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Willkommen im Hotel! Echo einer Krise / dérive – Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 78, (Heft 1/2020)

Im Hotel zu wohnen klingt nach Reise und Urlaub, nach Luxus und Muße. Es hat allerdings auch eine andere, weit weniger glamouröse und mondäne Seite und zwar dann, wenn das Zimmer eines Billighotels zur Wohnung wird, weil man sich die Miete am Wohnungsmarkt nicht mehr leisten kann. Carina Sacher versammelt im aktuellen dérive-Schwerpunkt Beiträge über unfreiwillige HotelbewohnerInnen im immer teurer werdenden Dublin, über die wirtschaftliche Situation der vom französischen Staat teuer bezahlten sozialen Hotellerie und über die Situation von Menschen, die in abgelegenen Motels in den USA leben. Ein weiterer Artikel dokumentiert die Situation in San Francisco und Oakland, wo die günstigen SROs immer öfter teuren Apartments weichen müssen. Im Interview mit AktivistInnen des besetzten 4-Stelle-Hotels in Rom geht es um Wohnraumversorgung und den politischen Kampf für das Recht auf Wohnen. Im Magazinteil geht es ein weiteres Mal um die Wieder Nordbahnhalle, um Straßennamen und Stadtmarketing in Hamburg. Das Kunstinsert Hotel Publik – ein Dach über dem Kopf stammt von Alfredo Barsuglia. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/willkommen-im-hotel-echo-einer-krise-heft-78-1-2020 bestellt werden.

Im Hotel zu wohnen klingt nach Reise und Urlaub, nach Luxus und Muße. Es hat allerdings auch eine andere, weit weniger glamouröse und mondäne Seite und zwar dann, wenn das Zimmer eines Billighotels zur Wohnung wird, weil man sich die Miete am Wohnungsmarkt nicht mehr leisten kann.

Carina Sacher versammelt im aktuellen dérive-Schwerpunkt Beiträge über unfreiwillige HotelbewohnerInnen im immer teurer werdenden Dublin, über die wirtschaftliche Situation der vom französischen Staat teuer bezahlten sozialen Hotellerie und über die Situation von Menschen, die in abgelegenen Motels in den USA leben. Ein weiterer Artikel dokumentiert die Situation in San Francisco und Oakland, wo die günstigen SROs immer öfter teuren Apartments weichen müssen. Im Interview mit AktivistInnen des besetzten 4-Stelle-Hotels in Rom geht es um Wohnraumversorgung und den politischen Kampf für das Recht auf Wohnen.

Im Magazinteil geht es ein weiteres Mal um die Wieder Nordbahnhalle, um Straßennamen und Stadtmarketing in Hamburg. Das Kunstinsert Hotel Publik – ein Dach über dem Kopf stammt von Alfredo Barsuglia. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/willkommen-im-hotel-echo-einer-krise-heft-78-1-2020 bestellt werden.

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Jan — Mar 2020

N o 78

Zeitschrift für Stadtforschung

dérive

dérive

ISSN 1608-8131

9 euro

WILLKOMMEN IM HOTEL!

Echo einer Krise

dérive


Editorial

Im Hotel zu wohnen klingt nach William S. Burroughs, Nico

und Marcel Prawy, nach Reise und Urlaub, nach Luxus und

Muße. Wohnen im Hotel hat allerdings eine andere, weit weniger

glamouröse und mondäne Seite und zwar dann, wenn das

Zimmer eines Billighotels zur Wohnung wird, weil man sich die

Miete am Wohnungsmarkt nicht mehr leisten kann. Ist das der

Fall, hat man keine Wahl darüber, welches Hotel man bezieht,

ob man im Hotelrestaurant oder zur Abwechslung vielleicht

einmal in einem anderen Restaurant diniert, ob man doch wieder

auszieht und sich eine eigene Wohnung sucht und schlussendlich

– und das ist der entscheidende Punkt – ob man sich

frei entscheidet, im Hotel zu wohnen oder nicht. Im von Carina

Sacher redaktionell verantworteten Schwerpunkt Willkommen

im Hotel – Echo einer Krise geht es um das Wohnen im Hotel

als Notlösung. Das betrifft, wie sie schreibt, Erwerbsarme, mittellose

PensionistInnen, Obdachlose, Flüchtlinge, asylsuchende

und zunehmend jüngst wohnungslos gewordene Familien.

Die historischen Hôtels meublés in Frankreich oder die

Single Room Occupancy Hotels (SRO) in den USA, die im

Schwerpunkt immer wieder auftauchen, wurden ursprünglich

nicht deswegen aufgesucht, weil sich die BewohnerInnen in der

eigenen Stadt keine Wohnung mehr leisten konnten. Viel eher

waren sie Ankunfts- und Unterkunftsorte für ArbeitsmigrantInnen

und nahmen »eine zentrale Rolle der bedingungslosen

Aufnahme in Übergangssituationen« ein, was eine wichtige

Funktion darstellte. Heute sind heruntergewirtschaftete Tourismushotels,

abgelegene Motels oder Pensionen, in die seit ewig

nicht mehr investiert worden ist, die Orte in denen AsylwerberInnen

ihre Wartezeit auf den Asylentscheid absitzen, in denen

wohnungslose Familien verzweifelt versuchen, so etwas wie Alltag

zu leben, in denen verarmte PensionistInnen erkennen müssen,

dass sie es mit ihrer Pension wohl nie wieder schaffen

werden, die Miete für eine annehmbare Wohnung zu bezahlen.

Carina Sacher versammelt im Schwerpunkt Beiträge

über unfreiwillige HotelbewohnerInnen im immer teurer werdenden

Dublin (Mel Nowicki, Katherine Brickell und Ella Harris),

über die wirtschaftliche Situation der vom französischen

Staat teuer bezahlten sozialen Hotellerie (Erwan Le Méner)

und über die Situation von Menschen, die in abgelegenen

Motels in den USA leben (Abby Westberry). Ein weiterer Artikel

dokumentiert die Situation in San Francisco und Oakland,

wo die günstigen SROs immer öfter verschwinden und teuren

Apartments für die sehr gut verdienenden IT-Arbeitskräfte aus

dem Silicon Valley weichen müssen (Carla Leshne und Erin

McElroy). AktivistInnen der Initiative Blocchi Precari Metropolitani

(Irene di Noto, Valerio Muscella und Leroy

S.P.Q.R’DAM) sprechen im Interview über die Wohnraumversorgung

in Rom, ihren politischen Kampf für das Recht auf

Wohnen und im Speziellen über das besetzte Hotel 4 Stelle.

Ihre Parole Riprendiamoci la città! (Nehmen wir uns die Stadt

zurück!) ähnelt nicht nur derjenigen von DemonstrantInnen,

die in Dublin gegen die Wohnungskrise auf die Straße gehen –

Take back the city!, sondern auch derjenigen der linksradikalen

italienischen Gruppe Lotta Continua, die im Italien der 1970er

ein ganzes Programm unter dem Titel Prendiamoci la città

(Nehmen wir uns die Stadt) verfasst hat. Klaus Ronneberger

hat in seinem dérive-Artikel 1968 und die urbane Frage vor

einem Jahr darüber geschrieben.

Hotel Publik – ein Dach über dem Kopf, das Kunstinsert

von Alfredo Barsuglia, greift diesmal das Schwerpunktthema

auf. Das 2 x 2,5 m große Häuschen Hotel Publik stand 2013/14

einige Monate vor dem Tiroler Landesmuseum in Innsbruck,

dessen Stadtpolitik für seine rigide Verdrängungspolitik gegenüber

Obdachlosen berüchtigt ist, und ermöglichte jedermann

eine kostenlose Übernachtung.

Im ersten der beiden Artikel des Magazinteils, Vasco da

Gama und Marco Polo in Hamburgs Hafencity, analysiert

Katharina Prohl das fragwürdige Zusammenspiel von Straßennamen

und Stadtmarketing in Hamburgs Hafencity und stößt

dabei wenig überraschend auf Bedenkliches.

Obwohl wir bereits für die letzte Ausgabe einen ausführlichen

Artikel über die Wiener Nordbahnhalle verfasst

haben, müssen wir in dieser Ausgabe noch einen Text über diesen

Stadtraum veröffentlichen, soviel ist seither passiert: Vandalismus,

Feuer, Petitionsabweisung, Abriss. Mehr als ein Jahr

intensives Engagement für ein soziokulturelles Nachbarschaftszentrum

durch die IG Nordbahnhalle, an der auch dérive beteiligt

ist, haben nicht gereicht, um die Nordbahnhalle vor der

Visionslosigkeit der Wiener Stadtpolitik zu retten. Stadtplanungspolitik

und Bezirkspolitik, beide in grüner Hand, wollten

nicht verstehen, was für eine tolle Chance auf ein Modellprojekt

eine kooperative Entwicklung der Nordbahnhalle durch Zivilgesellschaft,

Stadtpolitik und -verwaltung geboten hätte. In

einem Stadtteil, der im fußläufigen Umfeld mehr Park- und

Grünflächen aufweisen kann als so ziemlich jedes andere

innerstädtische Viertel Wiens, war das Mantra von der Notwendigkeit

von Grünflächen das zentrale Argument, um für

den Abriss eines Gebäudes, das eine Grundfläche von 1.300 m 2

einnimmt, einzutreten. Dass es in dem Stadtentwicklungsgebiet,

in dem die Halle liegt und in dem in einigen Jahren

20.000 Menschen leben werden, nicht eine einzige kulturelle

Einrichtung gibt, zählte nichts. Die Nordbahnhalle muss weichen

und ist nun Geschichte, dem Raumthema werden wir uns

stadtpolitisch, publizistisch und mit Veranstaltungen 2020

dafür umso intensiver widmen.

Christoph Laimer

01


»Hausbesetzungen

spielten eine wesentliche

Rolle in der Schaffung würdiger

Wohnlösungen und damit widerstandsfähiger,

herkunftsgemischter Gemeinschaften.«

Irene Di Noto im Interview über das besetzte

4-Stelle-Hotel in Rom auf S. 38

ANGEBOT: ABONNEMENT + BUCH*

8 Ausgaben (2 Jahre) dérive um 56,–/75,– Euro (Österr./Europa)

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Marcel Bois & Bernadette Reinhold (Hg.)

Margarete Schütte-Lihotzky.

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Basel: Birkhäuser, 2019

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*Solange der Vorrat reicht!

dérive

Zeitschrift für Stadtforschung

www.derive.at

www.facebook.com/derivemagazin


Inhalt

01

Editorial

CHRISTOPH LAIMER

Schwerpunkt

04—08

Willkommen im HOTEL! Echo einer Krise

CARINA SACHER

09—15

Prekäre Familien als lukrative KUNDSCHAFT

Managementpraktiken eines Notunterkunft-Hotels

ERWAN LE MÉNER

16—20

The Hotelisation of Dublin’s Housing CRISIS

Experiences of Family Homelessness

MEL NOWICKI, KATHERINE

BRICKELL, ELLA HARRIS

21—26

The LOSS of SRO Hotels in San Francisco

and Oakland

CARLA LESHNE, ERIN MCELROY

27—31

»Before ITS Smell Became ME«

The Effects of Motel Residency on Socioeconomic

and Social Insecurity

ABBY WESTBERRY,

ELIZABETH LLOYD FLADUNG

37—41

4-Stelle-Hotel – Vom Nicht-Ort zum internationalen

selbstorganisierten Haus

IRENE DI NOTO, VALERIO

MUSCELLA, LEROY S.P.Q.R’DAM

IM INTERVIEW MIT CARINA SACHER

42—46

Vasco da Gama und Marco Polo in

Hamburgs HAFENCITY

Straßennamen und Stadtmarketing

KATHARINA PROHL,

RAPHAEL DILLHOF

47—52

Das ENDE der Nordbahnhalle

CHRISTOPH LAIMER

Besprechungen

53—62

Wir alle schätzen einander als Gestalten

S. 53

des Erstbesten

Urbane Transformationsprozesse und ihre

Manifestationen in Oberflächen S.56

S. 57

Ein Park als Exempel von Überschreitungen

»I am Moscow« – Bilder vom Rande der Stadt

Le Corbusier in der russischen Buchhandlung

S. 60

Zur Rolle der Hyper-Präsenz im Film heute

100 Jahre Zürcher Wohnbaugenossenschaften

Das Privateigentum und dessen Versprechen

S. 62

hinterfragen

68

IMPRESSUM

S. 58

S. 58

S. 61

Kunstinsert

32—36

Alfredo Barsuglia

Hotel Publik

Ein Dach über dem Kopf

dérive – Radio für Stadtforschung

Jeden 1. Dienstag im Monat von

17.30 bis 18 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0

oder als Webstream http://o94.at/live.

Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235

03


CARINA SACHER

Willkommen

im HOTEL!

Echo einer Krise

Wer anderer als der Hotelmensch per se Joseph

Roth, selbst Vielreisender und Langzeitbewohner

im Hôtel Foyot und zuletzt im Hôtel de la Poste

im Pariser Viertel Saint-Germain-des-Prés, hätte

ein scharfsinnigerer Erzähler des großstädtischen

Hotellebens der Zwischenkriegszeit sein können?

Als kosmopolitische Drehscheiben der Kunst, Wissenschaft,

Industrie, des Finanzwesens und Handels

bildeten die prachtvollen Stadthotels des

späten 19. und ausgehenden 20. Jahrhunderts die

gesellschaftliche Bühne für den Karriereaufstieg

und einen Kontrapunkt zur bürgerlichen Existenz.

Viele wohlhabende und schillernde Persönlichkeiten

dieser Zeit begründeten im Hotel ihren Dauerwohnsitz

oder zumindest den Pied-à-terre an

prestigeträchtiger Adresse in der Stadt. Künstler

wie Salvador Dalí oder auch Andy Warhol machten

das Hotel zum Schauplatz ihrer Aktionen

und Experimente. Wohnen im Hotel mit Rundum-

Service als luxuriöser Lebensstil kann, damals wie

heute, nur als Randerscheinung bezeichnet werden.

Provisorische Wohnorte

Für jedes Portemonnaie war ein Zimmer mit Bett,

Tisch, Sessel und einem Waschbecken für die minimale Hygiene

über die ganze Stadt verteilt, oft an lebendigen Verkehrsknotenpunkten

und in der Nähe von Fabriken, auf den Tag, die

Woche, das Monat oder auch das Jahr zu mieten. Der junge,

verarmte Tellerwäscher Eric Arthur Blair hielt den faszinierenden

Einblick in das Leben eines dieser unzähligen Pariser

Hôtels meublés in dem später unter dem Pseudonym George

Orwell veröffentlichten Bericht Down and Out in Paris and

London fest: »The lodgers were a floating population, largely

foreigners, who used to turn up without luggage, stay a week

and then disappear again. They were of every trade – cobblers,

bricklayers, stonemasons, navvies, students, prostitutes, rag-pickers.

Some of them were fantastically poor.« (Orwell 1933, S. 4)

Es war nicht die Reiselust, sondern die Notwendigkeit

von Provisorien in den rasch anwachsenden Industriestädten

für die nach Arbeit und einer besseren Existenz suchenden

Menschen, die Nährboden für die Entstehung einer Bandbreite

von privaten Hotel- und Unterkunftsstrukturen waren. Die

Hôtels meublés oder Garnis in den französischen Städten (siehe

Faure & Lévy-Vroelant 2007) und die Single Room Occupancy

Hotels, kurz SRO, in den USA und Kanada (siehe Groth 1994)

gehörten zu ein und demselben Phänomen von Ankunftsorten

par excellence. Im Gegensatz zu den Hotel-Wahrzeichen der

Luxusklasse betteten sich diese Hotels unauffällig ins Stadtgefüge

ein, deren lebhafte Umgebung mit Bistros, Bars, Barbieren

oder Waschsalons zusätzliche Bedürfnisse der BewohnerInnen

zu stillen wusste. Als transitorische Wohnräume trugen sie

wesentlich zur sozialen und wirtschaftlichen Integration der

unteren und mittleren Arbeiterklasse in die großstädtische

Gesellschaft bei. Gleichsam waren sie Abbild kosmopolitischer

Vielfalt, arbeitsbedingter Mobilität und auch der Emanzipation

von Frauen und jungen Männern. In Paris lebten um 1930 etwa

300.000 Menschen, also 12 Prozent der Bevölkerung in den

20.000 Hotels und hotelähnlichen Etablissements (vgl. Jankel,

Lévy-Vroelant 2007, S. 10). In vergleichbarer Weise machten

New Yorks 200.000 SRO-Hotelzimmer 10 Prozent des gesamten

Wohnungsangebots um 1950 aus (vgl. Burke & Sullivan

2013, S. 120). Den Regierungen und Behörden waren sie, als

Orte der Arbeiterklasse und Armut, seit jeher ein Dorn im

Auge. Im Zuge rapider Verstädterung waren die Hotels, neu

errichtete Häuser mit effizientem und flexiblem Grundriss oder

umgebaute Wohngebäude, integraler Bestandteil der Immobilien-

und Bodenspekulation.

Anfang des 20. Jahrhunderts stand Wohnen im Hotel

– sowohl der Wohlhabenden als auch der Arbeiterklasse, TagelöhnerInnen

und LandstreicherInnen – in den USA zunehmend

in Kontrast, und damit in Kritik, mit der sich etablierenden

Wohnen, Hotel, Not, Transit, Krise,

Wohnungslosigkeit, Wohnungsmarkt, Deregulierung

04

dérive N o 78 — WILLKOMMEN IM HOTEL! Echo einer Krise


ERWAN LE MÉNER

Prekäre Familien

als lukrative

KUNDSCHAFT

Managementpraktiken eines

Notunterkunft-Hotels

Hotelgewerbe, Tourismus, Wohnungslosigkeit, Wohnungskrise,

Reglementierung, Sozialdienste

Fotos — Camille Millerand, Divergence

Alte Hôtels meublés 1 und seit kurzem Tourismushotels werden in der Region Paris für

die Unterbringung obdachloser Familien mit unsicherem Aufenthaltsstatus genutzt.

1999 verbrachten rund 2.000 Eltern und Kinder mindestens eine Nacht in einem dieser

Hotels für eine Dauer von durchschnittlich 18 Tagen. Innerhalb von zwanzig Jahren

ist ihre Zahl um den Faktor 20 gestiegen. Wie haben es Hoteliers, deren Klientel

sowohl aus Dauer-MieterInnen als auch aus TouristInnen besteht, geschafft, diese

Nachfrage zu nutzen und welchen Gewinn konnten sie dabei lukrieren?

Erwan Le Méner — Prekäre Familien als lukrative KUNDSCHAFT

09


MEL NOWICKI, KATHERINE BRICKELL AND ELLA HARRIS

The Hotelisation

of Dublin’s

Housing CRISIS

Experiences of Family Homelessness

»Take Back The City is a non-violent, social protest

movement comprised of a loose association of housing

activists, community groups and NGOs, which has

recently sprung up in response to Ireland's crippling

housing crisis.«

Photo — Philip Arneill

This article highlights the experiences of homeless

families living in Dublin’s hotels. We explore the

socio-political implications of the use of hotels for

temporary accommodation and argue that this

increasing reliance on hotels has devastating implications

for the city’s working-class families. The

article outlines several impacts of hotel living: the

disruption of everyday routines, including cooking

family meals, poor physical and mental health, and

the stigma and shame experienced by families

made homeless through no fault of their own.

At a time of acute housing crisis and skyrocketing homelessness

in many cities across the globe, national and local governments

have increasingly come to rely on hotels to supply

emergency accommodation for people in housing need. This

is especially the case in Dublin where, as of August 2019,

there were 1,280 families living in emergency accommodation

(Focus Ireland 2019). Such figures indicate a reality at

odds with narratives of Dublin as having recovered economically

from the 2008 global financial crash.

The city’s ever increasing house prices are in part

attributed to its supposed economic revitalisation, and much

is made of Dublin’s emergent position as one of Europe’s

tech industry hubs. In the Docklands area, high-end (and

high-cost) housing is being developed to accommodate the

growing numbers of tech industry employees. However, as

Rob Kitchin and colleagues have argued, rising house prices

and desirability of land should not be conflated with recovery

but instead understood as another phase of housing

crisis, whereby fast-disappearing housing stock, astronomical

market rents and a highly precarious private rented

sector create a foundation from which increasing rates of

homelessness are an inevitable outcome. This has been

further exacerbated by Dublin’s increasing popularity as an

Airbnb destination, which places further pressure on its

already limited housing stock. From November 2016 to

2017 approximately 499,000 Airbnb guests, in 7,500 properties,

stayed in a city whose permanent population is

just 500,000 (Airbnb 2018).

Therefore, despite the supposed recovery, hundreds

upon hundreds of families are without homes – evicted from

the precarious private rented sector and left with no choice

but to live in unsuitable emergency accommodation for weeks,

months, sometimes years, at a time. According to Focus

Ireland, as of June 2019, more than 60% of families in emergency

accommodation had been there for more than six

months (Focus Ireland 2019). Indeed, between 2014 and

2018, the number of people legally classed as homeless in

Dublin, Hotels, Family Homelessness,

Ill-Health, Stigma, Airbnb, Tourism

16

dérive N o 78 — WILLKOMMEN IM HOTEL! Echo einer Krise


CARLA LESHNE, ERIN MCELROY

The LOSS of

SRO Hotels in

San Francisco and

Oakland

San Francisco, Oakland, Airbnb, Gentrification,

SRO Hotel, Housing Crisis, Homelessness, Displacement

Narratives of Displacement mural in Clarion Alley by the Anti-

Eviction Mapping Project and the Clarion Alley Mural Project,

depicting a rendering of the online-map of no-fault evictions since

1997 and highlighting the portraits of eight San Franciscans fighting

their eviction. www.antievictionmap.com/mural-in-clarion-alley

Cities across the United States experienced a dramatic decrease in single-room

occupancy (SRO) units over the last several decades, leading to the displacement of

thousands of urban residents. SRO hotels have been an important housing resource

for the poor, elderly, itinerant workers, immigrant families, and people released from

institutions directly into society (Berman 2019; Levin 1985). In this article, we situate

the recent loss of SROs in San Francisco and Oakland within longer-term regional

and national histories, looking at the impacts of disinvestment and contexts of heightened

gentrification.

Carla Leshne, Erin McElroy — The LOSS of SRO Hotels in San Francisco and Oakland

21


ABBY WESTBERRY, ELIZABETH LLOYD FLADUNG

»Before ITS

Smell Became ME«

Belonging, Housing Instability, Motel Residency,

Service Provision, Social Inequality, Isolation, USA

The Effects of Motel Residency on

Socioeconomic and Social Insecurity

Jimmy clearly did not fit in at a motel. As soon as Jimmy walked into a

room, he would command attention with his charismatic storytelling

and booming laugh. As a successful businessman, former member of

local government, and college-degree holder, Jimmy had much to say

regarding the issues that he saw within his community. But from his

appearance, one would not have guessed that Jimmy was a felon and

had spent the past three months living in a motel, alienated from his

community.

While incarcerated, Jimmy had assumed that upon being

released »most of [his] difficulties would be proving that [he] wasn’t a

bad person, that [he] wasn’t a few lines written on the court’s paperwork.«

But the world outside of prison surprised Jimmy. He found

that people simply perceived him just as he appeared to be: an eloquent

but ordinary member of his community. Jimmy found that the

hardest parts of readjusting to normal society were the »nagging

experiences about day to day issues.«

Life in a motel was a key component of this. When people found out

that he lived in a motel, he felt they »made assumptions about who I

am and judged me as less intelligent or more dangerous… or less

desirable than everyone else.«

Jimmy is one member of the large and ever-growing community

of motel residents in North America. This article explores the use

of motels as a form of longer term residency by foregrounding the stories

of over sixteen residents at low-income motels located on major

motorways and interstate highways in the state of Maine.

Designed for highway travelers, motels largely emerged as an

affordable stopover option in the 1950s and became a symbol of American

transience. Most motels are located on the outskirts of urban centers

Photos — Elizabeth Lloyd Fladung

and only connected to urban life via busy motorways or major country roads; they tend to be

owned by individuals rather than chains. Despite motels’ historical prominence, their economic

viability has decreased over the past 30 years due to the rise of large chain hotels. Small and

independent motels have struggled more and more to maintain a steady clientele, as travelers

prefer to stay at hotels offering a broader range of amenities (Jackle, Rogers & Sculle 2002).

This decline has impacted almost all levels of the motel industry, regardless of whether the service

is located alongside a motorway or a country road.

Abby Westberry, Elizabeth Lloyd Fladung — »Before ITS Smell Became ME«

27


Kunstinsert

Alfredo Barsuglia

Hotel Publik

Ein Dach über dem Kopf

Im Bank Austria Kunstforum läuft noch bis zum 12. Jänner im Tresor Alfredo Barsuglias Ausstellung

Take on me. Beim Eintritt in den Ausstellungsraum fühlt man sich in einen fast alltäglichen

Außenraum versetzt, eine städtische Hausfassade, 1:1 gebaut, ein sich dann und wann öffnendes

und schließendes Garagentor, ein altes Fahrrad, ein angeschnittenes Plakat. Alles wirkt real,

aber doch wie ein perfektes Filmset. Es ist Abend und man hört den Regen prasseln. Im Zentrum

sieht man durch ein kleines und ein großes Fenster mit einer Glastür einen Mann und eine

Frau an Elementen herumbasteln. Man kann nicht sofort erkennen, was da genau geschieht: Ist

es eine Performance oder wird da nur ein Regal aufgebaut? Plötzlich taucht ein Gemälde auf,

dann liegt die Protagonistin unter dem Regal, und dann startet der Loop wieder von Neuem. Die

Handlungen im Video ziehen die RezipientInnen an und bleiben doch letztlich geheimnisvoll.

Der Titel Take on me (Nimm es mit mir auf) erinnert an das gleichnamige Musikvideo

von A-ha aus dem Jahre 1985, wo Realität und Fiktion zwischen animierter Zeichnung und

Film, zwischen (scheinbarer) Realität und Fiktion changieren und schließlich ineinander übergehen.

Dieser Zugang ist konzeptueller Ausgangspunkt vieler Arbeiten von Alfredo Barsuglia. Der

Künstler nimmt sich der Realität an, überhöht sie in eine Art Hyperrealität, um sie schließlich

in eine unerwartete architektonische Kontextualisierung, wie etwa den Social Pool, 2014 in der

Mojave-Wüste, überzuführen. Dieser Pool wurde in Kooperation mit dem MAK Center in Los

Angeles als Mini-Entspannungsoase in Form einer sich durch seine Orthogonalität markant von

der Landschaft absetzenden benutzbaren Skulptur errichtet. Der Social Pool wurde bei diesem

Projekt erst durch die Aneignung seine BenutzerInnen sozial.

Besagte Kontextualisierung geschieht ganz anders, aber durchaus auch architektonisch

bei Hotel Publik, welches zwischen November 2013 und Februar 2014 im Stadtzentrum von

Innsbruck, das für seine rigide Politik gegenüber Obdachlosen bekannt ist, realisiert wurde. Ein

kleines Häuschen, 2 x 2,5 m mitten im öffentlichen Raum, kann während der kalten Jahreszeit

kostenlos als Hotelzimmer gebucht werden. Es wird jeden Tag gereinigt, mit frischer Bettwäsche

ausgestattet, hat eine Heizung und einige Bücher findet man auch noch im Regal. Am Anfang

des Projekts war die Benutzung noch durch ein sehr heterogenes Publikum bestimmt. Mit der

Zeit (und es wurde kälter) haben sich immer mehr jener Menschen, die kein Dach über dem

Kopf haben, um die Nächte im Hotel Publik bemüht. Das Zimmer war durchgehend ausgebucht

und es kam sogar vor, dass bis zu drei Personen sich das Hotel Publik teilten. Trotzdem gab es

nie Streit. Die Community kümmerte sich sogar um die Reinigung der Außenwand nach einer

Graffiti-Attacke. Schließlich konnte man in einem Gästebuch seine Erfahrungen mit dem Hotel

Publik niederschreiben. Auf der letzten Seite dieses Inserts können die LeserInnen eine dieser

Geschichten selbst lesen.

Der in Graz geborene Alfredo Barsuglia lebt heute in Wien. Barsuglia studierte Malerei

und Grafik an der Universität für angewandte Kunst und an der Akademie der bildenden Künste

in Wien. Derzeit gibt es neben der Ausstellung im Bank Austria Kunstforum mehrere Gelegenheiten,

Ausstellungen des Künstlers zu sehen: Bis zum 11. Jänner zeigt Bildraum Bodensee

die performative Intervention Drawing into the void und bis zum 26. Jänner ist im Kunstraum

Montafon die Ausstellung Daily Golem (gemeinsam mit Gelitin) zu sehen. Am 27. Februar wird

seine kommende Ausstellung Nichts in der Tiroler Künstler*schaft eröffnet. Alfredo Barsuglia hat

überdies gerade den diesjährigen Msgr. Otto Mauer Preis erhalten. dérive gratuliert ganz herzlich!

Barbara Holub / Paul Rajakovics

32

dérive N o 78 — WILLKOMMEN IM HOTEL! Echo einer Krise


CARINA SACHER, IRENE DI NOTO, VALERIO MUSCELLA, LEROY S.P.Q.R’DAM

Hausbesetzung, Aktivismus, Recht auf Wohnen, Rom,

Blocchi Precari Metropolitani, Wiederaneignung, Peripherie, Wohnungsmarkt

4-Stelle-Hotel

Vom Nicht-Ort zum

internationalen selbstorganisierten

Haus

Die kollektive Wiederaneignung von ungenutzten Gebäuden in öffentlichem und

privatem Besitz übt direkte Kritik an der vorherrschenden Rolle des Immobilienkapitalismus.

Als alltägliche Praxis bildet sie die Basis im Kampf für das Recht auf Wohnen

und, im Allgemeinen, für soziale Gerechtigkeit. Blocchi Precari Metropolitani (Großstädtische

Prekäre Blöcke), kurz BPM, eine der größten Bewegungen für das Recht auf

Wohnen in Rom, agieren zusammen mit Kollektiven und Grassroots-Gewerkschaften

darüber hinaus mittels Widerstand gegen Zwangsräumung und sozialer Mobilisierung

zur Einforderung der Rechte gegenüber politischen Institutionen. In den Folgejahren

der Finanz- und Wohnungskrise 2007 schlossen sich mehrere Bewegungen unter dem

Namen Tsunami Tour an drei Terminen (Dezember 2012, April und Oktober 2013)

zusammen und besetzten dutzende Gebäude. Eines von ihnen ist das 2000 errichtete

und elf Jahre später abrupt aufgelassene Eurostar Kongress- und Konferenzhotel

4 Stelle im östlichen Vorort Tor Sapienza, das kurz danach von Unicredit übernommen

wurde. Es liegt inmitten einer Gegend großräumiger Stadtumbauten in Form von riesigen

Vertriebs- und Einkaufszentren. Das ehemalige 4-Sterne-Hotel ist seit Dezember

2012 das Zuhause von 520 Menschen, davon 160 Minderjährigen, aus 18 Ländern. 1

Unweit vom 4-Stelle-Hotel liegt das Metropoliz. In der verlassenen Fiorucci-Fabrik

leben seit 2009 etwa 200 Personen. Mit seinen zahlreichen Aktivitäten und dem

Museo dell’Altro e dell’Altrove di Metropoliz_città meticcia (Museum der Anderen und

des Anderswo von Metropoliz_herkunftsgemischte Stadt, MAAM) ist Metropoliz in

einer von infrastrukturellem Mangel geprägten Nachbarschaft ein wichtiger öffentlicher

Raum. Carina Sacher sprach mit der BPM-Aktivistin Irene di Noto, dem Fotografen

Valerio Muscella, und Leroy S.P.Q.R’DAM, einem der ersten Hausbesetzer des

4-Stelle-Hotels.

Carina Sacher, Irene di Noto, Valerio Muscella, Leroy S.P.Q.R’DAM — 4-Stelle-Hotel

37


KATHARINA PROHL, RAPHAEL DILLHOF

Vasco da Gama

und Marco Polo in

Hamburgs HAFENCITY

Straßennamen und Stadtmarketing

Magazin

»Und in der Tat sind Straßennamen […] wie berauschende Substanzen,

die unser Wahrnehmen sphärenreicher und vielschichtiger machen.«

Walter Benjamin, Passagen-Werk, S. 654

Straßennamen, Stadtmarketing,

Postkolonialismus, Hafencity, Hamburg, Stadtidentität

Foto — Raphael Dillhof

42

dérive N o 78 — WILLKOMMEN IM HOTEL! Echo einer Krise


CHRISTOPH LAIMER

Das ENDE

der Nordbahnhalle

Die Rauchsäule der brennenden Nordbahnhalle war

über ganz Wien zu sehen. Foto — Irina Nalis-Neuner

Partizipation, Stadtpolitik, Freiraum,

Koproduktion, Immobilienwirtschaft, Zwischennutzung

Die Nordbahnhalle auf dem Weg zum Stadtteilzentrum betitelten wir in der

Oktober-Ausgabe von dérive den Zwischenstandsbericht zur Auseinandersetzung

um die Zukunft der Wiener Nordbahnhalle als sozialkulturelles Zentrum.

Im Titel schwang zugegebenermaßen eine ordentliche Portion Optimismus mit.

Die GegnerInnen dieses Plans waren nicht zahlreich, saßen aber an den entscheidenden

Stellen. Trotz breiter Unterstützung aus der Nachbarschaft und

hohem medialem Interesse war der Weg der IG Nordbahnhalle 1 von Anfang

an steinig, und es war klar, dass mit der konkreten Umsetzung der schwierigste

Abschnitt noch bevorstehen würde. Einen guten Monat nach Veröffentlichung

des Artikels ist in der Nordbahnhalle überraschend ein Feuer ausgebrochen,

dessen Rauchsäule weit über Wien sichtbar war. Die Halle wurde schwer

beschädigt. Mitte Dezember, noch bevor die Untersuchungen zur Brandursache

abgeschlossen waren, hat der Abriss der Halle begonnen. Der Brand markiert

das spektakuläre Ende eines Möglichkeitsraums, der ein Modellprojekt für

Wien hätte werden können. Die verantwortlichen Stellen der Stadt Wien taten

alles, um das nicht erkennen zu müssen. Eine dokumentarische Aufarbeitung.

Christoph Laimer — Das Ende der Nordbahnhalle

1

Die IG Nordbahnhalle ist

eine Initiative von NachbarInnen,

ArchitektInnen,

StadtforscherInnen, KünstlerInnen

und sozialen Initiativen,

die für eine dauerhafte

Nutzung der

Nordbahnhalle als soziales

und kulturelles Nachbarschaftszentrum

eingetreten

ist. dérive war und ist

Teil der Initiative

(ig-nordbahnhalle.org).

47


Besprechungen

Wir alle schätzen einander

als Gestalten des Erstbesten

Manfred Russo

Es gibt mittlerweile eine Menge an Literatur

über die Stadt, meist geschrieben von

SoziologInnen, GeographInnen, RaumplanerInnen

und ArchitektInnen, auch HistorikerInnen

und PolitologInnen. Zumeist sind

diese Bücher aus der Perspektive der

jeweiligen Disziplin verfasst und damit

kaum in der Lage, die Gesamtheit der

Stadt zu erfassen oder zumindest den Versuch

zu wagen eine solche zu denken. Der

französische Ethnologe Marcel Hénaff

gehört zu jener raren Spezies von WissenschaftlerInnen,

der sich dieser umfassenden

Aufgabe stellte und man muss sagen,

mit Erfolg. Denn mit dem relativ schmalen

Büchlein Die Stadt im Werden liegt nun

eine deutsche Übersetzung seines bereits

2002 in einer Zeitschrift, 2008 in Buchform,

zunächst auf Französisch erschienenen,

erweiterten Aufsatzes vor, der, von Eva

Moldenhauer souverän übersetzt, in der

Lage ist, dem Stadtforscher Freude zu

bereiten. Hier ist ein Autor zu beobachten,

der die Stadt in einigen zentralen Dimensionen

des Monuments, der Maschine und

des Netzwerks zusammen denkt und in

einem historischen Aufriss den Werdegang

jenes uns so selbstverständlichen, wie auch

in anderer Hinsicht geradezu unfassbaren

Phänomens der Stadt skizziert. Der Text ist,

obwohl schon 2002 erstmals erschienen,

von einer geradezu selbstverständlichen

Aktualität, wenn man vom Fehlen der Klimafrage,

die damals noch nicht gestellt

wurde, absieht. Hénaff selbst ist leider im

Vorjahr verstorben, er war Professor an

der Universität von Kalifornien in San

Diego, wohl einer jener französischen

Gelehrten, der den Aufbruch in das sonnige

Kalifornien unternahm, ganz in der

Tradition vieler französischer Kollegen, die

damit auch nachhaltigen Einfluss auf die

amerikanischen Universitäten ausübten. Er

war Philosoph und Anthropologe, und es

ist unschwer zu erkennen, dass sich diese

Voraussetzungen für einen holistisch und

diachron angesetzten Bericht zum Werden

der Stadt als höchst vorteilhaft erwiesen.

Als Schüler von Michel de Certeau war er

natürlich mit dem Prinzip der übereinandergeschichteten

Orte vertraut, und damit

ein Leser der Stadt, der sie sowohl in synchronen

als auch diachronen Zusammenhängen

zu lesen verstand. Nur wer die

Schichtenfragmente kennt, kann das

Zusammenspiel der großen Kräfte, die das

Werden der Stadt ausmachen, zutreffend

beschreiben.

Monumentales

Man muss die Stadt vom Grund her

denken und das bedeutet eine Interpretation

ihrer Wurzeln, die in Mesopotamien

liegen, aber ebenso in China, wie auch in

der griechischen und römischen Antike.

Hier werden die ersten Ansätze der städtischen

Zivilisation geprägt. Stadtgründungen

sind religiöse Akte und mit komplexen

rituellen Handlungen verbunden, die Stadt

selbst ist in ihren Anfängen eine kosmologische

Totalität, die nicht nur eine Welt

erschafft, sondern auch Welt ist. Der

bemerkenswerteste politisch-soziale Aufschwung

wird in der griechischen Antike

genommen, indem die Königsherrschaft

durch die Demokratie mit ihren zahlreichen

städtischen Institutionen abgelöst wird. Die

Geometrie wird zur Entsprechung der

Demokratie, indem als Isokratie alle Punkte

gleich weit vom Zentrum entfernt sind.

Hippodamos ist Astronom, Stadtplaner

und Philosoph und vereinigt damit drei Elemente

einer Idee der Stadt: den Himmel,

die politische Ordnung und das Denken.

Der Stadtraum repräsentiert die kosmologische

Ordnung. Daher ist die Stadt als

Monument einer Gemeinschaft zu errichten.

Die Wichtigkeit dieses Umstands hatte

schon Lefebvre betont und es zählt zu den

Stärken Hénaffs, immer wieder diese Notwendigkeit

einer Erscheinung der Stadt als

Monument zu betonen. So sagt er mit

Bezug zum himmlischen Jerusalem aus der

Offenbarung des Johannes: »Die Stadt ist

nicht nur ein Ort der Monumente, sie ist

selbst das Monument schlechthin.« Zugleich

wird er aber auch an die später auftretenden

Widersprüche zwischen den gegensätzlichen

Merkmalen der Maschine und

des Monuments erinnern. Zunächst, insbesondere

in der mittelalterlichen Stadt entwickelte

sich etwas, das man heute mit

Bewohnbarkeit bezeichnen würde. Ein

Raum, in dem es sich gut leben lässt und

wo vor allem eine Vertrautheit zwischen

Körpern und Orten hergestellt wird. Im

Spätmittelalter und der Renaissance

ändert sich die Wahrnehmung der Stadt,

denn durch die aufkommende Perspektive

wird nun ein dreidimensionaler Raum auf

eine ebene Fläche, ein Bild projiziert. Die

Stadt wird nun als etwas Anzuschauendes

verstanden und damit entsteht eine neue

Ordnung der Szenerie. Der öffentliche

Raum wird zu einer Bühne für den Fürsten,

dessen Macht sich nun auf die neue Wirkung

optimaler Sichtbarkeit stützt. Der taktile,

diskontinuierliche, mobile Raum wie ihn

der Bewohner und Fußgänger fühlte und

Besprechungen

53


Impressum

dérive – Zeitschrift für Stadtforschung

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber / Publisher:

dérive – Verein für Stadtforschung

Mayergasse 5/12, 1020 Wien

Vorstand: Christoph Laimer, Elke Rauth

ISSN 1608-8131

Offenlegung nach § 25 Mediengesetz

Zweck des Vereines ist die Ermöglichung und Durchführung

von Forschungen und wissenschaftlichen Tätigkeiten zu den

Themen Stadt und Urbanität und allen damit zusammenhängenden

Fragen. Besondere Berücksichtigung finden dabei

inter- und transdisziplinäre Ansätze.

Grundlegende Richtung

dérive – Zeitschrift für Stadtforschung versteht sich als

interdisziplinäre Plattform zum Thema Stadtforschung.

Redaktion

Mayergasse 5/12, 1020 Wien

Tel.: +43 (01) 946 35 21

E-Mail: mail(at)derive.at

www.derive.at

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dérive – Radio für Stadtforschung

Jeden 1. Dienstag im Monat von 17.30 bis 18 Uhr

in Wien live auf ORANGE 94.0

oder als Webstream http://o94.at/live.

Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235

Chefredaktion: Christoph Laimer

Schwerpunktredaktion: Carina Sacher

Redaktion/Mitarbeit: Thomas Ballhausen, Andreas Fogarasi,

Elisabeth Haid, Barbara Holub, Michael Klein, Andre Krammer,

Silvester Kreil, Karin Lederer, Erik Meinharter, Sabina Prudic-

Hartl, Paul Rajakovics, Elke Rauth, Manfred Russo

AutorInnen, InterviewpartnerInnen und KünstlerInnen dieser Ausgabe:

Alfredo Barsuglia, Katherine Brickell, Irene di Noto, Christian Egger,

Ella Harris, Erwan Le Méner, Andre Krammer, Tobias Kubitza,

Christoph Laimer, Carla Leshne, Erin McElroy, Erik Meinharter,

Valerio Muscella, Mel Nowicki, Ursula Maria Probst, Katharina Prohl,

Elke Rauth, Manfred Russo, Carina Sacher, Leroy S.P.Q.R’DAM,

Abby Westberry

Anzeigenleitung & Medienkooperationen:

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Website: Artistic Bokeh, Simon Repp

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Lithografie: Branko Bily

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Foto: Valerio Muscella

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Wir danken für die Unterstützung:

Bundeskanzleramt – Kunstsektion,

MA 7 – Wissenschafts- und Forschungsförderung

Mitgliedschaften, Netzwerke:

Eurozine – Verein zur Vernetzung von Kulturmedien,

IG Kultur, INURA – International Network for Urban

Research and Action, Recht auf Stadt – Wien.

Die Veröffentlichung von Artikeln aus dérive ist nur mit

Genehmigung des Herausgebers gestattet.

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dérive N o 78 — WILLKOMMEN IM HOTEL! Echo einer Krise


»Die Not macht

»Hausbesetzungen zur

»einzigen Alternative,

»zur informellen

»temporären Notlösung,

»auf die unterdessen

»sogar Sozialdienste und

»Hilfsorganisationen

»verweisen.«

Carina Sacher, S. 07

Wohnungsmarkt, Hotel, Wohnungslosigkeit, Hausbesetzungen,

Sozialpolitik, Dublin, Recht auf Wohnen, San Francisco, Paris,

Isolation, Migration, Gentrifizierung, Airbnb, Nordbahnhalle

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