansicht des Anwaltssenats<br />

ergibt sich aus dem Wortlaut („je Fachgebiet“),<br />

dass in jedem Fachgebiet jeweils das<br />

volle Stundenkontingent zu erbringen ist, d.h.,<br />

dass bei zwei oder drei Fachanwaltsbezeichnungen<br />

insgesamt mindestens 30 bzw. 45 Fortbildungszeitstunden<br />

erbracht und nachgewiesen<br />

werden müssen. Eine solche Auslegung sei auch<br />

zum Schutz des rechtsuchenden Publikums<br />

gefordert. Verfüge ein Rechtsanwalt über die<br />

Erlaubnis, mehrere Fachanwaltsbezeichnungen<br />

zu führen, nehme er nicht nur im Vergleich zu<br />

anderen Anwälten ohne Fachanwaltsbezeichnung<br />

eine besondere Qualifikation auf den<br />

jeweiligen Gebieten in Anspruch, sondern auch<br />

gegenüber Anwälten mit nur einer Fachanwaltsbezeichnung.<br />

Die berechtigte Erwartung in<br />

eine weitergehende Qualifikation des Rechtsanwalts<br />

mit mehreren Fachanwaltsbezeichnungen<br />

aufgrund seiner dauerhaften intensiven<br />

Befassung mit jedem der betreffenden Spezialgebiete<br />

wäre im Fall einer Mehrfachanrechnung<br />

ein und derselben Fortbildung nicht mehr erfüllt.<br />

Vielmehr sei eine für den Rechtsuchenden nicht<br />

erkennbare und von ihm auch nicht erwartete<br />

Angleichung des Qualitätsstandards am denjenigen<br />

eines Rechtsanwalts mit nur einem Fachanwaltstitel<br />

zu fürchten. Die Ausführungen zum<br />

Schutzzweck des § 15 FAO klingen angesichts der<br />

Tatsache, dass durch die formalisierte Nachweispflicht<br />

ohnehin allenfalls ein Mindeststandard der<br />

fachlichen Qualifizierung geschaffen wurde, etwas<br />

hochtrabend. Gleichwohl ist die Entscheidung<br />

des BGH vor dem Hintergrund der in der<br />

Entscheidung ebenfalls ausführlich dargelegten<br />

Entstehungsgeschichte und des eindeutigen Regelungswillens<br />

der Satzungsversammlung zwingend.<br />

VI. Anwaltliches Gesellschaftsrecht<br />

1. Kein beA für Rechtsanwaltsgesellschaften<br />

Das besondere elektronische Anwaltspostfach<br />

(beA) sorgte bei seiner Einführung Anfang 2<strong>01</strong>8<br />

für viel Wirbel (vgl. DECKENBROCK/MARKWORTH Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>8, 57, 58), der sich inzwischen<br />

weitgehend gelegt hat. Stieß es zunächst noch<br />

auf breite Ablehnung, geht es jetzt sogar um<br />

die Frage, wem die Einrichtung eines eigenen<br />

elektronischen Anwaltspostfachs zu versagen ist.<br />

So musste sich der Anwaltssenat des BGH damit<br />

befassen, ob auch für eine Rechtsanwalts-AG ein<br />

beA einzurichten ist (Urt. v. 6.5.2<strong>01</strong>9 – AnwZ [Brfg]<br />

69/18). Er hat dies verneint. §§ 31a Abs. 1 S. 1, 31<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 17


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Abs. 1 S. 1 BRAO sähen die Einrichtung des<br />

beA nur zugunsten von Mitgliedern einer Rechtsanwaltskammer,<br />

die natürliche Personen sind, vor.<br />

Rechtsanwaltsgesellschaften das beA zu versagen,<br />

obschon sie ebenfalls Kammermitglieder sind,<br />

verletze insb. auch nicht deren Berufsausübungsfreiheit<br />

(Art. 12 Abs. 1 GG). Dem ist de lege lata<br />

zuzustimmen. Es ist aber zu begrüßen, dass de lege<br />

ferenda erwogen wird (vgl. Nr. 19 des Eckpunktepunktepapiers<br />

des BMJV; dazu II. 1.), allen Berufsausübungsgesellschaften<br />

die Möglichkeit zu eröffnen,<br />

i.R.d. beA ein Kanzleipostfach zu erhalten<br />

(optionales Kanzleipostfach). Hierdurch würden<br />

nicht nur aus „Umwegen“ über empfangsbefugte<br />

natürliche Personen resultierende zeitliche Verzögerungen<br />

verhindert, sondern es würde auch der<br />

Tatsache Rechnung getragen, dass die Gesellschaft<br />

Partei des geschlossenen Anwaltsvertrags ist.<br />

2. Haftung des Mandatsbearbeiters in der<br />

Partnerschaftsgesellschaft (PartG)<br />

In einem Urt. v. 12.9.2<strong>01</strong>9 (IX ZR 190/18 m. Anm.<br />

MARKWORTH NJW 2<strong>01</strong>9, 3521; HIRTZ EWiR 2<strong>01</strong>9, 679)<br />

hatte der IX. Zivilsenat endlich wieder einmal die<br />

Gelegenheit, sich zur Gesellschafterhaftung in<br />

der PartG zu äußern. In seiner letzten einschlägigen<br />

Entscheidung aus dem Jahr 2009 (Urt. v.<br />

19.11.2009 – IX ZR 12/09 m. krit. Anm. HENSSLER/<br />

DECKENBROCK EWiR 2<strong>01</strong>0, 89) hatte der IX. Senat die<br />

Auffassung vertreten, dass die nach § 8 Abs. 2<br />

PartGG haftungsauslösende Befassung mit der<br />

„Bearbeitung eines Auftrags“ nicht voraussetzt, dass<br />

der einzelne Partner einen Verursachungsbeitrag<br />

zum eingetretenen Schaden geleistet haben<br />

muss. Dementsprechend solle ein eintretender<br />

Partner, wenn er in die Mandatsbearbeitung<br />

eingeschaltet wird, auch für irreparable Fehler<br />

eines anderen Berufsträgers aus der Zeit vor<br />

seinem Eintritt haften müssen. Von einer „Handelndenhaftung“<br />

im engeren Sinne konnte in Bezug<br />

auf § 8 Abs. 2 PartGG seitdem nicht mehr die<br />

Rede sein. Wenig überraschend blieb der IX. Senat<br />

im neuen Urteil seiner strengen Linie treu. Ein<br />

einmal befasster Partner vermag danach seiner<br />

Haftung nicht mehr zu entgehen, obschon er das<br />

Mandat abgegeben hat, bevor es zum haftungsauslösenden<br />

Fehler kam. Weitere Aspekte des<br />

Urteils betrafen die Begriffe „Befassung“ und<br />

„Auftrag“ i.S.d. § 8 Abs. 2 PartGG (näher MARKWORTH<br />

NJW 2<strong>01</strong>9, 3521). Absehbar ist, dass die Entscheidung<br />

den Bedeutungsverlust der „einfachen“ PartG<br />

gegenüber der PartG mbB weiter befeuern wird.<br />

VII. Anwaltshaftung<br />

Auch in diesem Jahr ergingen einige Entscheidungen,<br />

die sich mit den Voraussetzungen einer<br />

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei<br />

Versäumung der Frist zur Begründung eines<br />

Rechtsmittels auseinandersetzten. Nach § 233<br />

ZPO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand<br />

u.a. zu gewähren, wenn eine Partei ohne ihr<br />

Verschulden verhindert war, die Begründungsfrist<br />

einzuhalten. Dabei ist das Verschulden ihres<br />

Prozessbevollmächtigten der Partei zuzurechnen<br />

(§ 85 Abs. 2 ZPO).<br />

1. Elektronischer Fristenkalender<br />

In einem vom III. Zivilsenat zu entscheidenden<br />

Fall (Beschl. v. 28.2.2<strong>01</strong>9 – III ZB 96/18, <strong>ZAP</strong> EN-<br />

Nr. 250/2<strong>01</strong>9) beruhte die Versäumung der<br />

Begründungsfrist darauf, dass Frist und Vorfrist<br />

nicht in dem von der Kanzlei des bevollmächtigten<br />

Anwalts verwendeten elektronischen Fristenkalender<br />

gespeichert worden waren. Der<br />

Anwalt brachte zu seiner Entlastung vor, die<br />

versäumte Speicherung habe nicht auf einem<br />

Organisationsverschulden beruht, da in seiner<br />

Kanzlei eine automatisierte programmseitige<br />

Eingabekontrolle praktiziert werde. Dies reichte<br />

dem BGH jedoch nicht aus. Die Verwendung<br />

einer elektronischen Kalenderführung dürfe keine<br />

hinter der manuellen Führung zurückbleibende<br />

Überprüfungssicherheit bieten. Deshalb sei die<br />

Fertigung eines Kontrollausdrucks erforderlich,<br />

um nicht nur Datenverarbeitungsfehler des EDV-<br />

Programms, sondern auch Eingabefehler oder<br />

-versäumnisse mit geringem Aufwand rechtzeitig<br />

zu erkennen und zu beseitigen. Eine rein<br />

elektronische Kontrolle sei deutlich anfälliger als<br />

eine Kontrolle mittels eines Ausdrucks, insb. für<br />

ein sog. Augenblicksversagen der mit ihr beauftragten<br />

Mitarbeiter. Auch wenn diese Rechtsprechung<br />

wenig zeitgemäß ist, müssen Kanzleien,<br />

die derartige Programme verwenden, ihre<br />

Praxis umstellen. Es liegt nun an den Anbietern<br />

elektronischer Fristenkalender, überzeugende<br />

technische Lösungen zu entwickeln, die eine der<br />

Papierlösung äquivalente Fristenkontrolle gewährleisten.<br />

2. Verwendung des beA<br />

Gleich mehrmals hatten sich Gerichte im vergangenen<br />

Jahr mit den Sorgfaltspflichten, die<br />

einen Anwalt bei Versendung fristwahrender<br />

18 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

Schriftsätze über das beA treffen, zu befassen.<br />

Wie bei einem Faxgerät hat der Anwalt nach dem<br />

BAG das zuständige Personal auch bei Nutzung<br />

des beA dahingehend zu belehren, dass stets der<br />

Erfolg des Sendevorgangs zu kontrollieren ist<br />

(Beschl. v. 7.8.2<strong>01</strong>9 – 5 AZB 16/19; ebenso OVG<br />

Magdeburg, Beschl. 28.8.2<strong>01</strong>9 – 2 M 58/19). Hierzu<br />

muss der Erhalt der automatisierten Eingangsbestätigung<br />

überprüft und nicht nur der „Gesendet“-Ordner<br />

aufgerufen werden. Der Anwalt hat<br />

zudem zumindest stichprobenweise Überprüfungen<br />

durchzuführen, ob seine Anweisungen eingehalten<br />

werden. Allerdings gibt das beA Versand<br />

und Zugang eines Schriftsatzes nicht immer<br />

richtig an, wie eine Entscheidung des BFH (Beschl.<br />

v. 5.6.2<strong>01</strong>9 – IX B 121/18) zeigt. Im zugrunde<br />

liegenden Fall war ein über das beA versendeter<br />

Schriftsatz wegen in der Dateibezeichnung enthaltener<br />

unzulässiger Zeichen in ein für das<br />

Gericht unzugängliches Verzeichnis für „korrupte“<br />

Nachrichten verschoben wurden. Da das Postfach<br />

dem Anwalt aber signalisiert hatte, es sei alles in<br />

Ordnung, gewährte der BFH Wiedereinsetzung.<br />

3. Probleme rund um das Faxgerät<br />

Nach Auffassung des VIII. Senats (Beschl. v.<br />

20.8.2<strong>01</strong>9 – VIII ZB 19/18) können bei Übermittlung<br />

des Begründungsschriftsatzes per Fax Störungen<br />

des Empfangsgeräts im Gericht grds. kein<br />

Anwaltsverschulden begründen. Denn mit der<br />

Wahl einer Telefaxübertragung habe der Anwalt<br />

bei ordnungsgemäßer Nutzung eines funktionsfähigen<br />

Sendegeräts und der korrekten Eingabe<br />

der Empfängernummer das seinerseits Erforderliche<br />

zur Fristwahrung getan, zumindest wenn er<br />

so rechtzeitig mit der Übermittlung beginne, dass<br />

unter normalen Umständen mit ihrem Abschluss<br />

bis zum Fristablauf zu rechnen sei. Im Ausgangspunkt<br />

zutreffend hat der Senat aber weitergehend<br />

ausgeführt, dass der Anwalt seine Versendungsbemühungen<br />

nicht vorschnell weit vor<br />

Fristablauf abbrechen dürfe. Daran anknüpfend<br />

stellt sich aber die Frage, wie umfangreich die<br />

seitens des Anwalts geschuldeten Bemühungen<br />

und die einzuplanende Zeitreserve sein muss. Der<br />

VIII. Senat legt insofern einen zweifelhaften<br />

Maßstab an und überdehnt das anwaltliche<br />

Pflichtenprogramm: So soll die Gewährung von<br />

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch<br />

dann ausscheiden, wenn ein Anwalt nach mehr<br />

als 54 (!) infolge der Überlastung oder einer<br />

beschränkten technischen Störung des Empfangsgeräts<br />

gescheiterten Übermittlungsversuchen<br />

ab etwa 20 Uhr am Tag des Fristablaufs<br />

weitere Sendeversuche unterlassen hat.<br />

Weniger angreifbar ist eine Entscheidung des IX.<br />

Senats (Beschl. v. 14.11.2<strong>01</strong>9 – IX ZB 18/19) zu den<br />

Anstrengungen, die bei der Ermittlung der richtigen<br />

Faxnummer zu unternehmen sind. Danach<br />

muss ein Anwalt den Abgleich der auf dem<br />

Sendeprotokoll ausgedruckten Faxnummer anhand<br />

einer zuverlässigen Quelle, aus der die<br />

Faxnummer des Gerichts hervorgeht, für das die<br />

Sendung bestimmt ist, anweisen. Dabei kann der<br />

Vergleich mit einer bereits zuvor schriftlich niedergelegten<br />

Faxnummer genügen, wenn sichergestellt<br />

ist, dass diese ihrerseits aus einer seriösen<br />

Quelle ermittelt worden ist. Darüber hinaus muss<br />

auch noch überprüft werden, ob die in den Akten<br />

befindliche Nummer auch tatsächlich dem Gericht<br />

zuzuordnen ist und nicht etwa – wie im zu<br />

entscheidenden Fall – dem gegnerischen Anwalt.<br />

4. Erkrankung eines Einzelanwalts<br />

In drei weiteren, ähnlich gelagerten Fällen<br />

hatten sich auch unterschiedliche andere Senate<br />

des BGH mit Wiedereinsetzungsanträgen im<br />

Anschluss an versäumte Rechtsmittelbegründungsfristen<br />

auseinanderzusetzen. Nach ständiger<br />

BGH-Rechtsprechung gilt insofern, dass ein<br />

Rechtsanwalt allgemeine Vorkehrungen dafür<br />

treffen muss, dass das zur Wahrung von Fristen<br />

Erforderliche auch dann unternommen wird,<br />

wenn er unvorhergesehen ausfällt. Sei er als<br />

Einzelanwalt ohne eigenes Personal tätig, müsse<br />

er ihm zumutbare Vorkehrungen für einen<br />

Verhinderungsfall treffen, z.B. durch Absprache<br />

mit einem vertretungsbereiten Kollegen. Diesen<br />

Grundsatz konnte der BGH nunmehr nicht<br />

unwesentlich präzisieren. So führte der VI. Senat<br />

in einem Beschl. v. 19.2.2<strong>01</strong>9 (VI ZB 43/18, <strong>ZAP</strong><br />

EN-Nr. 379/2<strong>01</strong>9) aus, dass sich die Obliegenheiten<br />

eines Einzelanwalts ohne eigenes Personal,<br />

wenn er zuvor allgemeine Vorkehrungen für<br />

Verhinderungsfälle getroffen habe, bei einer<br />

unvorhergesehenen Erkrankung darin erschöpfen<br />

können, diese Vertretung zu kontaktieren<br />

und um die Beantragung einer Fristverlängerung<br />

zu bitten. Komme er sogar diesen Maßnahmen<br />

nicht nach, sei der Wiedereinsetzungsantrag<br />

aber nur dann begründet, wenn er die näheren<br />

Umstände darlegt und glaubhaft macht, dass<br />

selbst sie ihm nicht möglich waren. Es reiche<br />

nicht aus vorzubringen, aufgrund hohen Fiebers<br />

sei „gar nichts mehr möglich“ gewesen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 19


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Die skizzierte Obliegenheit, allgemein Vorkehrungen<br />

für eine anwaltliche Vertretung zu treffen,<br />

trifft den Einzelanwalt selbst. Er darf es, wie der<br />

XII. Zivilsenat in einem Beschl. v. 31.7.2<strong>01</strong>9 (XII ZB<br />

36/19) ausgeführt hat, weder einem mit ihm<br />

kooperierenden (aber im konkreten Verfahren<br />

nicht postulationsfähigen) Rechtsbeistand noch<br />

einer bei diesem beschäftigten Rechtsanwaltsfachangestellten<br />

überlassen, an seiner statt einen<br />

zur Vertretung und damit auch zur eigenverantwortlichen<br />

Unterzeichnung der Rechtsmittelbegründung<br />

bereiten Rechtsanwalt zu suchen.<br />

In einem weiteren Fall hatte sich der XII. Zivilsenat<br />

(Beschl. v. 21.8.2<strong>01</strong>9 – XII ZB 93/19, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 676/<br />

2<strong>01</strong>9) mit einem Wiedereinsetzungsantrag im<br />

Anschluss an eine versäumte Beschwerdebegründungsfrist<br />

in einem familiengerichtlichen Verfahren<br />

zu befassen. Im zugrunde liegenden Fall ging<br />

es ausnahmsweise um eine sich selbst vertretende<br />

Rechtsanwältin. Auch insofern kam es aber<br />

nicht zu einer Wiedereinsetzung, da nach dem<br />

BGH hier dieselben Grundsätze wie bei der Vertretung<br />

Dritter gelten.<br />

VIII. Vergütungsrecht<br />

1. Kündigung des anwaltlichen Mandats<br />

Mit Urt. v. 7.3.2<strong>01</strong>9 (IX ZR 221/18, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 287/<br />

2<strong>01</strong>9; zust. JURETZEK DStR 2<strong>01</strong>9, 1375) widmete sich<br />

der IX. Senat den Folgen der Kündigung eines<br />

anwaltlichen Mandats für den Honoraranspruch.<br />

Im Streitfall war der klagende Anwalt von der<br />

beklagten Mandantin damit beauftragt worden,<br />

zwei Vertragsentwürfe zu fertigen, durch welche<br />

zwei der Beklagten gehörende Grundstücke im<br />

Wege der vorweggenommenen Erbfolge auf ihre<br />

Kinder übertragen werden sollten. Dabei sollte der<br />

Beklagten jeweils ein lebenslänglicher Nießbrauch<br />

vorbehalten werden. In der Folgezeit kündigte die<br />

Beklagte den Anwaltsvertrag mit der Begründung,<br />

sie benötige noch Bedenkzeit und wolle den Wert<br />

der Häuser schätzen lassen. Daraufhin übersandte<br />

der Kläger der Beklagten zwei Vertragsentwürfe,<br />

welche er vor der Kündigung als „erste grobe“<br />

Entwürfe gefertigt habe, und zwei Kostenrechnungen<br />

über insgesamt mehr als 25.000 €. Die<br />

Beklagte trat den Rechnungen entgegen und<br />

berief sich nunmehr auf den Wegfall der Vergütungspflicht<br />

wegen einer steuerschädlichen<br />

Vertragsgestaltung.<br />

Der Senat hielt den Vergütungsanspruch für<br />

gerechtfertigt. Zwar stehe dem Anwalt, wenn er<br />

durch vertragswidriges Verhalten die Kündigung<br />

des Mandanten veranlasst habe, gem. § 628 Abs. 1<br />

S. 2 BGB ein Anspruch auf die Vergütung insoweit<br />

nicht zu, als seine bisherigen Leistungen infolge<br />

der Kündigung für den anderen Teil nicht von<br />

Interesse sind (dazu HENSSLER/DECKENBROCK NJW<br />

2005, 1). Allerdings sei die Kündigung des Dienstverhältnisses<br />

nur dann durch ein vertragswidriges<br />

Verhalten veranlasst, wenn zwischen dem vertragswidrigen<br />

Verhalten und der Kündigung ein<br />

unmittelbarer Zusammenhang besteht. Dies<br />

setze aber voraus, dass die Vertragsverletzung<br />

Motiv für die außerordentliche Kündigung gewesen<br />

sei und sie diese adäquat kausal verursacht<br />

habe (vgl. bereits BGH, Urt. v. 13.9.2<strong>01</strong>8 – III ZR<br />

294/16 m. krit. Anm. DECKENBROCK MedR 2<strong>01</strong>9, 142).<br />

In dem der Entscheidung zugrunde liegenden<br />

Sachverhalt fehlte es offensichtlich an der notwendigen<br />

Kausalität. Zu beachten ist indes, dass<br />

die jederzeit mögliche Mandatskündigung gem.<br />

§ 627 BGB auch ohne Angabe eines Grundes<br />

möglich ist. Einem Mandanten, der auf eine<br />

nähere Begründung verzichtet hat, bleibt es in<br />

diesem Fall noch möglich, die Voraussetzungen<br />

des § 628 Abs. 1 S. 2 BGB (nachträglich) darzulegen<br />

und zu beweisen.<br />

Im Übrigen können nach Ansicht des Senats aber<br />

Vorarbeiten eines Anwalts, welche noch zu<br />

keinem Arbeitsergebnis geführt haben, das an<br />

den Mandanten oder einen Dritten herausgegeben<br />

werden sollte, ohnehin keine Pflichtwidrigkeit<br />

begründen, selbst wenn sie Fehler aufweisen.<br />

Denn der klagende Anwalt hatte mit der Entwurfsbearbeitung<br />

erst begonnen, die Entwürfe<br />

hatten vor der Vertragskündigung den internen<br />

Bereich der Kanzlei aber noch nicht verlassen. Zu<br />

ihrer Vorlage an die Beklagte kam es nur, weil<br />

diese das Mandat gekündigt hatte und der Kläger<br />

ihr zur Begründung seines Honoraranspruchs<br />

nachweisen wollte, mit der Erstellung der Vertragsentwürfe<br />

bereits begonnen zu haben.<br />

2. Abrechnung von Vorschüssen<br />

Ein weiteres, ebenfalls am 7.3.2<strong>01</strong>9 ergangenes<br />

Urteil des IX. Zivilsenats (IX ZR 143/18, <strong>ZAP</strong> EN-<br />

Nr. 285/2<strong>01</strong>9) beschäftigte sich mit der Frage, wie<br />

ein Rechtsanwalt Vorschüsse bei Kündigung des<br />

Mandats abzurechnen hat. Nach Ansicht des BGH<br />

ist ein Anwalt in entsprechender Anwendung von<br />

20 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

§§ 675, 667 BGB vertraglich verpflichtet, erhaltene<br />

und nicht verbrauchte Vorschüsse nach Kündigung<br />

des Mandats an den Mandanten zurückzuzahlen.<br />

Allerdings schulde der Anwalt nicht<br />

allein deshalb die Rückzahlung geforderter und<br />

erhaltener Vorschüsse, weil er pflichtwidrig keine<br />

den gesetzlichen Anforderungen genügende<br />

Rechnung erstellt und dem Mandanten mitgeteilt<br />

hat. Zwar könne der Rechtsanwalt gem. § 10<br />

RVG die Vergütung nur aufgrund einer von ihm<br />

unterzeichneten und dem Auftraggeber mitgeteilten<br />

Berechnung einfordern. Diese Berechnung<br />

sei aber nur Voraussetzung für das Einfordern<br />

einer noch nicht gezahlten Vergütung.<br />

Fehle sie, habe der (frühere) Mandant nicht ohne<br />

Weiteres einen Anspruch auf Rückzahlung der<br />

geleisteten Vorschüsse. Wer glaube, Rückerstattungsansprüche<br />

zu haben, müsse diese notfalls<br />

gerichtlich geltend machen und seine Forderung<br />

insoweit genau beziffern. Falls erforderlich, könne<br />

der Auftraggeber zunächst gesondert oder im<br />

Wege der Stufenklage einen Anspruch auf Auskunft<br />

und Rechnungslegung (§§ 675, 666 BGB)<br />

geltend machen. Auch wenn dem Urteil im<br />

Ergebnis zuzustimmen ist, bleibt unklar, warum<br />

der Senat nicht auch in diesem Fall auf § 628<br />

Abs. 1 S. 3 BGB als Anspruchsgrundlage für<br />

den Rückzahlungsanspruch abgestellt hat. Die<br />

Entscheidung des BGH beurteilt die Abrechnungspflicht<br />

von Vorschüssen zudem nur in<br />

zivilrechtlicher Hinsicht. Berufsrechtlich ist gem.<br />

§ 23 BORA zu beachten, dass der Rechtsanwalt<br />

spätestens mit Beendigung des Mandats gegenüber<br />

dem Mandanten und/oder Gebührenschuldner<br />

über Honorarvorschüsse unverzüglich abzurechnen<br />

und ein von ihm errechnetes Guthaben<br />

auszuzahlen hat (vgl. OFFERMANN-BURCKART NJW<br />

2<strong>01</strong>9, 1460).<br />

3. Vergütungsvereinbarung eines Pflichtverteidigers<br />

Eine weitere Entscheidung des IX. Zivilsenats (Urt.<br />

v. 13.12.2<strong>01</strong>8 – IX ZR 216/17) betraf die Vergütungsvereinbarung<br />

eines Pflichtverteidigers. Zwar sei<br />

ein gerichtlich zum Verteidiger bestellter Rechtsanwalt<br />

grds. nicht gehindert, eine Honorarvereinbarung<br />

zu treffen. Allerdings müsse ein zum<br />

Pflichtverteidiger bestellter Anwalt vor Abschluss<br />

einer Vergütungsvereinbarung dem Beschuldigten<br />

einen eindeutigen Hinweis erteilen, dass er<br />

auch ohne den Abschluss der Honorarvereinbarung<br />

zu weiterer Verteidigung verpflichtet<br />

wäre (vgl. § 49 BRAO). Andernfalls stehe dem<br />

Beschuldigten ein auf § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280<br />

Abs. 1 BGB gestützter Anspruch auf Rückzahlung<br />

des Honorars, soweit es über die gesetzliche<br />

Vergütung hinausgehe, zu. Letztlich kann der<br />

Anwalt nur dann in den Genuss einer höheren<br />

Vergütung gelangen, wenn der Beschuldigte zu<br />

einer freiwilligen Leistung bereit ist.<br />

4. Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten<br />

In einem Urt. v. 24.10.2<strong>01</strong>8 (VIII ZR 66/17, <strong>ZAP</strong><br />

EN-Nr. 228/2<strong>01</strong>9) hat der VIII. Zivilsenat erstmalig<br />

die Auffassung vertreten, dass dem Käufer über<br />

§ 439 Abs. 2 BGB ein verschuldensunabhängiger<br />

Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten,<br />

die ihm entstehen, um das Vertragsziel<br />

der Lieferung einer mangelfreien Sache<br />

zu erreichen, zustehen könne. Der Käufer muss<br />

also, sofern der Verkäufer einen behebbaren<br />

Mangel nicht zu vertreten hat, seinen Ersatzanspruch<br />

nicht mehr aus dem Schadenersatzrecht<br />

herleiten. In der Konsequenz ist er nicht<br />

darauf angewiesen, den Verkäufer vor Einschaltung<br />

eines Anwalts in Schuldnerverzug zu setzen,<br />

vielmehr genügt eine vorherige erfolglose Mängelrüge.<br />

Dieses Ergebnis vermag nicht zu überzeugen,<br />

da es weder von § 439 Abs. 2 BGB noch<br />

von der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie getragen<br />

wird (näher MARKWORTH ZIP 2<strong>01</strong>9, 941). Zudem<br />

steht zu befürchten, dass zur Geltendmachung<br />

der Kaufmängelgewährleistung zukünftig vermehrt<br />

eigentlich überflüssige Anwaltskosten<br />

produziert werden.<br />

Weiterhin hat der VI. Zivilsenat am 22.1.2<strong>01</strong>9 (VI ZR<br />

402/17, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 227/2<strong>01</strong>9; dazu RÖMERMANN<br />

GRUR-Prax 2<strong>01</strong>9, 173) zutreffend geurteilt, dass im<br />

Hinblick auf den Erstattungsanspruch für vorgerichtliche<br />

Anwaltskosten ein Zusammenhang<br />

zwischen dem Innenverhältnis des Mandanten<br />

zu seinem Rechtsanwalt und dem Außenverhältnis<br />

des Mandanten zu seinem Prozessgegner<br />

bestehe. Ein Erstattungsanspruch sei nur dann<br />

gegeben, wenn der Geschädigte im Innenverhältnis<br />

zur Zahlung der in Rechnung gestellten<br />

Kosten verpflichtet und die konkrete anwaltliche<br />

Tätigkeit im Außenverhältnis aus der maßgeblichen<br />

Sicht des Geschädigten mit Rücksicht auf<br />

seine spezielle Situation zur Wahrnehmung seiner<br />

Rechte erforderlich und zweckmäßig gewesen sei.<br />

Dementsprechend sinkt der Erstattungsanspruch,<br />

wenn der eingeschaltete Anwalt im Innenverhältnis<br />

zu einer geringeren Vergütung tätig war,<br />

als es das RVG zugelassen hätte. Auch wenn dies<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 21


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

verlockend erscheint, darf dann kein Ersatz unter<br />

Anlegung des RVG-Maßstabs gefordert werden.<br />

5. Unzulässigkeit einer Zeittaktklausel<br />

Verschiedene Instanzgerichte hatten sich mit<br />

der Wirksamkeit von Klauseln einer Vergütungsvereinbarung<br />

zu befassen (dazu BLATTNER AnwBl<br />

2<strong>01</strong>9, 534 ff.). Als unzulässig wurde insb. eine<br />

Klausel angesehen, die eine Abrechnung im 15-<br />

Minuten-Takt vorsieht, wobei für jede angefangene<br />

Viertelstunde jeweils ein Viertel des Stundensatzes<br />

berechnet werden soll (OLG München,<br />

Urt. v. 5.6.2<strong>01</strong>9 – 15 U 318/18 Rae und 15 U<br />

319/18 Rae; beim BGH sind gegen beide Urteile<br />

unter den Az. IX ZR 140/19 und IX ZR 141/19<br />

Revisionen anhängig; s. dazu auch N. SCHNEIDER<br />

Kolumne <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 939 f; daneben LG Köln, Urt.<br />

v. 24.1.2<strong>01</strong>8 – 26 O 453/16; die gegen letzteres<br />

Urteil eingelegte Berufung wurde zurückgenommen,<br />

vgl. OLG Köln, Beschl. v. 4.11.2<strong>01</strong>9 –<br />

17 U 44/18). Eine Zeittaktklausel, die zur Aufrundung<br />

des Zeitaufwands für jede Tätigkeit führe,<br />

sei strukturell geeignet, das dem Dienstvertragsrecht<br />

zugrundeliegende Prinzip der Gleichwertigkeit<br />

von Leistung und Gegenleistung (Äquivalenzprinzip)<br />

empfindlich zu verletzen.<br />

IX. Rechtsdienstleistungsrecht<br />

1. Durchgriffshaftung auf Organwalter<br />

Im Streitfall hatte eine AG Inkassodienstleistungen<br />

erbracht, ohne über eine Erlaubnis als Inkassodienstleister<br />

i.S.d. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG zu<br />

verfügen. Der BGH hat nunmehr festgestellt, dass<br />

Organwalter einer juristischen Person, die unerlaubt<br />

Rechtsdienstleistungen erbringt, bei Vorsatz<br />

nicht nur gem. §§ 2 Abs. 2; 3, 10 Abs. 1 S. 1; 20 Abs. 1<br />

Nr. 2 RDG; § 9 OWiG ein Ordnungswidrigkeitenverfahren,<br />

sondern über § 823 Abs. 2 BGB auch<br />

eine zivilrechtliche Schadenersatzhaftung droht<br />

(Urt. v. 30.7.2<strong>01</strong>9 – VI ZR 486/18). Der VI. Zivilsenat<br />

hat in diesem Zusammenhang zu Recht herausgearbeitet,<br />

dass ein Täter, dem sämtliche tatsächlichen<br />

Umstände bekannt sind und der den<br />

Bedeutungssinn des Inkassogeschäfts als normatives<br />

Tatbestandsmerkmal zutreffend erfasst hat,<br />

der aber dennoch über die Registrierungspflicht<br />

nach § 10 Abs. 1. S. 1 Nr. 1 RDG irrt, einem<br />

Verbotsirrtum i.S.v. § 11 Abs. 2 OWiG und keinem<br />

Tatbestandsirrtum i.S.v. § 11 Abs. 1 OWiG unterliegt<br />

(dazu DECKENBROCK EWiR 2<strong>01</strong>9, 755).<br />

2. Mietpreisrechner und Legal Tech<br />

Mit Spannung erwartet wurde das Urteil des BGH<br />

zur Zulässigkeit sog. Legal-Tech-Anbieter. Der VIII.<br />

Zivilsenat hatte das Geschäftsmodell der Lexfox<br />

GmbH, die gem. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG als<br />

Inkassodienstleisterin registriert ist, zu beurteilen<br />

(BGH, Urt. v. 27.11.2<strong>01</strong>9 – VIII ZR 285/18, <strong>ZAP</strong><br />

EN-Nr. 2/<strong>2020</strong> [in dieser Ausgabe]; dazu auch<br />

HUFF Kolumne <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 1275). Lexfox stellt auf<br />

der von ihr betriebenen Internetseite www.weniger<br />

miete.de einen für Besucher kostenlos nutzbaren<br />

„Online-Rechner“ („Mietpreisrechner“) zur Verfügung.<br />

Die Gesellschaft wirbt damit, Rechte von Wohnraummietern<br />

aus der Mietpreisbremse „ohne Kostenrisiko“<br />

durchzusetzen; eine Vergütung in Höhe<br />

eines Drittels „der ersparten Jahresmiete“ verlange sie<br />

nur im Falle des Erfolgs. Im Streitfall beauftragte<br />

ein Wohnungsmieter aus Berlin Lexfox mit der<br />

Geltendmachung und Durchsetzung seiner Forderungen<br />

und etwaiger Feststellungsbegehren im<br />

Zusammenhang mit der „Mietpreisbremse“ (§ 556d<br />

BGB) und trat seine diesbezüglichen Forderungen<br />

an Lexfox ab. Anschließend machte Lexfox – nach<br />

vorherigem Auskunftsverlangen und Rüge gem.<br />

§ 556g Abs. 2 BGB – gegen die beklagte Wohnungsgesellschaft<br />

Ansprüche auf Rückzahlung<br />

überhöhter Miete sowie auf Zahlung von Rechtsverfolgungskosten<br />

geltend.<br />

Im Mittelpunkt der Entscheidung stand die Frage,<br />

welche Tätigkeiten einem Unternehmen aufgrund<br />

einer Registrierung als Inkassodienstleister<br />

nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz erlaubt<br />

sind. Nach Ansicht des Senats ist der Begriff<br />

Inkassodienstleistung eher weit zu verstehen.<br />

Die Rechtsberatung durch ein Inkassounternehmen<br />

beinhalte grds. die umfassende und vollwertige<br />

substanzielle Beratung der Rechtsuchenden<br />

im Bereich der außergerichtlichen Einziehung<br />

von Forderungen. Es sei nicht erkennbar, dass<br />

damit eine Gefahr für den Rechtsuchenden oder<br />

den Rechtsverkehr verbunden sein könnte. Daher<br />

seien sowohl der Einsatz des schon vor der<br />

eigentlichen Beauftragung durch den Kunden<br />

seitens Lexfox eingesetzte „Mietpreisrechners“ als<br />

auch die Erhebung der Rüge gem. § 556g Abs. 2<br />

BGB sowie das Feststellungsbegehren bezüglich<br />

der höchstzulässigen Miete noch als zulässige<br />

Inkassodienstleistungen anzusehen. Zwar wäre<br />

es einem Rechtsanwalt, wenn er anstelle von<br />

Lexfox für den Mieter tätig geworden wäre,<br />

berufsrechtlich grds. weder gestattet gewesen,<br />

22 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

mit seinem Mandanten ein Erfolgshonorar zu<br />

vereinbaren (§ 49b Abs. 2 S. 1 BRAO, § 4a RVG),<br />

noch möglich gewesen, dem Mandanten im Falle<br />

einer Erfolglosigkeit der Inkassotätigkeit eine Kostenübernahme<br />

zuzusagen (§ 49b Abs. 2 S. 2 BRAO).<br />

Hierin könne jedoch angesichts der für die Tätigkeit<br />

eines registrierten Inkassodienstleisters geltenden<br />

besonderen kosten- und vergütungsrechtlichen<br />

Vorschriften (§ 4 Abs. 1, 2 RDGEG) ein Wertungswiderspruch,<br />

der Anlass und Berechtigung zu einer<br />

engeren Sichtweise hinsichtlich des Umfangs der<br />

Inkassodienstleistungsbefugnis hätte geben können,<br />

nicht gesehen werden. Die zwischen dem<br />

Mieter und Lexfox getroffene Vereinbarung eines<br />

Erfolgshonorars und einer Kostenübernahme führe<br />

auch nicht zu einer Interessenkollision i.S.d. § 4<br />

RDG und einer daraus folgenden Unzulässigkeit der<br />

von der Klägerin für den Mieter erbrachten Inkassodienstleistungen.<br />

Bei der vereinbarten Kostenübernahme<br />

handele es sich schon nicht um eine<br />

„andere Leistungspflicht“ der Klägerin i.S.d. § 4 RDG,<br />

sondern vielmehr um einen Bestandteil der von ihr<br />

für den Mieter zu erbringenden Inkassodienstleistung<br />

(insoweit noch a.A. AG Köln, Urt. v. 2.9.2<strong>01</strong>9 –<br />

142 C 448/18). Im Übrigen bewirke das vorliegend<br />

vereinbarte Erfolgshonorar, das sich nach der Höhe<br />

der durch ihre Tätigkeit ersparten Miete richte, ein<br />

beträchtliches eigenes Interesse von Lexfox an<br />

einer möglichst erfolgreichen Durchsetzung der<br />

Ansprüche des Mieters. Der damit – jedenfalls<br />

weitgehend – vorhandene (prinzipielle) Gleichlauf<br />

der Interessen der Klägerin und des Mieters stehe<br />

der Annahme einer Interessenkollision entgegen.<br />

Infolge der Entscheidung des BGH dürften die<br />

meisten Legal-Tech-Anbieter aufatmen. Allerdings<br />

sind die Besonderheiten der jeweiligen<br />

Geschäftsmodelle zu beachten. Der Senat verweist<br />

darauf, dass es einer Gesamtwürdigung<br />

bedürfe, ob die vom Anbieter erbrachten Tätigkeiten<br />

(noch) als Inkassodienstleistung gem. § 2<br />

Abs. 2 S. 1 RDG anzusehen und deshalb von der<br />

erteilten Erlaubnis gedeckt seien. Diese nicht<br />

einfache Grenzziehung ist für Anbieter und ihre<br />

Kunden von besonderer Bedeutung: Denn sollten<br />

im Einzelfall die aufgezeigten Grenzen der Inkassoerlaubnis<br />

überschritten worden sein, führe dies<br />

laut dem Senat regelmäßig nach § 134 BGB zur<br />

Nichtigkeit der zwischen dem Rechtsdienstleistenden<br />

und dessen Kunden getroffenen Inkassovereinbarung<br />

einschließlich einer vereinbarten<br />

Forderungsabtretung.<br />

Rechtspolitisch wird diskutiert, inwieweit das RDG<br />

künftig explizit die neuartigen Geschäftsmodelle<br />

regeln sollte. So hat die Bundestagsfraktion der<br />

FDP den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung<br />

des Rechtsdienstleistungsrechts (BT-Drucks<br />

19/9527) vorgestellt und darin vorgeschlagen, den<br />

Begriff der Rechtsdienstleistung an das Zeitalter<br />

der automatisierten Prozesse anzupassen. Gleichzeitig<br />

soll es Dienstleistern nach den Vorstellungen<br />

der FDP-Fraktion künftig möglich sein, sich im<br />

Rechtsdienstleistungsregister aufgrund besonderer<br />

Sachkunde für den Bereich „automatisierte Rechtsdienstleistungen“<br />

registrieren zu lassen (vgl. zu dem<br />

Vorschlag REMMERTZ BRAK-Mitt. 2<strong>01</strong>9, 219, 221 f.).<br />

Der enorm gestiegenen Bedeutung von Legal Tech<br />

hat auch die 7. Satzungsversammlung Rechnung<br />

getragen. Sie hat in ihrer konstituierenden Sitzung<br />

am 4.11.2<strong>01</strong>9 die Einrichtung eines neuen Ausschusses<br />

für das Thema Legal Tech beschlossen.<br />

3. Zulässigkeit von Vertragsgeneratoren<br />

Für großes Aufsehen hat eine Entscheidung des LG<br />

Köln (Urt. v. 8.10.2<strong>01</strong>9 – 33 O 35/19, Brfg. anhängig<br />

beim OLG Köln – 6 U 263/19) in der Legal-Tech-<br />

Szene gesorgt. Danach soll das Angebot eines<br />

Verlags, Rechtsuchenden (Endnutzern) „Rechtsdokumente<br />

in Anwaltsqualität“ per Computer zu<br />

liefern, als unzulässige Rechtsdienstleistung zu<br />

qualifizieren sein. Denn der Vertragsgenerator<br />

erbringe Tätigkeiten in konkreten fremden Angelegenheiten,<br />

weil der Nutzer ein konkret auf<br />

den von ihm im Rahmen des Fragen-Antwort-<br />

Katalogs geschilderten Sachverhalt zugeschnittenes<br />

Produkt erhalte. Insoweit sei entscheidend,<br />

dass das vom Verlag verwandte Produkt, das auch<br />

spezifische Fragen zum Gegenstand und zur<br />

Reichweite des zu erstellenden Vertrags stelle,<br />

einen hohen Grad der Individualisierung aufweise.<br />

Zudem erfordere das mit dem Vertragsgenerator<br />

verbundene Angebot eine rechtliche Prüfung i.S.v.<br />

§ 2 Abs. 1 RDG. Entscheidend sei, dass die vom<br />

beklagten Verlag angebotenen Rechtsdokumente<br />

eine Komplexität aufweisen würden, die erkennbar<br />

über eine bloß schematische Anwendung von<br />

Rechtsnormen hinausgehe. Die vorgenommene<br />

standardisierte Fallanalyse schließe den notwendigen<br />

Subsumtionsvorgang nicht aus. Die Vorgehensweise<br />

unterscheide sich nicht grundlegend<br />

von dem Vorgehen eines Rechtsanwalts, sondern<br />

erfolge lediglich zeitlich vorgelagert und aufgrund<br />

der Standardisierung in einem mehrfach reproduzierbaren<br />

Format.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 23


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Die auch in mehreren Literaturbeiträgen (s. etwa<br />

DEGEN/KRAHMER GRUR-Prax 2<strong>01</strong>6, 363; FRIES ZRP<br />

2<strong>01</strong>8, 161; REMMERTZ BRAK-Mitt. 2<strong>01</strong>7, 55) vertretene<br />

Ansicht, dass Vertragsgeneratoren unzulässig<br />

seien, überzeugt nicht: Letztlich kombiniert<br />

das Programm auf Basis von Nutzereingaben<br />

und mithilfe von Entscheidungsbäumen Textbausteine<br />

lediglich so miteinander, dass ein<br />

Schriftstück entsteht. Die „fremde“ Leistung des<br />

Generators ist letztlich nur das „Addieren“ der<br />

ausgewählten oder eingegebenen Texte zu einem<br />

einheitlichen Dokument. Dies ist allerdings<br />

tatsächlich keine Subsumtion, sondern eine<br />

schematische Zuordnung mithilfe des Fragenkatalogs<br />

(so im Ergebnis auch WEBERSTAEDT AnwBl<br />

2<strong>01</strong>6, 535; vgl. auch BGH, Urt. v. 27.11.2<strong>01</strong>9 – VIII<br />

ZR 285/18 Rn 148 zum „Mietpreisrechner“, LS<br />

s. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 2/<strong>2020</strong> [in diesem Heft]). Insgesamt<br />

betrachtet gleicht ein Vertragsgenerator<br />

Musterformularbüchern, die unzweifelhaft als<br />

zulässig angesehen werden.<br />

Eine andere Frage betrifft freilich die Zulässigkeit<br />

der vom Verlag verwandten Werbeaussagen.<br />

Insoweit hat die 33. Zivilkammer des LG Köln zu<br />

Recht Formulierungen wie „rechtssichere Verträge<br />

in Anwaltsqualität“ und „individueller und sicherer als<br />

jede Vorlage und günstiger als ein Anwalt“ als wettbewerbswidrig<br />

irreführend beanstandet. Denn<br />

solche Aussagen lassen den Nutzer vermuten,<br />

dass man eine vergleichbare Rechtsdienstleistungsqualität<br />

wie bei einem Anwalt erhalte. Eine<br />

individuelle Einzelfallprüfung, die auch die Berücksichtigung<br />

von Sonderfällen umfasst, kann<br />

ein Vertragsgenerator aber überhaupt nicht erbringen.<br />

X. Rechtsschutzversicherung<br />

Entscheidungen, welche die Rolle der Rechtsschutzversicherungen<br />

im Berufsrecht betreffen,<br />

lassen sich nicht unter die üblichen Kategorien<br />

einordnen. Dass sie nichtsdestotrotz von Interesse<br />

sein können, zeigt eine Entscheidung des IV. Senats<br />

(Urt. v. 14.8.2<strong>01</strong>9 – IV ZR 279/17, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 693/<br />

2<strong>01</strong>9 m. Anm. GRAMS NJW 2<strong>01</strong>9, 3587). Im zugrunde<br />

liegenden Fall war gegen den Versicherungsnehmer<br />

ein Bußgeldbescheid ergangen. Gegenüber<br />

dem mit seiner Verteidigung betrauten Rechtsanwalt<br />

hatte der Rechtsschutzversicherer i.R.d.<br />

Kostendeckungszusage die Anweisung erteilt,<br />

mit dem erforderlichen Sachverständigengutachten<br />

eine bestimmte Gesellschaft zu betrauen.<br />

Dem war der Anwalt nicht nachgekommen. Stattdessen<br />

hatte er zu höheren Kosten einen anderen<br />

Sachverständigen beauftragt. Der Versicherer verweigerte<br />

daraufhin i.H.d. Mehrkosten die Freistellung<br />

des Versicherungsnehmers. Der IV. Senat<br />

kam zu dem Schluss, dass die Schadensminderungsklausel<br />

(§ 17 Abs. 1 c) bb) ARB 2<strong>01</strong>0), auf<br />

die sich die Versicherung im Rahmen ihrer Weisung<br />

berufen hatte, intransparent sei. Der um Verständnis<br />

bemühte Versicherungsnehmer könne nicht<br />

erkennen, welches bestimmte Verhalten von ihm<br />

verlangt werde, um seinen Anspruch auf die<br />

Versicherungsleistung nicht zu gefährden. Er<br />

müsse in seine Überlegungen verschiedene alternative<br />

Vorgehensweisen einbeziehen und deren<br />

jeweilige Auswirkungen in rechtlicher Hinsicht<br />

bewerten und gegeneinander abwägen, um beurteilen<br />

zu können, ob sich mit einer kostengünstigeren<br />

Vorgehensweise das angestrebte Rechtsschutzziel<br />

erreichen lasse oder ob das höhere<br />

Kosten auslösende Vorgehen derart gewichtige<br />

Vorteile biete, dass ihn der Versicherer ohne unbillige<br />

Beeinträchtigung seiner – des Versicherungsnehmers<br />

– Interessen nicht auf die kostengünstigere<br />

Alternative verweisen könne.<br />

Auch ein zur Leistungsfreiheit führendes schuldhaftes<br />

Verhalten sei dem Versicherungsnehmer<br />

nach Auffassung des IV. Senats nicht vorzuwerfen.<br />

Das Verhalten seines Rechtsanwalts müsse<br />

er sich nicht über § 17 Abs. 7 ARB 2<strong>01</strong>0 zurechnen<br />

lassen, da die Klausel ebenfalls unwirksam sei. Sie<br />

widerspreche den wesentlichen Grundgedanken<br />

der gesetzlichen Regelung, zu der auch alle von<br />

der Rechtsprechung durch Auslegung, Analogie<br />

oder Rechtsfortbildung aus einzelnen gesetzlichen<br />

Bestimmungen hergeleiteten Rechtssätze<br />

gehörten. Der bisherigen Rechtsprechung zufolge<br />

sei dem Versicherungsnehmer das Handeln und<br />

Wissen eines Dritten nur in engen Grenzen<br />

zuzurechnen. Damit sei die in § 17 Abs. 7 ARB<br />

2<strong>01</strong>0 vorgesehene uneingeschränkte Zurechnung<br />

der Kenntnisse und des Verhaltens eines durch<br />

den Versicherten zur Abwicklung des Rechtsschutzfalls<br />

gegenüber dem Versicherer eingeschalteten<br />

Rechtsanwalts unvereinbar.<br />

24 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 1<br />

Rechtsprechung<br />

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Kaufvertragsrecht<br />

Dieselskandal: Wahlgerichtsstand<br />

(OLG Hamm, Beschl. v. 3.9.2<strong>01</strong>9 – 32 SA 54/19) • Im Falle einer mit einer unerlaubten Handlung gem.<br />

§§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. 263 StGB, 826 BGB begründeten Klage eines vom Abgasskandal betroffenen<br />

Käufers gegen den Hersteller liegt der Gerichtsstand gem. § 32 ZPO wahlweise dort, wo der Täter<br />

gehandelt hat, oder dort, wo der Rechtsguteingriff erfolgt und der Schaden entstanden ist. Wird ein<br />

Kraftfahrzeug mit einem darlehensfinanzierten Kaufvertrag beim Händler erworben, liegt ein Erfolgsort<br />

i.S.v. § 32 ZPO an dem Ort, an dem der Käufer seine auf Abschluss des Darlehnsvertrags gerichtete<br />

Willenserklärung abgibt, weil er damit das seinerseits Erforderliche getan hat, um die Erfüllung der<br />

Kaufpreisforderung zu bewirken. Hinweis: Nach dieser Entscheidung kann eine Vielzahl von Verfahren<br />

gegen den Hersteller am Sitz des Autohauses geführt werden.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 1/<strong>2020</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Kein Verstoß gegen das RDG: Inkassodienstleistung durch Legal-Tech-Portal „wenigermiete.de“<br />

(BGH, Urt. v. 27.11.2<strong>01</strong>9 – VIII ZR 285/18) •<br />

1. Der Begriff der Rechtsdienstleistung in Gestalt der Inkassodienstleistung (Forderungseinziehung) gem.<br />

§ 2 Abs. 2 S. 1 RDG, die ein im Rechtsdienstleistungsregister eingetragener Inkassodienstleister nach § 10<br />

Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG erbringen darf, ist unter Berücksichtigung der vom Gesetzgeber mit dem<br />

Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) – in Anknüpfung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />

– verfolgten Zielsetzung einer grundlegenden, an den Gesichtspunkten der Deregulierung<br />

und Liberalisierung ausgerichteten, die Entwicklung neuer Berufsbilder erlaubenden Neugestaltung<br />

des Rechts der außergerichtlichen Rechtsdienstleistungen nicht in einem zu engen Sinne zu verstehen.<br />

Vielmehr ist – innerhalb des mit diesem Gesetz verfolgten Schutzzwecks, die Rechtsuchenden,<br />

den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen zu schützen<br />

(§ 1 Abs. 1 S. 2 RDG) – eine eher großzügige Betrachtung geboten (im Anschluss an BVerfG, Beschl.<br />

v. 20.2.2002 – 1 BvR 423/99, NJW 2002, 1190 und BVerfG, Beschl. v. 14.8.2004 – 1 BvR 725/03, NJW-RR<br />

2004, 1570 [jeweils zum RBerG]).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 25


Fach 1, Seite 2 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

2. Für die auf dieser Grundlage vorzunehmende Beurteilung, ob sich die Tätigkeit eines registrierten<br />

Inkassodienstleisters innerhalb seiner Inkassodienstleistungsbefugnis gem. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG hält,<br />

lassen sich keine allgemeingültigen Maßstäbe aufstellen. Erforderlich ist vielmehr stets eine am<br />

Schutzzweck des RDG orientierte Würdigung der Umstände des Einzelfalls einschließlich einer<br />

Auslegung der hinsichtlich der Forderungseinziehung getroffenen Vereinbarungen. Dabei sind die<br />

Wertentscheidungen des Grundgesetzes in Gestalt der Grundrechte der Beteiligten sowie der Grundsatz<br />

des Vertrauensschutzes zu berücksichtigen und ist den Veränderungen der Lebenswirklichkeit<br />

Rechnung zu tragen (im Anschluss an BVerfG, Beschl. v. 15.1.2004 – 1 BvR 1807/98, NJW 2004, 672;<br />

BVerfG, Beschl. v. 20.2.2002 – 1 BvR 423/99, NJW 2002, 1190, 1191 f.; BVerfG, Beschl. v.14.8.2004 – 1 BvR<br />

725/03, NJW-RR 2004, 1570 und BVerfG, Beschl. v. 29.10.1997 – 1 BvR 780/87, BVerfGE 97, 12, 32 [jeweils<br />

zum RBerG]).<br />

3. Überschreitet hiernach ein registrierter Inkassodienstleister seine Inkassodienstleistungsbefugnis<br />

nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG, kann darin ein Verstoß gegen § 3 RDG liegen. Ein solcher Verstoß hat,<br />

wenn die Überschreitung bei einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände aus der objektivierten<br />

Sicht eines verständigen Auftraggebers des Inkassodienstleisters zum einen eindeutig vorliegt<br />

und zum anderen unter Berücksichtigung der Zielsetzung des RDG in ihrem Ausmaß als nicht nur<br />

geringfügig anzusehen ist, die Nichtigkeit nach § 134 BGB der zwischen dem Inkassodienstleister und<br />

dessen Auftraggeber getroffenen Inkassovereinbarung einschließlich einer in diesem Zusammenhang<br />

erfolgten Forderungsabtretung zur Folge (Anschluss an und Fortführung von BGH, Urt. v. 30.10.2<strong>01</strong>2 –<br />

XI ZR 324/11, NJW 2<strong>01</strong>3, 59 Rn 34 ff.; v. 11.12.2<strong>01</strong>3 – IV ZR 46/13, NJW 2<strong>01</strong>4, 847 Rn 31; v. 21.10.2<strong>01</strong>4 –<br />

VI ZR 507/13, NJW 2<strong>01</strong>5, 397 Rn 5; v. 11.1.2<strong>01</strong>7 – IV ZR 340/13, VersR 2<strong>01</strong>7, 277 Rn 34 und v. 21.3.2<strong>01</strong>8 –<br />

VIII ZR 17/17, NJW 2<strong>01</strong>8, 2254 Rn 18; BVerfG, Beschl. v. 20.2.2002 – 1 BvR 423/99, NJW 2002, 1190, 1192).<br />

4. Von einer Nichtigkeit nach § 134 BGB ist danach insb. dann regelmäßig auszugehen, wenn der<br />

registrierte Inkassodienstleister Tätigkeiten vornimmt, die von vornherein nicht auf eine Forderungseinziehung<br />

i.S.d. § 2 Abs. 2 S. 1 RDG, sondern etwa auf die Abwehr von Ansprüchen gerichtet sind oder<br />

eine über den erforderlichen Zusammenhang mit der Forderungseinziehung hinausgehende Rechtsberatung<br />

zum Gegenstand haben oder wenn das „Geschäftsmodell“ des Inkassodienstleisters zu einer<br />

Kollision mit den Interessen seines Auftraggebers führt.<br />

5. Nach diesen Maßstäben ist es von der Inkassodienstleistungsbefugnis eines nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1<br />

RDG registrierten Inkassodienstleisters (noch) gedeckt, wenn dieser auf seiner Internetseite einen<br />

„Mietpreisrechner“ zur – zunächst unentgeltlichen – Berechnung der ortsüblichen Vergleichsmiete zur<br />

Verfügung stellt und im Anschluss hieran dem Mieter die Möglichkeit gibt, ihn durch Anklicken eines<br />

Buttons mit der außergerichtlichen Durchsetzung von – näher bezeichneten – Forderungen und<br />

etwaigen Feststellungsbegehren gegen den Vermieter im Zusammenhang mit der „Mietpreisbremse“ –<br />

unter Vereinbarung eines Erfolgshonorars in Höhe eines Drittels der jährlichen Mietersparnis (vier<br />

Monate) sowie einer Freihaltung des Mieters von sämtlichen Kosten – zu beauftragen und in diesem<br />

Zusammenhang die genannten Ansprüche zum Zweck der Durchsetzung treuhänderisch an den<br />

Inkassodienstleister abzutreten, der im Falle einer Erfolglosigkeit der eigenen außergerichtlichen<br />

Rechtsdienstleistungstätigkeit einen Vertragsanwalt mit der anwaltlichen und ggf. auch gerichtlichen<br />

Durchsetzung der Ansprüche beauftragen kann, zum Abschluss eines Vergleichs jedoch grds. nur mit<br />

Zustimmung des Mieters befugt ist.<br />

6. Da damit (auch) die in diesem Rahmen erfolgte treuhänderische Abtretung der genannten im<br />

Zusammenhang mit der „Mietpreisbremse“ stehenden Forderungen des Mieters (noch) nicht gegen ein<br />

gesetzliches Verbot (§ 3 RDG) verstößt und demzufolge nicht gem. § 134 BGB nichtig ist, ist der<br />

Inkassodienstleister im gerichtlichen Verfahren aktivlegitimiert, diese Ansprüche im Wege der Klage<br />

gegen den Vermieter geltend zu machen (vgl. dazu HUFF, Kolumne <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 1275 ff.; Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 1279 f.).<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 2/<strong>2020</strong><br />

26 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 3<br />

Anmietung zur Flüchtlingsunterbringung: Kein Wohnraummietvertrag<br />

(BGH, Urt. v. 23.10.2<strong>01</strong>9 – XII ZR 125/18) • Ein Mietvertrag, den eine Gemeinde abgeschlossen hat, um<br />

in dem Mietobjekt ihr zugewiesene Flüchtlinge unterbringen zu können, ist unbeschadet seiner<br />

Bezeichnung kein Wohnraummietvertrag i.S.v. § 549 Abs. 1 BGB (Fortführung von BGHZ 94, 11 = NJW<br />

1985, 1772). Eine in diesem Vertrag enthaltene formularmäßige Klausel, mit der für beide Mietvertragsparteien<br />

das Recht zur ordentlichen Kündigung für die Dauer von 60 Monaten ausgeschlossen wird, ist<br />

nicht wegen unangemessener Benachteiligung des Mieters unwirksam. Hinweis: Die Gemeinde hatte<br />

den Vertrag gekündigt, weil keine Flüchtlinge untergebracht wurden; später hatte sie unter Verweis auf<br />

einen Mietspiegel erfolglos eine wucherische Miete geltend gemacht.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 3/<strong>2020</strong><br />

Bauvertragsrecht<br />

Mindestsätze der HOAI: Europarechtswidrigkeit<br />

(OLG Schleswig-Holstein, Urt. v. 25.10.2<strong>01</strong>9 – 1 U 74/18) • Die Mindestsätze der HOAI sind wegen<br />

Verstoßes gegen europäisches Gemeinschaftsrecht auch in Altfällen nicht mehr anwendbar. Hinweis:<br />

Die Erstreckung der Nichtanwendbarkeit auch auf Altfälle könnte zu zahlreichen Auseinandersetzungen<br />

über auch bereits abgerechnete Vorhaben führen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 4/<strong>2020</strong><br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Begriff der Verwaltung im WEG: Veränderung sachenrechtlicher Grundlagen<br />

(BGH, Urt. v. 20.9.2<strong>01</strong>9 – V ZR 258/18) • Der Begriff der Verwaltung i.S.v. § 21 WEG ist weit zu verstehen<br />

und umfasst deshalb regelmäßig auch Maßnahmen, die eine Veränderung der sachenrechtlichen<br />

Grundlagen der Gemeinschaft vorbereiten sollen, damit die Wohnungseigentümer diese anschließend<br />

aus eigenem Entschluss umsetzen können; solche Maßnahmen können mehrheitlich beschlossen<br />

werden. Allerdings müssen auch Beschlüsse dieser Art ordnungsmäßiger Verwaltung entsprechen.<br />

Daran wird es regelmäßig fehlen, wenn schon bei der Beschlussfassung absehbar ist, dass einzelne<br />

Wohnungseigentümer an der späteren Umsetzung nicht mitwirken werden und hierzu zweifelsfrei<br />

auch nicht (ausnahmsweise) verpflichtet sind, die mit der Vorbereitungsmaßnahme verbundenen<br />

Kosten also aller Voraussicht nach vergeblich aufgewendet werden. Hinweis: Der BGH zieht mit dieser<br />

Entscheidung eine klare Grenzlinie in Bezug auf eine von vornherein unsinnige Beschlussfassung einer<br />

Wohnungseigentümergemeinschaft.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 5/<strong>2020</strong><br />

Bank- und Kreditwesen<br />

Verbraucherdarlehensvertrag: Verwirkung des Widerrufsrechts<br />

(BGH, Urt. v. 15.10.2<strong>01</strong>9 – XI ZR 759/17) • § 312d Abs. 3 Nr. 1 BGB in der bis zum 3.8.2009 geltenden<br />

Fassung ist auf Verbraucherdarlehensverträge, die im Wege des Fernabsatzes geschlossen wurden,<br />

nicht anwendbar (Bestätigung von Senatsurteil v. 3.7.2<strong>01</strong>8 – XI ZR 702/16, WM 2<strong>01</strong>8, 16<strong>01</strong> Rn 10 ff.).<br />

Hinweis: Der BGH befasst sich mit der Verwirkung des Rechts auf Widerruf der auf Abschluss eines<br />

beendeten Verbraucherdarlehensvertrags gerichteten Willenserklärung des Verbrauchers.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 6/<strong>2020</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 27


Fach 1, Seite 4 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Folgen eines Abschleppvorgangs: Standgeldkosten<br />

(OLG Saarbrücken, Urt. v. 10.7.2<strong>01</strong>9 – 1 U 121/18) • Standgeldkosten eines gewerblichen Abschleppdienstes,<br />

die entstehen, weil der im Auftrag eines privaten Dritten tätig gewordene Abschleppdienst<br />

sich in Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts weigert, das Fahrzeug an den Abgeschleppten ohne<br />

Ausgleich der Abschleppkosten herauszugeben, zählen nicht zu den erstattungsfähigen Kosten für die<br />

Entfernung eines unbefugt auf einem Privatgrundstück abgestellten Fahrzeugs. Ebenfalls handelt es<br />

sich nicht um für die Beseitigung der Eigentumsbeeinträchtigung erforderliche Aufwendungen i.S.v.<br />

§ 670 BGB.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 7/<strong>2020</strong><br />

Versicherungsrecht<br />

Kündigung eines Versicherungsvertrags: Kündigungsbestätigung<br />

(OLG Braunschweig, Beschl. v. 2.9.2<strong>01</strong>9 – 11 U 103/18) • Zur Wirksamkeit einer durch den Versicherungsnehmer<br />

erklärten Kündigung des Versicherungsvertrags bedarf es keiner Bestätigung der Kündigung<br />

durch den Versicherer. Eine Nebenpflicht des Versicherers aus dem Vertragsverhältnis, die Kündigung<br />

des Versicherungsvertrags von sich aus zu bestätigen, besteht nicht. Hat der Versicherungsnehmer den<br />

Versicherungsvertrag gekündigt, so trifft den Versicherer aus dem Grundsatz von Treu und Glauben<br />

keine Hinweispflicht gegenüber dem Versicherungsnehmer bezüglich dessen Versicherungsstatus oder<br />

eines etwa fehlenden Versicherungsschutzes.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 8/<strong>2020</strong><br />

Familienrecht<br />

Einvernehmliche islamische Scheidung: Mitwirkungspflicht<br />

(OLG Hamburg, Beschl. v. 25.10.2<strong>01</strong>9 – 12 UF 220/17) • Ein Antrag, mit dem der Ehemann seine von ihm<br />

nach deutschem Recht rechtskräftig geschiedene Ehefrau im Wege der Leistungsklage verpflichten<br />

möchte, aus einer vertraglichen Ehescheidungsfolgenvereinbarung eine religiöse Ehescheidung nach<br />

islamischen Recht zu betreiben, ist vor einem deutschen Gericht nicht zulässig. Dem steht die Regelung<br />

des Art. 17 Abs. 3 EGBGB i.V.m. § 1564 BGB entgegen. Hinweis: In diesem Fall ging es um einen Verzicht<br />

auf eine Brautgabe nach iranischem Recht.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 9/<strong>2020</strong><br />

Nachlass/Erbrecht<br />

Behindertentestament: Verwaltungsanweisungen an den Testamentsvollstrecker<br />

(BGH, Beschl. v. 24.7.2<strong>01</strong>9 – XII ZB 560/18) • Ein Behindertentestament ist nicht allein deshalb sittenwidrig,<br />

weil in der letztwilligen Verfügung konkrete Verwaltungsanweisungen an den Testamentsvollstrecker<br />

fehlen, aus denen sich ergibt, in welchem Umfang und zu welchen Zwecken der Betroffene Vorteile aus<br />

dem Nachlass erhalten soll.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 10/<strong>2020</strong><br />

28 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 5<br />

Zivilprozessrecht<br />

Arzthaftungsprozess: Unterlassung medizinisch gebotener Befunderhebung<br />

(BGH, Urt. v. 22.10.2<strong>01</strong>9 – VI ZR 71/17) • Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Erhebung und Sicherung<br />

medizinischer Befunde und zur ordnungsgemäßen Aufbewahrung der Befundträger lässt im Wege der<br />

Beweiserleichterung für den Patienten zwar auf ein reaktionspflichtiges positives Befundergebnis<br />

schließen. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn ein solches Ergebnis hinreichend wahrscheinlich ist. Es<br />

geht zu weit, als Folge der Unterlassung medizinisch gebotener Befunderhebung oder Befundsicherung<br />

unabhängig von der hinreichenden Wahrscheinlichkeit des Befundergebnisses eine Vermutung dahingehend<br />

anzunehmen, dass zugunsten des Patienten der von diesem vorgetragene Sachverhalt für den<br />

Befund als bestätigt gilt. Hinweis: Mit dem Merkmal der hinreichenden Wahrscheinlichkeit schränkt der<br />

BGH die Beweiserleichterung für Patienten zumindest etwas ein.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 11/<strong>2020</strong><br />

Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />

Abgespaltene Gesellschaft: Gläubigerbenachteiligende Wirkung von Zahlungen<br />

(BGH, Urt. v. 17.10.2<strong>01</strong>9 – IX ZR 215/16) • Die gesamtschuldnerische Haftung einer vom Schuldner<br />

abgespaltenen Gesellschaft nach § 133 UmwG steht der gläubigerbenachteiligenden Wirkung von<br />

Zahlungen aus dem Vermögen des Schuldners nicht entgegen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 12/<strong>2020</strong><br />

Handels-/Gesellschaftsrecht<br />

Organentlastung: Anfechtung wegen Informationsmangels<br />

(LG Frankfurt, Beschl. v. 24.10.2<strong>01</strong>9 – 3-05 O 54/19) • Die in der Hauptversammlung beschlossene<br />

Entlastung von Organen ist anfechtbar, wenn im zugrunde liegenden Geschäftsjahr mit einem<br />

Konzernunternehmen eines Großaktionärs ein Beratungsvertrag geschlossen wurde und Fragen zum<br />

Gegenstand dieses Vertrags und der gezahlten Vergütung nur unzureichend beantwortet werden.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 13/<strong>2020</strong><br />

Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />

Vergabeverfahren: Schadenersatzanspruch<br />

(BGH, Urt. v. 17.9.2<strong>01</strong>9 – X ZR 124/18) • Der Teilnehmer an einem Vergabeverfahren nach dem Vierten<br />

Teil des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist mit einem auf einen Vergaberechtsverstoß<br />

gestützten Schadenersatzanspruch nicht ausgeschlossen, wenn er den Verstoß nicht zum Gegenstand<br />

eines Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer gemacht hat. Hat der Schadenersatz<br />

verlangende Bieter einen Vergaberechtsverstoß gerügt, kann ihm kein Mitverschulden nach § 254 BGB<br />

angelastet werden, wenn er die Rüge auf Bitten des Auftraggebers zurückgenommen hat, um das<br />

Vergabeverfahren nicht weiter zu verzögern.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 14/<strong>2020</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 29


Fach 1, Seite 6 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

Arbeitsrecht<br />

Eigenbeitrag zur betrieblichen Altersversorgung: Verschaffungsanspruch<br />

(BAG, Beschl. v. 22.10.2<strong>01</strong>9 – 3 AZN 934/19) • Besteht im ursprünglich zugesagten, aber nicht umsetzbaren<br />

Durchführungsweg die Pflicht des versorgungsberechtigten Arbeitnehmers zur Leistung eines Eigenbeitrags<br />

zur betrieblichen Altersversorgung, kann der Arbeitnehmer einen an diese Versorgungszusage<br />

anknüpfenden Verschaffungsanspruch nur unter Berücksichtigung eines entsprechenden Eigenbeitrags<br />

verlangen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 15/<strong>2020</strong><br />

Verfassungs-/Verwaltungsrecht<br />

Tagesordnung einer Stadtratssitzung: Kein subjektives Recht auf Änderung<br />

(VG Neustadt/Weinstraße, Beschl. v. 4.11.2<strong>01</strong>9 – 3 L 1208/19.NW) • Einem Bürger der Stadt steht kein<br />

subjektiv öffentliches Recht auf Änderung der Tagesordnung einer Stadtratssitzung durch die Vorsitzende<br />

des Stadtrats zu. Die Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen zur Ladung der Stadtratsmitglieder zur<br />

Stadtratssitzung kann von einem Bürger nicht isoliert zum Gegenstand eines Eil- oder Klageverfahrens<br />

gemacht werden. Dem Bürger einer Stadt steht grds. kein subjektiv öffentliches Recht zu, dem Stadtrat die<br />

Beschlussfassung über einen TOP der Ratssitzung gerichtlich untersagen zu lassen. Hinweis: Vorliegend<br />

ging es um eine geänderte Bebauungs- und Nutzungskonzeption im Rahmen eines vorhabenbezogenen<br />

Bebauungsplans.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 16/<strong>2020</strong><br />

Steuerrecht<br />

Steuerfestsetzung auf 0 €: Fehlende Beschwer<br />

(FG Niedersachsen, Beschl. v. 24.10.2<strong>01</strong>9 – 8 K 153/19) • Eine Klägerin ist nicht deswegen durch einen die<br />

Einkommensteuer auf 0 € festsetzenden Einkommensteuerbescheid beschwert, weil sie im Hinblick auf<br />

eine begehrte Freistellung zur Rückzahlung eines beanspruchten BAföG-Darlehens gegenüber dem<br />

Bundesverwaltungsamt ihr Einkommen nachweisen muss. Es fehlt insofern an einer Bindungswirkung<br />

des Einkommensteuerbescheids (entgegen AEAO zu § 350 Nr. 3 Buchst. d).<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 17/<strong>2020</strong><br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Verhängung einer Sperrfrist: Abkürzung<br />

(BGH, Urt. v. 30.9.2<strong>01</strong>9 -AnwZ [Brfg] 32/18) • Der zwingende Charakter der Sperrfrist des § 7 Nr. 3 BRAO<br />

steht einer Abkürzung derselben zwecks Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung<br />

in Anlehnung an die sog. Vollstreckungslösung der Strafgerichte nicht entgegen. Im Rahmen der<br />

Wiederzulassung ist die Rechtsanwaltskammer an die im Disziplinarverfahren festgesetzte Anrechnung<br />

der Verfahrensverzögerung grds. gebunden.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 18/<strong>2020</strong><br />

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30 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 551<br />

Rechtsmittelbeschwer<br />

Immobilienrecht/<br />

WEG-Recht<br />

Die Rechtsmittelbeschwer im Immobilien‐ und Wohnungseigentumsrecht<br />

Von Rechtsanwalt MICHAEL BRÄNDLE, Freiburg<br />

Hinweis:<br />

Eine grundlegende Darlegung der Problematik der Beschwer, die hier nur sehr kurz in der Einleitung<br />

zusammengefasst wird, finden Sie bei BRÄNDLE, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 753 = F. 13, S. 2247. In vorliegendem Beitrag<br />

werden hieran anknüpfend nur die Besonderheiten in Immobilien‐ und Wohnungseigentumssachen<br />

behandelt. Für die Besonderheiten im Mietrecht s. BRÄNDLE, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 843 = F. 4, S. 1813. Zur Beschwer<br />

in Wohnungseigentumssachen s. auch bereits BRÄNDLE, ZfIR 2<strong>01</strong>7, 553.<br />

Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

1. Berufung<br />

2. Revision<br />

3. Nichtzulassungsbeschwerde<br />

II. Besonderheiten der Beschwer im<br />

Immobilienrecht<br />

1. Herausgabe eines Grundstücks<br />

2. Eigentumsstörung<br />

3. Notweg; Notleitung<br />

4. Löschung Grundschuld<br />

5. Löschung Vorkaufsrecht<br />

6. Dienstbarkeit<br />

III. Besonderheiten der Beschwer im<br />

Wohnungseigentumsrecht<br />

1. Beschwer und Streitwert<br />

2. Streitgenossenschaft der „übrigen“<br />

Wohnungseigentümer<br />

3. Die Darlegung der Beschwer<br />

IV. Einzelfälle aus dem Wohnungseigentumsrecht<br />

1. Anfechtung<br />

2. Beschlussersetzungsklage<br />

(§ 21 Abs. 8 WEG)<br />

3. Verwalter und Verwaltungsbeirat<br />

4. Protokollberichtigung<br />

5. Beseitigung einer baulichen Veränderung<br />

6. Unterlassung der Wohnnutzung<br />

7. Bestehen eines Sondernutzungsrechts<br />

8. Nutzung einer Dachterrasse – unerheblicher<br />

„Sichteinfluss“<br />

9. Zustimmung zur (gewerblichen) Vermietung<br />

einer Sondereigentumseinheit<br />

10. Entziehungsklage (§ 18 WEG)<br />

11. Zustimmung zur Veräußerung<br />

(§ 12 Abs. 2 WEG)<br />

12. (Ideelles) Interesse an ordnungsmäßiger<br />

Verwaltung<br />

V. Fazit<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 31


Fach 7, Seite 552<br />

Rechtsmittelbeschwer<br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

I. Einleitung<br />

In Verfahren nach der Zivilprozessordnung bedarf es sowohl für die Berufung als auch für die Beschwerde<br />

gegen die Nichtzulassung der Revision – nicht aber für die Revision (unzutreffend deshalb DRASDO,<br />

NZM 2<strong>01</strong>9, 327 im Einleitungssatz) – einer Mindestbeschwer, es sei denn, das Ausgangsgericht hat das<br />

Rechtsmittel zugelassen. Das Rechtsmittelgericht ist an eine Zulassung gebunden (§ 511 Abs. 4 S. 2 ZPO<br />

bzw. § 443 Abs. 2 S. 2 ZPO). Das Rechtsmittel ist dann ohne Weiteres, ohne dass es auf die Beschwer<br />

ankommt, statthaft.<br />

1. Berufung<br />

Die Berufung ist zulassungsfrei nur statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands 600 €<br />

übersteigt (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung gibt es nicht.<br />

Praxistipp:<br />

Wer sich bei einer (potenziellen) Beschwer des Mandanten von bis zu 600 € die Berufung offenhalten will,<br />

sollte beim Erstgericht die Zulassung der Berufung (§ 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) anregen oder, wenn möglich,<br />

durch entsprechenden Vortrag – schon in der ersten Instanz – darlegen und glaubhaft machen, dass für<br />

den Mandanten mehr als 600 € auf dem Spiel stehen.<br />

2. Revision<br />

Die Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) ist nur statthaft, wenn sie entweder vom Berufungsgericht<br />

oder vom BGH auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung zugelassen wurde (§ 543 Abs. 1 ZPO). Seit der<br />

ZPO-Reform 2002 ist die Revision ausschließlich als Zulassungsrevision statthaft; eine zulassungsfreie<br />

(Wert‐)Revision gibt es seither nicht mehr. Für die (zugelassene) Revision ist eine bestimmte Höhe der<br />

Beschwer auf der anderen Seite nicht mehr erforderlich.<br />

3. Nichtzulassungsbeschwerde<br />

Obwohl die (zugelassene) Revision keiner bestimmten Höhe der Beschwer bedarf, ist die Beschwerde<br />

gegen die Nichtzulassung der Revision nur statthaft, wenn der Wert der mit der Revision geltend zu<br />

machenden Beschwer 20.000 € übersteigt. Diese Wertgrenze hat der Gesetzgeber etwas verschämt<br />

und versteckt – und deshalb vielen Instanzanwälten nicht geläufig – in § 26 Nr. 8 S. 1 EGZPO geregelt.<br />

§ 26 Nr. 8 EGZPO war zunächst befristet bis 1.1.2007 (BGBl I 2000, 1887, 1907 re.Sp). Die Befristung wurde<br />

mehrfach verlängert, zuletzt bis 31.12.2<strong>01</strong>9 (BGBl I 2<strong>01</strong>8, 863).<br />

Hinweis:<br />

Voraussichtlich am 1.1.<strong>2020</strong> [nach Drucklegung dieses Beitrags] wird das „Gesetz zur Regelung der Wertgrenze<br />

für die Nichtzulassungsbeschwerde in Zivilsachen, zum Ausbau der Spezialisierung bei den Gerichten<br />

sowie zur Änderung weiterer zivilprozessrechtlicher Vorschriften“ (BT-Drucks 19/13828) in Kraft treten.<br />

Dieses sieht vor, § 26 Nr. 8 EGZPO durch § 544 Abs. 2 ZPO-E mit gleichem Inhalt zu ersetzen, d.h. die<br />

Wertgrenze in die ZPO zu übernehmen und damit zu entfristen. Die Beratung durch den Bundesrat im<br />

zweiten Durchgang hat am 29.11.2<strong>01</strong>9 stattgefunden, so dass das Gesetz wohl noch rechtzeitig vor Auslaufen<br />

der bis zum 31.12.2<strong>01</strong>9 befristeten Regelung des § 26 Nr. 8 EGZPO im Bundesgesetzblatt verkündet werden<br />

wird. An den Darlegungen in diesem Beitrag (und in den beiden bereits erschienenen) ändert sich durch<br />

die Rechtsänderung nichts.<br />

An der Verfassungsmäßigkeit einer Wertgrenze hat das Bundesverfassungsgericht keinen Zweifel<br />

(BVerfG, Beschl. v. 6.2.2007 – 1 BvR 191/06, juris Rn 12 = BVerfGK 10, 258).<br />

Die Wertgrenze gilt nicht, wenn das Berufungsgericht die Berufung (als unzulässig) verworfen hat, § 26<br />

Nr. 8 S. 2 EGZPO (bzw. § 544 Abs. 2 Nr. 2 ZPO-E), d.h., sie ist dann unabhängig vom Wert statthaft.<br />

32 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 553<br />

Rechtsmittelbeschwer<br />

Praxistipp:<br />

Wer bei sich bei einer (potenziellen) Beschwer des Mandanten von bis zu 20.000 € die Revision offenhalten<br />

will, sollte beim Berufungsgericht die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) anregen und/oder, wenn<br />

möglich, durch entsprechenden Vortrag – spätestens in der Berufungsinstanz, besser schon von vornherein –<br />

darlegen und glaubhaft machen, dass für den Mandanten mehr als 20.000 € auf dem Spiel stehen.<br />

Um mit der statthaften Nichtzulassungsbeschwerde erfolgreich zu sein, muss für deren Begründetheit<br />

ein Zulassungsgrund (§ 543 Abs. 2 S. 1 ZPO) vorliegen. (Zu den Zulassungsgründen, die hier nicht<br />

behandelt werden, s. GEIPEL, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>3, 453 = F. 13, S. 1857 sowie die Dissertation von RUPPRECHT, Gründe<br />

für die Zulassung der Revision in deutschen Prozessordnungen, 2<strong>01</strong>5; zur Zulassungspraxis des BGH<br />

s. WINTER, NJW 2<strong>01</strong>6, 922).<br />

II.<br />

Besonderheiten der Beschwer im Immobilienrecht<br />

1. Herausgabe eines Grundstücks<br />

Die aus der Verurteilung zur Herausgabe des Grundstücks folgende Beschwer bemisst sich im<br />

Ausgangspunkt nicht nach § 6 ZPO (nach dem Verkehrswert des Grundstücks), sondern nach § 8 ZPO<br />

(nach dem Nutzungsentgelt), denn bei einem Streit über das Bestehen eines Nutzungsverhältnisses ist<br />

die Sondervorschrift des § 8 ZPO vorrangig (BGH, Beschl. v. 12.4.2<strong>01</strong>8 – V ZR 230/17, juris Rn 5; zu den<br />

näheren Einzelheiten s. BRÄNDLE, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 843 = F. 4, S. 1813).<br />

2. Eigentumsstörung<br />

Bei der Abweisung einer Klage auf Unterlassung einer Eigentumsstörung ist auf das Interesse des<br />

Klägers an der Unterlassung dieser Störung abzustellen; dieses ist nach § 3 ZPO zu bestimmen (BGH,<br />

Beschl. v. 30.6.2<strong>01</strong>6 – V ZR 249/15, juris Rn 6; BGH, Beschl. v. 14.1.2<strong>01</strong>6 – V ZR 94/15, juris Rn 7). Für die<br />

Ermittlung des Interesses des Klägers kommt es auf die Verhinderung der Einwirkungen auf sein<br />

Grundstück an. Erforderlich ist die Darlegung möglicher entstehender Schäden (hier: durch Regenwasser)<br />

oder einer Wertminderung des Grundstücks (BGH, Beschl. v. 14.1.2<strong>01</strong>6 – V ZR 94/15, juris Rn 8).<br />

Das Interesse des Rechtsmittelklägers an der Abänderung der angefochtenen Entscheidung bemisst<br />

sich bei der Störung von Grundeigentum grds. nach dem Wertverlust, den die Sache durch die Störung<br />

erleidet (BGH, Beschl. v. 8.3.2<strong>01</strong>2 – V ZB 247/11, juris Rn 7; BGH, Beschl. v. 12.7.2<strong>01</strong>8 – V ZB 218/17, juris<br />

Rn 7). Der für die Beseitigung der Besitzstörung erforderliche Kostenaufwand ist für die Bemessung der<br />

Beschwer eines in seinem Eigentum gestörten Klägers dagegen grds. unerheblich und auch nicht dem<br />

Wert der Beschwer hinzuzurechnen (BGH, Beschl. v. 8.3.2<strong>01</strong>2 – V ZB 247/11, juris Rn 7).<br />

Das gilt aber nicht ausnahmslos: Bei Abweisung einer Klage auf Beseitigung einer Eigentumsstörung<br />

richtet sich das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche Interesse des Eigentümers, wenn sich die<br />

Störung nach Art bzw. Umfang nicht in einer Wertminderung der Sache niederschlägt, ausnahmsweise<br />

nach den Kosten, die dem Eigentümer durch die Störung entstehen und die ohne diese nicht angefallen<br />

wären. Eine Eigentumsstörung kann im Einzelfall nach ihrer Art bzw. ihrem Umfang so ausgestaltet sein,<br />

dass sie nicht zu einem Wertverlust der Sache führt, der Eigentümer aber gleichwohl ein Interesse an<br />

der Beseitigung der Störung hat, weil er in der Nutzung der Sache beeinträchtigt ist. In einem solchen<br />

Fall ist die reine Verkehrswertbetrachtung zur Ermittlung der Beschwer des Klägers ausnahmsweise<br />

ungeeignet. Ist das Fehlen einer Wertminderung trotz Beeinträchtigung des Eigentums evident oder<br />

glaubhaft gemacht, können zur Bestimmung des Interesses des Grundstückseigentümers an der<br />

Beseitigung der Störung andere Kriterien herangezogen werden. Ein solches Kriterium kann eine<br />

Belastung mit Kosten sein, die der Eigentümer allein aufgrund der Störung erleidet (BGH, Beschl.<br />

v. 12.7.2<strong>01</strong>8 – V ZB 218/17, juris Rn 10–11).<br />

Verlangt ein Grundstückseigentümer erfolglos die Beseitigung der auf seinem Grundstück verlegten<br />

Stromkabel, so richtet sich der Beschwerdewert nach § 3 ZPO nach seinem Interesse an der Beseitigung.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 33


Fach 7, Seite 554<br />

Rechtsmittelbeschwer<br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Dieses bemisst sich grds. an der Wertminderung, die das in Anspruch genommene Grundstück durch die<br />

Kabelverlegung erleidet und bestimmt sich entweder durch einen hälftigen Abschlag von dem Wert der<br />

betroffenen Teilfläche oder durch einen Abschlag vom Wert der Gesamtfläche zwischen 5 % und 30 %<br />

(BGH, Beschl. v. 24.9.2<strong>01</strong>5 – V ZB 56/15, juris Rn 8). Beträgt die von der Kabelverlegung betroffene Fläche<br />

weniger als 1 % der Gesamtfläche, ist es nicht ermessensfehlerhaft, auf die Minderung des Werts<br />

der Teilfläche und nicht auf eine Wertminderung des gesamten Grundstücks abzustellen (BGH, Beschl.<br />

v. 24.9.2<strong>01</strong>5 – V ZB 56/15, juris Rn 10).<br />

Praxistipp:<br />

Sowohl der behauptete Wertverlust als auch ein behaupteter Kostenaufwand sind plausibel darzulegen<br />

und glaubhaft zu machen. Die Beibringung der Beweismittel zur Glaubhaftmachung (§ 294 ZPO) ist Sache<br />

der Parteien. Das Gericht greift nicht von Amts wegen auf zusätzliche Beweismittel zurück.<br />

3. Notweg; Notleitung<br />

Der Gegenstandswert einer Klage auf Gewährung eines Notwegs und eines Notleitungsrechts bemisst<br />

sich nicht nach den Herstellungskosten und/oder der Notwegrente, sondern gem. §§ 3, 7 ZPO nach dem<br />

Wert, den diese Rechte für das herrschende Grundstück haben (BGH, Beschl. v. 7.7.2<strong>01</strong>6 – V ZR 11/16,<br />

juris Rn 5). Umgekehrt ist zur Darlegung der Wertminderung durch ein Notleitungsrecht ein Vergleich<br />

des aktuellen Verkehrswerts des Grundstücks mit einem und ohne ein Notleitungsrecht der Beklagten<br />

erforderlich; die Darlegung von Baulandpreisen können ihn nicht ersetzen (BGH, Beschl. v. 30.6.2<strong>01</strong>6 –<br />

V ZR 260/15, juris Rn 11). Dass das Berufungsgericht das Interesse des Klägers an einem dauerhaften<br />

Notleitungsrecht über das Grundstück des Beklagten mit mindestens 20.000 € beziffert hat, ist für die<br />

Ermittlung der Beschwer des Beklagten unerheblich (BGH, Beschl. v. 30.6.2<strong>01</strong>6 – V ZR 260/15, juris Rn 13;<br />

s. hierzu ausführlich BRÄNDLE, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 753 = F. 13, S. 2247, unter II.2.).<br />

4. Löschung Grundschuld<br />

Der Streitwert einer Klage auf Zustimmung zur Löschung einer Grundschuld bemisst sich grds. auch<br />

dann nach dem eingetragenen Nennwert, wenn die Grundschuld nicht mehr valutiert ist (BGH, Beschl.<br />

v. 16.2.2<strong>01</strong>7 – V ZR 165/16, juris LS). Entsprechend ist die Beschwer zu bemessen; für ihre Bestimmung ist<br />

nicht der Grundstückswert maßgeblich (BGH, Beschl. v. 16.2.2<strong>01</strong>7 – V ZR 165/16, juris Rn 4).<br />

5. Löschung Vorkaufsrecht<br />

Klagt der Grundstückseigentümer auf Löschung eines Vorkaufsrechts, bemisst sich der Streitwert – und<br />

damit im Fall seines Unterliegens auch die Beschwer – nach seinem konkreten Interesse an der Löschung.<br />

Dieses nach freiem Ermessen zu schätzende Interesse kann nach einem Bruchteil des Grundstückswerts<br />

bemessen werden; welcher Bruchteil angemessen ist, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls<br />

(BGH, Beschl. v. 8.3.2<strong>01</strong>8 – V ZR 238/17, juris Rn 5).<br />

6. Dienstbarkeit<br />

Eine Dienstbarkeit, die dazu berechtigt, auf dem belasteten Grundstück eine Schankwirtschaft zu<br />

betreiben oder durch Dritte betreiben zu lassen, und die es dem Eigentümer des Grundstücks verbietet,<br />

Bier anzubieten, zu lagern oder auszuschenken, hat für die Brauerei auch dann einen Wert, wenn ein<br />

Bezugsvertrag nicht oder nicht mehr besteht. Sie sichert dann noch die Interessen, den Grundstückseigentümer<br />

zum Abschluss eines Bezugsvertrags zu bewegen oder zumindest eine Konkurrenz durch<br />

andere Brauereien oder Bierverleger von dem Grundstück fernzuhalten (BGH, Beschl. v. 11.2.2<strong>01</strong>6 –<br />

V ZR 180/15, juris Rn 12). Nach der Gewinnerwartung aus dem Bierausschank kann der wirtschaftliche<br />

Wert einer solchen Dienstbarkeit jedoch nur bestimmt werden, wenn auf dem belasteten Grundstück –<br />

gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft – eine Schankwirtschaft oder ein Bierverlag durch die Brauerei,<br />

den Eigentümer oder einen Dritten betrieben wird (BGH, Beschl. v. 11.2.2<strong>01</strong>6 – V ZR 180/15, juris Rn 13).<br />

34 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 555<br />

Rechtsmittelbeschwer<br />

III. Besonderheiten der Beschwer im Wohnungseigentumsrecht<br />

Die Nichtzulassungsbeschwerde wurde für Wohnungseigentumssachen erst für anzufechtende Entscheidungen<br />

eröffnet, die nach dem 31.12.2<strong>01</strong>5 verkündet worden sind, § 62 Abs. 2 WEG. ZSCHIESCHACK<br />

(NZM 2<strong>01</strong>6, 20, 21) hat bereits zu Beginn des Jahres 2<strong>01</strong>6 darauf hingewiesen, in der Praxis werde sich die<br />

Beschwer als Hauptproblem der seit dem 1.1.2<strong>01</strong>6 geltenden Rechtslage herausstellen. Auf Grund der<br />

„sperrigen und in der Praxis kaum handhabbaren“ Vorschrift des § 49a GKG entspreche der Streitwert nahezu<br />

nie der Beschwer. Dass dem in der Tat so ist, mussten seither viele Beschwerdeführer, deren Beschwerde<br />

von dem V. Zivilsenat als unzulässig verworfen wurde, erfahren. Die nachfolgende Darstellung<br />

berücksichtigt primär die Rechtsprechung des für u.a. für das Wohnungseigentumsrecht zuständigen<br />

V. Zivilsenats des BGH (s. bereits BRÄNDLE, ZfIR 2<strong>01</strong>7, 553 und BRÄNDLE, Kolumne <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>7, 1217 f).<br />

Der Wert der Beschwer bemisst sich nach dem Interesse des Rechtsmittelführers an der Abänderung der<br />

angefochtenen Entscheidung („Angreiferinteresse“; s. schon RG, Urt. v. 27.12.1899 – VI 76/99, RGZ 45, 402,<br />

403-405; im Einzelnen: BRÄNDLE, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 753 = F. 13, S. 2247). Die Parteirolle des Beschwerdeführers ist<br />

unerheblich. Die Beschwer der Parteien ist nicht zwangsläufig identisch. Es ist allein auf die Person des<br />

Rechtsmittelführers, seine Beschwer und sein Änderungsinteresse abzustellen; entscheidend ist der<br />

rechtskraftfähige Inhalt der angefochtenen Entscheidung (BGH, Beschl. v. 19.6.2<strong>01</strong>3 – V ZB 182/12, juris<br />

Rn 7). Dieses Interesse ist unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu bewerten. Nichts anderes gilt in<br />

wohnungseigentumsrechtlichen Verfahren (BGH, Beschl. v. 6.12.2<strong>01</strong>8 – V ZR 63/18, juris Rn 2).<br />

1. Beschwer und Streitwert<br />

Nach § 49a Abs. 1 S. 1 GKG ist der Streitwert in Wohnungseigentumssachen auf 50 % des Interesses der<br />

– also beider – Parteien und aller Beigeladenen an der Entscheidung festzusetzen. Die jeweiligen<br />

Interessen sind, auch soweit sie sich überschneiden, zu addieren und das Ergebnis ist sodann durch zwei<br />

zu teilen. Nach § 49a Abs. 1 S. 2 GKG wird er nach unten auf das Interesse des Klägers und der auf seiner<br />

Seite Beigetretenen und nach oben auf das Fünffache hiervon begrenzt. Nach § 49a Abs. 1 S. 3 GKG stellt<br />

der Verkehrswert des Wohnungseigentums zudem die absolute Obergrenze dar. Eine entsprechende<br />

Obergrenze gibt es in § 49a Abs. 2 GKG für Klagen gegen einzelne Wohnungseigentümer. Das Gericht<br />

muss den gem. § 49a Abs. 1 S. 3 GKG für die Obergrenze maßgeblichen Verkehrswert schätzen. Da eine<br />

sachverständige Begutachtung i.R.d. Streitwertfestsetzung nicht in Betracht kommt, ist es Sache der<br />

Partei, dem Gericht die für die Schätzung erforderliche Tatsachengrundlage zu unterbreiten (BGH,<br />

Beschl. v. 6.12.2<strong>01</strong>8 – V ZR 239/17, juris Rn 5). Die Verkehrswerte mehrerer Wohnungseigentumseinheiten<br />

desselben Klägers sind zusammenzurechnen; maßgeblich ist der Verkehrswert aller Einheiten<br />

eines Klägers, obwohl das Wohnungseigentum des Klägers in der Norm im Singular genannt wird (BGH,<br />

Beschl. v. 6.12.2<strong>01</strong>8 – V ZR 239/17, juris Rn 5).<br />

Die Vorschrift ist zwar vielleicht etwas sperrig, aber durchaus handhabbar, wenn die Parteien zu ihrem<br />

jeweiligen Interesse vortragen. Das Praxisproblem für den in dritter Instanz tätigen Rechtsanwalt beim<br />

BGH liegt eher darin, dass die Parteien gar nicht oder nicht ausreichend vortragen und sich die<br />

Instanzgerichte mit rudimentären Angaben zufriedengeben und froh sind, den Streitwert irgendwie<br />

– und sei es freihändig am Gesetz vorbei – festzusetzen.<br />

Praxistipp:<br />

Das Interesse des Mandanten ist plausibel darzulegen und glaubhaft zu machen. Freihändige Streitwertfestsetzungen<br />

durch die Instanzgerichte sind zu beanstanden.<br />

Selbst einem Kläger, der den Rückbau einer vom Beklagten eigenmächtig vorgenommenen Erneuerung der<br />

Zuwegung verlangt (BGH, Beschl. v. 6.4.2<strong>01</strong>7 – V ZR 254/16, juris Rn 1), wird es von den Instanzgerichten<br />

offenbar durchgelassen, dass er zu seinem eigenen Interesse kein Wort sagt, um den Streitwert dann<br />

kurzerhand und außerhalb des Gesetzes auf die Kosten der Baumaßnahmen festzusetzen (BGH, Beschl.<br />

v. 6.4.2<strong>01</strong>7 – V ZR 254/16, juris Rn 5). Diese Sachbehandlung war jedoch fehlerhaft. Gerade der Kläger muss<br />

– wie immer – primär sein Interesse und nicht das des Gegners darlegen, sonst kann schon nicht überprüft<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 35


Fach 7, Seite 556<br />

Rechtsmittelbeschwer<br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

werden, ob ein Rechtsschutzbedürfnis besteht. Es hätte den Instanzgerichten daher oblegen, den Kläger<br />

entsprechend § 139 Abs. 2 ZPO darauf hinzuweisen, dass er nicht nur, wie offenbar geschehen, das Interesse<br />

der Beklagten (Kosten der Baumaßnahmen), sondern auch sein eigenes Interesse (z.B. den Wertverlust<br />

seines Teileigentums, erlittene Nachteile durch die Baumaßnahme) darzulegen hat. Soweit der V. Zivilsenat<br />

in der gleichen Sache bei seiner Entscheidung über die Anhörungsrüge dagegen meint, aus Sicht des<br />

Berufungsgerichts bestehe kein Anlass, im Hinblick auf ein etwaiges Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren<br />

vorsorglich auf eine Bezifferung der Beschwer hinzuwirken (BGH, Beschl. v. 22.6.2<strong>01</strong>7 – V ZR 254/16, juris<br />

Rn 2 a.E.), so ist das zwar für sich genommen richtig, trifft aber nicht den Kern des Arguments. Der<br />

V. Zivilsenat würde gut daran tun, es den Instanzgerichten nicht durchgehen zu lassen, ihre Arbeit<br />

nicht ordentlich zu machen und Streitwerte nach § 49a GKG einfach freihändig – und gesetzwidrig –<br />

festzusetzen. Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben des Revisionsgerichts, die Instanzgerichte zur<br />

Gesetzestreue anzuhalten.<br />

Hinweis:<br />

Der in wohnungseigentumsrechtlichen Verfahren gem. § 49a GKG bestimmte Streitwert entspricht i.d.R.<br />

nicht der für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels maßgeblichen Beschwer des Rechtsmittelführers (BGH,<br />

Beschl. v. 17.11.2<strong>01</strong>6 – V ZR 86/16, juris LS 1; BGH, Beschl. v. 6.4.2<strong>01</strong>7 – V ZR 254/16, juris Rn 3).<br />

Maßgebend ist das Interesse des Rechtsmittelführers an der Abänderung des angefochtenen Urteils, das<br />

unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu bewerten ist (BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 – V ZR 167/16, juris Rn 3).<br />

Das Änderungsinteresse des Rechtsmittelführers erhöht oder ermäßigt sich nicht dadurch, dass bei<br />

der Bemessung des Streitwerts auch eine Reihe anderer Kriterien Berücksichtigung findet (BGH, Beschl.<br />

v. 17.11.2<strong>01</strong>6 – V ZR 86/16, juris Rn 2). Um dem Revisionsgericht die Prüfung dieser Zulässigkeitsvoraussetzung<br />

zu ermöglichen, muss der Beschwerdeführer innerhalb der laufenden Begründungsfrist darlegen<br />

und glaubhaft machen, dass er mit der beabsichtigten Revision das Berufungsurteil in einem Umfang,<br />

der die Wertgrenze von 20.000 € übersteigt, abändern lassen will (BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 – V ZR 167/16,<br />

juris Rn 3).<br />

2. Streitgenossenschaft der „übrigen“ Wohnungseigentümer<br />

Legen mehrere Streitgenossen – z.B. Wohnungseigentümer – ein Rechtsmittel ein, werden deren<br />

Einzelbelastungen zur Bemessung der Beschwer zusammengerechnet, sofern diese nicht wirtschaftlich<br />

identisch sind (BGH, Urt. v. 2.10.2<strong>01</strong>5 – V ZR 5/15, juris Rn 6). Dies gilt bei der Bestimmung der Streitwerts<br />

auch für die Obergrenze des § 49a Abs. 1 S. 3 GKG: Bei mehreren Klägern entspricht der Verkehrswert<br />

des Wohnungseigentums, der nach § 49a Abs. 1 S. 3 GKG die absolute Obergrenze des Geschäftswerts<br />

bildet, der Summe der Einzelverkehrswerte der Wohnungseigentumsrechte aller klagenden Wohnungseigentümer<br />

(BGH, Beschl. v. 21.3.2<strong>01</strong>9 – V ZR 120/17, juris Rn 6).<br />

Bei Beschlussanfechtungsverfahren bilden die beklagten „übrigen“ Wohnungseigentümer eine notwendige<br />

Streitgenossenschaft. Der Verwalter darf in Beschlussanfechtungsverfahren bestimmte Prozesshandlungen<br />

für die beklagten Wohnungseigentümer vornehmen (BGH, Urt. v. 5.7.2<strong>01</strong>3 – V ZR 241/12, juris Rn 8).<br />

Im Innenverhältnis nehmen die in § 27 WEG geregelten Befugnisse des Verwalters den Wohnungseigentümern<br />

jedoch nicht ihre Entscheidungsmacht und ihre gemeinschaftliche Geschäftsführungsbefugnis;<br />

die Wohnungseigentümer sind deshalb nicht gehindert, die Einberufung einer Eigentümerversammlung zu<br />

verlangen und dem Verwalter Weisungen – z.B., einen bestimmten Rechtsanwalt zu beauftragen – zu<br />

erteilen (BGH, Urt. v. 5.7.2<strong>01</strong>3 – V ZR 241/12, juris Rn 15). Es besteht aber keine Kompetenz, bindend für alle<br />

verklagten Wohnungseigentümer, zu beschließen, ein Rechtsmittel nicht einzulegen (ZSCHIESCHACK, NZM<br />

2<strong>01</strong>6, 20, 21). Einzelne Wohnungseigentümer können (für sich) selbst auftreten oder einen eigenen<br />

Prozessbevollmächtigten bestellen (BGH, Urt. v. 5.7.2<strong>01</strong>3 – V ZR 241/12, juris Rn 15). Jeder einzelne<br />

Streitgenosse ist berechtigt, ein Rechtsmittel einzulegen. Er trägt dann allerdings im Unterliegensfall auch<br />

die Kosten allein. Die übrigen Wohnungseigentümer sind jedoch – wie schon in der Berufungsinstanz – nach<br />

§ 62 Abs. 2 ZPO weiterhin hinzuzuziehen; bei beklagten Wohnungseigentümern im Beschlussmängelprozess<br />

handelt es sich um notwendige Streitgenossen (BGH, Urt. v. 23.10.2<strong>01</strong>5 – V ZR 76/14, juris Rn 13).<br />

36 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 557<br />

Rechtsmittelbeschwer<br />

3. Die Darlegung der Beschwer<br />

Der BGH stellt strenge Anforderungen an die Darlegung der Beschwer, welche an anderer Stelle bereits<br />

behandelt wurden (BRÄNDLE, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 753 = F. 13, S. 2247). Der für Wohnungseigentumssachen<br />

zuständige V. Zivilsenat prüft besonders penibel. Instruktiv ist hier beispielsweise der Beschluss des BGH<br />

v. 11.4.2<strong>01</strong>9 (V ZR 91/18). Dort scheiterte die Nichtzulassungsbeschwerde daran, dass der Beschwerdeführer<br />

nichts zu seinem Kostenanteil am Wirtschaftsplan bzw. an angefochtenen baulichen Maßnahmen<br />

mitgeteilt hatte, obwohl es darauf ankam.<br />

IV.<br />

Einzelfälle aus dem Wohnungseigentumsrecht<br />

1. Anfechtung<br />

a) … eines Sanierungsbeschlusses<br />

Wendet sich der Kläger gegen einen Beschluss, das Gemeinschaftseigentum zu sanieren, ist der auf ihn<br />

entfallende Kostenanteil maßgeblich (BGH, Beschl. v. 21.4.2<strong>01</strong>6 – V ZA 2/16, juris; BGH, Beschl. v. 18.2.2<strong>01</strong>6<br />

– V ZB 103/15, juris).<br />

Bei der Anfechtung eines Beschlusses über eine Instandsetzungs‐ oder Modernisierungsmaßnahme, die<br />

der Kläger als optische Beeinträchtigung des gemeinschaftlichen Eigentums ansieht, können die auf den<br />

Kläger entfallenden Kosten der Maßnahme jedenfalls als Hilfsmittel für die Schätzung der klägerischen<br />

Beschwer dienen; wird nach dem Vortrag des Klägers das gesamte Gebäude optisch erheblich verändert,<br />

ist im Regelfall zu dem Kostenanteil ein Wert von etwa 1.000 € hinzuzurechnen, der dem ideellen<br />

Interesse an der Gebäudegestaltung Rechnung trägt (BGH, Beschl. v. 21.6.2<strong>01</strong>8 – V ZB 254/17, juris Rn 9).<br />

Hinweis:<br />

Das Interesse des einzelnen Eigentümers, eine kostenträchtige Maßnahme zu verhindern, ergibt sich stets<br />

nur aus seinem Kostenanteil und nicht etwa aus den gesamten Kosten der Maßnahme.<br />

Mehr Mühe macht das Interesse der Gemeinschaft, die Sanierungsmaßnahme durchführen zu<br />

können. Hier wird man wohl auf eine unterbliebene Werterhöhung oder auf eine eingetretene oder<br />

jedenfalls für die nähere Zukunft befürchtete Wertminderung abheben müssen (ebenso ZSCHIESCHACK,<br />

NZM 2<strong>01</strong>6, 20, 22). Weiterhin ist denkbar, dass die Gemeinschaft einen konkreten Mehraufwand<br />

(vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 – V ZR 100/16, juris Rn 9 und BGH, Beschl. v. 10.11.2<strong>01</strong>6 – V ZR 54/16,<br />

juris Rn 12) z.B. für zusätzliche Verwaltungstätigkeit (vgl. BGH, Beschl. v. 17.12.2003 – IV ZR 28/03,<br />

juris Rn 13) durch das Unterbleiben der (unterstellt notwendigen und gebotenen) Sanierung darlegt.<br />

Hinweis:<br />

Das Interesse der Gemeinschaft, die Sanierungsmaßnahme durchführen zu können, ergibt sich nicht etwa<br />

aus den gesamten Kosten der geplanten Maßnahme. Vielmehr sind eine unterbliebene Werterhöhung<br />

oder eine unterbleibende Wertminderung plausibel darzulegen.<br />

b) … der Jahresabrechnung oder des Wirtschaftsplans<br />

Das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche wirtschaftliche Interesse der Anfechtungsbeklagten,<br />

die einen für ungültig erklärten Beschluss der Wohnungseigentümer über die Genehmigung der<br />

Jahresabrechnung mit dem Ziel der Aufrechterhaltung verteidigen, bemisst sich nach dem Nennbetrag<br />

der Jahresabrechnung ohne den auf den Anfechtungskläger entfallenden Anteil (BGH, Beschl. v. 9.2.2<strong>01</strong>7<br />

– V ZR 188/16, juris LS 1 und Rn 4). Entgegen ZSCHIESCHACK (NZM 2<strong>01</strong>6, 20, 22) kommt es also nicht auf die<br />

Abrechnungsspitze, sondern auf den Nennbetrag an.<br />

Das entspricht der Bemessung der Beschwer des klagenden Wohnungseigentümers im umgekehrten Fall,<br />

wenn also die Anfechtungsklage gegen den Beschluss der Wohnungseigentümer über die Genehmigung<br />

der Jahresabrechnung abgewiesen wird. Sie bestimmt sich bei einer einschränkungslosen Anfechtung des<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 37


Fach 7, Seite 558<br />

Rechtsmittelbeschwer<br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Beschlusses nach dem Anteil des Anfechtungsklägers an dem Gesamtergebnis der Abrechnung (BGH,<br />

Beschl. v. 9.2.2<strong>01</strong>7 – V ZR 188/16, juris Rn 4). Die Beschwer des Anfechtungsklägers bestimmt sich dabei<br />

allein nach seinem persönlichen wirtschaftlichen Interesse; darüber hinausgehende ideelle Zwecke (dazu<br />

nochmals unten 11.) hat die Jahresabrechnung nicht. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die<br />

Abrechnung den Grundsätzen ordnungsmäßiger Verwaltung entsprechen muss (BGH, Beschl. v. 15.5.2<strong>01</strong>2<br />

– V ZB 282/11, juris Rn 7). Die Beschwer bei der Abweisung einer gegen den Wirtschaftsplan gerichteten<br />

Anfechtungsklage bemisst sich, sofern sich diese nicht auf konkrete Teile des Plans beschränkt, in aller<br />

Regel nach dem Anteil des Klägers, und zwar auch dann, wenn dieser formale Fehler der Abrechnung<br />

bemängelt (BGH, Beschl. v. 18.9.2<strong>01</strong>4 – V ZR 290/13, juris Rn 10). Dabei ergibt sich der Anteil des Klägers im<br />

Zweifel aus den in dem Einzelwirtschaftsplan ausgewiesenen jährlichen Hausgeldzahlungen (BGH, Beschl.<br />

v. 11.4.2<strong>01</strong>9 – V ZR 91/18, juris Rn 8). Wendet sich der Kläger (nur) gegen den Ansatz einer Kostenposition<br />

in seiner Einzelabrechnung (und nicht gegen die Abrechnung insgesamt), bestimmt deren Nennbetrag<br />

seine Beschwer (BGH, Beschl. v. 9.9.2<strong>01</strong>5 – V ZB 198/14, juris Rn 11).<br />

c) … eines Negativbeschlusses bezüglich Aufwendungsersatz<br />

Wird ein Mehrheitsbeschluss für ungültig erklärt, der Zahlungsansprüche eines Wohnungseigentümers<br />

gegen die Wohnungseigentümergemeinschaft verneint, ist im Ausgangspunkt der Nennbetrag dieser<br />

Ansprüche maßgeblich für die Beschwer der übrigen Wohnungseigentümer (BGH, Beschl. v. 19.6.2<strong>01</strong>3 –<br />

V ZB 182/12, juris LS und Rn 9). Wegen der Bezifferung der abgelehnten Ansprüche spielt das konkrete<br />

wirtschaftliche Interesse der Beklagten im Grundsatz keine Rolle. Vielmehr ist üblicherweise – insb.,<br />

aber nicht nur bei einer bezifferten Klage – der volle Forderungsbetrag anzusetzen, sofern die Forderung<br />

selbst im Streit ist (BGH, Beschl. v. 19.6.2<strong>01</strong>3 – V ZB 182/12, juris LS u. Rn 10).<br />

2. Beschlussersetzungsklage (§ 21 Abs. 8 WEG)<br />

Das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche wirtschaftliche Interesse des klagenden Wohnungseigentümers,<br />

der im Wege der Anfechtungs‐ und Beschlussersetzungsklage die Geltendmachung von<br />

Schadenersatzansprüchen gegen den Verwalter erreichen will, bemisst sich nach seinem – im Zweifel nach<br />

Miteigentumsanteilen zu bestimmenden – Anteil an der Schadenersatzforderung; ebenso beschränkt sich<br />

das wirtschaftliche Interesse daran, eine Kostenmehrbelastung (hier durch die beschlossene Erhöhung<br />

einer Kostenobergrenze) zu verhindern, auf den Anteil des Wohnungseigentümers an den Mehrkosten<br />

(BGH, Beschl. v. 9.2.2<strong>01</strong>7 – V ZR 88/16, juris LS).<br />

3. Verwalter und Verwaltungsbeirat<br />

a) Abberufung und Wahl des Verwalters<br />

Das Interesse des Klägers an der vorzeitigen Abberufung des Verwalters ist regelmäßig nach seinem Anteil<br />

an dem restlichen Verwalterhonorar zu bemessen (BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 – V ZR 167/16, juris Rn 5; anders<br />

im Gesellschaftsrecht, wo das Gehalt des abberufenen Geschäftsführers keine Rolle spielt, BGH, Beschl.<br />

v. 28.6.2<strong>01</strong>1 – II ZR 127/10, juris). Für den Antrag, den Kläger zur Einberufung einer Eigentümerversammlung<br />

mit dem Tagesordnungspunkt „Wahl eines neuen Verwalters“ zu ermächtigen, ist höchstens der auf den<br />

Kläger entfallende Anteil an dem Gesamthonorar eines zu bestellenden Verwalters als Beschwer<br />

maßgeblich (BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 – V ZR 167/16, juris Rn 6). Die Entscheidung der Wohnungseigentümer<br />

über die Bestellung des Verwalters wird zwar wesentlich durch die Person, die Qualifikation<br />

und die zu erwartende bzw. bekannte Amtsführung des Verwalters bestimmt sein. Das Verwalterhonorar<br />

ist gleichwohl i.d.R. das gegebene Hilfsmittel, um das jeweilige Interesse an einer Entscheidung über die<br />

Neu‐ oder Wiederbestellung des Verwalters einzuschätzen (BGH, Beschl. v. 15.3.2<strong>01</strong>8 – V ZR 59/17, juris<br />

Rn 6). Es kommt dabei auf den Anteil des Beschwerdeführers an dem Gesamthonorar für die Zeit des<br />

beschlossenen (Wieder‐)Bestellungszeitraums an (BGH, Beschl. v. 15.3.2<strong>01</strong>8 – V ZR 59/17, juris Rn 6).<br />

b) Bestellung der Mitglieder des Verwaltungsbeirats<br />

Das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche wirtschaftliche Interesse des klagenden Wohnungseigentümers,<br />

der erfolglos einen Beschluss über die Bestellung der Mitglieder des Verwaltungsbeirats<br />

angefochten hat, ist in aller Regel auf 750 € zu schätzen (BGH, Beschl. v. 17.1.2<strong>01</strong>9 – V ZB 121/18, juris Rn 10).<br />

38 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 559<br />

Rechtsmittelbeschwer<br />

c) Entlastung des Verwalters und des Beirats<br />

Bei der Bemessung des Interesses des Klägers an der Aufhebung der Entlastung des Verwalters ist der<br />

Wert von Forderungen gegen den Verwalter zu berücksichtigen, wenn die Entlastung wegen solcher<br />

Forderungen verweigert wird oder verweigert werden soll. Denn in der Entlastung liegt dann ein<br />

negatives Schuldanerkenntnis nach § 397 Abs. 2 BGB (BGH, Beschl. v. 17.7.2003 – V ZB 11/03, juris Rn 18 =<br />

BGHZ 156, 20, 25). Maßgeblich für etwaige Ersatzansprüche gegen den Verwalter, auf die die<br />

Anfechtungsklage gestützt wird, ist der klägerische Anteil an dem Nennbetrag dieser Ansprüche (vgl.<br />

BGH, Beschl. v. 9.2.2<strong>01</strong>7 – V ZR 88/16, juris LS u. Rn 5 für Schadenersatzansprüche gegen den Verwalter<br />

und BGH, Beschl. v. 9.2.2<strong>01</strong>7 – V ZB 113/16, juris Rn 12 für die Entlastung des Beirats).<br />

Zu berücksichtigen ist bei der Bemessung des Interesses aber auch der Zweck, den die Entlastung des<br />

Verwalters neben der Verzichtswirkung hat. Sie dient nämlich dazu, die Grundlage für die weitere<br />

vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Zukunft zu legen (BGH, Beschl. v. 31.3.2<strong>01</strong>1 – V ZB 236/10, juris<br />

Rn 10). Das Interesse der Wohnungseigentümer an der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der<br />

Verwaltung der Gemeinschaft ist nicht teilbar und bei allen Wohnungseigentümern dasselbe. Es ist mit<br />

1.000 € zu bewerten (BGH, Beschl. v. 31.3.2<strong>01</strong>1 – V ZB 236/10, juris Rn 12). Anders kann es ausnahmsweise<br />

liegen, wenn der anfechtende Wohnungseigentümer eine weitere gute Zusammenarbeit mit dem<br />

Verwalter ausdrücklich nicht in Zweifel zieht, die Anfechtung des Entlastungsbeschlusses also allein<br />

wegen bestimmter Forderungen gegen den Verwalter verweigert wissen will (BGH, Beschl. v. 17.3.2<strong>01</strong>6 –<br />

V ZB 166/13, juris Rn 12).<br />

Das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche wirtschaftliche Interesse des klagenden Wohnungseigentümers,<br />

der erfolglos einen Beschluss über die Entlastung des Verwaltungsbeirats angefochten<br />

hat, bemisst sich nach dem regelmäßig mit 500 € anzusetzenden Wert, den die künftige vertrauensvolle<br />

Zusammenarbeit mit dem Verwaltungsbeirat hat, zuzüglich des klägerischen Anteils an etwaigen<br />

Ersatzansprüchen gegen den Verwaltungsbeirat, auf die die Anfechtung des Entlastungsbeschlusses<br />

gestützt wird (BGH, Beschl. v. 9.2.2<strong>01</strong>7 – V ZB 113/16, juris LS). Angesichts der unterstützenden Funktion<br />

des Beirats (vgl. § 29 Abs. 2 WEG) und des im Vergleich mit der Tätigkeit des Verwalters geringeren<br />

Umfangs seiner Tätigkeit erscheint die überwiegende gerichtliche Praxis angemessen, wonach insoweit<br />

die Hälfte des bei dem Verwalter anzusetzenden Werts von 1.000 € zugrunde zu legen ist (BGH, Beschl.<br />

v. 9.2.2<strong>01</strong>7 – V ZB 113/16, juris Rn 11). Maßgeblich für etwaige Ersatzansprüche gegen den Verwaltungsbeirat,<br />

auf die die Anfechtungsklage gestützt wird, ist der klägerische Anteil an dem Nennbetrag dieser<br />

Ansprüche (BGH, Beschl. v. 9.2.2<strong>01</strong>7 – V ZB 113/16, juris Rn 12).<br />

In den Entlastungsfällen kommt somit ausnahmsweise ein ideelles Interesse (dazu nochmals unten IV.12)<br />

in Betracht.<br />

4. Protokollberichtigung<br />

Für eine bloße Protokollberichtigung ist allenfalls ein geschätzter Wert von 1.000 € anzusetzen. Auf den<br />

Wert des sachlichen Inhalts der Beschlussanträge kommt es nicht an (OLG Frankfurt a.M., Beschl.<br />

v. 13.3.2<strong>01</strong>8 – 2 W 44/17, juris Rn 10-11).<br />

5. Beseitigung einer baulichen Veränderung<br />

Wird der Beklagte zur Beseitigung einer baulichen Veränderung verurteilt, bemisst sich seine Beschwer<br />

grds. nach den Kosten einer Ersatzvornahme des Abrisses, die ihm im Falle des Unterliegens drohen (BGH,<br />

Beschl. v. 17.11.2<strong>01</strong>6 – V ZR 86/16, juris Rn 3). Übersteigt das Interesse am Erhalt des Bauwerks die grds.<br />

maßgeblichen Kosten einer Ersatzvornahme des Abrisses, so ist die Beschwer nach dem höheren Interesse<br />

an dem Erhalt des Bauwerks zu bemessen. Dieses bestimmt sich grds. nach den für den Bau aufgewendeten<br />

Kosten. Nicht zu berücksichtigen sind dagegen mittelbare wirtschaftliche Folgen des Urteils, zu denen die<br />

Wertminderung der Wohnung sowie die Kosten für ersatzweise zu errichtende Anlage zählen (BGH, Beschl.<br />

v. 26.9.2<strong>01</strong>9 – V ZR 224/18, juris Rn 3). Der zuletzt genannte Fall ist allerdings von der Besonderheit geprägt,<br />

dass zwar nur ein Kaminrohr rückzubauen war, die ganze Heizung dadurch aber sinnlos wurde. Es lag also<br />

eine einheitliche Anlage vor, die nur mit dem (zu beseitigenden) Kaminrohr betrieben werden konnte.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 39


Fach 7, Seite 560<br />

Rechtsmittelbeschwer<br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Hingegen bemisst sich das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche wirtschaftliche Interesse eines<br />

Wohnungseigentümers, dessen Klage auf Beseitigung einer eigenmächtig durch einen Miteigentümer<br />

vorgenommenen baulichen Veränderung des gemeinschaftlichen Eigentums abgewiesen worden ist,<br />

grds. nach dem Wertverlust, den sein Wohnungseigentum durch die bauliche Veränderung erleidet<br />

(BGH, Beschl. v. 6.4.2<strong>01</strong>7 – V ZR 254/16, juris LS u. Rn 4). Der Wertverlust ist vom Kläger darzulegen und<br />

gem. § 294 ZPO glaubhaft zu machen; stützt er seine Klage auf eine optische Veränderung des<br />

gemeinschaftlichen Eigentums, muss er jedenfalls Tatsachen darlegen und glaubhaft machen, die eine<br />

Schätzung seines Interesses ermöglichen (BGH, Beschl. v. 6.4.2<strong>01</strong>7 – V ZR 254/16, juris Rn 4).<br />

6. Unterlassung der Wohnnutzung<br />

Bei Verurteilung zur Unterlassung der Wohnnutzung einer Teileigentumseinheit ist für den Wert der<br />

Beschwer der Beklagten auf die diesbezüglich entstehenden Nachteile abzustellen. Sie können etwa in<br />

dem Verlust der Vorteile bestehen, die aus der Wohnnutzung gezogen werden, oder in einem mit der<br />

Unterlassung verbundenen Aufwand. Das Interesse kann geschätzt werden (BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 –<br />

V ZR 100/16, juris Rn 7). Für die Bestimmung des Werts der Beschwer kann nicht auf §§ 8, 9 ZPO<br />

zurückgegriffen werden. Es wird nicht über den Bestand oder die Dauer eines unbefristeten Miet- oder<br />

Pachtverhältnisses gestritten. Vielmehr steht die grundsätzliche Nutzungsmöglichkeit der Teileigentumseinheit<br />

zu dauernden Wohnzwecken infrage. Eine Parallele zu einer Räumungsklage wäre nicht<br />

sachgerecht. Im Übrigen ist der Mietwert der Wohnung im Hinblick darauf, dass eine gewerbliche<br />

Nutzung der Teileigentumseinheit möglich bleibt, nicht geeignet, den Nachteil der Unterlassungsverurteilung<br />

zu beziffern (BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 – V ZR 100/16, juris Rn 9). Maßgeblich ist die Differenz der<br />

Mietwerte zwischen einer Nutzung zu Wohnzwecken und einer gewerblichen Nutzung der Einheit und/<br />

oder ein konkreter Aufwand, der mit der Nutzungsänderung verbunden wäre (BGH, Beschl. v. 19.1.2<strong>01</strong>7 –<br />

V ZR 100/16, juris Rn 9).<br />

7. Bestehen eines Sondernutzungsrechts<br />

Streiten die Parteien um das Bestehen eines Sondernutzungsrechts, ist zu unterscheiden: Die Beschwer<br />

des Beklagten, der sich gegen die gerichtliche Feststellung des Bestehens eines Sondernutzungsrechts<br />

eines anderen Wohnungseigentümers wendet, richtet sich nach der Wertminderung, die seine<br />

Wohneinheit erfährt, wenn es bei dem Urteil bliebe. Demgegenüber bemisst sich die Beschwer des<br />

Klägers, dessen Klage auf Feststellung des Bestehens bzw. auf Einräumung eines Sondernutzungsrechts<br />

abgewiesen worden ist, nach der Wertsteigerung, die sein Wohnungseigentum bei Stattgabe der Klage<br />

erfährt (BGH, Beschl. v. 6.12.2<strong>01</strong>8 – V ZR 338/17, juris Rn 3).<br />

8. Nutzung einer Dachterrasse – unerheblicher „Sichteinfluss“<br />

Entscheidet das Berufungsgericht, dem jeweiligem Eigentümer einer Wohneinheit stehe das alleinige<br />

Nutzungsrecht an einer Dachterrasse zu, und wendet sich der Beklagte dagegen mit der Nichtzulassungsbeschwerde,<br />

so richtet sich seine Beschwer nach der Wertminderung, die seine Wohneinheit<br />

erfährt, wenn es bei diesem Urteil bliebe (BGH, Beschl. v. 25.1.2<strong>01</strong>8 – V ZR 135/17, juris Rn 3). Auf eine<br />

angebliche Wertminderung, die die Wohnung des Beklagten durch einen von einer Nutzung der<br />

Dachterrasse ausgehenden „Sichteinfluss“ auf die darunter liegende Terrasse erleidet, kommt es nicht an.<br />

Für die Frage der Wertminderung ist allein maßgeblich, in welcher Höhe die Wohnung des Beklagten<br />

durch eine fehlende Gebrauchsmöglichkeit der Dachterrasse durch ihn und die anderen Wohnungseigentümer<br />

eine Wertminderung erleidet (BGH, Beschl. v. 25.1.2<strong>01</strong>8 – V ZR 135/17, juris Rn 4). Der<br />

Fall zeigt, dass der V. Zivilsenat des BGH sich nicht durch „trickreiche“ Konstruktionen zur Beschwer<br />

beeindrucken lässt.<br />

9. Zustimmung zur (gewerblichen) Vermietung einer Sondereigentumseinheit<br />

Das Interesse des Klägers an der (gewerblichen) Vermietung einer Sondereigentumseinheit oder einer<br />

Sondernutzungsfläche durch einen Wohnungseigentümer ist nach § 9 ZPO mit dem dreieinhalbfachen<br />

Jahresbetrag der konkret zu erzielenden Miete zu bewerten, sofern nicht eine kürzere Mietdauer<br />

vereinbart wurde oder werden sollte oder sofern als Nachteil nicht nur die Differenz zu einer niedrigeren<br />

Miete vorgetragen wird (OLG München, Beschl. v. 23.10.2<strong>01</strong>8 – 32 W 1603/18 WEG, juris, Rn 17). Das<br />

40 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 561<br />

Rechtsmittelbeschwer<br />

spiegelbildliche Interesse der beklagten Gemeinschaft besteht in der Vermeidung behaupteter Störungen<br />

durch die vom Kläger beabsichtigte Vermietung; es kann mangels näheren Vortrags auf den „Regelstreitwert“<br />

in Anlehnung an § 23 Abs. 3 S. 2 RVG mit 5.000 € angesetzt werden (OLG München, Beschl.<br />

v. 23.10.2<strong>01</strong>8 – 32 W 1603/18 WEG, juris Rn 26).<br />

10. Entziehungsklage (§ 18 WEG)<br />

Bei einer Entziehungsklage entspricht das Interesse beider Parteien dem Verkehrswert des Wohnungseigentums<br />

des zur Veräußerung Verpflichteten (BGH, Beschl. v. 19.12.2<strong>01</strong>3 – V ZR 96/13, juris Rn 10;<br />

ebenso zuvor OLG Köln, Beschl. v. 16.8.2<strong>01</strong>0 – 16 W 25/10, juris Rn 8). Für die Rechtslage vor dem 1.1.2007<br />

hat der BGH für den Streitwert einer Eigentumsentziehungsklage ebenso entschieden und weiter<br />

bemerkt, an dieser Beurteilung ändere sich nichts, wenn man berücksichtigt, dass Verlust des Eigentums<br />

nicht ohne Gegenleistung, sondern durch Veräußerung eintreten soll. Auch in dem vergleichbaren Fall<br />

der Enteignung mit der Folge des Eigentumsverlusts gegen Entschädigung werde als Streitwert der<br />

Verkehrswert des Enteignungsobjekts zugrunde gelegt, weil es allein um den Eigentumsverlust gehe<br />

(BGH, Beschl. v. 21.9.2006 – V ZR 28/06, juris). Beide Entscheidungen beziehen sich zwar auf den<br />

Streitwert und nicht auf die Beschwer. Der V. Zivilsenat spricht in seiner Entscheidung vom 19.12.2<strong>01</strong>3<br />

aber ausdrücklich vom „Interesse beider Parteien“. Das Interesse der Partei ist deren Beschwer. Wird also<br />

die Entziehungsklage abgewiesen, muss die Gemeinschaft nicht ihr (anderweitig nur schwerlich zu<br />

bezifferndes) Interesse darlegen, den Beklagten auszuschließen. Der V. Zivilsenat des BGH folgt damit<br />

dem, was auch im Gesellschaftsrecht gilt: Die Beschwer einer GmbH, die sich gegen ein kassatorisches<br />

Urteil hinsichtlich eines Beschlusses über die Einziehung eines Geschäftsanteils wendet, bemisst sich<br />

grds. nach dem Verkehrswert des von der Einziehung betroffenen Geschäftsanteils (BGH, Beschl.<br />

v. 29.7.2<strong>01</strong>4 – II ZR 73/14, juris Rn 8).<br />

11. Zustimmung zur Veräußerung (§ 12 Abs. 2 WEG)<br />

a) Klage auf Erteilung der Zustimmung<br />

Das Interesse des klagenden Wohnungseigentümers an der Erteilung der Zustimmung zur Veräußerung<br />

seines Wohnungseigentums ist i.d.R. mit 20 % des Verkaufspreises des Wohnungseigentums zu<br />

bemessen (BGH, Beschl. v. 18.1.2<strong>01</strong>8 – V ZR 71/17, juris Rn 6). Dies beruht entscheidend darauf, dass<br />

durch die Verweigerung der Zustimmung die Veräußerung nicht allgemein verhindert, sondern grds.<br />

nur verzögert wird, bis die Erteilung der Zustimmung im Klageweg durchgesetzt wird oder der<br />

Wohnungseigentümer einen Erwerber findet, gegen den kein wichtiger Grund spricht. Der Nachteil<br />

des Wohnungseigentümers, der veräußern will, liegt daher grds. nur in der Verzögerung der<br />

Veräußerung bzw. ggf. in einem geringeren Verkaufspreis. Dieser Nachteil entspricht nicht dem<br />

Kaufpreis, sondern ist mit einem Bruchteil davon zu bewerten, den der V. Zivilsenat des BGH i.d.R. auf<br />

20 % schätzt (BGH, Beschl. v. 15.11.2<strong>01</strong>8 – V ZR 25/18, juris Rn 3). Diese Überlegungen gelten auch bei<br />

der Veräußerung des Wohnungseigentums im Wege der Zwangsvollstreckung, die gem. § 12 Abs. 3<br />

S. 2 WEG einer rechtsgeschäftlichen Veräußerung gleichsteht, wobei an die Stelle des Kaufpreises das<br />

Meistgebot tritt (BGH, Beschl. v. 15.11.2<strong>01</strong>8 – V ZR 25/18, juris Rn 4).<br />

b) Klage auf Versagung der Zustimmung<br />

Daran angelehnt ist auch das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche Interesse eines Wohnungseigentümers,<br />

der erreichen will, dass die Zustimmung zur Veräußerung des Wohnungseigentums eines<br />

anderen Eigentümers versagt wird, i.d.R. auf 20 % des Verkaufspreises des Wohnungseigentums zu<br />

schätzen (BGH, Beschl. v. 19.7.2<strong>01</strong>8 – V ZR 229/17, juris Rn 3).<br />

c) Verurteilung zur Zustimmung<br />

Wird hingegen der Beklagte dazu verurteilt, der Veräußerung des Sondereigentums durch den klagenden<br />

Miteigentümer zuzustimmen, weil ein Versagensgrund nach § 12 Abs. 2 S. 1 WEG nicht vorliegt, so bemisst<br />

sich seine Beschwer nach der Wertminderung, die seine Wohnung infolge der Zustimmung zur<br />

Veräußerung der Wohnung des Klägers erfährt (BGH, Beschl. v. 28.11.2<strong>01</strong>7 – V ZB 210/17, juris).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 41


Fach 7, Seite 562<br />

Rechtsmittelbeschwer<br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

12. (Ideelles) Interesse an ordnungsmäßiger Verwaltung<br />

Für das Rechtsschutzbedürfnis der Anfechtungsklage genügt zwar grds. das Interesse eines Wohnungseigentümers,<br />

eine ordnungsmäßige Verwaltung zu erreichen (BGH, Beschl. v. 17.7.2003 – V ZB 11/03,<br />

juris Rn 11 = BGHZ 156, 19, 22), für die Beschwer (hier: bezüglich der Anfechtung einer Jahresabrechnung)<br />

ist jedoch ein solches ideelles Interesse nicht hinzuzurechnen (BGH, Beschl. v. 15.5.2<strong>01</strong>2 – V ZB 282/11,<br />

juris Rn 7). Beispielsweise ist bei der Bemessung der Beschwer die von dem Kläger im Zuge der Durchführung<br />

von Trittschallmessungen befürchtete Beeinträchtigung seines Rechts auf Unverletzlichkeit der<br />

Wohnung gem. Art. 13 Abs. 1 GG und seines Sondereigentums durch Bauteilöffnungen jedenfalls dann<br />

nicht zu berücksichtigen, wenn der Kläger nicht darlegt, wie seine Beeinträchtigung zu bemessen ist<br />

oder aufgrund welcher tatsächlichen Anknüpfungspunkte sie geschätzt werden könnte (BGH, Beschl.<br />

v. 11.6.2<strong>01</strong>5 – V ZB 78/14, juris Rn 9). Nur wenn es, wie bei der Verwalter- oder Beiratsentlastung oder<br />

optischen Beeinträchtigungen (dazu jeweils oben), völlig an einem wirtschaftlichen Interesse fehlt, ist das<br />

ideelle Interesse zu schätzen.<br />

V. Fazit<br />

Praxistipp:<br />

• Hat die Klage in einer Wohnungseigentumssache keinen bezifferten Klagantrag, so ist seitens des<br />

Klägers genau zu prüfen und darzulegen, welches Interesse er verfolgt.<br />

• Dieses ist allein schon im Hinblick auf § 49a GKG anzugeben. Im Hinblick auf diese Vorschrift muss sich der<br />

Kläger überdies auch zum Interesse des Beklagten äußern, sonst kann der Streitwert nicht festgesetzt<br />

werden.<br />

• Bei Beschlussanfechtungen hat dies alles im Hinblick auf § 46 Abs. 1 S. 2 WEG spätestens in der<br />

Klagebegründung zu erfolgen.<br />

• Fehlen solche Angaben und muss das Gericht diese erst durch eine Rückfrage beim Kläger ermitteln,<br />

riskiert der Kläger, dass seine Klage – ihm zurechenbar – nicht „demnächst“ i.S.d. § 167 ZPO zugestellt<br />

wird. Stellt sich der Beschluss im Laufe des Verfahrens als nur anfechtbar heraus, war die Mühe umsonst,<br />

denn der nicht rechtzeitig angefochtene und nicht nichtige Beschluss bleibt gültig (§ 23 Abs. 4 S. 2 WEG)<br />

und die Beschlussanfechtungsklage ist abzuweisen.<br />

• Der Beklagte sollte im Hinblick auf sein mögliches Unterliegen ebenfalls sein Interesse darlegen und<br />

ggf. den entsprechenden Angaben des Klägers entgegentreten.<br />

Der Beklagte, der in erster Instanz unterliegt, hat hierzu eine letzte Möglichkeit in der Berufungsinstanz.<br />

Die Darlegung seines Interesses muss schon in der Berufungsbegründung erfolgen, um nicht zu<br />

riskieren, mit entsprechendem Vortrag präkludiert zu sein.<br />

Im Übrigen ist die Beschwer für die Berufung schon im Hinblick auf § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO darzulegen und<br />

nach § 511 Abs. 3 ZPO glaubhaft zu machen, es sei denn, das Amtsgericht hat die Berufung zugelassen.<br />

Die Instanzgerichte sind gehalten, die Parteien ggf. aufzufordern, entsprechenden Vortrag zu halten.<br />

Geschieht dies nicht, ist dies zwar verfahrensfehlerhaft, reicht allerdings wohl trotzdem nicht aus, der<br />

Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zum Erfolg zu verhelfen.<br />

Praxistipp:<br />

Bei der Beschwer eines einzelnen (oder mehrerer) Eigentümers ist stets zu beachten, dass es für ihn<br />

(bzw. sie) bei der Belastung mit Kosten in aller Regel um den/die von ihm (bzw. ihnen) zu tragenden<br />

Anteil(e) geht, was nicht mit dem insgesamt entstandenen Betrag der Kosten einer Maßnahme oder eines<br />

Schadens gleichgesetzt werden darf.<br />

Sollte das Interesse der das Rechtsmittel beabsichtigenden Partei nicht auf mehr als 20.000 € zu<br />

bemessen sein, ist die Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH nicht statthaft und es hat auch wenig Sinn,<br />

zu versuchen, einen dort in der Instanz nicht gehaltenen Vortrag erstmals anzubringen (s. hierzu<br />

ausführlich den BRÄNDLE, <strong>ZAP</strong> 2<strong>01</strong>9, 753 = F. 13, S. 2247, unter III.1.).<br />

42 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1549<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Unterhaltsrecht<br />

Basiswissen 1: Was der anwaltliche Berufsanfänger vom Unterhaltsrecht<br />

wissen muss – materielles Recht<br />

Von Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Weitere Aufsicht führender RiAG a.D., Gelsenkirchen<br />

Inhalt<br />

I. Voraussetzungen eines Unterhaltsanspruchs<br />

II. Die gesetzlichen Unterhaltsansprüche<br />

1. Unterhalt des minderjährigen Kindes<br />

2. Unterhalt des volljährigen Kindes<br />

3. Trennungsunterhalt (§ 1361 BGB)<br />

4. Betreuungsunterhalt (§ 1570 BGB)<br />

5. Unterhalt wegen Alters (§ 1571 BGB)<br />

6. Unterhalt wegen Krankheit (§ 1572 BGB)<br />

7. Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit (§ 1573<br />

Abs. 1 BGB)<br />

8. Aufstockungsunterhalt (§ 1573 Abs. 2 BGB)<br />

9. Anspruch bei Wegfall einer Erwerbstätigkeit<br />

(§ 1573 Abs. 4 BGB)<br />

10. Unterhalt wegen Ausbildung<br />

(§ 1575 BGB)<br />

11. Billigkeitsunterhalt (§ 1576 BGB)<br />

12. Vorsorgeunterhalt (§ 1578 Abs. 2<br />

und 3 BGB)<br />

III. Ermittlung des unterhaltsrechtlich<br />

relevanten Einkommens<br />

1. Anzurechnendes tatsächliches<br />

Einkommen<br />

2. Erzielbares (hypothetisches/fiktives)<br />

Einkommen<br />

3. Abzugspositionen bei der<br />

Einkommensberechnung<br />

4. Besonderheit: Schuldenbelastungen<br />

IV. Einschränkung des Ehegattenunterhalts<br />

nach § 1579 BGB<br />

V. Begrenzung und Befristung des nachehelichen<br />

Unterhalts (§ 1578b BGB)<br />

1. Ehebedingter Nachteil<br />

2. Nacheheliche Solidarität<br />

3. Rechtsfolgen<br />

4. Verfahrensfragen<br />

I. Voraussetzungen eines Unterhaltsanspruchs<br />

Voraussetzungen eines Unterhaltsanspruchs sind auf Seiten des Unterhaltsberechtigten:<br />

• ein Unterhaltsanspruch,<br />

• der fällig ist,<br />

• der nicht verwirkt ist und dem keine Ausübungshindernisse entgegenstehen;<br />

• ein unterhaltsrechtlich anerkannter Bedarf<br />

(vereinfachend: was dem Berechtigten unterhaltsrechtlich zusteht),<br />

• der nicht selbst durch eigene finanzielle Mittel gedeckt werden kann (sog. Bedürftigkeit)<br />

(vereinfachend: was der Berechtigte – noch – braucht).<br />

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Fach 11, Seite 1550<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Auf Seiten des Unterhaltspflichtigen sind die Voraussetzungen dessen finanzielle Leistungsfähigkeit<br />

unter Berücksichtigung:<br />

• seiner Einkünfte,<br />

• der unterhaltsrechtlich anzuerkennenden Abzüge,<br />

• der Ansprüche anderer vorrangiger oder gleichrangiger Unterhaltsberechtigter und<br />

• des eigenen Selbstbehaltes, der in der jeweils gültigen Düsseldorfer Tabelle festgelegt ist<br />

(vereinfachend: was der Verpflichtete zahlen kann).<br />

II. Die gesetzlichen Unterhaltsansprüche<br />

Der Unterhalt eines Kindes ergibt sich aus den §§ 1602 ff. BGB.<br />

Der getrenntlebende Ehegatte kann nach § 1361 BGB Trennungsunterhalt verlangen.<br />

Nach Rechtskraft der Scheidung stehen dem geschiedenen Ehegatten die folgenden Unterhaltsansprüche<br />

zur Verfügung:<br />

• Kindesbetreuungsunterhalt (§ 1570 BGB);<br />

• Unterhalt wegen Alters (§ 1571 BGB);<br />

• Unterhalt wegen Krankheit (§ 1572 BGB);<br />

• Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit (§ 1573 Abs. 1 BGB);<br />

• Aufstockungsunterhalt (§ 1573 Abs. 2 BGB);<br />

• Unterhaltsanspruch bei Wegfall einer Erwerbstätigkeit (§ 1573 Abs. 4 BGB);<br />

• Unterhalt wegen Ausbildung (§ 1575);<br />

• Billigkeitsunterhalt (§ 1576);<br />

• Vorsorgeunterhalt (§ 1578 Abs. 2 und 3 BGB).<br />

Einem nicht verheirateten Elternteil steht nach § 1615l BGB Unterhalt zu.<br />

Der Elternunterhalt (i.d.R. eines im Pflegeheim lebenden Elternteils) richtet sich auch nach §§ 1602 ff. BGB.<br />

1. Unterhalt des minderjährigen Kindes<br />

Beim minderjährigen Kind erfüllt ein Elternteil seine Unterhaltspflicht durch die Betreuung und<br />

Erziehung des Kindes (§ 1606 Abs. 3 S. 2 BGB); nur der andere Elternteil muss Barunterhalt leisten, der<br />

sich allein nach dessen Einkommen bemisst und nach der Düsseldorfer Tabelle festgesetzt wird, wobei<br />

das an den betreuenden Elternteil gezahlte Kindergeld zur Hälfte abgezogen wird.<br />

Minderjährigen Kindern gegenüber besteht nach § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB eine gesteigerte Unterhaltspflicht<br />

mit der Folge, dass der Unterhaltspflichtige nur einen geringeren Selbstbehalt einbehalten darf<br />

und u.U. zu einer zusätzlichen Nebentätigkeit verpflichtet ist.<br />

2. Unterhalt des volljährigen Kindes<br />

Jedes Kind hat gegen seine Eltern einen Anspruch auf eine angemessene Ausbildung, die seinen<br />

Begabungen, Fähigkeiten, Leistungswillen und Neigungen entspricht (§ 1610 Abs. 2 BGB). Unterhaltspflicht<br />

und Ausbildungspflicht stehen in einem Gegenseitigkeitsverhältnis. Während die Eltern eine Berufsausbildung<br />

ermöglichen müssen, trifft das unterhaltsberechtigte Kind die Obliegenheit, diese Ausbildung<br />

mit Fleiß und der gebotenen Zielstrebigkeit in angemessener und üblicher Zeit durchzuführen und<br />

erfolgreich abzuschließen. Vor Aufnahme seiner Ausbildung wird dem Kind eine Orientierungsphase von<br />

zwei Semestern zugebilligt. Eine verspätete Aufnahme einer – an sich angemessenen Ausbildung – durch<br />

das Kind kann einem Unterhaltsanspruch entgegenstehen (BGH, Beschl. v. 3.5.2<strong>01</strong>7 – XII ZB 415/16, BGH<br />

FamRZ 2<strong>01</strong>7, 1132 = NJW 2<strong>01</strong>7, 2278). Dies gilt insb. dann, wenn die Unterhaltsverpflichtung aufgrund der<br />

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Familienrecht Fach 11, Seite 1551<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Verzögerungen u.U. in Zeiträume fällt, in denen aufgrund des fortgeschrittenen Alters des Kindes<br />

steuerliche Erleichterungen, Bafög-Ansprüche, Kindergeld oder kindbezogene Gehaltsbestandteile nicht<br />

mehr genutzt werden können.<br />

Bei längeren Verzögerungen z.B. aufgrund von Studienplatzbeschränkungen besteht einerseits eine<br />

Nachfrageobliegenheit der Eltern, andererseits eine Informationspflicht des Kindes (BGH, a.a.O.).<br />

Besondere Probleme treten in der Praxis dann auf, wenn das Kind<br />

• einen einmal begonnenen Ausbildungsweg abbricht, um eine andere Ausbildung aufzunehmen<br />

(Ausbildungswechsel) oder<br />

• wenn nach einer abgeschlossenen Ausbildung eine weitere Ausbildung aufgenommen wird (Zusatzausbildung,<br />

Zweitstudium).<br />

Wird nach dem Abitur erst eine Lehre absolviert und dann ein Studium begonnen, schulden die Eltern<br />

nur dann Unterhalt, wenn ein enger sachlicher und zeitlicher Zusammenhang gegeben ist.<br />

Bei der Berechnung des Anspruchs ist wie folgt vorzugehen:<br />

• Der Unterhaltsbedarf des volljährigen Kindes ist nach dem zusammengerechneten bereinigten<br />

Einkommen beider Eltern festzustellen. Bei einem auswärts wohnenden Studenten wird ein fester<br />

Bedarfsbetrag angesetzt.<br />

• Hierauf ist eigenes bereinigtes Einkommen des volljährigen Kindes bedarfsmindernd anzurechnen,<br />

also auch eine Ausbildungsvergütung. Nach Abzug berufsbedingter Aufwendungen von 100 € (2<strong>01</strong>9).<br />

• Das Kindergeld wird in voller Höhe auf den Bedarf angerechnet (§ 1612b Abs. 1 Nr. 2 BGB).<br />

• Für den Restbetrag haften die Eltern anteilig.<br />

Bereinigtes Nettoeinkommen des Vaters 2.600,00 €<br />

bereinigtes Nettoeinkommen der Mutter 2.300,00 €<br />

Summe 4.900,00 €<br />

Der Unterhaltsbedarf ergibt sich dann aus der Düsseldorfer Tabelle (Werte 2<strong>01</strong>9).<br />

Unterhaltsbedarf des volljährigen Kindes 802,00 €<br />

abzgl. volles Kindergeld - 204,00 €<br />

verbleibender ungedeckter Bedarf des Kindes 598,00 €<br />

Berechnung der Haftungsverteilung<br />

bereinigtes Nettoeinkommen des Vaters 2.600,00 €<br />

Selbstbehalt gegenüber Volljährigen 1.300,00 €<br />

anzurechnen beim Vater 1.300,00 €<br />

bereinigtes Nettoeinkommen der Mutter 2.300,00 €<br />

Selbstbehalt gegenüber Volljährigen 1.300,00 €<br />

anzurechnen bei der Mutter 1.000,00 €<br />

Haftungsanteil des Vaters in % 56,52 %<br />

Haftungsanteil der Mutter in % 43,48 %<br />

Unterhaltsanspruch gegen den Vater 337,99 €<br />

Unterhaltsanspruch gegen die Mutter 260,<strong>01</strong> €<br />

Summe 598,00 €<br />

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Fach 11, Seite 1552<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Beschränkung auf den Betrag bei alleiniger Haftung<br />

Allerdings ist die Unterhaltspflicht bei anteiliger Haftung auf den Betrag begrenzt, den der Unterhaltspflichtige<br />

bei alleiniger Unterhaltshaftung auf der Grundlage seines Einkommens zu zahlen hätte<br />

(BGH, Beschl. v. 15.2.2<strong>01</strong>7 – XII ZB 2<strong>01</strong>/16, FamRZ 2<strong>01</strong>7, 711).<br />

Praxistipp:<br />

Diese – in der Praxis nicht selten übersehene – Vorgabe führt dazu, dass in zahlreichen Fällen eine<br />

Zahlungspflicht des in Anspruch genommenen Elternteils nach seiner anteiligen Haftung gar nicht zum<br />

Tragen kommt, sondern er nur den geringeren Betrag zu zahlen hat, der sich nach der Berechnung auf<br />

der Basis nur seines Einkommens ergibt.<br />

Unterhalt bei Einkommen 2.600 € (Gruppe 4, Wert 2<strong>01</strong>9) 607,00 €<br />

abzgl. volles Kindergeld – 204,00 €<br />

Zahlbetrag 403,00 €<br />

Betrag bei anteiliger Haftung 337,99 €<br />

= Verpflichtung aufgrund anteiliger Haftung i.H.v. 337,99 €<br />

Da der Vater bei alleiniger Haftung mehr zahlen müsste, bleibt es bei dem aufgrund der anteiligen Haftung<br />

errechneten Unterhaltsbetrag.<br />

3. Trennungsunterhalt (§ 1361 BGB)<br />

Bei Unterhaltsstreitigkeiten getrennt lebender Ehegatten geht es in der Praxis meist um die Frage, ob, ab<br />

wann und in welchem Umfang der Unterhalt beanspruchende Ehegatte einer eigenen Erwerbstätigkeit<br />

nachgehen muss. Dabei neigt die Rechtsprechung dazu, das Trennungsjahr als Orientierungsphase<br />

anzusehen mit der Folge, dass danach vielfach eine vollschichtige Erwerbsobliegenheit angenommen wird.<br />

Arbeitet der Ehegatte dennoch nicht, wird ihm ein fiktives (erzielbares) Einkommen angerechnet.<br />

4. Betreuungsunterhalt (§ 1570 BGB)<br />

Der Anspruch aus § 1570 BGB stützt sich auf die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes. Dabei sind<br />

unterschiedliche Voraussetzungen kodifiziert:<br />

• Der allein auf die Betreuung des Kindes gestützte Anspruch des § 1570 Abs. 1 BGB, der sich wiederum<br />

unterteilt in<br />

• einen verbindlichen Basisunterhalt während der ersten drei Lebensjahre des Kindes nach § 1570<br />

Abs. 1 S. 1 BGB und<br />

• einen Billigkeitsunterhalt nach § 1570 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB, wobei die Belange des Kindes und die<br />

bestehenden Möglichkeiten der Kinderbetreuung zu berücksichtigen sind<br />

• sowie der allgemeine ehebezogene Billigkeitsanspruch des § 1570 Abs. 2 BGB.<br />

Die Kosten des Kindergartenbesuchs sind (Mehr-)Bedarf des Kindes (BGH, Urt. v. 5.3.2008 – XII ZR 150/05,<br />

FamRZ 2008, 1152), während sonstige Betreuungskosten als berufsbedingte Aufwendungen des jeweiligen<br />

Elternteils behandelt werden (BGH, Beschl. v. 4.10.2<strong>01</strong>7 – XII ZB 55/17, NJW 2<strong>01</strong>7, 3786).<br />

5. Unterhalt wegen Alters (§ 1571 BGB)<br />

Dieser – praktisch seltene – Anspruch wegen Alters greift ein, wenn der Ehegatte, der Unterhalt<br />

beansprucht, das allgemeine Rentenalter erreicht hat und die eigenen Einkünfte aus der Rente nicht<br />

ausreichen, den Bedarf zu decken. Er kommt aber auch in Betracht, wenn das allgemeine Rentenalter<br />

von 65 Jahren noch nicht erreicht ist, aber eine angemessene Erwerbstätigkeit nicht mehr erwartet<br />

werden kann.<br />

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Familienrecht Fach 11, Seite 1553<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Bei diesem – und allen folgenden Ansprüchen – müssen die Tatbestandsvoraussetzungen zum Einsatzzeitpunkt<br />

gegeben sein, nämlich zum Zeitpunkt<br />

• der Scheidung,<br />

• der Beendigung der Pflege oder Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes,<br />

• der Beendigung einer Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung oder<br />

• des Wegfalls der Voraussetzungen des § 1573 BGB.<br />

6. Unterhalt wegen Krankheit (§ 1572 BGB)<br />

§ 1572 BGB ist Anspruchsgrundlage, wenn der berechtigte Ehegatte wegen Krankheit oder anderer<br />

Gebrechen ganz oder teilweise nicht arbeiten kann. Die Krankheit muss die entscheidende Voraussetzung<br />

für die Nichtaufnahme einer Erwerbstätigkeit sein.<br />

Wer sich gegenüber seiner Erwerbsobliegenheit auf eine krankheitsbedingte Einschränkung seiner Erwerbsfähigkeit<br />

berufen will, muss grds. Art und Umfang der behaupteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen<br />

oder Leiden angeben und er hat ferner darzulegen, inwieweit sich die behaupteten<br />

gesundheitlichen Störungen ganz konkret auf die Erwerbsfähigkeit auswirken. Er ist auch im Hinblick<br />

auf die Möglichkeit einer Teilerwerbsfähigkeit gehalten, Art und Umfang der gesundheitlichen<br />

Beeinträchtigungen oder Leiden darzulegen (BGH, Beschl. v. 9.11.2<strong>01</strong>6 – XII ZB 227/15, FamRZ 2<strong>01</strong>7,<br />

109; BGH, Beschl. v. 10.7.2<strong>01</strong>3 – XII ZB 297/12, NJW 2<strong>01</strong>3, 2897). Dargelegt werden muss auch, dass keine<br />

anderweitige Erwerbstätigkeit gefunden werden kann.<br />

Zudem besteht eine unterhaltsrechtliche Obliegenheit zur Behandlung der Krankheit. Daraus folgt die<br />

Notwendigkeit, substanziierte Darlegungen sowohl zu den bisherigen Therapiebemühungen in der<br />

Vergangenheit als auch zu den zukünftigen Bemühungen um eine gesundheitliche Verbesserung zu<br />

machen.<br />

Der Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens ist ohne einen ausreichenden Sachvortrag<br />

ein unzulässiger Ausforschungsbeweisantrag.<br />

Der Bezug einer Erwerbsunfähigkeitsrente genügt nicht; dieser ist ein Indiz für eine Krankheit, reicht<br />

jedoch noch nicht aus zur Darlegung der vollständigen unterhaltsrechtlichen Leistungsunfähigkeit<br />

(BGH, Beschl. v. 9.11.2<strong>01</strong>6 – XII ZB 227/15, FamRZ 2<strong>01</strong>7, 109). Denn rentenrechtlich liegt bereits eine volle<br />

Erwerbsminderung vor, wenn nur noch weniger als drei Stunden täglich eine Erwerbstätigkeit<br />

möglich ist. Aus unterhaltsrechtlicher Sicht bleibt noch eine – geringe – Erwerbstätigkeit von bis zu<br />

drei Stunden arbeitstäglich möglich. Fehlt hierzu konkreter Sachvortrag, kann in diesem Umfang ein<br />

fiktives Einkommen – geschätzt nach § 287 ZPO – zugerechnet werden.<br />

7. Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit (§ 1573 Abs. 1 BGB)<br />

Der Anspruch aus § 1573 BGB ist nachrangig zu den zuvor dargestellten Ansprüchen und greift nur dann<br />

ein, wenn keine Ansprüche aus den vorher genannten Vorschriften gegeben sind.<br />

Maßgeblich für den Anspruch aus § 1573 BGB ist, dass der unterhaltsberechtigte Ehegatte keine<br />

angemessene Erwerbstätigkeit (§ 1574 BGB) zu finden vermag.<br />

8. Aufstockungsunterhalt (§ 1573 Abs. 2 BGB)<br />

Reichen die erzielten Einkünfte aus einer angemessenen Erwerbstätigkeit nicht aus, um den vollen,<br />

angemessenen Unterhalt zu decken, so besteht nach § 1573 Abs. 2 BGB ein Anspruch auf<br />

Aufstockungsunterhalt. Dieser setzt nicht voraus, dass die angemessene Erwerbstätigkeit tatsächlich<br />

ausgeübt wird, sondern kann auch zugebilligt werden, wenn wegen Verstoßes gegen die Erwerbsobliegenheit<br />

ein fiktives Einkommen angesetzt wird. Dann berechnet sich der Aufstockungsunterhalt<br />

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Fach 11, Seite 1554<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

aus der Differenz zwischen dem eigenen erzielbaren und daher fiktiv anzurechnenden Einkommen<br />

und dem vollen, angemessenen Unterhalt, also dem angemessenen Bedarf nach den ehelichen<br />

Lebensverhältnissen.<br />

9. Anspruch bei Wegfall einer Erwerbstätigkeit (§ 1573 Abs. 4 BGB)<br />

Nach § 1573 Abs. 4 BGB kann der geschiedene Ehegatte auch dann Unterhalt verlangen, wenn die<br />

Einkünfte aus einer angemessenen Erwerbstätigkeit wegfallen, weil es ihm trotz seiner Bemühungen<br />

nicht gelungen war, den Unterhalt durch die Erwerbstätigkeit nach der Scheidung nachhaltig zu sichern.<br />

Der Anspruch setzt also voraus, dass eine bei Scheidung bestehende Erwerbstätigkeit nach objektivem<br />

Maßstab nicht nachhaltig gesichert war, wie z.B. bei einem Arbeitsverhältnis auf Probe.<br />

10. Unterhalt wegen Ausbildung (§ 1575 BGB)<br />

Ein geschiedener Ehegatte, der in Erwartung der Ehe oder während der Ehe eine Schul- oder<br />

Berufsausbildung nicht aufgenommen oder abgebrochen hat, kann nach § 1575 Abs. 1 BGB von dem<br />

anderen Ehegatten Unterhalt verlangen, wenn er diese oder eine entsprechende Ausbildung sobald wie<br />

möglich aufnimmt, um eine angemessene Erwerbstätigkeit, die den Unterhalt nachhaltig sichert, zu<br />

erlangen, und der erfolgreiche Abschluss der Ausbildung zu erwarten ist. Der Anspruch besteht<br />

längstens für die Zeit, in der eine solche Ausbildung im Allgemeinen abgeschlossen wird; dabei sind<br />

ehebedingte Verzögerungen der Ausbildung zu berücksichtigen.<br />

11. Billigkeitsunterhalt (§ 1576 BGB)<br />

Der – in der Praxis nicht relevante – Billigkeitsunterhalt aus § 1576 BGB ist subsidiär; diese Anspruchsgrundlage<br />

ist als Ausnahmeregelung eng auszulegen.<br />

12. Vorsorgeunterhalt (§ 1578 Abs. 2 und 3 BGB)<br />

Der sog. Quotenunterhalt ist dazu bestimmt, den alltäglichen angemessenen Bedarf des<br />

geschiedenen Ehegatten – also den Basisunterhalt – sicherzustellen. Grundsätzlich umfasst der<br />

Unterhaltsanspruch aber auch die Kosten einer angemessenen Krankenversicherung (§ 1578 Abs. 2<br />

BGB) und Altersvorsorge (§ 1578 Abs. 3 BGB), sofern der Unterhaltspflichtige hierzu neben der Zahlung<br />

des Basisunterhalts in der Lage ist. Ist der Unterhaltspflichtige ausreichend leistungsfähig, muss er den<br />

Vorsorgeunterhalt zusätzlich zum normalen Unterhalt zahlen. Der Vorsorgeunterhalt wird nach der<br />

vom BGH gebilligten Bremer Tabelle errechnet. Beim Vorsorgeunterhalt sind die betreffenden<br />

Einzelbeträge für den Krankenvorsorgeunterhalt und den Altersvorsorgeunterhalt im Antrag und im<br />

Tenor der gerichtlichen Entscheidung gesondert auszuweisen (BGH, Urt. v. 18.2.2<strong>01</strong>5 – XII ZR 80/13,<br />

NJW 2<strong>01</strong>5, 1380 = FamRZ 2<strong>01</strong>5, 824 mit Anm. WITT). Die Unterhaltsberechtigte kann einen um 4 %<br />

höheren Altersvorsorgeunterhalt als nach der Bremer Tabelle errechnet jedenfalls dann beanspruchen,<br />

wenn der Unterhaltspflichtige eine zusätzliche Altersvorsorge in vergleichbarer prozentualer<br />

Größenordnung betreibt (BGH, Urt. v. 25.9.2<strong>01</strong>9 – XII ZB 25/19, NJW 2<strong>01</strong>9, 3570 = FamRZ <strong>2020</strong>,21).<br />

Rückwirkend kann Altersvorsorgeunterhalt nur verlangt werden, wenn der Unterhaltspflichtige in<br />

Verzug gesetzt worden ist. Es reicht aber aus, dass vom Unterhaltspflichtigen Auskunft mit dem Ziel<br />

der Geltendmachung eines Unterhaltsanspruchs begehrt worden ist (BGH, Beschl. v. 7.11.2<strong>01</strong>2 –<br />

XII ZB 229/11, FamRZ 2<strong>01</strong>3, 109 mit Anm. FINKE = NJW 2<strong>01</strong>3, 161 mit Anm. BORN NJW 2<strong>01</strong>3, 165 f., juris<br />

Rn 45; BGH, Urt. v. 22.11.2006 – XII ZR 24/04, FamRZ 2007, 193, 196 mit Anm. BORTH.; KG, Beschl.<br />

v. 19.7.2<strong>01</strong>3 – 13 UF 56/13).<br />

Eine Nachforderung ist ausgeschlossen, wenn im vorangegangenen Leistungsverfahren vergessen<br />

worden ist, Vorsorgeunterhalt geltend zu machen (BGH, Beschl. v. 19.11.2<strong>01</strong>4 – XII ZB 478/13, FamRZ 2<strong>01</strong>5,<br />

309 mit Anm. MAURER = NJW 2<strong>01</strong>5, 334).<br />

Unterhaltsleistungen, die für einen solchen bestimmten, besonderen Bedarf gefordert und gezahlt<br />

werden, müssen auch hierfür verwandt werden. Wer z.B. Altersvorsorgeunterhalt bezieht, muss diese<br />

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Familienrecht Fach 11, Seite 1555<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Zahlungen auch für seine Alterssicherung anlegen. Tut er das nicht, wird er später so behandelt, als<br />

hätte er eine entsprechende Versorgung erworben. Es werden dann fiktiv höhere Renteneinkünfte<br />

zugrunde gelegt.<br />

Der Anwalt der Unterhaltsberechtigten macht sich regresspflichtig, wenn diese nicht auf die Möglichkeit<br />

der Geltendmachung von Altersvorsorgeunterhalt hingewiesen wird (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.6.2009<br />

– I-24 U 133/08, FamRZ 2<strong>01</strong>0, 73).<br />

III. Ermittlung des unterhaltsrechtlich relevanten Einkommens<br />

Beim unterhaltsrechtlich relevanten Einkommen sind folgende Gesichtspunkte von Bedeutung:<br />

• Welche Einkommenspositionen sind anzurechnen?<br />

• Welche Abzugspositionen sind zu berücksichtigen?<br />

Dabei gelten grds. für Einkünfte des Unterhaltspflichtigen und des Unterhaltsberechtigten die gleichen<br />

Kriterien.<br />

1. Anzurechnendes tatsächliches Einkommen<br />

Für die Ermittlung des unterhaltsrechtlich relevanten Einkommens sind alle tatsächlich erzielten<br />

Einkünfte heranzuziehen, wobei der Durchschnitt aus dem Einkommen eines abhängig Beschäftigten<br />

der letzten zwölf Monate und bei Selbstständigen der letzten drei Jahre errechnet wird.<br />

Bestimmte Einkommenspositionen werden nicht oder nur teilweise angerechnet, weil sie dazu dienen,<br />

besonderen Aufwand auszugleichen (z.B. Auslösung, Fahrtkostenerstattung, Schmutzzulage), der<br />

substanziiert dargelegt werden muss. Bei sog. überobligatorischen Einkünften ist zuerst zu prüfen,<br />

ob die Tätigkeit, mit der diese Einkünfte erzielt werden, überobligatorisch – also nicht geschuldet – ist.<br />

Danach ist nach den Grundsätzen von Treu und Glauben aufgrund der konkreten Umstände des<br />

Einzelfalls zu beurteilen, in welchem Umfang das Einkommen aus überobligatorischer Tätigkeit für den<br />

Unterhalt anzurechnen ist.<br />

Freiwillige Leistungen Dritter sind nur dann anzurechnen, wenn dies dem Willen des Dritten entspricht,<br />

was im Regelfall nicht anzunehmen ist.<br />

2. Erzielbares (hypothetisches/fiktives) Einkommen<br />

Im Unterhaltsrecht spielen nicht nur tatsächliche Einkünfte eine Rolle, sondern auch solche Einkünfte (und<br />

andere finanzielle Vorteile), die der Betreffende vorwerfbar nicht erzielt, obwohl er sie erzielen könnte.<br />

Voraussetzung der Anrechnung fiktiver Erwerbseinkünfte ist also das Bestehen einer Erwerbsobliegenheit<br />

und deren schuldhafte – also unterhaltsrechtlich vorwerfbare – Nichterfüllung durch den<br />

Erwerbspflichtigen. Diese ist bei Arbeitslosigkeit regelmäßig dann gegeben, wenn der Betreffende sich<br />

nicht in ausreichendem Maße um eine Arbeitsstelle bemüht.<br />

3. Abzugspositionen bei der Einkommensberechnung<br />

Maßstab ist das sog. bereinigte Nettoeinkommen. Abzuziehen sind daher die gesetzlichen Steuern<br />

(Einkommen- und Kirchensteuer, soweit Kirchensteuerpflicht besteht) sowie der Solidaritätszuschlag.<br />

Ebenso sind die gesetzlichen Sozialabgaben (Rentenversicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung,<br />

Pflegeversicherung) abzuziehen.<br />

Aufwendungen für die private Krankenzusatzversicherung sind beim Unterhaltspflichtigen, der auf<br />

Minderjährigenunterhalt in Anspruch genommen wird, jedenfalls dann nicht anzuerkennen, wenn das<br />

Existenzminimum des Kindes nicht gesichert ist. Der Unterhaltspflichtige muss sich dann mit den<br />

Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung begnügen (BGH, Urt. v. 30.1.2<strong>01</strong>3 – XII ZR 158/10, NJW<br />

2<strong>01</strong>3, 1005 = FamRZ 2<strong>01</strong>3, 616).<br />

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Fach 11, Seite 1556<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Der Unterhaltspflichtige darf von seinen Einkünften neben der gesetzlichen Altersvorsorge eine<br />

zusätzliche Altersvorsorge betreiben, die bis zu 4 % des Bruttoeinkommens (BGH, Urt. v. 25.9.2<strong>01</strong>9 – XII<br />

ZB 25/19, NJW 2<strong>01</strong>9, 3570 = FamRZ <strong>2020</strong>, 21; BGH, Urt. v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817,<br />

1821 f.; BGH Urt. v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793, 795; beim Elternunterhalt bis zu 5 % des<br />

Bruttoeinkommens (BGH, Urt. v. 30.1.2<strong>01</strong>3 – XII ZR 158/10, NJW 2<strong>01</strong>3, 1005 = FamRZ 2<strong>01</strong>3, 616; BGH, Urt.<br />

v. 14.1.2004 – XII ZR 149/<strong>01</strong>, FamRZ 2004, 792, 793; BGH, Urt. v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006,<br />

1511, 1514) betragen kann.<br />

Berufsbedingte Aufwendungen sind grds. nur bei Arbeitnehmern abzugsfähig, nicht bei Selbstständigen,<br />

Rentnern usw., wobei von einigen Obergerichten Pauschalbeträge angesetzt werden, während andere<br />

eine konkrete Darlegung verlangen.<br />

Bei der konkreten Berechnung von notwendigen berufsbedingten Fahrtkosten wird bei der Benutzung<br />

eines Kraftfahrzeugs vielfach ein fester Satz pro km angesetzt, mit dem aber sämtliche Kosten des<br />

Fahrzeugs einschließlich der Anschaffungskosten und evtl. Kreditkosten abgegolten sind. Zuvor ist aber<br />

immer zu prüfen, ob nicht zur Kostenersparnis öffentliche Verkehrsmittel genutzt werden müssen.<br />

4. Besonderheit: Schuldenbelastungen<br />

Ratenverpflichtungen für Darlehen, die während der Ehe aufgenommen worden sind, werden beim<br />

Ehegattenunterhalt grds. in voller Höhe abgezogen, denn die monatlichen Raten haben in jedem Fall die<br />

ehelichen Lebensverhältnisse bestimmt. Dabei ist unerheblich, welcher Ehegatte die Kreditverbindlichkeiten<br />

eingegangen ist und wofür das Geld ausgegeben worden ist.<br />

Geht es beim Minderjährigenunterhalt um Ratenverpflichtungen des unterhaltspflichtigen Elternteils,<br />

der den Mindestunterhalt nicht leisten kann, so besteht auch dann kein genereller Vorrang des<br />

Unterhalts. Allerdings ist der Unterhaltspflichtige gehalten, sich um die Herabsetzung der monatlichen<br />

Raten zu bemühen. Fehlen dazu substanziierte Darlegungen, muss er damit rechnen, dass das Gericht<br />

fiktiv nur geringere Monatsraten anerkennt. Zudem kann sich in diesem Fall eine Obliegenheit ergeben,<br />

über die Restschuldbefreiung der Verbraucherinsolvenz eine Reduzierung der Schuldenbelastungen<br />

herbeizuführen (BGH, Beschl. v. 22.5.2<strong>01</strong>9 – XII ZB 613/16, FamRZ 2<strong>01</strong>9, 1415).<br />

IV. Einschränkung des Ehegattenunterhalts nach § 1579 BGB<br />

Voraussetzung der Anwendbarkeit des § 1579 BGB ist die grobe Unbilligkeit, die sich<br />

• aus einem vorwerfbaren Fehlverhalten des Unterhaltsberechtigten (§ 1579 Nr. 3 bis 7, Nr. 8 BGB) oder<br />

• aus einer objektiven Unzumutbarkeit der Unterhaltsleistung für den Unterhaltspflichtigen (§ 1579<br />

Nr. 1, 2, 8 BGB)<br />

ergeben kann.<br />

Rechtsfolge kann sein:<br />

• die Beschränkung des Unterhaltsanspruchs<br />

• nach Höhe,<br />

• zeitlicher Dauer der Leistung oder<br />

• einer Kombination aus Höhe und Dauer<br />

• oder seine vollständige Versagung.<br />

Die Vorschriften der § 1579 Nr. 2 bis Nr. 7 BGB sind auch beim Trennungsunterhalt anwendbar (§ 1361<br />

Abs. 3 BGB).<br />

50 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1557<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Dabei ist immer im konkreten Fall eine Billigkeitsabwägung vorzunehmen – auch unter Wahrung der<br />

Belange eines von der Unterhaltsberechtigten betreuten Kindes.<br />

Besondere praktische Bedeutung hat der Härtegrund aus § 1579 Nr. 2 BGB bei Bestehen einer neuen<br />

Partnerschaft des unterhaltsberechtigten Ehegatten. Dazu muss dieser eine verfestigte neue Lebensgemeinschaft<br />

eingegangen sein, sich damit endgültig aus der ehelichen Solidarität herausgelöst haben<br />

und zu erkennen geben, dass er diese nicht mehr benötigt. Kriterien wie die finanzielle Leistungsfähigkeit<br />

des neuen Partners spielen hingegen keine Rolle (BGH, Beschl. v. 15.5.2<strong>01</strong>3 – XII ZB 107/08, FamRZ<br />

2<strong>01</strong>3, 1387). Die volle Darlegungs- und Beweislast trägt der Unterhaltspflichtige.<br />

Ist die Beziehung auf Distanz angelegt, wird man die Lebensumstände im Einzelnen in Form einer<br />

Checkliste aufklären müssen (SCHNITZLER FF 2<strong>01</strong>1, 290, 292):<br />

• Wie wird die Freizeit miteinander verbracht?<br />

• Wie werden Feiertage durchgeführt (Weihnachten, Ostern usw.)?<br />

• Sind die Partner bei Feierlichkeiten innerhalb der Familie eingebunden (Goldene Hochzeit von<br />

Großeltern, runde Geburtstage von Eltern oder Geschwistern, Abiturfeiern oder Abschlussfeiern von<br />

Kindern des Partners)?<br />

• Solidarität in Krankheitsfällen durch den neuen Partner?<br />

• Testament oder Erbvertrag zugunsten des/der neuen Lebenspartners/Lebenspartnerin?<br />

Regelmäßig wird auf eine Mindestdauer von zwei Jahren abgestellt; jedoch können besondere<br />

Umstände des Einzelfalls auch bei einem kürzeren Zeitraum für eine ausreichende Verfestigung<br />

sprechen (OLG Oldenburg NJW 2<strong>01</strong>2, 2450), z.B. die Geburt eines Kindes aus der neuen Beziehung.<br />

V. Begrenzung und Befristung des nachehelichen Unterhalts (§ 1578b BGB)<br />

Die Begrenzung (§ 1578b Abs. 1 BGB) und die Befristung (§ 1578b Abs. 2 BGB) sind bei jedem<br />

nachehelichen Unterhaltsanspruch von Amts wegen zu prüfen. Lediglich beim Betreuungsunterhalt<br />

gem. § 1570 BGB schließt der BGH eine Befristungsmöglichkeit nach § 1578b Abs. 2 BGB aus (BGH, Urt.<br />

v. 2.2.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 11/09, FamRZ 2<strong>01</strong>1, 1377; BGH, Urt. v. 1.6.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 45/09, FamRZ 2<strong>01</strong>1, 1209 mit<br />

Anm. VIEFHUES = NJW 2<strong>01</strong>1, 2430 mit Anm. BORN; BGH, Urt. v. 30.3.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 3/09, FamRZ 2<strong>01</strong>1, 791<br />

mit Anm. NORPOTH = FamRZ 2<strong>01</strong>1, 873; BGH, Urt. v. 21.4.2<strong>01</strong>0 – XII ZR 134/08, FamRZ 2<strong>01</strong>0, 1050 mit<br />

Anm. VIEFHUES; BGH, Urt. v. 17.6.2009 – XII ZR 102/08, FamRZ 2009, 1391 ff. = NJW 2009, 2592 ff.).<br />

Allerdings lässt der BGH eine Begrenzung des Unterhaltsanspruchs der Höhe nach zu (BGH, Urt.<br />

v. 18.3.2009 – XII ZR 74/08, FamRZ 2009, 770 mit Anm. BORTH = FamRZ 2009, 960).<br />

Diese Entscheidung ist bei der erstmaligen Festsetzung des Unterhalts vorzunehmen. Wird zu diesem<br />

Zeitpunkt keine Befristung vorgenommen, ist der nacheheliche Unterhalt unbefristet – d.h. lebenslänglich<br />

– festgesetzt. Dies lässt sich aus verfahrensrechtlichen Gründen später kaum noch korrigieren,<br />

da alle maßgeblichen Umstände zum Zeitpunkt der Erstentscheidung vorliegen und in aller Regel keine<br />

nachträglichen Veränderungen eintreten, die ein späteres Abänderungsverfahren rechtfertigen können.<br />

Für die Entscheidung einer Unterhaltsbegrenzung nach § 1578b BGB sind zwei unterschiedliche<br />

Gesichtspunkte zu prüfen, nämlich:<br />

• ob ein ehebedingter Nachteil der Unterhaltsberechtigten eingetreten ist und ob dieser ggf. auf<br />

Dauer fortbesteht,<br />

• ob sonstige Billigkeitsgesichtspunkte im Rahmen der nachehelichen Solidarität für oder gegen eine<br />

Beschränkung des Unterhaltsanspruchs sprechen.<br />

1. Ehebedingter Nachteil<br />

Ein ehebedingter Nachteil der Unterhaltsberechtigten ist nur dann gegeben, wenn sie konkret aufgrund<br />

der Ehe berufliche Einschränkungen erlitten hat und daher durch eigene Erwerbstätigkeit nicht das<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 51


Fach 11, Seite 1558<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Einkommen erzielen kann, das sie ohne Ehe erzielen könnte. Ehebedingt – im Sinne einer echten<br />

Kausalität – ist nur ein solcher Nachteil, der auf die konkrete Lebensgestaltung – die Rollenverteilung<br />

der Ehegatten – während des Zeitraums von der Heirat bis zur Zustellung des Scheidungsantrags<br />

zurückzuführen ist (BGH, Urt. v. 23.11.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 47/10, NJW 2<strong>01</strong>2, 309; BGH, Urt. v. 30.3.2<strong>01</strong>1 – XII ZR<br />

63/09, NJW 2<strong>01</strong>1; BGH, Urt. v. 8.6.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 17/09, NJW 2<strong>01</strong>1, 2512; BGH, Urt. v. 4.8.2<strong>01</strong>0 – XII ZR 7/09,<br />

NJW 2<strong>01</strong>0, 3097).<br />

Damit scheiden alle Ursachen aus, die zum persönlichen Lebensrisiko zu zählen sind, wie z.B. Krankheit<br />

und Arbeitslosigkeit (BGH, Urt. v. 30.3.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 63/09, NJW 2<strong>01</strong>1, 1807 mit Anm. Born = FamRZ 2<strong>01</strong>1,<br />

875; BGH, Urt. v. 4.5.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 70/09, FamRZ 2<strong>01</strong>1, 189).<br />

Aber auch Umstände, die aus einem vorehelichen Zusammenleben rühren, können hier nicht<br />

berücksichtigt werden (BGH, Urt. 20.2.2<strong>01</strong>3 – XII ZR 148/10, NJW 2<strong>01</strong>3, 1444 mit Anm. BORN = FamRZ<br />

2<strong>01</strong>3, 860 mit Anm. MAURER; BGH, Urt. v. 7.3.2<strong>01</strong>2 – XII ZR 25/10, NJW 2<strong>01</strong>2, 1506 = FamRZ 2<strong>01</strong>2, 776; BGH,<br />

Urt. v. 6.10.2<strong>01</strong>0 – XII ZR 202/08, FamRZ 2<strong>01</strong>0, 1971). Maßgeblich sind nur Umstände aus dem Zeitraum<br />

zwischen Heirat und der Zustellung des Scheidungsantrags. Damit kann auch eine vor der Heirat<br />

liegende Zeit der Betreuung gemeinsamer Kinder nicht als Begründung für einen ehebedingten Nachteil<br />

herangezogen werden (BGH, Urt. v. 20.3.2<strong>01</strong>3 – XII ZR 120/11, NJW 2<strong>01</strong>3, 1447 = FamRZ 2<strong>01</strong>3, 864 mit<br />

Anm. BORN; BGH, Urt. v. 20.2.2<strong>01</strong>3 – XII ZR 148/10, NJW 2<strong>01</strong>3, 1444 mit Anm. BORN = FamRZ 2<strong>01</strong>3, 860 mit<br />

Anm. MAURER; BGH, Urt. v. 7.3.2<strong>01</strong>2 – XII ZR 25/10, FamRZ 2<strong>01</strong>2, 776).<br />

2. Nacheheliche Solidarität<br />

Im Rahmen der allgemeinen Billigkeitsabwägung können – unabhängig davon – unter dem Gesichtspunkt<br />

der nachehelichen Solidarität zahlreiche Gründe für oder gegen eine Beschränkung des Unterhaltsanspruchs<br />

eine Rolle spielen (ausführlich VIEFHUES FuR 2<strong>01</strong>1, 505 [Teil 1] und FuR 2<strong>01</strong>1, 551 [Teil 2]).<br />

Hier kommt es auf umfassenden anwaltlichen Sachvortrag an! Von Bedeutung für diese Billigkeitsentscheidung<br />

ist dabei einerseits die Notwendigkeit der Unterhaltszahlungen für die Berechtigte und<br />

andererseits die dadurch entstehende Belastung für den Unterhaltspflichtigen. Relevant sind dabei aber<br />

auch die Leistungen beider Ehegatten während der Zeit der Ehe („Lebensleistung“, BGH, Beschl.<br />

v. 4.7.2<strong>01</strong>8 – XII ZB 448/17, FamRZ 2<strong>01</strong>8, 1506), wie z.B. die Betreuung der Kinder, die Finanzierung der<br />

Ausbildung des Ehemanns usw., aber auch die Dauer und die Höhe der bisher geleisteten Unterhaltszahlungen.<br />

In die Billigkeitsabwägung im Rahmen der nachehelichen Solidarität können folgende Gesichtspunkte<br />

einfließen:<br />

Besondere Leistungen des Ehegatten (BGH, Beschl. v. 26.2.2<strong>01</strong>4 – XII ZB 235/12, NJW 2<strong>01</strong>4, 1302 =<br />

FamRZ 2<strong>01</strong>4, 823) während der Zeit des Zusammenlebens („Lebensleistung“) wie z.B.:<br />

• überobligatorischer Einsatz während der Ehe zugunsten des Partners;<br />

• Betreuung von vier Kindern während der 20 Jahre dauernden Ehe (OLG Köln FamRZ 2<strong>01</strong>4, 1207, 1208);<br />

• besonderer Einsatz bei der Betreuung der gemeinsamen Kinder (OLG Hamm, Urt. v. 20.4.2<strong>01</strong>1 – 8UF<br />

103/10, FuR 2<strong>01</strong>2, 266);<br />

• Betreuung des Partners während längerer Krankheit;<br />

• Versorgung eines Kindes des Ehegatten aus erster Ehe oder eines gemeinsamen Pflegekindes;<br />

• Finanzierung der Ausbildung (BGH, Urt. 21.9.2<strong>01</strong>1 – XII ZR 121/09, NJW 2<strong>01</strong>1, 3577 mit Anm. BORN =<br />

FamRZ 2<strong>01</strong>1, 1851 mit Anm. SCHÜRMANN; OLG Hamm, Beschl. v. 13.6.2<strong>01</strong>3 – 4 UF 9/13, FamFR 2<strong>01</strong>3, 415;<br />

OLG Hamm NJW-RR 1991, 1447). Erfolgt diese Finanzierung während der Ehe, erwächst daraus auch<br />

ein ehebedingter Vorteil des anderen Ehegatten;<br />

52 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1559<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

• Mitarbeit im Erwerbsgeschäft des Ehegatten;<br />

• Pflege oder Unterstützung der Schwiegereltern;<br />

• Bereitstellung von ererbtem Vermögen für den Erwerb eines gemeinsamen Hauses (OLG Koblenz,<br />

Urt. v. 17.4.2<strong>01</strong>2 – 11 UF 205/12, FamRZ 2<strong>01</strong>2, 1395);<br />

• Tilgung von persönlichen Schulden des Ehegatten.<br />

Die wirtschaftliche Situation beider Ehegatten kann bei der Billigkeitsabwägung des § 1578b Abs. 2<br />

BGB nicht ausgeklammert werden, da es um die Abwägung der beiderseitigen Zumutbarkeit einer<br />

fortdauernden, unbefristeten Unterhaltsverpflichtung geht (BGH, Beschl. v. 26.2.2<strong>01</strong>4 – XII ZB 235/12,<br />

NJW 2<strong>01</strong>4, 1302 = FamRZ 2<strong>01</strong>4, 823). So sind auf Seiten des Unterhaltspflichtigen bei der<br />

Billigkeitsabwägung auch seine durch die Unterhaltslast bedingte gegenwärtige und zukünftige<br />

Belastung vor allem durch die Höhe des zu zahlenden Unterhaltsbetrags und das ihm danach<br />

verbleibende Resteinkommen zu berücksichtigen (BGH, Beschl. v. 26.2.2<strong>01</strong>4 – XII ZB 235/12, NJW 2<strong>01</strong>4,<br />

1302 = FamRZ 2<strong>01</strong>4, 823; BGH, Urt. v. 20.3.2<strong>01</strong>3 – XII ZR 72/11, NJW 2<strong>01</strong>3, 1530 = FamRZ 2<strong>01</strong>3, 853 mit<br />

Anm. HOPPENZ = FF 2<strong>01</strong>3, 308; BGH FamRZ 2007, 200, 204 mit Anm. BÜTTNER;BRUDERMÜLLER FF 2004, 1<strong>01</strong>,<br />

104 m.w.N.; OLG Celle FamRZ 2009, 2105, 2107).<br />

Auch die Dauer der – bisherigen – Unterhaltszahlungen spielt eine Rolle für die Möglichkeit der<br />

Befristung (KG FamRZ 2<strong>01</strong>4, 776; OLG Düsseldorf FuR 2009, 418). Dabei ist auch die Zeit der Trennung<br />

relevant (BGH, Beschl. v. 4.7.2<strong>01</strong>8 – XII ZB 448/17; BGH, Beschl. v. 8.6.2<strong>01</strong>6 – XII ZB 84/15, FamRZ 2<strong>01</strong>6,<br />

1345 Rn 15 m.w.N.). Im Rahmen des § 1578b Abs. 2 BGB ist die Gesamtbelastung des Unterhaltspflichtigen<br />

durch den Unterhalt ein Billigkeitskriterium und wird auch durch den – etwa längere Zeit<br />

gezahlten – Trennungsunterhalt mit beeinflusst. Dass die Zahlungen der gesetzlichen Verpflichtung<br />

entsprachen, steht dem ebenso wenig entgegen wie der Umstand, dass der Trennungsunterhalt<br />

selbst nicht entsprechend § 1578b BGB herabgesetzt oder befristet werden kann (BGH NJW 2<strong>01</strong>1, 1807<br />

mit Anm. BORN).<br />

Praxistipp:<br />

Der Unterhaltspflichtige sollte zur Veranschaulichung der insgesamt geleisteten Zahlungen nicht nur auf<br />

den Zeitraum verweisen, sondern eine Auflistung seiner Zahlungen nach Zeiträumen und Höhe vorlegen.<br />

Sinnvoll ist es, dies auch noch in Relation zum Einkommen und zu den ggf. getragenen sonstigen<br />

Belastungen zu setzen.<br />

Dabei gibt es keine Sperrwirkung einer bestimmten Ehedauer, nach deren Überschreiten eine<br />

Befristung generell ausgeschlossen ist. Das Zeitmoment hat der BGH lediglich als Hilfsargument<br />

verstanden, um den Umfang der wirtschaftlichen Dispositionen der Ehegatten zu erfassen. Je länger<br />

die Ehe gedauert hat, desto schwieriger wird die zeitliche Begrenzung sein, weil im Regelfall die<br />

wirtschaftliche Verflechtung der Eheleute (dazu s. BGH FamRZ 2007, 2049 mit Anm. HOPPENZ FamRZ<br />

2007, 2054, 2055; BGH, Urt. v. 26.11.2008 – XII ZR 131/07, FamRZ 2009, 406 mit Anm. SCHÜRMANN) und<br />

die Abhängigkeit normalerweise mit zunehmender Dauer stärker ausgeprägt sind. Die wirtschaftliche<br />

Verflechtung tritt insb. durch Aufgabe einer eigenen Erwerbstätigkeit wegen der Betreuung<br />

gemeinsamer Kinder oder der Haushaltsführung ein (BGH, Urt. v. 6.10.2<strong>01</strong>0 – XII ZR 202/08, FamRZ<br />

2<strong>01</strong>0, 1971; BGH, Urt. v.11.8.2<strong>01</strong>0 – XII ZR 102/09, FamRZ 2<strong>01</strong>0, 1637 mit Anm. BORTH = NJW 2<strong>01</strong>0, 3372).<br />

Entscheidend ist daher nicht der abstrakte Zeitraum der Ehedauer, sondern die Zeit der gegenseitigen<br />

wirtschaftlichen Verflechtungen und die Intensität der konkreten wirtschaftlichen Abhängigkeiten.<br />

Zu unterscheiden ist bei der praktischen Behandlung der Fälle zwischen den Gesichtspunkten der Dauer<br />

der Ehe, der Dauer einer Berufsunterbrechung bzw. beruflichen Einschränkung durch Teilzeitarbeit und<br />

dem Alter des Unterhaltsberechtigten. Diesen Unterschieden sollte auch beim Sachvortrag und bei der<br />

Argumentation Rechnung getragen werden.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 53


Fach 11, Seite 1560<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

3. Rechtsfolgen<br />

Sind ehebedingte Nachteile eingetreten, geht es beim konkreten Unterhaltsanspruch darum, diese<br />

ehebedingten Nachteile auszugleichen und zwar so lange, bis die Nachteile entfallen sind.<br />

Dazu ist genau zu prüfen, welche nach der Scheidung fortwirkenden Nachteile im konkreten Fall<br />

entstanden sind. Denn durch die gesetzlichen Begrenzungsregelungen soll der Unterhaltsanspruch auf<br />

den Umfang reduziert werden, der zum Ausgleich dieser ehebedingten Nachteile erforderlich ist.<br />

Der Unterhalt dient dann dazu,<br />

• hinsichtlich der Höhe und<br />

• ggf. für ausreichend lange Zeit<br />

diese Nachteile auszugleichen.<br />

Im Rahmen der nachehelichen Solidarität ergeht eine reine Billigkeitsentscheidung aufgrund des<br />

vorgetragenen Sachverhalts.<br />

4. Verfahrensfragen<br />

Die Vorschrift beinhaltet eine rechtsvernichtende Einwendung, keine Einrede. Im gerichtlichen Verfahren<br />

muss also nicht ausdrücklich die Befristung geltend gemacht werden. Vielmehr hat das Gericht diese<br />

Einwendung von Amts wegen zu beachten.<br />

Im gerichtlichen Verfahren bedarf es auch keines ausdrücklichen Antrags, da eine zeitliche Begrenzung als<br />

Minus im Klagabweisungsantrag enthalten ist. Sinnvoll ist es aber, zusätzlich einen entsprechenden<br />

Hilfsantrag auf Begrenzung und Befristung des Unterhalts zu stellen. Auf jeden Fall muss entsprechender<br />

Sachvortrag vorgetragen werden.<br />

Die verfahrensrechtliche Brisanz der Regelungen besteht darin, dass die Frage einer Befristung regelmäßig<br />

bereits im gerichtlichen Unterhaltsverfahren entschieden werden muss. Denn die Begrenzung setzt nicht<br />

voraus, dass der Zeitpunkt bereits erreicht sein muss, ab dem der Unterhaltsanspruch entfällt. Soweit<br />

die dafür maßgeblichen Umstände bereits eingetreten oder zuverlässig vorhersehbar sind, ist die<br />

Entscheidung bereits im Ausgangsverfahren zu treffen und kann nicht einem späteren Abänderungsverfahren<br />

vorbehalten bleiben.<br />

54 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 953<br />

Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />

Kommunalabgabenrecht<br />

Rechtsschutzmöglichkeiten in kommunalabgabenrechtlichen Streitigkeiten<br />

Von RALF RÖDEL, RA a.D., Málaga<br />

Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

II. Grundlagen<br />

III. Widerspruchsverfahren<br />

IV. Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 VwGO<br />

1. Wegfall der aufschiebenden Wirkung bei<br />

der Anforderung von öffentlichen Abgaben<br />

und Kosten nach § 80 Abs. 2 S. 1<br />

Nr. 1 VwGO<br />

2. Aussetzung der Vollziehung gem.<br />

§ 80 Abs. 4 S. 3 VwGO<br />

3. Wiederherstellung der aufschiebenden<br />

Wirkung gem. § 80 Abs. 5 VwGO<br />

V. Beschwerde<br />

VI. Hauptsacheverfahren<br />

I. Einleitung<br />

Das kommunale Abgabenrecht gehört zu den schwierigsten Rechtsmaterien, mit denen sich die<br />

kommunale Praxis und die Rechtsanwaltschaft zu befassen haben. Landesrechtlich bedingte<br />

Divergenzen und die mangelnde wissenschaftliche Durchdringung des Stoffes tragen zu diesem<br />

Befund ebenso bei wie die Eigenart der Rechtsmaterie selbst, die weitgehend mit unbestimmten<br />

Rechtsbegriffen, außerrechtlichen Kategorien und Hilfskonstruktionen arbeiten muss (vgl. GERN,<br />

Kommunales Abgabenrecht, Bd. 1, S. 5) – also ein weites Feld für Streitigkeiten. Besondere Bedeutung<br />

kommt hier dem vorläufigen Rechtsschutz zu, weil die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und<br />

Anfechtungsklage bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten grds. entfällt.<br />

II. Grundlagen<br />

„Öffentliche Abgaben“ ist der Sammelbegriff für alle Geldleistungen, die der Bürger kraft öffentlichen<br />

Rechts an den Staat oder an sonstige Körperschaften des öffentlichen Rechts abzuführen hat. Unter<br />

Kommunalabgaben versteht man Geldleistungen, die die Kommunen von ihren Einwohnern und im<br />

Gemeindegebiet ansässigen juristischen Personen fordern. Die Rechtfertigung für die Steuererhebung<br />

besteht darin, dass der Bürger ein finanzielles Opfer bringen muss, damit der Staat und die Kommune<br />

die Mittel erhalten, die zu ihrem Funktionieren erforderlich sind (Opfertheorie). Die Steuer kann auch als<br />

Äquivalent dafür betrachtet werden, dass der Staat das Leben, die Freiheit und das Eigentum seiner<br />

Bürger schützt (Assekuranztheorie; vgl. DORN, Kommunales Abgabenrecht, Rn 39). Abgaben werden<br />

nachweislich seit über 4.500 Jahren erhoben. Bis zur Einführung der Geldwirtschaft wurden Abgaben in<br />

Form von Naturalleistungen bzw. -diensten erbracht.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 55


Fach 19, Seite 954<br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />

Beispiel:<br />

Bei einer Steuer, die das Wetten in Einrichtungen besteuert, die neben der Annahme von Wettscheinen<br />

(auch an Terminals o.Ä.) auch das Mitverfolgen der Wettereignisse auf Monitoren ermöglichen<br />

(Wettbüros), handelt es sich um den Typus einer örtlichen Aufwandsteuer i.S.d. Art. 105 Abs. 2a GG<br />

(BVerwG, Urt. v. 29.6.2<strong>01</strong>7 – 9 C 7.16).<br />

Die Basis des Kommunalabgabenrechts bildet die verfassungsmäßige Ordnung, zu der auch die<br />

Rechtsstaatsprinzipien gehören (DORN, a.a.O., Rn 23). Abgabenrecht muss sich in erster Linie am<br />

Gleichheitssatz des Art. 3 GG messen. Des Weiteren sind Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes zu<br />

beachten. Besondere Bedeutung hat auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Schlussendlich ist<br />

die Rechtsweggarantie zu nennen. Jede den Bürger belastende Maßnahme auf dem Gebiet des<br />

Abgabenrechts muss justiziabel sein.<br />

Der Begriff der Abgaben umfasst nur die aus Geldleistungen bestehenden Zwangslasten. Abgaben<br />

sind Geldleistungen, die von öffentlichen Aufgaben- oder Bedarfsträgern aufgrund gesetzlicher<br />

Vorschriften in Ausübung öffentlicher Gewalt zur Erzielung von Einnahmen dem Einzelnen auferlegt<br />

werden. Diese Definition gilt auch für Kommunalabgaben, also für diejenigen (öffentlichen) Abgaben,<br />

deren Gläubiger kommunale Körperschaften sind (vgl. BAUERNFEIND in DRIEHAUS, Kommunalabgabenrecht,<br />

§ 1 Rn 33). Abgaben i.S.v. § 1 Abs. 1 KAG NW sind Steuern, Gebühren und Beiträge. In Gesetzen<br />

einiger Länder werden daneben noch „sonstige Abgaben“ genannt; dies hat jedoch keine praktischen<br />

Auswirkungen.<br />

Steuern sind nach § 3 Abs. 1 AO Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere<br />

Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen<br />

allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht<br />

knüpft; die Erzielung von Einnahmen kann Nebenzweck sein. Zölle und Abschöpfungen sind Steuern in<br />

diesem Sinne.<br />

Gebühren sind nach § 4 Abs. 2 KAG NW Geldleistungen, die als Gegenleistung für eine besondere<br />

Leistung – Amtshandlung oder sonstige Tätigkeit – der Verwaltung (Verwaltungsgebühren) oder für die<br />

Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen und Anlagen (Benutzungsgebühren) erhoben werden.<br />

Beiträge sind nach § 8 Abs. 2 KAG NW Geldleistungen, die dem Ersatz des Aufwands für die Herstellung,<br />

Anschaffung und Erweiterung öffentlicher Einrichtungen und Anlagen i.S.d. § 4 Abs. 2 KAG NW, bei<br />

Straßen, Wegen und Plätzen auch für deren Verbesserung, jedoch ohne die laufende Unterhaltung und<br />

Instandsetzung, dienen. Sie werden von den Grundstückseigentümern als Gegenleistung dafür erhoben,<br />

dass ihnen durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Einrichtungen und Anlagen wirtschaftliche<br />

Vorteile geboten werden. Abgaben eigener Art (sui generis Sonderabgaben) sind Abgaben, die<br />

notwendige Begriffsmerkmale der übrigen Abgabenarten sowie weitere Merkmale in sich vereinbaren,<br />

ohne zu einer der jeweiligen Gruppen zu gehören, z.B.die Kurtaxe in einigen Ländern (GERN, a.a.O., S. 18<br />

Nr. 1.2.4.1.).<br />

Praxishinweis:<br />

Das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Gebot der Belastungsklarheit und-vorhersehbarkeit schützt<br />

den Bürger davor, für lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge zeitlich<br />

unbegrenzt zu Beiträgen herangezogen zu werden.<br />

Der Gesetzgeber hat aber einen weiten Gestaltungsspielraum bei seiner Aufgabe, die berechtigten<br />

Interessen der Allgemeinheit am Vorteilsausgleich und der einzelnen Vorteilsempfänger an Rechtssicherheit<br />

zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen (BVerwG, Beschl. v. 8.3.2<strong>01</strong>7 – 9 B 19.16).<br />

56 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 955<br />

Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />

Praxishinweis:<br />

Säumniszuschläge und Zwangsgelder nach den Vollstreckungsgesetzen sind hingegen keine öffentlichen<br />

Abgaben. Sie bezwecken ausschließlich ein bestimmtes Verhalten des Zahlungspflichtigen<br />

(BVerfGE 3, 407, 435).<br />

III. Widerspruchsverfahren<br />

Das Widerspruchsverfahren gem. §§ 68 ff. VwGO ist nicht mehr in allen Bundesländern vorgeschrieben;<br />

teilweise ist es fakultativ weiterhin möglich. Die Durchführung des Widerspruchsverfahrens<br />

ist – soweit noch gesetzlich vorgesehen – Sachurteilsvoraussetzung. Die Rechtslage ist aber etwas<br />

unübersichtlich.<br />

Beispiel:<br />

Für Nordrhein-Westfalen war zunächst nach § 110 Abs. 1 Justizgesetz (JustG) NRW vor einer Klage gegen<br />

einen Verwaltungsakt grds. kein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Ausnahmen waren in § 110<br />

Abs. 2 JustG NRW geregelt. Ab dem 1.1.2<strong>01</strong>6 gilt die grundsätzliche Abschaffung des Widerspruchsverfahrens<br />

unter anderem nicht mehr für Verwaltungsakte, die nach dem Unterhaltsvorschussgesetz erlassen werden,<br />

sowie für Verwaltungsakte nach dem SGB VIII i.V.m. den dazu ergangenen landesrechtlichen Regelungen<br />

(vgl. VERF., Die Klagearten im verwaltungsgerichtlichen Verfahren mit Hinweisen zur Finanzgerichtsordnung<br />

und zum Sozialgerichtsgesetz, <strong>ZAP</strong> F. 19, S. 827, 830). Aber auch für Verwaltungsakte auf Grundlage des<br />

Kommunalabgabengesetzes und des Straßenreinigungsgesetzes sowie im Bereich der von den Gemeinden<br />

zu erhebenden Realsteuern muss nach der Gesetzesänderung zumindest in Nordrhein-Westfalen wieder<br />

ein Widerspruchsverfahren für Verwaltungsakte, die nach dem 31.12.2<strong>01</strong>5 bekannt gegeben worden sind,<br />

durchgeführt werden.<br />

Von Bundesland zu Bundesland ist daher gesondert zu prüfen, ob Widerspruch eingelegt werden muss<br />

oder kann oder ob ein Wierspruchsverfahren entbehrlich ist.<br />

IV.<br />

Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 VwGO<br />

1. Wegfall der aufschiebenden Wirkung bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und<br />

Kosten nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO<br />

Nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO entfällt die aufschiebende Wirkung bei der Anforderung von öffentlichen<br />

Abgaben und Kosten. Die Bestimmung soll in erster Linie gewährleisten, dass die Finanzierung notwendiger<br />

öffentlicher Aufgaben nicht gefährdet wird (vgl. GATZ, Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5<br />

VwGO, <strong>ZAP</strong> F. 19, S. 905, 906 f.).<br />

Mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der Klage bei der Anforderung von öffentlichen<br />

Abgaben bezweckt der Gesetzgeber die Sicherstellung des stetigen Zuflusses von Finanzmitteln für<br />

die öffentlichen Haushalte, aus deren Aufkommen die Gegenleistung für die umstrittene Abgabe im<br />

Zeitpunkt ihrer Geltendmachung regelmäßig bereits erbracht oder alsbald zu erbringen ist. Er hat<br />

damit für diesen Bereich das öffentliche Interesse an einem Sofortvollzug generell höher bewertet<br />

als das private Interesse an einer vorläufigen Befreiung von der Leistungspflicht. Dieser gesetzgeberischen<br />

Wertung entspricht es, dass Abgaben im Zweifel zunächst zu erbringen sind und dass das<br />

Risiko, im Ergebnis möglicherweise zu Unrecht in Vorleistung treten zu müssen, den Zahlungspflichtigen<br />

trifft. Unzumutbare, mit dem Gebot der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nicht<br />

vereinbare Erschwernisse ergeben sich dadurch nicht. Durch eine vorläufige, zu Unrecht erbrachte<br />

Zahlung eintretende wirtschaftliche Nachteile werden durch die Rückzahlung der Abgabe weitestgehend<br />

ausgeglichen; es werden somit keine irreparablen Verhältnisse geschaffen (vgl. OVG Münster,<br />

Beschl. v. 23.8.2<strong>01</strong>2 – 15 B 894/12).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 57


Fach 19, Seite 956<br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />

Die aufschiebende Wirkung entfällt nur unter zwei Voraussetzungen:<br />

1. Es muss sich um eine öffentliche Abgabe oder um öffentliche Kosten handeln und<br />

2. diese müssen nicht nur festgesetzt, sondern auch in einer spezifischen Weise angefordert worden<br />

sein (vgl. QUAAS u.a., Prozesse in Verwaltungssachen, 3. Aufl. 2<strong>01</strong>8, § 4 Rn 126), z.B. durch<br />

Heranziehungsbescheid, Steuerbescheid, Gebührenbescheid oder Beitragsbescheid (s. FINKELNBURG<br />

u.a., Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2<strong>01</strong>7, Rn 691).<br />

Unter öffentlichen Abgaben sind zunächst Steuern, Gebühren und Beiträge im klassischen Sinn zu<br />

verstehen. Darüber hinaus sieht ein großer Teil der Rechtsprechung jegliche öffentlich-rechtliche<br />

Geldleistungspflicht mit Finanzierungsfunktion für einen öffentlichen Haushalt, die nicht gänzlich<br />

untergeordneter Zweck ist, als eine Abgabe i.S.d. Nr. 1 an (vgl. REDEKER/VON OERTZEN, Kommentar zur<br />

VwGO, 16. Aufl. 2<strong>01</strong>4, § 80 Rn 15 m.w.N.). Die Abgabe muss aber nicht primär auf die staatliche<br />

Einnahmeerzielung ausgerichtet sein. Es reicht aus, wenn die öffentliche Geldlast neben anderen<br />

Funktionen – etwa einer Lenkungs-, Antriebs-, Zwangs- oder Straffunktion – auch die der Deckung<br />

des öffentlichen Finanzbedarfs besitzt (vgl. SODAN/ZIEKOW, Kommentar zur VwGO, 5. Aufl. 2<strong>01</strong>8, § 80<br />

Rn 58 m.w.N.). Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die hinreichende Bestimmtheit<br />

öffentlich-rechtlicher Abgaben sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt<br />

(vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.7.2003 – 2 BvL 1/99, BVerfGE 108, 186, 235 f).<br />

Beispiel:<br />

Eine Steuer ist beispielsweise auch die vielfach angefochtene „neue“ Rundfunkabgabe (vgl. HUFEN,<br />

Verwaltungsprozessrecht, 10. Aufl. 2<strong>01</strong>6, § 32 Rn 10 m.w.N.). Der mit der Erhebung des Rundfunkbeitrags<br />

ausgeglichene Vorteil soll in der Möglichkeit liegen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nutzen zu<br />

können (BVerfG, Urt. v. 18.7.2<strong>01</strong>8 – 1 BvR 1675/16).<br />

§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO erfasst auch den Fall der Geltendmachung von Steuerrückständen mittels<br />

Haftungsbescheids. Denn der Haftungsbescheid nach § 191 AO erfüllt ebenso wie der Steuerbescheid<br />

den Zweck, die Erfüllung der finanziellen Verpflichtungen der öffentlichen Hand zu sichern (VG<br />

Gelsenkirchen, Beschl. v. 13.12.2<strong>01</strong>2 – 5 L 1218/12).<br />

Keine Kosten i.S.d. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO sind die i.V.m. einer Sachentscheidung in einem<br />

Verwaltungsakt oder Widerspruchsbescheid aufgrund einer Kostenentscheidung anfallenden unselbstständigen<br />

Kosten. Auch von einer Gemeinde aufgewandte Bestattungskosten sind keine<br />

solchen Kosten (vgl. SCHENKE, Kommentar zur VwGO, 24. Aufl. 2<strong>01</strong>8, § 80 Rn 63 m.w.N.). Soweit nach<br />

der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung die Kosten einer Ersatzvornahme keine<br />

öffentlichen Kosten i.S.d. § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind und deren Geltendmachung auch keine<br />

Vollstreckungsmaßnahme i.S.d. § 80 Abs. 2 S. 2 VwGO ist (vgl. u.a. OVG Koblenz, Beschl. v. 28.7.1998 –<br />

1 B 11553/98; OVG Berlin, Beschl. v. 13.4.1995 – 2 S 3.95), bezieht sich dies ausschließlich auf die bei der<br />

Ersatzvornahme anfallenden Auslagen und Kosten der Vollstreckungsbehörde, nicht dagegen auf eine<br />

in Zusammenhang mit der Vollstreckung zusätzlich anfallende Verwaltungsgebühr (VG Köln, Beschl.<br />

v. 20.07. 2<strong>01</strong>2 – 25 L 152/10).<br />

Praxishinweis:<br />

Rechtsbehelfen gegen Sachentscheidungen kommt in keinem Fall eine aufschiebende Wirkung (auch)<br />

im Hinblick auf damit zusammenhängende (Verwaltungs-)Kostenentscheidungen zu. Diese sind<br />

vielmehr stets nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO sofort vollziehbar, unabhängig davon, ob sie mit<br />

anfechtbaren Sachentscheidungen verbunden oder aber „selbstständig“ ergangen sind, ob ein Rechtsbehelf<br />

gegen die Sachentscheidung aufschiebende Wirkung hat und ob die Kostenentscheidungen<br />

vom rechtlichen Schicksal der jeweiligen Sachentscheidungen abhängig sind.<br />

58 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 957<br />

Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />

Rechtsbehelfe gegen Kostenentscheidungen haben nur dann keine aufschiebende Wirkung, wenn<br />

• sie sich gegen isolierte Kostenentscheidungen richten, die ohne materielle Entscheidung in der<br />

Hauptsache ergehen,<br />

• sie die Kostenentscheidung isoliert anfechten und der Verwaltungsakt in der Hauptsache bereits<br />

bestandskräftig ist<br />

• oder der Verwaltungsakt in der Hauptsache selbst eine Abgaben- oder Kostenstreitigkeit i.S.d. § 80<br />

Abs. 2 Nr. 1 VwGO darstellt.<br />

2. Aussetzung der Vollziehung gem. § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO<br />

In den Fällen des Abs. 2 Nr. 1 soll die Aussetzung der Vollziehung gem. § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO durch die<br />

Ausgangs- oder Widerspruchsbehörde erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des<br />

angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen<br />

eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge<br />

hätte. § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO findet bei der gerichtlichen Anordnung des Suspensiveffekts in den Fällen<br />

des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO entsprechende Anwendung (BVerwG BayVBl. 1982, 442; OVG Hamburg<br />

NVwZ-RR 1992, 318, 319; OVG Schleswig NVwZ-RR 1992, 106, 107).<br />

Praxishinweis:<br />

§ 80 Abs. 4 VwGO findet seine Entsprechung in § 86a Abs. 3 SGG. Die sozialgerichtliche Rechtsprechung<br />

zu dieser Norm kann deshalb grds. auch für die Lösung rein verwaltungsrechtlicher Fälle herangezogen<br />

werden.<br />

a) Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts<br />

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen immer dann,<br />

wenn der Erfolg des Rechtsmittels im Hauptsacheverfahren mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie<br />

sein Misserfolg (vgl. REDEKER/VON OERTZEN, a.a.O., § 80 Rn 36). Die Rechtsprechung ist aber in diesem<br />

Punkt uneinheitlich: Nach Auffassung des OVG Hamburg (a.a.O.), des OVG Koblenz (DVBl. 1984, 1134,<br />

1135), des VGH Mannheim (VBlBW 1983, 246), des OVG Münster (NVwZ-RR 1994, 617) und des OVG<br />

Saarlouis (DÖV 1987, 1115) ist die Rechtmäßigkeit eines Heranziehungsbescheids ernstlich zweifelhaft,<br />

wenn der Erfolg des Rechtsmittels im Hauptsacheverfahren wahrscheinlicher ist als der Misserfolg.<br />

Demgegenüber halten es das BVerwG (a.a.O.), das OVG Lüneburg (NVwZ-RR 1989, 328) und das OVG<br />

Schleswig (a.a.O.) für ausreichend, wenn der Erfolg ebenso wahrscheinlich ist wie der Misserfolg (vgl.<br />

GATZ, a.a.O., S. 911). Der Regelung des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO ist nach der Rechtsprechung des OVG<br />

Münster demgegenüber die Wertung des Gesetzgebers zu entnehmen, dass er für diesen Bereich das<br />

öffentliche Interesse an einem Sofortvollzug generell höher bewertet als das private Interesse an einer<br />

vorläufigen Befreiung von der Leistungspflicht. Dieser Wertung entspricht es, für die der gesetzgeberischen<br />

Grundentscheidung im Einzelfall gegenläufige Anordnung der aufschiebenden Wirkung<br />

eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für den Erfolg des Rechtsbehelfs im Hauptsacheverfahren zu<br />

fordern. Dass der Bundesfinanzhof den Begriff der ernstlichen Zweifel in § 69 Abs. 3 S. 1 FGO i.V.m. § 69<br />

Abs. 2 S. 2 FGO in ständiger Rechtsprechung anders auslegt, ändert daran nach dieser Rechtsprechung<br />

nichts. Der Maßstab überwiegender Wahrscheinlichkeit für den Erfolg des Rechtsbehelfs in der<br />

Hauptsache ist danach auch nicht zu unbestimmt (OVG Münster, Beschl. v. 14.9.2<strong>01</strong>7 – 14 B 939/17).<br />

Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG verlange nicht, die aufschiebende Wirkung schon bei einem nur möglichen Erfolg<br />

des Rechtsbehelfs in der Hauptsache anzuordnen. Die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen<br />

gegen Verwaltungsakte sei durch Art. 19 Abs. 4 GG nicht schlechthin und ausnahmslos garantiert.<br />

Überwiegende öffentliche Belange könnten es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Einzelnen<br />

einstweilen zurückzustellen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 3.4.1992 – 2 BvR 283/92, BB 1992, 1772).<br />

Im Ergebnis ist diese Rechtsprechung vor allem unter Beachtung des Grundsatzes der Waffengleichheit<br />

zwischen Behörde und Bürger abzulehnen; eine gleiche Wahrscheinlichkeit für Erfolg oder<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 59


Fach 19, Seite 958<br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />

Misserfolg in der Hauptsache muss für eine Vollziehungsaussetzung ausreichen. Andernfalls wäre die<br />

Behörde gegenüber dem Bürger automatisch immer ein bisschen mehr im Recht. Gerade die 50 zu<br />

50-Fälle erweisen sich bei näherer Prüfung in der Hauptsache oft als für den Bürger erfolgreich.<br />

b) Unbillige Härte für den Betroffenen<br />

Eine unbillige Härte liegt vor, wenn dem Betroffenen Nachteile entstehen, die über die eigentliche<br />

Zahlung hinausgehen und die nicht oder nur schwer wiedergutgemacht werden können (h.M., vgl.<br />

KELLER in MEYER-LADEWIG/KELLER/LEITHERER, Kommentar zum SGG, 12. Aufl. 2<strong>01</strong>7, § 86a Rn 27b). Noch<br />

keine unbillige Härte liegt bei ernsthaften Liquiditätsproblemen vor, da die Beitragslast jeden<br />

Beitragspflichtigen unabhängig von seiner Einkommens- und Vermögenslage trifft. Ob allein eine<br />

drohende Insolvenz ohne Weiteres zur Annahme einer unbilligen Härte führt, wird in der Rechtsprechung<br />

unterschiedlich beurteilt. Nach einer Auffassung kommt schwierigen Vermögensverhältnissen<br />

des Beitragspflichtigen eine ausschlaggebende Relevanz im Eilverfahren regelmäßig nur dann zu,<br />

wenn dieser substantiiert darlegt und glaubhaft macht, dass es sich um einen nur vorübergehenden<br />

finanziellen Engpass bei grds. ausreichender Ertragssituation handelt, der bereits mit Zahlungserleichterungen<br />

– etwa in Form von Ratenzahlungen – erfolgreich und nachhaltig behoben werden<br />

kann (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 20.12.2<strong>01</strong>8 – L 12 BA 23/18 B ER, Rn 40, juris). Eine<br />

unbillige Härte wird weiter angenommen, wenn das Beitreiben der Forderung aktuell die Insolvenz und/<br />

oder die Zerschlagung eines Geschäftsbetriebs zur Folge hätte, die Durchsetzbarkeit der Forderung bei<br />

einem Abwarten der Hauptsache aber nicht weiter gefährdet wäre (vgl. LSG Sachsen, Beschl. v. 12.2.2<strong>01</strong>8<br />

– L 9 KR 496/17 B ER, Rn 149, juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 14.9.2<strong>01</strong>6 – L 8 R 221/14 B ER,<br />

Rn 13, juris). Das LSG Bayern hat bereits entschieden, dass von einer unbilligen Härte regelmäßig<br />

auszugehen ist, wenn schlüssig belegt ist, dass dem Betroffenen durch die sofortige Zahlung der<br />

Beitragsnachforderung Zahlungsunfähigkeit und Insolvenz droht oder seine Existenz gefährdet wird<br />

(vgl. Bayerisches LSG, Beschl. v. 29.7.2<strong>01</strong>4 – L 16 R 198/14 B ER; LSG Bayern, Beschl. v. 11.3.2<strong>01</strong>9 –L 16BA<br />

174/18 B ER).<br />

Beispiel:<br />

Allein der Hinweis auf ein negatives Betriebsergebnis besagt nicht, dass von der Vollziehung einer Abgabe<br />

wegen einer unbilligen Härte abzusehen ist.<br />

§ 80 Abs. 4 S. 3 VwGO ist eine Sollvorschrift und gewährt der Verwaltung nur ein gebundenes<br />

Ermessen. Das Ermessen ist dahingehend reduziert, dass die Aussetzung bei Vorliegen der Voraussetzungen<br />

im Regelfall erfolgen muss und nur in besonders gelagerten Fällen versagt werden darf. Die<br />

Regelung ist auf andere Fälle weder direkt noch analog anwendbar.<br />

Ordnet die Behörde bei einer Anforderung von öffentlichen Abgaben oder Kosten die Aussetzung an,<br />

kann sie dies von einer Sicherheitsleistung abhängig machen. Die Sicherheitsleistung kann durch<br />

Bankbürgschaft erfolgen. Die Höhe der Sicherheitsleistung wird durch die Forderungshöhe bestimmt<br />

(vgl. REDEKER/VON OERTZEN, a.a.O., § 80 Rn 37a).<br />

Praxishinweis:<br />

Ein eigener Rechtsbehelf gegen die Anordnung einer Sicherheitsleistung ist nicht gegeben. Dem Betroffenen<br />

steht lediglich das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zur Verfügung.<br />

3. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 5 VwGO<br />

Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und<br />

Anfechtungsklage in den Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Der Antrag<br />

ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der<br />

Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die<br />

Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von<br />

anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden, § 80 Abs. 5 VwGO.<br />

60 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 959<br />

Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />

Praxishinweis:<br />

Einstweiliger Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO ist aufgrund des prozessualen Vorrangs der §§ 80 und<br />

80a VwGO in den von diesen Vorschriften erfassten Fällen, in denen in der Hauptsache um Rechtsschutz<br />

gegen einen belastenden Verwaltungsakt in Form der Anfechtungsklage ersucht wird (beispielsweise<br />

gegen einen Haftungsbescheid), ausgeschlossen (VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 28.12.2<strong>01</strong>2 – 5 L 1444/12).<br />

Gericht der Hauptsache ist das Gericht, bei dem die Anfechtungsklage anhängig ist bzw. zu erheben<br />

wäre. Eine Aussetzung bei einer Verpflichtungsklage bzw. einem Verpflichtungswiderspruch kommt<br />

nicht in Betracht.<br />

a) Antrag<br />

Die Antragstellung ist in den meisten Fällen unproblematisch und sollte in Anlehnung an den<br />

Gesetzeswortlaut erfolgen. Zudem ist das Gericht an die Fassung eines Antrags nicht gebunden und<br />

kann diesen umdeuten, weil es zu einer umfassenden Prüfung des Rechtsschutzgesuches unter allen<br />

denkbaren Kriterien verpflichtet ist (vgl. MANN/WAHRENDORF, Verwaltungsprozessrecht, 4. Aufl. 2<strong>01</strong>5,<br />

Rn 407 m.w.N.). Antragsbefugt ist derjenige, bei dem die Möglichkeit der Verletzung eigener Rechte<br />

nicht auszuschließen ist. Die Antragsfrist endet bei Unanfechtbarkeit des Ausgangsverwaltungsakts;<br />

dann und bei einer Erledigung fällt das Rechtsschutzinteresse weg.<br />

Sofern eine Behörde irrtümlich davon ausgeht, dass einem Rechtsmittel gegen einen vor ihr erlassenen<br />

belastenden Verwaltungsakt keine aufschiebende Wirkung zukommt, kann wirksamer vorläufiger<br />

Rechtsschutz nur in der Weise gewährleistet werden, dass der auf Wiederherstellung bzw. Anordnung<br />

der aufschiebenden Wirkung gestellte Antrag analog § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO in einen Antrag auf<br />

Feststellung der aufschiebenden Wirkung umgedeutet wird. Für einen solchen Antrag besteht auch ein<br />

rechtlich schützenswertes Interesse, weil ohne die begehrte Feststellung ein rechtswidriger faktischer<br />

Vollzug droht (VG Arnsberg, Beschl. v. 17.7.2<strong>01</strong>2 – 11 L 431/12).<br />

Praxishinweis:<br />

Der Vollzug oder die freiwillige Erfüllung der sich aus einem Bescheid ergebenden Forderung stellt keine<br />

Erledigung dar, vgl. auch § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO.<br />

Aus dem Gesetzeswortlaut ergibt sich, dass der Antrag bereits vor Klageerhebung zulässig ist; teilweise<br />

umstritten ist, ob dies auch für eine Widerspruchseinlegung gilt. Solange die Widerspruchsfrist noch<br />

nicht abgelaufen ist, wäre es aber reine Förmelei, auf der Einlegung als Zulässigkeitsvoraussetzung zu<br />

bestehen. Eine unterschiedliche Behandlung von Anfechtungsklage und Anfechtungswiderspruch lässt<br />

sich nur schwer begründen.<br />

b) Prüfungsumfang<br />

Der Prüfungsmaßstab für eine Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO ist gesetzlich nicht geregelt. Die<br />

Gerichte haben damit einen großen Entscheidungsspielraum und gehen nach dem sog. modellakzessorischen/interessenbewertenden<br />

Maßstab vor (QUAAS, a.a.O., Rn 252 m.w.N.).<br />

Analog zu der behördlichen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO (s.o. IV.2) sind<br />

zunächst die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels im Hauptsacheverfahren zu prüfen. Bei ernstlichen<br />

Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes überwiegt i.d.R. das Aussetzungsinteresse das<br />

Vollzugsinteresse.<br />

Bei offenen Erfolgsaussichten wird eine Abwägung der beiderseitigen Interessen vorgenommen. Die<br />

Gerichte haben insoweit ein weites Ermessen. Bei der Interessenabwägung ist der grundsätzliche<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 61


Fach 19, Seite 960<br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />

Vorrang des Vollzugsinteresses zu beachten. Eine Abweichung von der gesetzgeberischen Grundentscheidung<br />

stellt die Ausnahme dar. Zu den Einzelheiten im Zusammenhang mit den Erfolgsaussichten<br />

in der Hauptsache und der Kritik an Teilen der Rechtsprechung (s.o. IV.2.a).<br />

Beispiel:<br />

Allein die Behauptung, eine Steuer habe erdrosselnde Wirkung, rechtfertigt nicht die Anordnung der<br />

aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs.<br />

In Eilverfahren wird wegen der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit lediglich summarisch geprüft<br />

und eine Beweisaufnahme wird i.d.R. nicht durchgeführt. Es können weder schwierige Rechtsfragen<br />

abschließend entschieden noch komplizierte Tatsachenfeststellungen getroffen werden. Die erforderliche<br />

Prognose über die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs im Hauptsacheverfahren kann nur mit den<br />

Mitteln des Eilverfahrens getroffen werden. Demgemäß sind in erster Linie die vom Rechtsschutzsuchenden<br />

selbst vorgebrachten Einwände zu berücksichtigen, andere Fehler der Heranziehung<br />

hingegen nur, wenn sie sich bei summarischer Prüfung als offensichtlich aufdrängen (OVG Münster,<br />

Beschl. v. 27.10.1999 – 13 B 843/99 m.w.N.). Der anwaltliche Vortrag in einer Antragsschrift sollte sich<br />

danach ausrichten und sich zuvorderst auf Rechtsfragen beziehen. Soweit im Einzelfall geboten, sollten<br />

auch verfassungsrechtliche Bedenken vorgetragen werden. Diese lassen sich in einem Eilverfahren<br />

regelmäßig nicht klären, und damit ist man der Anordnung der aufschiebenden Wirkung schon ein gutes<br />

Stück näher.<br />

Das Gericht entscheidet über den Antrag durch Beschluss, im Zweifel ohne mündliche Verhandlung und<br />

in dringenden Fällen durch den Vorsitzenden allein.<br />

Praxishinweis:<br />

Nach Nr. 1.5 des aktuellen Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327)<br />

beträgt der Streitwert in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO ¼ des für das Hauptsacheverfahren<br />

anzunehmenden Streitwerts (GATZ, a.a.O., S. 916). Bei teilweiser oder vollständiger Vorwegnahme der<br />

Hauptsache kann der Streitwert bis zur Höhe des Hauptsachewerts angehoben werden (REDEKER/VON<br />

OERTZEN, a.a.O. § 80 Rn 69).<br />

c) Folgenbeseitigung gem. § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO<br />

Auch bei einem bereits vollzogenen Verwaltungsakt kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung<br />

anordnen.<br />

Beispiel:<br />

Der für eine vermeintliche Forderung in Anspruch genommene Bürger zahlt, um eine drohende<br />

Vollstreckung abzuwenden.<br />

Ein Eilantrag darf sich nicht nur isoliert auf die Aufhebung von Vollzugsmaßnahmen nach § 80 Abs. 5<br />

S. 3 VwGO beziehen. Es bedarf zusätzlich eines nur auf Antrag zulässigen Ausspruchs über die Aussetzung<br />

der Vollziehung nach S. 1, weil die Aufhebung der Vollziehung notwendig auch die Beseitigung<br />

der Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts, die die Grundlage der Vollziehung gebildet hat, voraussetzt.<br />

Die Aufhebung der Vollziehung eines erledigten Verwaltungsakts ist nicht mehr möglich, weil ein<br />

solcher Verwaltungsakt nicht mit einem Aussetzungsantrag angegriffen werden kann (vgl. GATZ,<br />

a.a.O., S. 909 m.w.N.).<br />

Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von<br />

anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden (§ 80 Abs. 5 S. 4 u. 5<br />

VwGO).<br />

62 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 961<br />

Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />

d) Vorheriger Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gem. § 80 Abs. 6 VwGO<br />

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist im Falle des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO nur zulässig, wenn die<br />

Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht,<br />

wenn die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist<br />

sachlich nicht entschieden hat oder eine Vollstreckung droht, § 80 Abs. 6 VwGO.<br />

Die Regelung in § 80 Abs. 6 VwGO ist als Sonderregelung einer analogen Anwendung entzogen. Durch<br />

das dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO vorgeschaltete behördliche Verfahren soll die Behörde in die<br />

Lage versetzt werden, alle im Aussetzungsverfahren vorgetragenen Gesichtspunkte zu würdigen. Die<br />

damit grds. gegebene Möglichkeit einer abweichenden Entscheidung besteht selbst noch im Zeitpunkt<br />

einer Mahnung, durch die dem Gebührenschuldner regelmäßig eine Zahlungsfrist eingeräumt wird (VG<br />

Gelsenkirchen, Beschl. v. 1.3.2<strong>01</strong>2 – 5 L 172/12). Der mit § 80 Abs. 6 VwGO verfolgte Zweck, durch das<br />

Vorschalten eines behördlichen Aussetzungsverfahrens die verwaltungsinterne Kontrolle zu stärken und<br />

die Verwaltungsgerichte zu entlasten, wird nicht oder nur unvollständig erreicht, wenn erst im Laufe des<br />

gerichtlichen Aussetzungsverfahrens eine behördliche Ablehnungsentscheidung ergehen würde. Der<br />

Aussetzungsantrag muss entweder ausdrücklich oder jedenfalls zweifelsfrei hinreichend bestimmt<br />

formuliert sein. Er ist insb. nicht in einer Widerspruchsbegründung zu sehen und auch nicht in den<br />

Sachausführungen einer Widerspruchsbegründung konkludent enthalten. Der Antrag als nicht nachholbare<br />

Zulässigkeitsvoraussetzung kann aber mit einer Widerspruchserhebung oder -begründung<br />

verbunden werden (vgl. VG Frankfurt/M., Beschl. v. 7.12.2000 – 10 G 4206/00).<br />

Praxishinweis:<br />

Anträge nach § 80 Abs. 4 VwGO und § 80 Abs. 5 VwGO schließen sich nicht aus. § 80 Abs. 6 VwGO<br />

ermöglicht eine erneute Antragstellung nach bestandskräftiger Abweisung selbst gleichlautender<br />

Anträge.<br />

Die Länge der Frist, innerhalb derer die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden<br />

Grundes eine Sachentscheidung unterlässt, muss sich unmittelbar an Art. 19 Abs. 4 GG messen lassen<br />

(vgl. EYERMANN/FRÖHLER, Kommentar zur VwGO, 5. Aufl. 2<strong>01</strong>9, § 80 Rn 75 m.w.N.). Es gibt keine starren<br />

zeitlichen Grenzen, im Ergebnis ist die Fristbemessung immer eine Einzelfallentscheidung.<br />

Der Beginn der Vollstreckung muss für einen unmittelbar bevorstehenden Termin angekündigt worden<br />

sein oder es müssen konkrete Vorbereitungen der Behörde für eine alsbaldige Vollstreckung vorliegen.<br />

Diese strengen Anforderungen sollen verhindern, das Antragserfordernis des § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO leer<br />

laufen zu lassen. Mit dieser Vorschrift wird nämlich das Ziel verfolgt, den Vorrang der verwaltungsinternen<br />

Kontrolle zu stärken und die Verwaltungsgerichte zu entlasten (VG Gelsenkirchen, Beschl.<br />

v. 22.3.2<strong>01</strong>1 – 5 L 143/11).<br />

Praxishinweis:<br />

Eine Mahnung zur Zahlung mit dem Hinweis, dass der Betrag zwangsweise eingezogen werde, ist noch<br />

keine drohende Vollstreckung.<br />

Nach § 80b Abs. 1 VwGO endet die aufschiebende Wirkung drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen<br />

Begründungsfrist des gegen die abweisende Entscheidung gegebenen Rechtsmittels auch, wenn<br />

die Vollziehung durch die Behörde ausgesetzt oder die aufschiebende Wirkung durch das Gericht<br />

wiederhergestellt oder angeordnet worden ist, es sei denn, die Behörde hat die Vollziehung bis zur<br />

Unanfechtbarkeit ausgesetzt. Nach Abs. 2 kann das Oberverwaltungsgericht auf Antrag anordnen,<br />

dass die aufschiebende Wirkung fortdauert.<br />

V. Beschwerde<br />

Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist als Rechtsbehelf die Beschwerde gem. § 146<br />

Abs. 4 VwGO gegeben. Strikt zu unterscheiden ist davon das Abänderungsverfahren gem. § 80 Abs. 7<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong> 63


Fach 19, Seite 962<br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Rechtsschutz im Kommunalabgabenrecht<br />

VwGO. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass – im Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen<br />

Entscheidung – häufig nicht alle Erkenntnisquellen ausgeschöpft werden können (vgl. MANN/<br />

WAHRENDORF, a.a.O., Rn 424). Das Wiederaufnahmeverfahren nach § 153 Abs. 1 VwGO wird durch<br />

§ 80 Abs. 7 VwGO als spezialgesetzlicher Regelung verdrängt (vgl. REDEKER/VON OERTZEN, a.a.O. § 80<br />

Rn 67b m.w.N.).<br />

Die Beschwerde muss nach § 146 Abs. 4 S. 1 VwGO innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der<br />

Entscheidung des VG begründet werden. Gemäß § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO prüft das Oberverwaltungsgericht<br />

in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur die gem. § 146 Abs. 4 S. 1 und 3 VwGO<br />

dargelegten Gründe. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden<br />

ist, beim OVG einzureichen (§ 146 Abs. 4 S. 2 VwGO). Sie muss<br />

• einen bestimmten Antrag enthalten,<br />

• die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und<br />

• sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen (§ 146 Abs. 4 S. 3 VwGO) (vgl. GATZ, a.a.O.<br />

S. 915 f.).<br />

Auflagen in einem Beschluss (vgl. § 80 Abs. 5 S. 4 u. 5 VwGO) können nicht selbstständig angefochten<br />

werden, die Beschwerde muss sich gegen den Beschluss insgesamt richten (REDEKER/VON OERTZEN §80<br />

Rn 62 m.w.N.).<br />

Praxishinweis:<br />

Steuerberater sind vor den Verwaltungsgerichten und Oberverwaltungsgerichten auch in Beitragsstreitigkeiten<br />

nach § 67 Abs. 2 S. 2 Nr. 3, Abs. 4 S. 7 VwGO zur Vertretung befugt. Die Vertretung<br />

in beitragsrechtlichen Widerspruchsverfahren ist Steuerberatern als Nebenleistung zur Prozessvertretung<br />

nach § 5 Abs. 1 RDG gestattet (BVerwG, Urt. v. 20.1.2<strong>01</strong>6 – 10 C 17.14).<br />

VI. Hauptsacheverfahren<br />

In kommunalabgabenrechtlichen Streitigkeiten kommt dem Klageantrag der – regelmäßig zu erhebenden<br />

– Anfechtungsklage besondere Bedeutung zu. Zwei Fallkonstellationen sind denkbar:<br />

1. Der Bescheid soll insgesamt angefochten werden, weil es an einer Rechtmäßigkeitsvoraussetzung<br />

fehlt, oder<br />

2. der Bescheid soll in Höhe eines Teils der Abgabenforderung angefochten werden, weil die Forderung<br />

dem Grunde nach, nicht aber der Höhe nach gerechtfertigt ist.<br />

In der zweiten Fallkonstellation sollte der Klageantrag auf den zu Unrecht geforderten Teil beschränkt<br />

werden. Dies ist manchmal leichter gesagt als getan. Es sind durchaus Fälle denkbar, in denen eine<br />

Zuvielforderung offensichtlich ist, aber andererseits die Bestimmung von deren Höhe Schwierigkeiten<br />

bereitet. In einem solchen Fall sollte – nach Aufklärung des Mandanten über das Kostenrisiko – auf eine<br />

Beschränkung des Klageantrags verzichtet werden.<br />

Praxishinweis:<br />

Rettet sich eine Gemeinde in einem Klageverfahren durch Nachschieben einer wirksamen Gebührensatzung,<br />

ist die Hauptsache für erledigt zu erklären. Widerspricht die Gemeinde der Erledigungserklärung,<br />

muss die Anfechtungsklage mit dem Antrag geändert werden, dass die Hauptsache erledigt ist. Diesem<br />

Antrag ist auch dann stattzugeben, wenn andere Mängel der Satzung als der Satzungsverstoß gerügt<br />

worden sind. Bei der Erledigung wird hinsichtlich der ursprünglichen Unwirksamkeit nicht differenziert.<br />

64 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 6.1.<strong>2020</strong>

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