LP_Holzfeld_Die Verwandlung
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Klaus <strong>Holzfeld</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Verwandlung</strong> des Lukas M.<br />
Fantasy-Roman<br />
NOEL-Verlag
Originalausgabe<br />
Dezember 2019<br />
NOEL-Verlag GmbH<br />
Achstraße 28<br />
82386 Oberhausen/Obb.<br />
www.noel-verlag.de<br />
info@noel-verlag.de<br />
<strong>Die</strong> Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen<br />
Nationalbibliografie, Frankfurt; ebenso in der Bayerischen Staatsbibliothek<br />
in München.<br />
Das Werk, einschließlich aller Abbildungen, ist urheberrechtlich geschützt.<br />
Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsschutzgesetzes<br />
ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig<br />
und strafbar.<br />
Das gilt besonders für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />
und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen<br />
Systemen.<br />
Der Autor übernimmt die Verantwortung für den Inhalt seines Werkes.<br />
Covergestaltung:<br />
Autor:<br />
NOEL-Verlag<br />
Klaus <strong>Holzfeld</strong><br />
1. Auflage<br />
Printed in Germany<br />
ISBN 978-3-95493-416-4
Inhaltsverzeichnis<br />
1 Schulabschluss .......................................................................................... 3<br />
2 Das Ereignis ........................................................................................... 21<br />
3 Der Tag danach ...................................................................................... 23<br />
4 Nachdenken ist angesagt ....................................................................... 36<br />
5 Das Billardturnier ................................................................................... 41<br />
6 <strong>Die</strong> Fahrt an den Gardasee ................................................................... 79<br />
7 Intermezzo............................................................................................ 110<br />
8 Orientierungslos ................................................................................... 118<br />
9 Paris ....................................................................................................... 135<br />
10 London ............................................................................................... 155<br />
11 Sarah.................................................................................................... 173<br />
12 Offseason............................................................................................ 227<br />
13 Monte Carlo ....................................................................................... 254<br />
14 Heimkehr ............................................................................................ 267<br />
15 Der alte Fritz ...................................................................................... 275<br />
16 Lukas Terraforming ........................................................................... 330<br />
17 Mauretanien ........................................................................................ 433<br />
18 Epilog .................................................................................................. 460<br />
Nachwort ................................................................................................. 461
Schulabschluss<br />
Freitagmorgen, 20. April 2018, im Klassenzimmer der Klasse 10 c.<br />
Herr Reiber kam in die Klasse und begrüßte seine Schüler freundlich:<br />
„Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich euch allen. Wir haben<br />
heute nicht viel zu besprechen. Der Unterricht ist sowieso vorbei<br />
und wir wollen nur kurz über die Abschlussfeier nächste Woche Freitagabend<br />
reden. Also, die Feierlichkeiten finden natürlich – wie üblich – in<br />
der Sporthalle statt. Es werden überall Stuhlreihen aufgestellt sein und<br />
ihr nehmt mit den beiden Parallelklassen zusammen in den Reihen 1 bis<br />
5 Platz. Eure Eltern, Geschwister oder sonstigen Begleitpersonen werden<br />
dahinter in den Reihen 6 bis 30 sitzen. Dann hält der Direktor eine<br />
kurze Rede ...“<br />
Alle lachten. „Oh ja, kurz. Das kennen wir …“<br />
„Nana, nicht frech werden. Ja, wie gesagt ... eine Rede und dann werdet<br />
ihr alle nacheinander aufgerufen und erhaltet eure Abschlusszeugnisse<br />
zur Mittleren Reife. Anschließend können sich alle im hinteren Teil der<br />
Turnhalle noch zusammentun und unterhalten. Es gibt Kaffee, Softdrinks<br />
und Kekse. Wer will, kann auch gleich heimgehen. Und das war’s<br />
dann auch schon.“<br />
„Werden denn die Zeugnisnoten vor allen Leuten laut vorgelesen?“,<br />
fragte Holger Blotte, genannt Hotte. Das wäre ihm nämlich gar nicht<br />
recht. Er glaubte zwar, er habe dieses Mal bestanden, aber bestimmt<br />
nicht mit einer guten Note.<br />
„Nein, keine Sorge. Es werden nur am Anfang ein paar Schüler aufgerufen,<br />
deren Noten über 2,0 liegen. <strong>Die</strong> bekommen alle einen Preis. Aber<br />
es sind a) nicht viele und b) bei euch sowieso nur einer.“<br />
„Und wer ist das?“, wollte Ilaria Bandini wissen.<br />
„Na, das werdet ihr schon sehen“, grinste Reiber.<br />
„Och, Herr Reiber, jetzt seien Sie doch nicht so. Wenn es bei der Abschlussfeier<br />
sowieso verkündet wird, weiß es dann doch jeder. Da können<br />
Sie es uns auch gleich sagen.“ Ilaria mit ihren pechschwarzen Haaren<br />
und ihren dunklen Augen schaute ihn bittend an. Sie war sehr hübsch<br />
und wusste das auch. Reiber erlag prompt ihrem Charme und meinte:<br />
„Naja, ist sowieso nur einer. Ihr müsst mir aber ganz fest versprechen,<br />
dass ihr es vorher nicht herumerzählt. Okay?“<br />
„Klar, ist doch Ehrensache!“, murmelte die ganze Klasse wie aus einem<br />
Mund. „Sagen Sie schon.“<br />
3
„Also, es ist Peter Demmele. Demmele, du musstet damit rechnen, als<br />
einer der Ersten aufgerufen zu werden.“ Peter grinste verschämt und<br />
freute sich, dass er einen Preis bekam. Er hatte zwar nicht unbedingt<br />
damit gerechnet, es aber gehofft.<br />
„Und mit welcher Note hat er bestanden?“, wollte Peggy Fendt wissen.<br />
Sie war immer ein bisschen naiv, aber sehr nett und überhaupt nicht<br />
dumm. „Ihr werdet es schon noch erfahren. Ich hab’ jetzt genug ‚rausgelassen‘.“<br />
„Wir haben doch versprochen, niemandem etwas zu sagen. Da können<br />
Sie uns schon vertrauen. Wir würden Sie niemals enttäuschen, Herr Reiber.“<br />
Der Klassenlehrer war gerührt und sagte nur kurz und bündig „1,7“.<br />
„Wow!“, staunte Paul Hübner. „Nicht übel!“<br />
„Und ich? Was hab’ ich?“ Ilarias Augenaufschlag war schon fast filmreif.<br />
Sie schaute Herrn Reiber schmachtend an. „Sie können es ruhig sagen.<br />
Mir macht es nichts aus, wenn die anderen es wissen.“<br />
„Ja, überhaupt“, warf Freddy Kolb ein. „Warum lesen Sie uns nicht rasch<br />
mal unsere Ergebnisse vor. Ich glaube nicht, dass irgendeiner was dagegen<br />
hat. Oder?“ Er schaute in die Runde und die meisten nickten.<br />
„Ja, bitte“, versuchte Ilaria es noch einmal.<br />
Herr Reiber war verunsichert: „Ich weiß nicht, Leute, ob ich das tun darf.<br />
Eigentlich ist es ja nichts Schlimmes, aber …, hmm, na gut. Aber ihr<br />
dürft das wirklich nicht weitererzählen. Okay?“<br />
Alle redeten aufgeregt durcheinander. „Natürlich nicht … ist doch klar<br />
… wir halten dicht … keine Sorge.” Reiber kannte seine Klasse seit Jahren.<br />
Er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte, und seufzte: „Überredet.<br />
Also, wer will seine Note wissen?“<br />
„Na alle.“<br />
„Nee, ich nicht“, warf Lukas ein. „Ich will bloß wissen, ob ich bestanden<br />
habe.“<br />
„Ja, hast du, mit 3,3.“ Reiber grinste Lukas an und sagte: „Entweder alle<br />
oder keiner. Klar?“<br />
Lukas zuckte mit Schultern. Ihm war nur wichtig, zu wissen, ob er es<br />
geschafft hatte. Noch ein Jahr auf der Schule hätte er nicht ausgehalten.<br />
Aber so war es gut. Mit 3,3 konnte er leben. Er hörte nur noch bruchstückhaft<br />
hin …<br />
„Artner, 2,0, sehr schön, Bandini 2,5, Blotte, 3,8, na endlich geschafft,<br />
Breitling 3,0, Demmele wie gesagt 1,7, beste Note, gratuliere! Fendt 2,8,<br />
4
Frommer, 3,4, Hübner, 2,7, Kolb 2,9, Michalski 3,3, Peters, hmm, bis<br />
nächstes Jahr, Schmitt 3,1…“<br />
„So, Leute, ich hoffe, dass ihr jetzt zufrieden seid. Ich wünsche euch allen<br />
viel Erfolg auf eurem weiteren Lebensweg. Verzweifelt nie. Es geht immer<br />
weiter. Mal auf, mal ab. Aber es geht weiter. Und wenn ihr in Dingen,<br />
die euren künftigen Beruf betreffen, unsicher seid – ihr könnt gern<br />
zu mir in die Sprechstunde kommen. Ihr wisst – wie immer montags um<br />
10:45 h. Einfach im Lehrerzimmer melden. Und jetzt ab mit euch bis<br />
nächsten Freitag! Tschüss!“<br />
Alle verließen das Klassenzimmer. <strong>Die</strong> einen rannten, andere gingen eher<br />
gemächlich. So auch Hotte. Er gesellte sich zu Lukas, seinem besten<br />
Freund, und klopfte ihm auf die Schulter: „Geschafft, mein Junge.“<br />
„Ja, Hotte, Gott sei Dank du auch. Gehen wir in die ‚Laugenbrezel‘?“<br />
Paul Hübner kam dazu. „He Leute, es ist erst halb 11 Uhr. Ich muss noch<br />
zu meinem Vater und helfen, ein paar Sachen zu verladen.“ Sein Vater<br />
hatte ein Transportunternehmen und er musste dort öfter helfen, Lkws<br />
zu beladen. Dafür durfte er sich ab und zu einen Sprinter ausleihen, den<br />
allerdings Hotte fahren musste, weil Paul noch keinen Führerschein<br />
hatte.<br />
„Ja“, sagte Freddy, „ich geh’ auch erst mal heim, was essen.“<br />
„Okay“, meinte Lukas, „dann sehen wir uns heute Abend um acht in der<br />
‚Laugenbrezel‘. Kommt ihr auch?“ Gemeint waren Ilaria und Peggy, die<br />
sich ihnen angeschlossen hatten.<br />
„Logisch! Aber jetzt gehe ich erst einmal heim, hole meine Sportsachen<br />
und dann ins D9“, sagte Ilaria. „Kommst du mit Peggy?“<br />
„Ja, später. Meine Mutter wartet bestimmt schon auf mich. Ich muss ihr<br />
beim Kochen helfen.“<br />
„Sagt jemand Emy Bescheid?“, wollte Paul wissen. Ihm war sehr daran<br />
gelegen, dass Emely Fruhmann-Berger auch dazu kam. Er wollte schon<br />
lange ein Date mit ihr, bisher aber ohne Erfolg. Aber wer Paul kannte,<br />
wusste, dass er nicht so schnell aufgab. Alle sieben gehörten zur so genannten<br />
‚Clique‘ und trafen sich regelmäßig im Bistro ‚Laugenbrezel‘.<br />
<strong>Die</strong> Bezeichnung ‚Clique‘ stammte von Emy. Sie war ein wenig in die<br />
französische Sprache verliebt, seit sie einmal mit ihrer Klasse in Paris<br />
war.<br />
<strong>Die</strong> Mädchen gingen oft miteinander ins Fitness-Center D9, die Jungs<br />
weniger. Lukas hatte kein Geld dafür, Hotte und Freddy keine Lust. Nur<br />
Paul kam ab und zu. Ihm ging es dabei nicht nur um seine Fitness, son-<br />
5
dern auch um Emy. Oft verabredete sich die Clique auch zum Besuch<br />
von Handball- und Fußballspielen oder sie gingen gemeinsam ins Kino<br />
und die Disco.<br />
„Gut, um acht in der ‚Laugenbrezel‘. Bis dann.“ <strong>Die</strong> sechs Freunde<br />
trennten sich. Ria, wie Ilaria kurz genannt wurde, hatte bereits ihr Handy<br />
rausgeholt und schickte Emy eine WhatsApp. Wahrscheinlich war die<br />
sowieso schon im D9, aber Ilaria wollte sichergehen, dass sie sich nachher<br />
trafen.<br />
Emy war Ilarias und Peggys beste Freundin schon seit Kindergartenzeiten.<br />
Sie gehörte deshalb mit zur Clique, obwohl sie nicht mit den anderen<br />
auf der Realschule war. Emy war bereits 18, wie Hotte, und damit ein<br />
Jahr älter als der Rest der Clique. Sie hatte gerade das Abitur gemacht<br />
und auf Anhieb mit 2,1 bestanden! Als eine der ersten hatte sie vom verkürzten<br />
G8 profitiert. Und obwohl sie aufs Gymnasium ging, wurde sie<br />
von den Jungs sofort akzeptiert, weil sie sehr sympathisch und kein bisschen<br />
hochnäsig war.<br />
Lukas überlegte, wie er den Rest des Tages verbringen würde, bevor sie<br />
sich im Bistro trafen. Jetzt würde er erst einmal zum Bäcker gehen und<br />
sich ein paar Schneckennudeln holen. Fürs Bistro war es zu früh, das<br />
hatte noch nicht auf. Vielleicht nahm er auch noch ein Mohnstückchen<br />
dazu, das war dann sein Mittagessen. Anschließend würde er auf seinen<br />
Vater warten, der um 11:30 Uhr Mittagspause hatte und zum Essen meist<br />
nach Hause kam, um Geld zu sparen. Sein Vater arbeitete im Baumarkt<br />
und manchmal ging er auch zum Dönerstand und aß dort eine Currywurst.<br />
Aber heute würde er bestimmt nach Hause kommen, weil er wissen<br />
wollte, ob Lukas bestanden hatte. Jedenfalls ging Lukas davon aus.<br />
Und dann musste er unbedingt seinen Vater um das Taschengeld für die<br />
nächste Woche bitten, weil er für heute Abend nicht mehr genügend<br />
Geld bei sich hatte. Normalerweise bekam er seine 20 Euro erst sonntags,<br />
aber nach bestandener Prüfung hoffte er auf eine Belohnung. Er<br />
hatte zwar noch ein Sparschwein, in dem sich etwas Kleingeld befand,<br />
aber das musste man kaputtmachen, um dranzukommen. Und das wollte<br />
er nicht. Von seinem wöchentlichen Taschengeld blieb in der Regel nicht<br />
viel übrig und den Mitgliedsbeitrag für das Fitness-Center konnte er sich<br />
schon zweimal nicht leisten. Ab und zu kaufte er sich eine Tageskarte,<br />
wenn er etwas durch Jobben verdient hatte. Er war schon gern dabei,<br />
wenn die anderen im D9 waren. Freddy und Hotte fehlte ebenfalls das<br />
nötige Kleingeld, obwohl Freddys Vater weiß Gott nicht arm war. Aber<br />
6
er war eben Schwabe. Nur Paul bekam von seinen Eltern genügend Geld,<br />
weil sie es gut fanden, wenn er sich fit hielt – wie er einmal grinsend<br />
erläutert hatte. Schließlich musste er ständig beim Beladen der Lkws helfen.<br />
Emy dagegen war immer dabei und gehörte fast schon zum Inventar.<br />
Sie nützte jede freie Minute, um Sport zu treiben und sich mit den<br />
anderen zu unterhalten. Ria und Peggy kamen ebenfalls regelmäßig. Sie<br />
hatten ein Jahresabonnement und verabredeten sich meist mit Emy.<br />
Lukas schaute oft im Stadtanzeiger oder in der Zeitung unter ‚Verschiedenes‘<br />
nach, ob er irgendeinen Job finden konnte, bei dem er etwas Geld<br />
verdienen konnte. Meist mähte er Rasen, schnitt Hecken oder konnte<br />
gelegentlich mal einen Baum fällen. Das brachte dann so um die 50 Euro<br />
ein – je nach Größe des Baumes. Hotte hatte ihm einmal dabei geholfen,<br />
die Äste und den Stamm mit einem Sprinter wegzubringen, nachdem<br />
Lukas ihn zerlegt hatte. Den Sprinter hatten sie sich von Pauls Vater geliehen.<br />
Aber jetzt im Frühjahr standen seine Chancen schlecht. Man<br />
durfte nur dann Bäume fällen, wenn Bruchgefahr bestand. Und das war<br />
leider sehr selten der Fall. <strong>Die</strong> Arbeit machte ihm Spaß. Es ging ihm nicht<br />
allein ums Geld, am liebsten hätte er einen eigenen Garten gehabt, wo er<br />
seine Ideen ausleben konnte. Nur, das würde er wohl nie in seinem Leben<br />
erreichen.<br />
Als Lukas zuhause ankam, packte er seine Schneckennudeln und das<br />
Mohnstückchen aus, füllte sich ein Glas mit Wasser und setzte sich an<br />
den Tisch, um zu essen. Kurz nach halb zwölf hörte er seinen Vater die<br />
Treppe zum ersten Stock heraufkommen, in dem sie wohnten. Lukas<br />
ging zur Wohnungstür, um seinem Vater aufzumachen, und sie begrüßten<br />
sich durch kurzes Kopfnicken.<br />
„Wie ist es gelaufen?“, wollte sein Vater tatsächlich als erstes wissen.<br />
„Hab’ bestanden. Keine Probleme. Nächsten Freitag ist Abschlussfeier.<br />
Da werden die Zeugnisse verteilt.“<br />
„Mit was hast du bestanden?“, wollte sein Vater wissen und Lukas, der<br />
genau wusste, dass sein Vater mit 3,3 nicht zufrieden sein würde, schwindelte<br />
ihn an: „Weiß nicht. <strong>Die</strong> Zeugnisse werden erst nächsten Freitag<br />
ausgegeben.“<br />
„Na ja“, meinte sein Vater, „wenigstens bestanden.“<br />
„Ja, ich bin auch froh. Gibt es dafür eine kleine Belohnung, Vater?“ Lukas<br />
versuchte es erst einmal auf die seichte Tour.<br />
7
Sein Vater schaute kurz zu ihm rüber. „Sagen wir einen Euro für alles<br />
was unter 3,0 liegt, fünf Euro für alles, was mit einer 2 anfängt und 20<br />
Euro, falls es mit einer Eins beginnt.“<br />
Lukas war sauer. „Das ist doch keine Belohnung dafür, dass ich die Mittlere<br />
Reife geschafft habe“, argumentierte er.<br />
„Dass du die Mittlere Reife geschafft hast, ist ja wohl das Mindeste. Dafür<br />
gibt es keine Belohnung.“<br />
Lukas war sprachlos. Das hatte er nicht erwartet. Aber es kam noch<br />
schlimmer. „Kannst du mir wenigstens schon mal mein Taschengeld für<br />
nächste Woche geben? <strong>Die</strong> Clique will heute Abend ein bisschen zusammensitzen<br />
und feiern.“<br />
Lukas’ Vater kannte die Clique. Zwar nicht jeden Einzelnen davon, aber<br />
immerhin wusste er, dass es anständige junge Leute waren. Aber das<br />
schien ihm im Moment offensichtlich egal zu sein. „Du bekommst dein<br />
Taschengeld erst, wenn du mir einen Lehrvertrag zur Unterschrift vorlegst.<br />
Bewirb dich am besten als Schreiner, Maler oder Elektriker. Damit<br />
fängst du selbst dann etwas an, wenn sie dich nach der Lehrzeit nicht<br />
übernehmen. Versprichst du mir das?“<br />
„Aber Vater, ich kann doch nicht losrennen und bis Sonntag einen Lehrvertrag<br />
bekommen. Wie soll denn das gehen? Gib mir wenigstens ein<br />
paar Wochen Zeit.“ „Nix da. Versprich mir, dass du dich gleich nächste<br />
Woche um einen Lehrvertrag kümmern wirst. Ja?“<br />
Lukas sagte nichts, drehte sich um und ging in sein Zimmer. Das musste<br />
er erst einmal verdauen. Er schüttelte den Kopf. Das konnte doch wohl<br />
nicht wahr sein. Was war dem denn für eine Laus über die Leber gelaufen?<br />
Er setzte sich auf sein Bett und versuchte einen klaren Gedanken<br />
zu fassen, aber es gelang ihm nicht. Also beschloss er, zu Paul zu gehen<br />
und ihm beim Beladen der Lkws zu helfen. Dafür würde er zwar nichts<br />
bekommen, aber er war wenigsten beschäftigt und kam auf andere Gedanken.<br />
Er schnappte sich seine Jeansjacke und machte sich in Richtung<br />
Industriegebiet auf.<br />
Als er im Hof der Firma Hübner ankam, schaute Paul ihn fragend an.<br />
„Was ist? Langweilig?“<br />
„Genau“, antwortete Lukas.<br />
„Kann ich dir irgendwie helfen?“<br />
„Klar, immer. Hol’ die Kartons hinten im Lager und bring’ sie zum<br />
176er.“<br />
8
Lukas verstand. <strong>Die</strong> Lastwagen der Firma von Pauls Vater hatten alle die<br />
Buchstaben ‚CH‘ hinter dem Städtekennzeichen für ‚Christian Hübner‘<br />
und dahinter eine fortlaufende Nummer, die sich Pauls Vater beim Landratsamt<br />
hatte reservieren lassen. Also musste er nur nach dem Lkw suchen,<br />
der ein Kennzeichen hatte, das mit ‚176‘ endete. „Kannst aber nix<br />
dabei verdienen“, rief ihm Paul noch nach, als er in der Halle verschwand.<br />
„Ich krieg’ auch nix dafür. Also kann ich dir auch nix abgeben.“<br />
„Ist schon okay, Paul. Mir ist wirklich nur langweilig. Ich helfe dir gerne.“<br />
Als sie nach zwei Stunden mit Beladen fertig waren, kam Pauls Vater mit<br />
drei Flaschen Bier in der Hand und gab Paul und Lukas je eine davon.<br />
„Hab’ gesehen, dass du geholfen hast, Lukas. Hier eine kleine Erfrischung.“<br />
Sie setzten sich alle drei nebeneinander auf die Begrenzungsmauer,<br />
genossen ihr Bier und redeten übers Wetter und die Staugefahren<br />
auf der Autobahn.<br />
„Wir gehen heute Abend in die ‚Laugenbrezel‘, Papa“, sagte schließlich<br />
Paul zu seinem Vater, „und wollen ein bisschen feiern. Ich bin also heute<br />
Abend nicht da.“<br />
„Ja, verstehe. Das gehört dazu. Sauft nicht so viel und komm’ nicht so<br />
spät nach Hause. Und sei leise, damit deine Mutter nicht aufwacht.“<br />
„Geht klar, Papa.“<br />
„Warte, Paul, hier hast du einen Zehner. Und iss was zwischendurch. Am<br />
besten ein paar von Heiners berühmten Butterbrezeln.“<br />
„Ja, gute Idee, Papa. Mach’ ich.“<br />
Lukas schaute auf seine Uhr. Es war mittlerweile 18 Uhr. „Was machst<br />
du jetzt noch, Paul?“<br />
„Na, ich denke, wir werden wohl so langsam zum Abendessen gehen,<br />
was Papa?“<br />
„So ist es“, antwortete dieser, „aber lasst euch Zeit, wir essen ja erst um<br />
19 Uhr.“<br />
Paul und Lukas redeten noch eine Weile über dies und das. Paul interessierte<br />
sich hauptsächlich dafür, wie Lukas seine Chancen bei Emy sah.<br />
Lukas war nicht so ein Casanova wie Paul und kannte sich demnach auch<br />
nicht gut mit Mädchen aus. „Soweit ich weiß, hat Emy keinen festen<br />
Freund. Da musst du eben baggern“, fiel Lukas dazu ein. „Das kannst<br />
du doch viel besser als ich.“<br />
„Na ja, vielleicht schon, aber Emy geht überhaupt nicht auf mich ein.“<br />
„Ich finde Peggy ganz nett. Sie ist zwar ziemlich mollig, aber unheimlich<br />
nett. Ich war auch schon zwei Mal in der Disco mit ihr.“<br />
9
„Und was ist mit Ria?“<br />
„Ach, die ist doch viel zu hübsch. Bei der hab’ ich garantiert keine Chancen.“<br />
„Freddy steht auf Ria. Glaub’ mir, das hat er mir selbst erzählt.“<br />
„Aber Freddy geht doch hauptsächlich mit Tugce und Yasmina.“<br />
„Er steht eben auf dunkelhaarige Typen. Und bei den Türkinnen ohne<br />
Kopftuch kommst du als Deutscher meist an. <strong>Die</strong> sind scharf darauf,<br />
einen Deutschen zu bekommen.“<br />
„Meinst du? Ich weiß nicht.“<br />
„Doch, doch, probier’s mal. Quatsch einfach eine an.“<br />
„Hey Paul, spinnst du? Womöglich geht die dann darauf ein und was<br />
mach’ ich dann?“<br />
„Na, du kannst aber dämlich fragen! Schau’, dass du immer einen Präser<br />
dabei hast. Das ist die Hauptsache.“<br />
Lukas sah das absolut nicht so und dachte sich insgeheim, dass er mit<br />
Peggy zufrieden wäre. Außerdem hatte er kein Geld und von seinem Vater<br />
würde er jetzt wohl auch nichts mehr bekommen. Also musste er im<br />
Stadtanzeiger suchen, ob es irgendwo ein paar Euro zu verdienen gab.<br />
„Paul, kennst du jemanden, der ein paar Kröten für einen einfachen Job<br />
springen lassen würde?“<br />
„Hmm, lass mich mal überlegen. Frag’ doch im Supermarkt, ob sie jemanden<br />
brauchen können. Vielleicht im Getränkelager, da brauchen sie<br />
oft Leute zum Kisten stapeln. Oder schau’ einfach in der Zeitung unter<br />
‚Verschiedenes‘ nach, vielleicht findest du da was.“<br />
„Okay, mach ich. Aber wenn du was Konkretes hörst, sag’ mir Bescheid,<br />
ja?“<br />
„Klar doch. Kannst dich auf mich verlassen.“<br />
Kurz vor sieben trennten sie sich. Paul ging nach Hause und Lukas schon<br />
mal zur ‚Laugenbrezel‘. Er hatte Hunger und sein Kopf schwirrte. Draußen<br />
war es ihm zu kalt, also ging er hinein und setzte sich an die Theke.<br />
„Hallo Lukas.“<br />
„Hallo Heiner.“ Heiner war der Wirt der ‚Laugenbrezel‘. Er war Mitte<br />
vierzig und verheiratet. Seine Frau arbeitete beim Finanzamt und half am<br />
Wochenende manchmal im Bistro mit aus. Geöffnet hatte er jeden Tag<br />
von 12 bis 22 Uhr, außer montags, da war Ruhetag. Heiner kannte jeden<br />
einzelnen seiner Gäste beim Namen und natürlich auch die der Clique.<br />
Ihm war sehr viel daran gelegen, guten Kontakt mit seinen Gästen zu<br />
haben. Er wusste über jeden das Wichtigste und konnte sich so fast väter-<br />
10
lich mit ihnen unterhalten. Heiner betrieb sein Bistro schon seit vielen<br />
Jahren. Ursprünglich kam er von irgendwo aus Norddeutschland, aber<br />
von woher genau, sagte er nicht. Früher war er einmal Bäcker mit einer<br />
eigenen Backstube gewesen, aber da hatte er zu wenig soziale Kontakte,<br />
wie er es nannte. Deshalb hatte er seine Bäckerei aufgegeben, einen der<br />
Backöfen mitgenommen und sein Bistro aufgemacht. Jetzt backte er nebenbei<br />
noch Laugenbrezeln oder Baguette und machte daraus Sandwiches.<br />
Dazu belegte er sie mit allen möglichen Zutaten, wie Butter, Petersilie,<br />
Salat, Essiggurken, Leberkäse, Schwarzwälder Schinken, Eier oder<br />
Käse. Ganz, wie man es wollte. Wenn er wusste, dass jemand zum Essen<br />
kam, hatte er meist schon ein Backblech vorbereitet und schob es nur<br />
noch in den Ofen. Dann dauerte es circa 15 Minuten, bis es fertig war,<br />
und nur wenige Sekunden, bis Heiner es belegt hatte. Blieb mal gegen<br />
später etwas übrig, dann wurde es entweder eingefroren oder er verschenkte<br />
es an die weniger Begüterten. Aus Heiners Augen gehörte da<br />
Lukas auch dazu. Er wusste, dass Lukas Vater höchst selten kam, weil er<br />
nicht so viel verdiente und Lukas nur 20 Euro Taschengeld pro Woche<br />
bekam.<br />
„Wo hast du denn die anderen gelassen?“, fragte Heiner.<br />
„<strong>Die</strong> kommen erst um acht. Aber ich hab’ jetzt schon Hunger. Kannst<br />
du mir zwei belegte Brezeln machen?“<br />
„Geht klar. Was drauf?“<br />
„Käse und Ei.“<br />
„Was zu trinken dazu?“<br />
„Ja, zapf’ mir ein Bier.“<br />
Den Salat, die Gurken, die Petersilie und Zwiebeln bekam man automatisch<br />
dazu. Heiner wusste auch ganz genau, wenn einer seiner Gäste etwas<br />
nicht mochte, wie zum Beispiel Essiggurken oder Zwiebeln. Das<br />
brauchte man ihm gar nicht zu sagen. Er ließ es einfach weg. Alles wurde<br />
bei Heiner nach Wunsch gefertigt. Eine Speisekarte gab es nicht, nur eine<br />
Preistafel und die hing hinter der Theke an der Wand. Eine belegte Brezel<br />
kostete bei Heiner 2 Euro und ein belegtes Baguette 2,50 Euro. Eine<br />
Butterbrezel gab es dagegen schon für 1,20 Euro.<br />
„Und, was macht die Schule? Bist du fertig?“, fragte Heiner, während er<br />
das Bier zapfte.<br />
„Na klar, was denkst du denn?“<br />
11
„Hätte ja sein können, du wolltest dein Wissen noch etwas vertiefen und<br />
hättest um ein weiteres Jahr gebeten“, feixte er augenzwinkernd Lukas<br />
zu.<br />
„Um Gottes willen, nein. Bin froh, dass es vorbei ist.“<br />
„Und was hast du jetzt vor?“<br />
„Keine Ahnung, erst mal ausspannen. <strong>Die</strong> Clique will einen Ausflug machen.<br />
Wir wissen bloß noch nicht wohin. Das werden wir nachher besprechen.<br />
Aber zuerst wird gefeiert.“<br />
„Verstehe.“<br />
Und Heiner verstand das wirklich. Er konnte sich noch gut an die Zeit<br />
erinnern, als er mit der Schule fertig war. Da ging es ihm ähnlich.<br />
„So, dein Bier. <strong>Die</strong> Brezeln kommen gleich. Hatte schon ein Blech vorbereitet.<br />
Erzähl’ mal. Was gibt es Neues? Habt ihr alle bestanden?“ „Ja,<br />
die von der Clique schon. Nur die Viola Peters nicht. Aber das war klar.<br />
Sie ist heute auch gar nicht erst zur Schule gekommen.“<br />
„Ach so, deshalb habe ich sie heute Morgen beim Einkaufen gesehen.<br />
Hab’ mich schon gewundert. Na ja, dann eben nächstes Jahr. Davon geht<br />
die Welt nicht unter.“<br />
„So, deine Brezeln. Ohne Petersilie, wie immer.“<br />
Er biss in die erste Brezel, nahm einen Schluck Bier hinterher und genoss<br />
das Ganze. „Gut wie immer, Heiner.“<br />
Das freute den, weil er wusste, dass Lukas es ehrlich meinte.<br />
„Was hast du den ganzen Tag getrieben?“, wollte er wissen.<br />
„War bei Paul und hab’ geholfen, Kartons zu verladen.“<br />
„Und? Hast du was verdient dabei?“<br />
„Nö, leider nicht. Aber sein Alter hatte uns am Schluss ein Bier spendiert.<br />
Und das auf leeren Magen! Deshalb war ich jetzt auch scharf darauf, was<br />
zu essen zu kriegen.“<br />
„Klar, das ist verständlich. Warum hast du geholfen, wenn du nichts dafür<br />
kriegst?“<br />
„Mir war langweilig.“<br />
Damit verstummt ihre Unterhaltung für eine Weile, bis plötzlich die Türe<br />
aufging und Hotte reinkam.<br />
„Hallo Hotte! Schön dich zu sehen. Alles klar?“<br />
„Hallo Heiner. Ja, Mann, endlich geschafft! Zapf’ mir gleich mal ein Bier.<br />
– Hallo Lukas, schon lange hier?“<br />
„Nee, erst eine halbe Stunde. Hatte Hunger.“<br />
12
„Ist ja gleich acht, da werden die anderen auch bald kommen. Aber ich<br />
denke, die haben schon zu Abend gegessen. Da kannst du nicht viel verkaufen“,<br />
meinte Lukas, Heiner zugewandt.<br />
„Kein Problem. Im Laufe des Abends wird der eine oder die andere<br />
schon noch einen kleinen Happen brauchen. Da mach’ ich mir mal keine<br />
Sorgen.“<br />
Emy war die Nächste, die erschien. „Hi, Jungs. Hallo Heiner. Bin ich die<br />
erste?“ Gemeint war natürlich, dass sie die erste der drei Mädchen der<br />
Clique war. Aber das verstanden alle sofort. „Für mich eine Apfelsaftschorle,<br />
wie immer.“<br />
Heiner hatte nichts anderes erwartete und bereits ein Flasche Apfelsaft<br />
und eine Flasche Sprudel aus den Kästen unter der Theke hervorgeholt.<br />
„Ihr Selters mit Apfelgeschmack, gnädige Frau“, witzelte er und strahlte<br />
Emy an.<br />
„Ist ja schon gut, Heiner. Ich danke dir.“ Zu Lukas und Hotte gewandt<br />
sagte sie nur „Prost Gemeinde!“, und ließ sich ihre Apfelsaftschorle<br />
schmecken. Emy trank selten Alkohol und wenn, dann kein Bier. „Habe<br />
gehört, dass ihre alle bestanden habt – bis auf Viola. Das tut mir sehr leid<br />
für sie. Aber ich glaube, das war schon seit einiger Zeit klar. Oder?“<br />
„Ja“, meinte Hotte, „gegen Schluss zu hat sie nicht einmal mehr gelernt.“<br />
Gerade als Emy sich Lukas zuwenden wollte, ging die Türe auf und die<br />
beiden anderen Mädchen kamen herein.<br />
„Hallo, ihr Hübschen“, rief Heiner Peggy und Ilaria zu, „Spezi, wie immer?“<br />
„Klar doch Heiner, grüß’ dich“, antworteten beide wie aus einem Mund.<br />
„Wo sind Paul und Freddy?“, wollte Peggy wissen.<br />
„<strong>Die</strong> kommen schon noch“, sagte Hotte. „Stellen wir schon mal zwei<br />
Tische und die Stühle zusammen.“<br />
Das fanden alle gut und halfen Hotte dabei. Heiner stellte den Mädchen<br />
ihre Gläser auf den Tresen. „Zweimal Cola-Limo-Mix für die Damen.“<br />
<strong>Die</strong> beiden schnappten sich ihre Gläser und nahmen noch die beiden<br />
Biere für Hotte und Lukas mit. Dann setzten sie sich zu den anderen an<br />
den Tisch. Genau in dem Moment kamen die beiden fehlenden Jungs<br />
herein.<br />
„Da seid ihr ja. Kommt her, wir haben es uns schon gemütlich gemacht.“<br />
Paul und Freddy begrüßten erst Heiner und dann die Kameraden. „Ein<br />
Bier für mich, Heiner“, rief Freddy ihm zu und Paul schloss sich gleich<br />
an. „Für mich auch.“<br />
13
Heiner brachte es ihnen und dann ging die Fragerei los. „Was machst du<br />
jetzt, Paul?“<br />
„Na, ist doch klar. Ich gehe zu meinem Vater ins Geschäft und mache<br />
erst einmal den Führerschein. Dann werde ich Lkw-Fahrer und später<br />
übernehme ich das Geschäft.“<br />
„Da wirst du aber noch einiges über Betriebswirtschaft lernen müssen“,<br />
wandte Freddy ein. „So einfach geht das nicht.“<br />
„Doch, doch. Ich mach’s wie mein Vater und hole mir einen Buchhalter.<br />
Der kümmert sich dann um alles. Ich meine die Bilanzen und so. Und<br />
natürlich auch die Steuer.“<br />
Hotte nickte anerkennend: „Nicht schlecht. Du wirst bestimmt mal<br />
ziemlich reich.“<br />
„Was wirst du jetzt machen, Hotte?“, wollte Emy wissen. „Hast du schon<br />
eine Idee?“<br />
„Ja, ich geh’ auf den Bau und werde Maurer. Mein Alter hat schon bei<br />
der Firma Hagenmaier im Industriegebiet angefragt. <strong>Die</strong> würden mich<br />
nehmen.“<br />
„Hey, das ist gut. Und bei deiner Statur genau das Richtige.“<br />
Hotte war 1,88 m groß und sehr kräftig gebaut. Wenn er zupackte, hob<br />
er mühelos 50 kg hoch.<br />
„Und du, Emy?“, fragte Hotte zurück.<br />
„Hmm, ich weiß noch nicht so genau. Irgendwas mit Sport. Eigentlich<br />
will ich Trainerin werden. Vielleicht gehe ich aber auch zur Polizei.“<br />
„Waas?“, rief Paul erschrocken, „zu den Bullen? Warum denn das?“<br />
„Ach, beruhige dich“, wandte Freddy ein. „<strong>Die</strong> nehmen sie sowieso<br />
nicht. Emy ist viel zu klein dafür. Bei der Polizei und dem Zoll werden<br />
Mindestkörpergrößen verlangt. Bei den Männern liegt das – glaube ich –<br />
bei 1,65 m und bei den Frauen bei 1,60 m. Wie groß bist du, Emy?“ Emy<br />
wusste, dass sie nur 1,57 m groß war, sagte aber nichts.<br />
Paul schätzte: „Du bist nicht ganz 1,60 m, stimmt’s?“<br />
Emy nickte nur kurz und nippte an ihrer Apfelsaftschorle. Also kam das<br />
für sie nicht in Frage. Sie war ein bisschen geschockt. Das wusste sie<br />
nicht.<br />
Paul hatte natürlich gleich sein Handy in der Hand und schaute im Internet<br />
nach. „Hey, das gilt nur für Bayern. In Baden-Württemberg sind es<br />
für Männer und Frauen 1,60 m. „Aber Emy schafft das trotzdem nicht.“<br />
„Da musst du wohl auf die Streckbank“, witzelte Hotte, aber Emy<br />
konnte darüber nicht lachen.<br />
14
Heiner mischte sich ein: „Wenn du Sporttrainerin werden willst, kannst<br />
du dich doch auch auf einem Kreuzfahrtschiff als Fitnesstrainerin bewerben.<br />
Was hältst du davon?“<br />
Emy schaute ihn an und überlegte. „Eigentlich gar nicht so schlecht.<br />
Werde es mir überlegen.“<br />
„Wie groß seid ihr eigentlich?“, wollte Lukas an Ilaria und Peggy gewandt<br />
wissen.<br />
„Ich wäre mit meinen 1,63 m dabei“, meinte Ria.<br />
„Und ich bin 1,65 m groß“, sagte Peggy ganz stolz, „aber zur Polizei<br />
möchte ich nicht.“<br />
„Und du Ria, was machst du jetzt nach der Schule?“<br />
„Ich weiß noch nicht genau. Wahrscheinlich eine Friseurlehre. Später will<br />
ich dann eine eigene Boutique aufmachen. Während der Friseurlehre<br />
gehe ich abends an die Berufsakademie und mache meinen Betriebswirt.<br />
So kann ich später einmal meine Boutique geschäftsmäßig führen. Und<br />
ihr, Jungs, was habt ihr vor?“, wandte sich Ilaria an Freddy und Lukas.<br />
Als alle Freddy anschauten, druckste der verlegen herum. „Na ja, vielleicht<br />
Fliesenleger. Allerdings hab’ ich mich noch nicht weiter darum gekümmert.<br />
Mein Alter meint, er könnte ein gutes Wort für mich einlegen.<br />
Ich soll mich beim Fliesen-Kammerer erkundigen.“<br />
„Na, das ist doch ein ordentlicher Beruf. Da kannst du eine Menge Geld<br />
sparen, wenn du später mal deine eigene Wohnung fliesen kannst.“<br />
„Ja, ja, und am Wochenende für die Freunde schwarzarbeiten. Ich melde<br />
mich schon einmal dafür an“, lachte Paul. „Einen Fliesenleger als Freund<br />
zu haben, ist eine feine Sache.“<br />
„Und Hotte könnte die Mauern hochziehe. Da braucht man nur noch<br />
ein Grundstück.“<br />
Peggy war begeistert. „Und einen Innenausstatter.“<br />
Jetzt war Lukas dran. „Und du“, fragte Peggy, „was machst du?“ „Weiß<br />
nicht. Keine Ahnung. Erst mal entspannen.“<br />
„Aber irgendwas musst du doch anpeilen. Was würdest du denn am<br />
liebsten machen?“, bohrte Peggy weiter.<br />
„Na, ich sag’ doch, ich weiß es noch nicht. Wie steht es denn mit dir,<br />
Peggy?“, lenkte Lukas ab.<br />
„Mal sehen. Im Supermarkt oder beim Bäcker suchen sie noch Leute.<br />
Vielleicht Verkäuferin oder Kassiererin? Ist doch nichts Verkehrtes,<br />
oder?“ Sie sagte das, mit der ihr üblichen entwaffnenden Offenheit, so<br />
dass keiner lachte.<br />
15
„Aber das willst du doch nicht auf ewig machen, oder?“<br />
„Nein, natürlich nicht. Nur bis der Richtige vorbeikommt und mich heiratet.<br />
Dann werde ich Hausfrau und Mutter. Kochen kann ich schon<br />
ganz gut und beim Kindererziehen hilft mir meine Mutter. <strong>Die</strong> freut sich<br />
jetzt schon drauf, Oma zu werden.“<br />
Jetzt lachten doch alle und bewunderten Peggy für ihre Ehrlichkeit. Lukas<br />
würde sich da schon zur Verfügung stellen. Jedenfalls mochte er<br />
Peggy und ihre einfache Art gefiel ihm sehr gut. Aber dann müsste er das<br />
Geld verdienen und er wusste nicht wie. Vielleicht könnten sie nach<br />
Australien auswandern. Aber da würde Peggy bestimmt nicht mitkommen.<br />
Also vergessen wir es lieber, dachte er bei sich und hielt die Klappe.<br />
Alle prosteten sich zu und die Stimmung stieg. Biere, Apfelsaftschorle<br />
und Spezies wurden nachbestellt und plötzlich stand Heiner bei ihnen<br />
am Tisch. „He, Leute, ich habe ein bisschen gelauscht. Gefiel mir sehr<br />
gut, was ihr so plant. Deshalb gebe ich eine Runde Butterbrezeln aus.<br />
Wer ist dabei?“<br />
Alle waren begeistert, bedankten sich überschwänglich und dann kam<br />
man zum Thema Ausflug.<br />
<strong>Die</strong> Mädchen, angeführt von Emy, wollten alle nach Paris.<br />
Emy war schon einmal mit der 5. Klasse dort und wollte es gern wiedersehen.<br />
<strong>Die</strong>smal aber mit mehr eigener Bewegungsfreiheit. Damals lief<br />
alles – von der Lehrerin geführt – sehr rasch ab und wenn man etwas<br />
näher ansehen oder auch mal an die Seine runter wollte, hieß es gleich:<br />
„Halt, halt. Alle bleiben zusammen. Das ist viel zu gefährlich, hier alleine<br />
herumzulaufen.“ Aus Gründen der Freundschaft, aber auch, weil sie Paris<br />
faszinierte und sie noch nie dort waren, solidarisierten sich Peggy und<br />
Ilaria mit ihr.<br />
<strong>Die</strong> Jungs, angeführt von Freddy, wollten lieber an den Gardasee zum<br />
Zelten. Bei einer Abstimmung wäre Paul der Ausschlaggebende. Einerseits<br />
würde er Emy gerne einen Gefallen tun, um sich bei ihr einzuschmeicheln<br />
und für Paris stimmen, andererseits wäre er lieber nach Italien<br />
gegangen. In diesem Moment griff das Schicksal ein und Emys<br />
Handy klingelte. Ihr Bruder war dran. Sie stand auf und ging raus. Nach<br />
ein paar Minuten war sie zurück und sagte mit etwas betrübter Miene:<br />
„Ich muss meinen Bruder abholen. Der hat eine Panne mit seinem Wagen.<br />
Tut mir leid, Leute. Macht ohne mich weiter. Ihr könnt ruhig weiter<br />
diskutieren und entscheiden. Ich schließ’ mich in jedem Fall an.“ Das<br />
war typisch Emy, immer bescheiden und kompromissbereit.<br />
16
„Na gut“, sagte Paul, „dann wünschen wir dir noch eine Gute Nacht und<br />
pass auf dich auf.“<br />
„Bis morgen“, riefen die anderen ihr hinterher. Emy ging zu Heiner, bezahlte<br />
ihre Apfelsaftschorle, lächelte noch einmal verkrampft zu den anderen<br />
hinüber und verschwand.<br />
„Also, Mädels, wie ist das mit euch?“, wollte Freddy wissen, „wollt ihr<br />
immer noch nach Paris? Was macht euer Französisch? Meines ist ziemlich<br />
schlecht und das wisst ihr. Ich habe, ehrlich gesagt, keine Lust wegen<br />
jeder Kleinigkeit Emy zu fragen, wie das auf Französisch heißt. Oder darf<br />
es auch Italien sein? Zum Beispiel Zelten am Gardasee?“<br />
Ein lautes Stimmengewirr war die Antwort. „Das war unfair.“<br />
„Rede doch nicht so einen Unsinn. Was müssen wir denn in Paris Französisch<br />
reden? Emy macht das schon und die kann gut Französisch.“<br />
„Aber ich will nicht von ihr abhängig sein. Vielleicht will ich genau das,<br />
warum Emy wieder nach Paris will, nämlich meine eigenen Entscheidungen<br />
treffen. Mal im Künstlerviertel Montmartre stehen bleiben und den<br />
Malern zusehen und nicht hinter Emy, der Polizistin, hinterherrennen.“<br />
„Das ist gemein, Lukas. Du solltest dich schämen!“<br />
„Ist doch wahr. Und wo übernachten wir? Hä? Glaubt ihr, ich könnte<br />
mir ein Hotel leisten? Oder wollt ihr auf der Champs Élysées zelten? Ich<br />
hab’ nicht so viel Geld, das wisst ihr genau.“<br />
Lukas hatte ein Thema angesprochen, das auch für die Hotte und Freddy<br />
galt. Für Paul vielleicht nicht so sehr, aber auch der musste sich sein Geld<br />
bei seinem Vater erst einmal verdienen.<br />
„Wann wollen wir überhaupt starten?“, fragte Hotte. „Wie lange habe<br />
ich Zeit, Geld zusammenzukratzen? Das muss ich doch mit meinem<br />
Lehrbeginn koordinieren.“<br />
„Zelten wäre da viel billiger.“<br />
Wie es schien, war das Thema doch komplizierter, als man dachte.<br />
„Also, hört mal her Leute“, mischte sich plötzlich Heiner wieder ein. „Ihr<br />
solltet auf dem Teppich blieben und das machen, was sich alle leisten<br />
können. Es geht mich zwar nichts an, aber wenn ihr so weiter streitet,<br />
kriegt ihr bloß noch Krach miteinander. Das muss nicht sein. Deshalb<br />
schlage ich vor, dass ihr ganz demokratisch vorgeht und abstimmt. Was<br />
sind die Alternativen?“<br />
„Na, Paris oder Gardasee. Oder gibt es noch einen anderen Vorschlag?“<br />
Keiner meldete sich und Paul ergriff das Wort: „Dann wollen wir es so<br />
machen, wie Heiner sagt. Stimmen wir ab. Wer ist für Paris? Hand hoch.“<br />
17
Ria hob sofort beide Hände und sagte dazu „Ich stimme für Emy mit ab.<br />
Okay?“ Keiner hatte etwas einzuwenden. Peggy hob zögerlich ihre Hand<br />
und schaute etwas ängstlich in die Runde. Sie würde sich sicher jedem<br />
Vorschlag anpassen. Aber sie wollte Emy einen Gefallen tun. „Komm,<br />
Paul. Du auch“, animierte ihn Ria. „Aber dann gehen womöglich Lukas<br />
und Hotte nicht mit. Das darf nicht sein. Seid vernünftig. Es können sich<br />
eben nicht alle Paris leisten. Seid fair.“<br />
Peggy ließ ihre Hand wieder sinken und sagte ganz leise: „Wenn nicht<br />
alle mitgehen, macht es keinen Spaß.“<br />
„Seid ihr denn mit dem Gegenvorschlag einverstanden?“, meldete sich<br />
noch einmal Heiner. „Hand hoch, wer für den Gardasee ist.“<br />
Alle vier Jungs nahmen sofort den Arm hoch, auch Paul. <strong>Die</strong> beiden<br />
Mädchen schauten nur, sagten aber nichts. „Dann ist der Gardasee angenommen.<br />
Oder wollt ihr dann nicht mehr mit?“, fragte Heiner an die<br />
Mädchen gewandt.<br />
„Doch, klar. <strong>Die</strong> Mehrheit entscheidet.“<br />
Selbst Ria meinte „Ja, ist okay. Ich denke, so ist es für alle das Beste.“<br />
<strong>Die</strong> Sache war entschieden.<br />
„Bleibt noch die Frage, wann wir starten und für wie lange wir gehen.“<br />
„Ich denke, eine Woche wäre genug“, war Freddys Meinung.<br />
„Ja, einverstanden.“ Keiner hatte dagegen etwas einzuwenden. „Und<br />
wann starten wir?“<br />
Lukas gab zu bedenken, dass er bestimmt zwei bis drei Wochen brauchte,<br />
um genügend Geld durch Jobben zu sparen.<br />
„Gibt dir dein Vater denn kein Geld?“, fragte Peggy.<br />
„Nein, leider nicht einen Cent. Ich muss mir alles selbst verdienen. Und<br />
ihr wisst, dass das jetzt im Mai mit Gartenarbeit noch nicht so gut läuft.<br />
Aber ich denke, dass ich es bis in drei Wochen schaffen werde.“<br />
„Gut“, sagte Ria, „in drei Wochen ist es vielleicht auch ein bisschen wärmer<br />
und wir können im Gardasee schon schwimmen gehen.“<br />
Alle holten ihr Handy raus, nur Lukas nicht. Der hatte nämlich keines.<br />
<strong>Die</strong> anderen trugen sich den Termin ein.<br />
„Wie machen wir es mit dem Fahren?“<br />
„Ich gehe davon aus, dass Emy mit ihrem Golf fährt und wir Mädels bei<br />
ihr mitfahren können.“<br />
„Ich kriege bestimmt einen Sprinter von meinem Vater. Allerdings müsstest<br />
du fahren, Hotte. Ginge das in Ordnung?“<br />
„Ja, klar. Mach’ ich.“<br />
18
„Aber wir können nur zu dritt mit dem Sprinter fahren, weil niemand auf<br />
der Ladefläche während der Fahrt sein darf. Dafür kriegen wir das ganze<br />
Gepäck bei uns unter. Meint ihr, ihr könntet noch einen von uns bei euch<br />
im Golf unterbringen?“<br />
„Ja, wenn ihr das Gepäck nehmt.“<br />
Plötzlich stand Emely wieder in der Tür. „Hallo Leute. Wie sieht es aus?<br />
Alles geklärt?“<br />
„Wo kommst du denn auf einmal wieder her? Das ist aber eine nette<br />
Überraschung. Wie schön!“ Das war natürlich Paul, der schon überlegt<br />
hatte, wie man es Emy beibringen sollte, dass man gegen Paris gestimmt<br />
hatte, ohne dass sie sauer wäre.<br />
„Wir haben für den Gardasee gestimmt, Emy, weil ich mir Paris nicht<br />
leisten kann“, sagte Lukas gerade heraus und alle hielten den Atem an,<br />
was Emy jetzt sagen würde. „Das habe ich schon erwartete. Ist nicht<br />
weiter schlimm. Dann fahren wir also an den Gardasee.“<br />
Paul war erleichtert. „Das ist wirklich toll, dass du nicht sauer bist. Wir<br />
waren gerade am überlegen, wie wir sieben Leute in zwei Fahrzeugen<br />
unterbringen können. Du kannst doch mit deinem Golf fahren, oder<br />
nicht?“<br />
„Aber ja. Kein Problem. Und wer fährt noch?“<br />
„Hotte mit einem Sprinter von Hübners. Allerdings passen da nur drei<br />
Leute rein. Folglich müsstest du noch drei bei dir mitnehmen, Emy.<br />
Ginge das?“<br />
„Sicher, warum nicht? Wenn ihr das Gepäck in den Sprinter tut, sehe ich<br />
da kein Problem.“<br />
„Wann geht es los?“<br />
„In drei Wochen, am Samstag in der Frühe. Als Abfahrtsort schlage ich<br />
den Fabrikhof bei uns vor“, meinte Paul.<br />
„Einverstanden. Sagen wir um 9 Uhr morgens. Okay?“, ergänzte Freddy.<br />
Emy trug sich alles in ihr Handy ein und bestellte sich bei Heiner ein<br />
Glas Sekt. Ria und Peggy schlossen sich an und dann stießen alle miteinander<br />
an. „Auf unseren Ausflug!“<br />
„Wie ist das mit den Zelten? Ich hab’ keines“, meldete sich Hotte noch<br />
einmal. „Wir haben ein riesiges Zelt für unsere Werbeveranstaltungen in<br />
der Firma. Ich bin sicher, dass mein Vater uns erlaubt, es zu benützen.<br />
Da kriegt man locker 10 Leute drin unter. Wäre das was?“<br />
„Hey super.“<br />
19
„Und wie ist das mit uns? Kann man das Innere unterteilen?“, wollte<br />
Ilaria wissen.<br />
„Das geht“, meinte Paul, „wir spannen einfach ein Seil in der Mitte quer<br />
von einer Seite auf die andere und hängen dann ein Betttuch oder zwei<br />
darüber. Das müsste allerdings eine von euch mitbringen.“<br />
„Das mach’ ich“, sagte Ilaria und alles schien geklärt.<br />
„Gut. Wir treffen uns morgen wieder und gehen alles noch einmal<br />
durch.“<br />
„Ja, gute Idee.“ Alle waren einverstanden.<br />
Es wurde merklich lauter, einige Biere kamen noch nach. Heiner drehte<br />
das Radio etwas lauter und rief: „Auf allgemeinen Wunsch einer einzelnen<br />
Person namens Ilaria, damit man die Musik besser hören kann.“ Alle<br />
sangen mit, soweit sie die Songs kannten. Nur Lukas war ziemlich ruhig.<br />
Er saß da und überlegte, was er alles anstellen könnte, um an Geld zu<br />
kommen. Bald umnebelten ihm aber die Bierchen seine Gedanken und<br />
er sang mit den anderen mit.<br />
<strong>Die</strong> Mädchen standen im Raum vor der Theke und bewegten sich im<br />
Rhythmus der Musik. Ein paar andere Gäste waren auch noch da und<br />
freuten sich über die gute Stimmung. Lukas versuchte sich ebenfalls im<br />
Tanzen, hatte aber Mühe, das Gleichgewicht zu halten und setzte sich<br />
wieder hin.<br />
Dann verabschiedeten sich die drei Mädchen mit Küsschen bei den<br />
Jungs und verschwanden. <strong>Die</strong> tranken zusammen noch weitere Bierchen<br />
und als es gegen Mitternacht ging, versuchte Heiner, zu kassieren. Alle<br />
bezahlten mit ihrem letzten Taschengeld, nur bei Lukas reichte es nicht.<br />
„Lass man, Junge. Ich schreib dir’s an. Zahl’ nächstes Mal.“ Damit schob<br />
er sie allesamt hinaus. Er war müde, aber auch froh, dass er der Clique<br />
bei ihren Entscheidungen helfen konnte. Sah doch jetzt eigentlich ganz<br />
gut aus, meinte er zu sich selbst, schloss das Bistro ab und fing an, aufzuräumen.<br />
20
Das Ereignis<br />
Lukas schwankte nach Hause und sah plötzlich Lichter vor sich. Er<br />
dachte, das wäre ein Auto und versuchte auf den Bürgersteig auszuweichen,<br />
stolperte aber über den Bordstein und fiel der Länge nach hin. <strong>Die</strong><br />
Lichter sah er immer noch. Sie waren bläulich-silbern. Er verstand nicht,<br />
was das sollte, da er doch auf dem Gehweg lag. Aber in seinem Rausch<br />
dachte er nicht weiter darüber nach.<br />
Was er nicht wusste und auch niemals begreifen würde, war, dass an dieser<br />
Stelle ein minimaler Riss zwischen zwei Universen durch Berührung<br />
in einer höheren Dimension entstanden war.<br />
Lukas griff nach den Lichtern, weil er dachte, das Auto sei stehen geblieben<br />
und wollte sich an der vermeintlichen Stoßstange hochziehen. Das<br />
gelang ihm jedoch nicht. Stattdessen hielt er etwas in den Händen, das<br />
sich bewegte, glibberig anfühlte und in einem bläulich-silbrigen Leuchten<br />
schwebte. Lukas kam es vor wie der Arm eines großen Tintenfisches. Er<br />
zog ihn zu sich heran und drückte ihn an seine Brust, um sich darauf zu<br />
stützen. Das verursachte für einen kurzen Moment ein leicht stechendes<br />
Gefühl, das aber gleich wieder verging.<br />
Tatsächlich hatte er damit eine Verbindung zum anderen Universum in<br />
sich aufgenommen und fixiert. Das bläulich-silbrige Flimmern war in seiner<br />
Brust verschwunden und von außen nicht mehr sichtbar. Er war verknüpft<br />
mit Orghmar, einem Lebewesen aus einem anderen Universum<br />
und dessen Energie. Wäre Lukas nicht betrunken gewesen, hätte das Ereignis<br />
vermutlich nie stattgefunden. Er wäre vor dem bläulich-silbrigen<br />
Licht sicher zurückgeschreckt und hätte es niemals gewagt, es zu berühren.<br />
Wahrscheinlich waren solche Überschneidungen der beiden benachbarten<br />
Universen schon öfter vorgekommen. Aber nie hatte es einer gewagt,<br />
hinüberzugreifen!<br />
Lukas lag immer noch auf dem Rücken. Über sich sah er eine Straßenlaterne.<br />
Völlig betrunken, wie er war, griff er nach dem Lampenteil ganz<br />
oben in vier Meter Höhe, hielt sich daran fest und zog sich hoch wie ein<br />
Käfer an einer Glockenblume. Plötzlich stand er wieder auf beiden Beinen.<br />
Er bedankte sich lallend bei der Laterne, zog den Schirm noch einmal<br />
ganz nah zu sich heran und küsste ihn. „Danke, mein Freund. Ich<br />
liebe dich.“<br />
21
Dann schwankte er in Richtung Wohnung und summte dabei den letzten<br />
Song aus dem Radio von Heiner vor sich hin. Nach einigen Versuchen<br />
gelang es ihm, die Haustüre aufzuschließen und die Treppe zum ersten<br />
Stock hinaufzuklettern. An der Wohnungstüre hatte er mehr Glück: Er<br />
traf auf Anhieb das Schloss und konnte die Türe öffnen. Dann torkelte<br />
er in sein Zimmer und warf sich, wie er war, aufs Bett, und schlief innerhalb<br />
weniger Sekunden ein.<br />
22
Der Tag danach<br />
Als er wieder zu sich kam, war es heller Tag. Sein Schädel dröhnte<br />
und er hatte einen ekelhaften Geschmack im Mund und im Rachenraum.<br />
In der Brust spürte er ein eigenartiges Ziehen, das aber nicht wehtat. Er<br />
zog sich aus, ging ins Bad, duschte erst einmal, putzte dann seine Zähne<br />
und ging unrasiert in die Küche. Sein Vater war nicht da. Er warf die<br />
Kaffeemaschine an, fand noch ein paar Bananen, die er aß, und trank<br />
einen Kaffee dazu. Langsam legte sich das Dröhnen in seinem Kopf, nur<br />
das leichte Ziehen in seiner Brust zwischen Hals und Schulter war noch<br />
da. Er wusste nicht, woher er es hatte, vermutete aber, dass er in seinem<br />
Rausch irgendwo dagegengelaufen war. Es war nicht schmerzhaft, aber<br />
auch nicht angenehm. Er konnte es nicht beschreiben. Wie er nach<br />
Hause gekommen war, wusste er nicht mehr genau. Er wusste nur noch,<br />
dass sich heute Abend alle wieder in der ‚Laugenbrezel‘ treffen wollten.<br />
Das Beste gegen einen Kater, sagte Hotte, wäre, mit dem weiterzumachen,<br />
mit dem man aufgehört hatte. Das wäre in diesem Fall erst mal ein<br />
Bier. Sein Vater würde sagen, frische Luft wäre das Beste. Und weil ihm<br />
nichts Besseres einfiel, beschloss er, genau das zu machen – obwohl es<br />
der Rat seines Vaters war.<br />
Er holte ein paar neue Klamotten aus dem Schrank, und warf die alten<br />
von gestern Abend, die nach Kneipe stanken, in den Wäschebehälter.<br />
Dabei fiel ihm auf, dass sein Pullover auf dem Rücken ganz schmutzig<br />
war. Er musste wohl irgendwo ‚rumgelegen‘ sein. Im Bistro war es nicht,<br />
das wusste er noch. Also musste es auf dem Heimweg passiert sein, aber<br />
so genau konnte er sich nicht erinnern. Irgendwas war mit einer Laterne<br />
und Lichtern. Mehr bekam er nicht mehr zusammen.<br />
Dann ging er hinaus.<br />
Es war mittlerweile kurz nach drei Uhr und weil es Samstag war, müsste<br />
sein Vater eigentlich zuhause sein. War er aber nicht. Merkwürdig, dachte<br />
Lukas, wo konnte er sein? <strong>Die</strong> frische Luft traf ihn wie ein Schlag. Er<br />
blieb erst einmal stehen, atmete ein paar Mal tief durch, bis ihm besser<br />
wurde und lehnte sich gegen die Hauswand.<br />
Gegenüber glotzte die alte Henriette aus dem Fenster, was sie den lieben<br />
langen Tag machte, und grüßte ihn freundlich, nicht ohne dabei zu zwinkern.<br />
Ihm war es egal, was sie dachte. Er brauchte jetzt erst einmal ein<br />
Bier. Er riss sich zusammen und ging den Weg hoch zur Hauptstraße.<br />
23
An der Ecke standen ein halbes Dutzend Leute aus der Nachbarschaft<br />
herum und diskutieren. Sein Vater war auch dabei. Aha, dachte Lukas,<br />
deshalb war er nicht daheim.<br />
„Und jetzt bleibt es wieder am Steuerzahler hängen. Sprich, wir zahlen<br />
das“, rief einer der Männer.<br />
„Ja, Riesensauerei!“, pflichtete ihm ein anderer bei, „Vandalismus, alles<br />
Idioten. Dem sollte man mal ordentlich eins in die Fresse geben, wenn<br />
man ihn kriegt.“<br />
Lukas ging zu seinem Vater und fragte ihn. „Was ist denn bei euch los?<br />
Wozu die große Versammlung?“<br />
Der unterbrach kurz die Diskussion mit seinem Nachbarn und antwortete:<br />
„Schau dir das mal an.“ Er zeigte auf eine Laterne, die ein Stück<br />
abseits neben den Leuten völlig verbogen dastand. „Irgend so ein Idiot<br />
ist gegen die Laterne geknallt und hat sie demoliert. Dann ist er abgehauen.“<br />
Jetzt schien das erwartete Donnerwetter zu kommen.<br />
„Wann bist du gestern heimgekommen? War da die Laterne schon kaputt?“<br />
Nanu, dachte Lukas, war es das schon? Da hatte er ja wohl Glück gehabt,<br />
dass dem Vater die Laterne wichtiger war als der Anschiss. Dass er keine<br />
Erinnerung hatte, wollte Lukas nicht zugeben. Also sagte er wie selbstverständlich:<br />
„Nein, als ich heimkam, war noch alles in Ordnung.“<br />
„Wann war das?“, fragte ihn sein Vater.<br />
„Na, so kurz nach Mitternacht.“ Lukas wusste das zwar nicht mehr, aber<br />
Heiner warf seine Gäste spätestens kurz nach Mitternacht hinaus, wenn<br />
er seine Ruhe wollte. Also musste es wohl um diese Zeit gewesen sein.<br />
„Hört mal her“, rief sein Vater in die Runde, „um Mitternacht war die<br />
Laterne noch ganz. Lukas ist da heimgekommen. Na, dann ist es ja klar,<br />
dass niemand was gehört und gesehen hat. War ja viel zu spät. Auf jedem<br />
Fall ist es eine Riesensauerei, die Laterne umzufahren und dann abzuhauen.“<br />
„Ja, ja“, stimmten alle sofort zu und dann ging die Diskussion weiter.<br />
Lukas schaute sich die Laterne genau an. <strong>Die</strong> war nur heruntergebogen<br />
und hatte überhaupt keine Schramme, dachte er bei sich. Sehr eigenartig.<br />
Ein Lastwagen konnte das nicht gewesen sein und ein Pkw schon gar<br />
nicht. Jemand musste ein Seil ganz oben am Lampenschirm befestigt und<br />
an die Anhängerkupplung gebunden haben. Dann ist er losgefahren und<br />
hatte die Laterne mit Gewalt runtergezogen. Anders konnte das nicht<br />
passiert sein. Aber wer machte etwas so Sinnloses und warum? Außer-<br />
24
dem stimmte auch das nicht. <strong>Die</strong> Laterne war nicht weg-, sondern heruntergezogen<br />
worden. Und sowas ging nicht, wenn man das mit einem<br />
Auto versuchte. Das war ihm zu hoch.<br />
„Wenn man den erwischt, ist er dran. Das war Fahrerflucht!“, meinte ein<br />
anderer.<br />
„Aber da ist ja nirgendwo eine Schramme“, hielt Lukas dagegen. „Wo<br />
soll der denn dagegen geknallt sein?“<br />
„Ach halt’ dich da raus“, meinte sein Vater, „und schau’, dass du dich<br />
um eine Lehrstelle bemühst.“<br />
Ging das wieder los, dachte Lukas. Um weiteren Diskussionen aus dem<br />
Weg zu gehen, beschloss Lukas, erst einmal zu verduften, und machte<br />
sich wortlos in Richtung ‚Laugenbrezel‘ auf. Er konnte sich nicht genau<br />
erinnern, meinte aber zu wissen, dass er bei Heiner noch seine Bierchen<br />
zahlen musste, denn er hatte ja kaum noch Geld in der Tasche, als sie<br />
sich dort getroffen hatten.<br />
<strong>Die</strong> Sache mit der Laterne war schon merkwürdig, wie sie da umgebogen<br />
herunterhing und doch nirgendwo eine Beschädigung aufwies.<br />
Egal, war nicht sein Problem.<br />
Er ging ins Bistro, begrüßte Heiner, und meinte „Ich bräuchte jetzt dringend<br />
ein Bier, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.“<br />
Heiner grinste ihn an: „He, he, Lukas, bevor ich dir das gebe, solltest du<br />
erst mal die Zeche von gestern zahlen. Meinst du nicht auch?“<br />
„Was schulde ich dir denn?“<br />
„21 Euro 45. Ihr habt ja übel zugeschlagen. Also wenigstens einen Zwanziger<br />
will ich sehen, bevor du wieder was kriegst.“<br />
Lukas suchte in seinen Taschen und fand ein paar Eurostücke und etwas<br />
Kleingeld. „Warte mal“, sagte er zum Wirt, „ich will mal mein Glück am<br />
Automaten versuchen. Vielleicht gewinne ich was.“<br />
„Lass das lieber, sonst bist du völlig pleite.“<br />
„Ach Chef, lass es mich wenigstens ein einziges Mal versuchen. Heute<br />
ist mein Glückstag.“<br />
„Ja von wegen, das sagen sie alle und dann ist alles futsch.“<br />
Lukas ging trotzdem zum Automaten und warf einen Euro ein. Es war<br />
noch ein alter Automat, bei dem alles mechanisch lief, nicht elektronisch.<br />
Heiner hatte ihn früher einmal auf dem Flohmarkt gekauft und bei sich<br />
an die Wand gehängt. <strong>Die</strong> Räder drehten sich und gerade, als Lukas die<br />
7 kommen sah, wünschte er sich, dass sie anhalten würde. Und genau<br />
das tat sie! Er wurde ganz aufgeregt vor Freude und versuchte, auch die<br />
25
zweite 7 anzuhalten – und tatsächlich, auch die blieb ruckartig stehen.<br />
Jetzt war er sicher, dass heute sein Glückstag war, und wartete, bis die<br />
dritte 7 sich herunterdrehte und hielt sie in Gedanken einfach an. Bingo!<br />
Es schepperte und schepperte und unten flogen nach und nach jede<br />
Menge Eurostücke raus.<br />
„Hab’ ich dir nicht gesagt, dass heute mein Glückstag ist?“, rief er lautstark<br />
Heiner zu. Der zog die Augenbrauen hoch und kam näher. „Lass’<br />
mal sehen, wieviel du gewonnen hast.“ Er schnappte sich das Geld und<br />
zählte es durch. „Das sind in der Tat 20 Euro“, meinte er. „<strong>Die</strong> kassiere<br />
ich gleich mal ein, bevor du sie wieder verspielst. Wie hast du das denn<br />
geschafft? Du hast ja den Automaten richtig hypnotisiert!“<br />
Da lachte Lukas vor Freude und sagte: „Gelernt ist halt gelernt.“<br />
Heiner schüttelte immer noch ungläubig seinen Kopf. „Na, du hast ja<br />
einen Dusel. Hör jetzt lieber auf, sonst strapazierst du dein Glück vielleicht<br />
ein bisschen zu viel.“<br />
„Ha, ha“, entgegnete Lukas, „du hast ja bloß Angst, dass ich dir deinen<br />
Automaten leere. Wie soll ich denn weitermachen, wenn du mir mein<br />
ganzes Geld wegnimmst?“<br />
„Wieviel genau hast du denn noch?“, fragte der Wirt.<br />
Lukas durchsuchte noch einmal alle Taschen, legte das ganze Kleingeld<br />
auf den Tresen und zählte es durch. „Sieht so aus, als wären es knapp<br />
über vier Euro.“<br />
„Na gut, mein Junge“, murmelte Heiner, „Ich zapf’ dir ein kleines Bier<br />
als Anerkennung für dein Glück. Das war schon unglaublich. So viel hat<br />
da schon lange niemand mehr rausgeholt. <strong>Die</strong> restlichen 1,45 Euro<br />
Schulden erlasse ich dir. Aber dann ist Schluss und sauf nicht mehr so<br />
viel.“<br />
„Geht klar. Das war gestern nur wegen unserem Schulabschluss.“<br />
„Wie hast du überhaupt bestanden?“<br />
„Mit 3,3.“<br />
„Na, das ist ja gar nicht so schlecht. Und was wirst du jetzt machen?“<br />
Fing der jetzt auch mit der dämlichen Fragerei an, dachte Lukas. „Erst<br />
mal ausspannen. Und dann fahren wir mit der Clique an den Gardasee.“<br />
„Und dann?“<br />
„Keine Ahnung, wird sich zeigen.“<br />
Er schaute auf die Uhr. Es war halb vier. Um acht wollte sich die Clique<br />
wieder treffen. <strong>Die</strong> Mädels waren jetzt garantiert im D9 und gingen hinterher<br />
sicher zum Abendessen heim. Also hatte er reichlich Zeit. Nach<br />
26
Stuttgart in die Innenstadt mit der U7 dauerte es 25 Minuten. Das machte<br />
für hin und zurück eine Stunde, also 16:30 Uhr. Dann hatte er noch mehr<br />
als drei Stunden Zeit. Da er noch seine Schülerkarte für die Öffentlichen<br />
hatte, lief er zur nächsten Haltestelle.<br />
Wenn Heiner ihn nicht mehr spielen ließ und er nur noch vier Euro hatte,<br />
musste er unbedingt nach Stuttgart und sein Glück dort versuchen. Er<br />
war total überzeugt davon, dass heute sein Glückstag war und das sollte<br />
er ausnützen. Wenn nicht, müsste er es noch einmal bei seinem Vater<br />
versuchen oder Paul anpumpen.<br />
Gesagt, getan. Am Hauptbahnhof stieg er aus, lief am Hotel Zeppelin<br />
vorbei die Straße hoch und ging auf die andere Straßenseite. Eigentlich<br />
war er ja erst 17, aber seinem Äußeren nach müsste er schon als 18 durchgehen.<br />
Er betrat absichtlich cool die Spielhalle und schaute ein bisschen<br />
herum. Der Typ am Tresen schaute zwar kurz zu ihm herüber, befasste<br />
sich aber gleich wieder mit seinem Handy.<br />
Gut, versuchen wir es, sagte Lukas zu sich selbst. Er ging zu einem Spielautomaten<br />
und warf ein Eurostück ein. In der Anzeige drehten sich die<br />
Symbole, aber es waren keine Walzen dahinter. Es lief alles elektronisch<br />
ab und ging ihm viel zu schnell. <strong>Die</strong> Räder blieben stehen und er schaute<br />
sich das Ergebnis an: nichts gewonnen. Er überlegte kurz und ging ein<br />
Stück weiter. Da sah er einen Spielautomaten, der dem von Heiner sehr<br />
ähnlich war. Es war ebenfalls ein älteres Exemplar, das mechanisch funktionierte.<br />
Er warf das zweite seiner letzten vier Eurostücke ein und beobachtete,<br />
wie sich die Räder drehten. Als er gerade die Trauben kommen<br />
sah – das Gerät hatte keine Zahlen, nur Früchte – war es zu spät. Das<br />
erste Rad blieb stehen und zeigte eine Zitrone an. Na prächtig, dachte<br />
Lukas, das fängt ja gut an. So ein Mist. Er drückte auf die Freigabetaste<br />
und konzentrierte sich auf die Trauben. Er schaffte es, die erste Walze<br />
bei einer Traube anzuhalten. Jetzt war er total konzentriert und blickte<br />
wie gebannt auf die Symbole. Er sah die Traube auf dem zweiten Rad<br />
kommen, und ‚hypnotisierte‘, wie Heiner gesagt hatte, den Automaten.<br />
Es klappte! Jetzt noch die dritte Traube. Aber er verpasste den richtigen<br />
Moment und bekam eine Banane. Sch…! Beim Drehen der Räder hatte<br />
er gesehen, dass es auch eine Glocke als Symbol gab. Vielleicht war die<br />
besser. Er warf sein vorletztes Eurostück ein und konzentrierte sich auf<br />
die Glocke. Da kam sie. Stopp! Hatte geklappt. Jetzt die Nächste. Upps,<br />
die kam aber schnell. Rasch stoppen. Ja, gerade noch. Und die Dritte.<br />
27
Ha, Wahnsinn! Es hatte funktioniert! Aber wo blieb das Geld? Verflixt,<br />
das gab fünf Freispiele, aber kein Geld. Damit hatte er nicht gerechnet.<br />
Jetzt befasste er sich erst einmal genauer mit dem Gewinnprinzip dieses<br />
Automaten. Er entdeckte, dass es auch Lorbeerblätter gab und man mit<br />
denen am meisten gewinnen konnte. Wie viel war ihm nicht klar. Er<br />
musste es eben ausprobieren. Er gab das erste Freispiel frei. Er war ganz<br />
aufgeregt, er lauerte, er drückte, er schwitzte. <strong>Die</strong> Räder drehten sich viel<br />
zu schnell. Knapp vorbei. Er versuchte es gleich noch einmal und im<br />
dritten Freispiel hatte er es geschafft: 3-mal Lorbeerblätter! Der Automat<br />
klingelte und zeigte einen Gewinn an, spuckte aber kein Geld aus. Donnerwetter<br />
noch mal, dachte Lukas. Was soll denn das?<br />
„Wieso kommt denn der Gewinn nicht heraus?“, rief er zum Aufpasser<br />
am Tresen hinüber.<br />
„Sie müssen die blaue Taste drücken, wenn Sie nicht mehr spielen wollten<br />
und der Gewinn ausbezahlt werden soll.“<br />
„Aha, vielen Dank.“<br />
Der Typ hatte ihn mit ‚Sie‘ angeredet. Das war ein gutes Zeichen. Der<br />
denkt sicher, dass ich schon 18 bin. Ermutigt drückte er sein viertes Freispiel<br />
ab. <strong>Die</strong>smal ließ er alles laufen und stoppte nicht ab. Er wollte den<br />
Aufpasser nicht misstrauisch machen. Beim fünften und letzten Freispiel<br />
schlenderte der Typ mit dem Handy langsam auf ihn zu. Das war nicht<br />
gut, dachte Lukas. Riskieren wir nichts und sind wir erst einmal mit dem<br />
einen Gewinn zufrieden. Er wartete, bis die Räder aufhörten, sich zu<br />
drehen. Es waren eine Glocke, eine Sieben und eine Traube – nichts gewonnen.<br />
Laut sagte er dann vor sich hin, sodass es der Aufpasser hören<br />
konnte: „Dann eben nicht! Schluss jetzt“, und drückte die blaue Taste.<br />
Es ratterte und schepperte ziemlich lange. Lukas fischte die Eurostücke<br />
aus der Schale unten und stopfte sie sich in die rechte Tasche. Dann ging<br />
er weiter zum nächsten Automaten, warf eine Münze von seinem Gewinn<br />
ein, ließ den Automaten laufen und schaute zu, wie er nichts gewann.<br />
Das reicht jetzt, dachte er und beschloss zu gehen. Der Typ war<br />
inzwischen wieder zum Tresen zurückgekehrt und Lukas verließ die<br />
Spielhalle.<br />
Er ging durch die Kronenstraße zur Königstraße hinüber und stellte fest,<br />
dass ihm die Eurostücke die Hose hinunterzogen. Vorsichtig holte er<br />
eine Handvoll aus der rechten Hosentasche und stopfte die Geldstücke<br />
in die linke. Ein Stück weiter sah er einen Kiosk und ließ sich ein Sandwich<br />
mit Schinken geben.<br />
28
„Macht 4,50 Euro“, sagte die Verkäuferin.<br />
Lukas fingerte fünf Eurostücke aus der rechten Tasche und gab sie ihr.<br />
„Stimmt so. Können Sie noch mehr Kleingeld gebrauchen?“<br />
<strong>Die</strong> Verkäuferin bejahte erfreut: „Aber immer, junger Mann. Nur her<br />
damit.“<br />
Lukas zählte ihr nach und nach zwanzig Stücke hin. „Hab’ ich gerade in<br />
der Spielhalle gewonnen“, sagte er halb entschuldigend, halb stolz und<br />
die Verkäuferin gab ihm lächelnd einen Zwanzig Euro Schein dafür.<br />
Lukas ging ein Stück weiter in den Schlossgarten, suchte sich eine ruhige<br />
Ecke und setzte sich auf eine Bank. Erst verzehrte er das belegte Brötchen,<br />
dann fing er an, sein Geld zu zählen. Alles in allem waren es mit<br />
dem Zwanziger unglaubliche 50 Euro! So viel, wie für das Fällen eines<br />
ganzen Baumes. Junge, Junge! Heute war wahrlich sein Glückstag. Er<br />
überlegte, wo er noch eine Spielhalle kannte. Oben am Wilhelmsbau war<br />
noch eine.<br />
Gerade, als er aufstand und weitergehen wollte, kam ein junger Mann auf<br />
ihn zu, der ihn schon die ganze Zeit beobachtet hatte. „Willst du was?“,<br />
fragte er Lukas. Der sah ihn nur erstaunt an und erwiderte: „Ich hab’<br />
nichts gesagt. Von was redest du?“<br />
„Tu’ nicht so. Brauchst du Stoff?“<br />
Jetzt begriff Lukas. Das war ein Dealer. Wie der auf die Idee kam, dass<br />
er Drogen bräuchte, war ihm rätselhaft. Sowas lag Lukas fern. Außerdem<br />
war der junge Mann ihm extrem unsympathisch. Ein richtig schmieriger<br />
Typ. Passte zu seinem Job. „Nein, vielen Dank“, sagte Lukas höflich und<br />
ging zur Königstraße zurück. Dort fand er noch einen anderen Imbissstand<br />
und tauschte weitere zwanzig Euromünzen in einen Schein um.<br />
Er kam zur Spielothek, ging hinein und lief erst einmal herum, um sich<br />
zu orientieren. <strong>Die</strong>smal würde er es vorsichtiger angehen lassen. Er spielte<br />
an verschiedenen Automaten mit wechselndem Glück. Meist gewann<br />
er nichts, dann wieder ein paar Freispiele. Plötzlich entdeckte er einen<br />
Automaten, der dem in der Lautenschlagerstraße ähnelte, an dem er so<br />
viel gewonnen hatte. Es war wieder ein mechanisches Gerät. Er wusste<br />
jetzt, was er machen musste und wie es ging. Also ließ er erst einmal die<br />
Räder laufen und beobachtete, wie die Lorbeerblätter kamen. Nanu,<br />
dachte Lukas, die Räder drehten sich ja schneller als bei dem Automaten<br />
vorhin. Aber die Symbole waren gleich. Er musste sich mächtig konzentrieren,<br />
um jeweils den richtigen Moment zum Abstoppen zu erwischen.<br />
29
Sein erster Versuch ging prompt daneben. Beim zweiten Versuch bekam<br />
er zwei Freispiele. Er drückte die Freigabetaste, stoppte die erste Walze<br />
präzise ab, dann die zweite und auch die dritte. Es klimperte und schepperte<br />
wie verrückt. <strong>Die</strong>ser Automat spuckte ja den Gewinn sofort aus,<br />
stellte Lukas erschrocken fest. Plötzlich stand ein Typ hinter ihm, dem<br />
er im Dunkeln nicht begegnen wollte.<br />
„Kann ich mal deinen Ausweis sehen?“, fragte er ganz ruhig.<br />
„Klar“, sagte Lukas und fummelte die Monatskarte für den VVS 1 aus<br />
seiner Tasche.<br />
„Nein, das nicht. Deinen Personalausweis.“<br />
Lukas wurde es etwas mulmig, aber er blieb cool. „Den hab’ ich nicht<br />
dabei“, sagte er und schob sich die erste Hand voll Münzen aus dem<br />
Ausgabeschlitz in die Tasche. „Ich bin aber 18, keine Sorge.“<br />
„Stopp! Lass’ das Geld liegen. Erst deinen Ausweis.“<br />
„Na, hören Sie mal“, erwiderte Lukas, „kaum gewinnt man mal etwas,<br />
schon gönnt man es einem nicht. Ich hab’ doch gesagt, dass ich 18 bin.<br />
Meinen Perso hab’ ich eben nicht dabei. Na und?“ Damit steckte er die<br />
zweite Handvoll Münzen ein.<br />
Da packte ihn der Typ am Arm und zog ihm die Hand aus der Tasche.<br />
Lukas ließ die Münzen in die Tasche rutschen und schrie laut: „Fassen<br />
Sie mich nicht an.“<br />
Alle drehten sich zu ihnen herüber. Der Dunkelhaarige mit dem Vollbart<br />
und seinen ca. 1,95 m ließ ihn los und sagte: „Du bleibst jetzt hier stehen.<br />
Ich hole die Polizei.“<br />
Lukas nickte. „Okay, wenn Sie meinen. Kein Problem.“<br />
Während der andere wegging, schob er sich rasch all die weiteren Eurostücke<br />
in die Tasche. So, wie er schätzt, waren es genauso viel wie beim<br />
ersten Mal, also wieder 50 Euro. Jedenfalls zog es ihm in gleichem Maße<br />
die Hose durch das Gewicht hinunter wie vorhin in der anderen Spielhalle.<br />
Deshalb verteilte er die Münzen gleichmäßig in beide Taschen.<br />
‚Was mach’ ich jetzt?‘, überlegte Lukas. ‚Heute ist mein Glückstag, also<br />
muss ich das ausnützen.‘ Er schaute zu dem Aufpasser hinüber, aber dieser<br />
ließ ihn nicht aus den Augen. Er hatte einen altmodischen Telefonhörer<br />
in der Hand und schien gerade eine Verbindung gewählt zu haben.<br />
Lukas wünschte sich, dass die Verbindung nicht klappte, fixierte den Telefonapparat<br />
und drückte in Gedanken – aus einer Entfernung von ca.<br />
1<br />
Verkehrsverbund Stuttgart<br />
30
15 Metern – auf die Gabel. Der Typ schaute auf einmal total irritiert den<br />
Hörer an und drückte selbst ein paar Mal auf die Gabel. Dann begann er<br />
erneut zu wählen.<br />
Lukas tat so, als würde er zu ihm hinübergehen, hatte aber längst den<br />
Ausgang im Blick. Wenn er doch wenigstens einmal woanders hinschauen<br />
würde, dachte Lukas. Zum Beispiel, wenn plötzlich der Telefonapparat<br />
hinunterfallen würde. Aber wie sollte das passieren?<br />
Er fixierte den Telefonapparat erneut und schob ihn in Gedanken an den<br />
Rand der Theke. Noch ein kleiner Schubs und – zack, fiel der tatsächlich<br />
runter. Als Yilmaz, wie der Aufpasser hieß, sich hinunterbeugte, um den<br />
Apparat wieder aufzuheben, rannte Lukas los. <strong>Die</strong> Leute schauten jetzt<br />
alle fasziniert dem Geschehen zu. Endlich war mal etwas los!<br />
Yilmaz kam wieder hinter dem Tresen hoch und sah, wie Lukas davonrannte.<br />
Er knallte den Telefonapparat auf die Theke und rannte ebenfalls<br />
los. Lukas bekam das noch aus den Augenwinkeln mit und konzentrierte<br />
sich auf dessen Beine. Er hoffte in Gedanken, dass der Typ über seine<br />
eigenen Beine stolpern würde. Was er nicht mehr mitbekam, war, dass<br />
Yilmaz der Länge nach hinknallte, mit der Faust auf den Boden schlug<br />
und laut ‚Lanet olsun!‘ schrie. <strong>Die</strong> Leute in der Spielhalle lachten und<br />
klatschten derweil vor Begeisterung, obwohl sie den türkischen Fluch<br />
nicht verstanden hatten. Aber sie konnten sich sehr gut vorstellen, was<br />
gemeint war!<br />
Inzwischen war Lukas aus der Spielhalle heraus. Er bog absichtlich nicht<br />
nach rechts in die belebte Königstraße ein – wie jeder es vermuten würde<br />
– sondern rannte in die entgegengesetzte Richtung. An den Treppen zur<br />
Altstadt bog er links ab, hinunter zum Rathaus.<br />
Yilmaz stand derweil fassungslos in der Königstraße, hüpfte dauernd<br />
hoch und spähte in die Menschenmenge vor ihm. Aber er konnte den<br />
kleinen Teufel nicht entdecken. Dann ging er stinksauer zurück in die<br />
Halle. Schließlich war nichts kaputt, überlegte er, der Telefonapparat war<br />
noch ganz und auch sonst gab es nichts, was er seinem Chef heute Abend<br />
zu beichten hätte. Oder? Wie sollte er auch erklären, dass er hingefallen<br />
war? Das wusste er selber nicht! <strong>Die</strong> Leute in der Spielhalle verstummten<br />
sofort, als er wieder hereinkam und für alle war die Angelegenheit scheinbar<br />
erledigt. Aber am Abend zuhause, beziehungsweise in der Kneipe,<br />
hatten sie etwas zum Erzählen und Lachen!<br />
31
Lukas schaute sich um. Er schien nicht verfolgt zu werden. Gut. Er mäßigte<br />
seine Schritte, ging zügig, aber ohne große Hast am Rathaus vorbei,<br />
über den Marktplatz und zum Charlottenplatz. Dort lief er in die U-<br />
Bahnstation hinunter und wartete, bis die U7 kam. Als sie einfuhr, war<br />
er sehr erleichtert, stieg ein und suchte sich einen Sitzplatz. Für heute<br />
hatte er genug Aufregung. Es reichte ihm jetzt. 100 Euro gewonnen!<br />
Wahnsinn!<br />
Unterwegs überlegte Lukas, dass die letzten Ereignisse – vor allem das<br />
mit dem Telefonapparat – nichts mit einem Glückstag zu tun haben<br />
konnten. Irgendwie hatte er sich die Dinge gewünscht und sie gingen in<br />
Erfüllung. Wie im Märchen. Merkwürdig. Er war sich absolut nicht im<br />
Klaren darüber, was er davon halten sollte. Und jedes Mal hatte er dabei<br />
dieses eigenartige leichte Ziehen in der Brust gehabt! Das musste etwas<br />
damit zu tun haben. Aber was? Er konnte sich das nicht erklären. Und –<br />
wenn er an den Automaten gespielt hatte, gewann er immer nur an den<br />
mechanischen Geräten, nie an den elektronischen. Was hatte das zu bedeuten?<br />
Als er in der ‚Laugenbrezel‘ ankam, war es kurz vor acht. „Machst du mir<br />
zwei belegte Laugenbrezeln, Heiner? Ich habe einen Mordshunger.“<br />
„Klar, doch. Wie ist es gelaufen? Bist du pleite?“<br />
Lukas überlegte, dass es besser war, wenn er zunächst niemandem etwas<br />
von seinen Erlebnissen erzählte. „Nein, nein, hab’ ein bisschen was gewonnen.<br />
Nicht viel. Jedenfalls kann ich mir die Laugenbrezeln wieder<br />
leisten. Keine Sorge – und bitte noch ein Bier dazu. Okay?“<br />
Heiner brachte ihm das Gewünschte und Lukas versank wieder in Grübelei.<br />
Wieso war der Telefonapparat runtergefallen? Er hatte ihn in Gedanken<br />
nach hinten geschoben und hatte mit eigenen Augen gesehen,<br />
dass er sich tatsächlich bewegt hatte. Dann hatte er ihn über den Tresen<br />
hinaus geschubst und er war runtergefallen. Niemand war auch nur in<br />
der Nähe gewesen, nur er hatte sich das gewünscht.<br />
Lukas saß an der Theke und starrte in die Vitrine mit den Gläsern an der<br />
Wand vor ihm. Er fixierte das vorderste Bierglas und schob es in Gedanken<br />
ein Stück nach hinten, genauso wie er es in der Spielhalle mit dem<br />
Telefonapparat getan hatte. Wieder spürte er ein ganz leichtes Kribbeln<br />
in der Brust. Aber es war eher ein Kitzeln, kein Schmerz. Da! Das Glas<br />
hatte sich bewegt! Oder hatte er es sich eingebildet?<br />
Er schaute sich im Lokal um. Heiner bediente zwei ältere Herrschaften<br />
am anderen Ende der Theke. Keiner schaute zu ihm herüber. Also ver-<br />
32
suchte er es noch einmal. Und tatsächlich: Das Bierglas hatte sich bewegt!<br />
Unglaublich! Er war diesmal ganz sicher, dass es keine optische Täuschung<br />
war. Er hatte es getan! Das würde ja bedeuten, dass er telekinetische<br />
Kräfte hatte! Er war ein Mutant, ein X-Man!<br />
Blödsinn, so etwas gab es überhaupt nicht. Das war nur eine Erfindung<br />
der Comic-Schreiber. Dazu war bestimmt ein Gen-Defekt notwendig<br />
und der kam nicht über Nacht, dachte Lukas. Hatte das Ganze etwas mit<br />
seinem Filmriss letzte Nacht zu tun? Was war da geschehen? Er konnte<br />
sich beim besten Willen an nichts erinnern. Er konzentrierte sich lieber<br />
auf seine Brezeln, die sein Abendessen darstellten und genoss sie.<br />
<strong>Die</strong> Tür ging auf. Hotte und Paul kamen zusammen herein. „Hallo Lukas.<br />
Schon da? Alles klar?“<br />
„Ja, Leute. Und bei euch?“<br />
Alle drei suchten sich einen Tisch in der Ecke des Bistros. „Bringst du<br />
uns mal zwei Biere, Heiner?“<br />
„Hast du mit deinem Vater geredet, wegen dem Sprinter, Paul?“, wollte<br />
Lukas wissen.<br />
„Ja. Geht in Ordnung. Hotte wird fahren.“<br />
„Und wo genau werden wir hingehen? Wisst ihr das schon?“<br />
„Nun, es ist so: Da gibt es einen tollen Zeltplatz am Ostufer des Gardasees.<br />
Er hieß ‚La Quercia‘. Wir waren mal mit der ganzen Familie dort.<br />
Sehr sauber und ordentlich. Aber auch nicht ganz billig. Und dann gibt<br />
es noch einen anderen Zeltplatz, unten am Südufer bei Sirmione. Der ist<br />
nicht so teuer. Wir müssen uns halt vorher entscheiden, wo wir hinwollen,<br />
weil es zwei verschiedene Fahrtrouten wären. Eine über Riva und an<br />
der Steilküste im Westen am See entlang, eine landschaftlich sehr hübsche<br />
Strecke, oder die andere, gemächlichere Strecke auf der anderen<br />
Seite.“<br />
„Also ich bin für den preisgünstigeren Zeltplatz“, meldete sich Lukas<br />
sofort.<br />
„Hab’ ich mir schon gedacht“, grinste Paul. „Hotte und ich haben auch<br />
schon mal darüber gesprochen. Er dachte genauso. Ich wusste, ihr habt<br />
nicht so viel Taschengeld zur Verfügung. Von mir aus ist das kein Problem.<br />
Wir müssen nur noch mit den anderen reden.“<br />
„Ja, sicher.“<br />
„Also, die Allgemeinkosten, wie Sprit, Zeltplatz und Mautgebühren kann<br />
ich für alle im Voraus bezahlen. Am Schluss wird alles zusammengerech-<br />
33
net und durch sieben geteilt. Ihr gebt mir dann euren Teil, wenn wir wieder<br />
zuhause sind. Einverstanden?“<br />
„Das ist eine gute Idee. So machen wir es. Wir müssen aber die anderen<br />
noch fragen, ob sie damit einverstanden sind.“<br />
Genau in diesem Moment ging die Türe auf und Freddy kam mit den<br />
drei Mädels herein.<br />
„Hallo ihr Lieben“, rief Ilaria quer durch den Raum, „Habt ihr noch Platz<br />
für uns?“<br />
Rasch wurde noch ein Tisch dazugestellt und nachdem sich alle umarmt<br />
hatten, erläuterte Paul noch einmal seine Alternativen. Eigentlich wären<br />
Emy und Ria für ‚La Quercia‘ gewesen, aber da auch Peggy nicht so viel<br />
Geld zur Verfügung hatte, einigte man sich auf Sirmione.<br />
„Gut“, meinte Paul, „dann ist ja alles klar. Wir nehmen die Steilküste am<br />
Westufer. Ihr werdet begeistert sein.“<br />
„Wieviel sollten wir ungefähr an Barem dabeihaben?“<br />
Das war für Lukas wichtig. „Keine Ahnung, aber alles in allem wirst du<br />
vielleicht auf 200 Euro kommen“, vermutete Paul.<br />
Lukas wusste noch nicht, wie er die fehlenden 100 Euro beschaffen<br />
sollte, wenn sein Vater ihm nichts mehr gab. Aber vielleicht konnte er<br />
seine neuen Fähigkeiten dafür einsetzen. Er hatte zwar noch absolut<br />
keine Ahnung wie, aber es waren ja noch drei Wochen Zeit.<br />
Man redete noch eine ganze Weile über belanglose Themen. <strong>Die</strong> Zeit<br />
verging wie im Flug und plötzlich war es elf Uhr. Heiner kam an den<br />
Tisch und meinte „Seid mir nicht böse Leute, aber gestern war es sehr<br />
spät und ich möchte heute etwas früher ins Bett. Okay? Dann rechnen<br />
wir mal ab. Musst du wieder anschreiben, Lukas?“<br />
„Nein, nein“, beeilte der sich, zu sagen. „Ich zahle bar.“<br />
Alle grinsten ein wenig, aber keiner dachte sich etwas dabei, als Lukas<br />
einen zwanzig Euroschein aus der Tasche zog. Jeder nahm an, dass das<br />
sein Taschengeld war.<br />
Dann verabschiedeten sie sich voneinander, wobei Freddy, Peggy und<br />
Ria fast denselben Weg hatten. <strong>Die</strong> drei gingen zusammen. Lukas, Hotte,<br />
Emy und Paul verkrümelten sich in verschiedene Richtungen.<br />
Als Lukas an der Laterne vorbeikam, blieb er stehen und betrachtete sie<br />
lange. „Du schaust schon recht traurig aus. Irgendwie mag ich dich. Lass<br />
doch dein Köpfchen nicht so hängen.“<br />
Ihm dämmerte etwas, aber er konnte sich nicht wirklich erinnern.<br />
34
„Warte, ich helfe dir.“ Er fuhr in Gedanken den Laternenmast entlang<br />
und drückte dabei fest zu. Das verursachte ein gewisses Ziehen in der<br />
Brust. Tat aber nicht weh. <strong>Die</strong> Laterne bog sich nach oben und Lukas<br />
staunte. „Ich kann das wirklich. Dann hab’ ich dich letzte Nacht vermutlich<br />
auch verbogen. Das tut mir sehr leid. Ich mach’ es wieder gut. Siehst<br />
du, jetzt bist du wieder hübsch. So ist das schön.“<br />
Er staunte jetzt kaum noch, war eher ängstlich, weil er nicht wusste,<br />
wieso er das alles konnte. Er tätschelte noch einmal den Laternenschirm<br />
hoch oben, verbog ihn dabei, schaute sich kurz um – keiner da – und<br />
rückte ihn wieder zurecht. Dabei bemerkte er, dass, je größer die Anstrengung,<br />
desto größer das Ziehen in seiner Brust wurde. Da gab es einen<br />
Zusammenhang.<br />
Dann ging er heim und legte sich ins Bett.<br />
35