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3 das Schwere<br />

Ist ein Möbel schwer, rechtfertigt sich der Preis. Das Investierte zeigt sich im Gewicht.<br />

Wuchtige Stollenwand und dicke Tischplatte, stämmige Beine. Das alles reicht in der Nachkriegszeit<br />

schon als einziger Nachweis besonderer Wertigkeit. Obwohl das Model Twiggy das<br />

spindeldürre Ideal jener Jahre war, ist Gelsenkirchener Barock der Balsam für das Verlorene.<br />

Immobile Möbel, gemacht für ein Umfeld, in dem man sein ganze Leben verbringt – von der<br />

Wiege bis zum Sarg aus echter deutscher Eiche. Unveränderlich und festgetackert an ihrem<br />

Platz. Mit solchen Möbeln zog man nicht um. Und wenn doch, dann kostete das Schweiß.<br />

Den vergoss man damals gerne.<br />

Heute nicht mehr. Denn heute lebt man flexibler und mobiler. Aber wo bleibt die Wertigkeit,<br />

würde man plötzlich leichte Möbel bauen? Wie schwer sich Hersteller mit dem Leichten tun,<br />

sieht man allerorten. Manche versuchen sich erst gar nicht daran. Hoffen auf das Bewährte.<br />

Bestimmt kommt es irgendwann zurück! Was ziemlich unwahrscheinlich ist Würde man<br />

als Hersteller über den Tellerrand blicken, könnte man die Möglichkeiten erkennen. Neue<br />

Materialien und Techniken. Spannende Gestaltungskonzepte und eine Hinwendung zu dem,<br />

was der Kunde wirklich braucht. Diese Chance sollte man wahrnehmen..<br />

2 die Tradition<br />

Was gestern richtig war, kann heute nicht<br />

falsch sein – Wertigkeit wird sich immer<br />

durchsetzen – Wir haben Deutschland<br />

damals wieder aufgebaut – Wir sind tief verwurzelt<br />

in unserer Region – Wir suchen unser Holz<br />

noch beim Förster aus – Wir sind ein familiengeführtes<br />

Unternehmen – Hundert Jahre Erfahrung<br />

– Unsere Möbel sprechen für sich – Wir<br />

haben noch nie ein Marketing gebraucht – Handwerkliche<br />

Tradition bis ins letzte Detail.<br />

Das ist es also, worauf man beharrlich setzt:<br />

die eigene Tradition als Totschlagbegriff gegen<br />

das verstörende Neue und den verletzten Stolz.<br />

Ignoranz gegenüber dringend anstehenden Aufgaben.<br />

Man argumentiert mit dem destruktiv-<br />

Konservativen, bedient Sehnsüchte nach Zeiten,<br />

wo noch alles besser, wertiger, absehbarer und<br />

natürlich schöner war. Mit der Verweigerung<br />

globaler Einflüsse und geänderter Lebensgewohnheiten.<br />

Dagegen kämpft man mit ganzer Kraft<br />

und setzt lieber auf das Luftbild von Großvaters<br />

Werkstatt auf der Website, die man ‚Homepage‘<br />

nennt. Agonie. Mit stumpfer Waffe kämpft man<br />

bis hin zum Insolvenzantrag und dem Dahinscheiden<br />

der letzten treuen Stammkunden.<br />

Dabei hätte es wesentlich weniger Mühe und<br />

Kraft gekostet, einfach nur zeitrichtige Möbel zu<br />

bauen. Aufzuwachen und die Zäsur zu wagen.<br />

Starrsinn, überlebte Tradition, Hierarchie und<br />

die Erfahrung der Gestrigen im Giftschrank verschwinden<br />

zu lassen. Neues zu beginnen. Auch<br />

dann, wenn die Maschinen in der zugigen Halle<br />

noch grün sind. Das geht aber nur, wenn man<br />

den Zeitpunkt nicht verpasst. Ohne Ballast wird<br />

die Beinfreiheit für die richtigen Entscheidungen<br />

ganz ungeahnt groß. So wie damals in der Zeit, als<br />

alles begonnen hat. Und plötzlich ist sie wieder<br />

da, die Tradition! Aber anders.<br />

4 die Zielgruppe<br />

Wie entwickelt man ein<br />

erfolgreiches Möbel? Man<br />

fokussiere Gestaltung, An -<br />

wendung und den Preis auf eine klar<br />

umrissene Gruppe von Interessenten.<br />

Das ist erfreulich und ungewöhnlich.<br />

Denn man denkt ja tatsächlich schon<br />

am Anfang an die Bedürfnisse des<br />

Käufers, obwohl der im Branchenjargon<br />

etwas despektierlich ‚Endkunde‘<br />

genannt wird. Der Pfeil geht<br />

also direkt ins Schwarze. Gar nicht<br />

schwer, weil alles passt: Anmutung,<br />

zielgerichtetes Marketing, der richtige<br />

Vertriebskanal. Bisher galt die<br />

eigene Produktenwicklung doch stets<br />

als ein Vabanquespiel.<br />

Nun wird sie plötzlich kalkulierbar.<br />

Mit vorausbestimmten Schnelldrehern.<br />

Da freut sich auch der krisengeplagte<br />

Händler – und siehe da:<br />

Die Platzierungsquote stimmt. Im<br />

Handel steht das neue Möbel dann<br />

wie Blei. Ursachenforschung beginnt,<br />

Design, Funktion und VK kommen<br />

auf den Prüfstand. Und schnell wird<br />

klar, dass doch alles erfüllt ist, was<br />

man sich vorgenommen hatte. Ratlosigkeit.<br />

Dabei ist der wahre Schuldige<br />

an diesem Flop nicht weit. Es ist der<br />

Kunde. Er möchte das perfekt für ihn<br />

entworfene und beworbene Möbel<br />

einfach nicht kaufen.<br />

Und schuld daran ist auch die<br />

Annahme, im Jahre 2020 gäbe es<br />

noch klar definierte Käufergruppen.<br />

Mancher Hersteller meint, dass der<br />

misstrauische Zielgruppenmensch<br />

tatsächlich ein Möbel akzeptieren<br />

wird, das ganz genau auf ihn zentriert<br />

und auf seine Bedürfnisse<br />

zugeschnitten ist. So reiht sich ein<br />

Fauxpas an den nächsten. Doch<br />

leider sind solche bisher zuverlässigen<br />

Kenngrößen weitgehend<br />

verschwunden. Die einst scharfe<br />

Abgrenzung verschiedener Käuferschichten<br />

wird immer diffuser.<br />

Denn heute spart die Arzthelferin<br />

auf den ersehnten Eames Chair, der<br />

Mann in Jeans und Holzfällerhemd<br />

kauft den italienischen Businessanzug<br />

und so manche Anwaltsgattin<br />

brütet über schwedischen<br />

Montageanleitungen. Zielgruppenanalyse<br />

ist fragwürdig geworden.<br />

Oder man hängt sie gleich so hoch<br />

auf, dass sich keine verwertbaren<br />

Erkenntnisse daraus ableiten lassen.<br />

Dass Käufer offener und souveräner<br />

in ihren Kaufentscheidungen<br />

geworden sind, ist Ausdruck des<br />

gesellschaftlichen Wandels, globaler<br />

Einflüsse und eines demokratisiertenLebensgefühls.<br />

Um gute<br />

Produkte für sie zu machen, muss<br />

man keine Daten auswerten. Sondern<br />

einfach nur genau hinschauen.<br />

Mit einer neuen Sensibilität für den<br />

Adressaten.<br />

1/2020 möbel kultur 69

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