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LP_Holzfeld_Die Verwandlung

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Klaus <strong>Holzfeld</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Verwandlung</strong> des Lukas M.<br />

Fantasy-Roman<br />

NOEL-Verlag


Originalausgabe<br />

Dezember 2019<br />

NOEL-Verlag GmbH<br />

Achstraße 28<br />

82386 Oberhausen/Obb.<br />

www.noel-verlag.de<br />

info@noel-verlag.de<br />

<strong>Die</strong> Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen<br />

Nationalbibliografie, Frankfurt; ebenso in der Bayerischen Staatsbibliothek<br />

in München.<br />

Das Werk, einschließlich aller Abbildungen, ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsschutzgesetzes<br />

ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig<br />

und strafbar.<br />

Das gilt besonders für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />

und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen<br />

Systemen.<br />

Der Autor übernimmt die Verantwortung für den Inhalt seines Werkes.<br />

Covergestaltung:<br />

Autor:<br />

NOEL-Verlag<br />

Klaus <strong>Holzfeld</strong><br />

1. Auflage<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 978-3-95493-416-4


Inhaltsverzeichnis<br />

1 Schulabschluss .......................................................................................... 3<br />

2 Das Ereignis ........................................................................................... 21<br />

3 Der Tag danach ...................................................................................... 23<br />

4 Nachdenken ist angesagt ....................................................................... 36<br />

5 Das Billardturnier ................................................................................... 41<br />

6 <strong>Die</strong> Fahrt an den Gardasee ................................................................... 79<br />

7 Intermezzo............................................................................................ 110<br />

8 Orientierungslos ................................................................................... 118<br />

9 Paris ....................................................................................................... 135<br />

10 London ............................................................................................... 155<br />

11 Sarah.................................................................................................... 173<br />

12 Offseason............................................................................................ 227<br />

13 Monte Carlo ....................................................................................... 254<br />

14 Heimkehr ............................................................................................ 267<br />

15 Der alte Fritz ...................................................................................... 275<br />

16 Lukas Terraforming ........................................................................... 330<br />

17 Mauretanien ........................................................................................ 433<br />

18 Epilog .................................................................................................. 460<br />

Nachwort ................................................................................................. 461


Schulabschluss<br />

Freitagmorgen, 20. April 2018, im Klassenzimmer der Klasse 10 c.<br />

Herr Reiber kam in die Klasse und begrüßte seine Schüler freundlich:<br />

„Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich euch allen. Wir haben<br />

heute nicht viel zu besprechen. Der Unterricht ist sowieso vorbei<br />

und wir wollen nur kurz über die Abschlussfeier nächste Woche Freitagabend<br />

reden. Also, die Feierlichkeiten finden natürlich – wie üblich – in<br />

der Sporthalle statt. Es werden überall Stuhlreihen aufgestellt sein und<br />

ihr nehmt mit den beiden Parallelklassen zusammen in den Reihen 1 bis<br />

5 Platz. Eure Eltern, Geschwister oder sonstigen Begleitpersonen werden<br />

dahinter in den Reihen 6 bis 30 sitzen. Dann hält der Direktor eine<br />

kurze Rede ...“<br />

Alle lachten. „Oh ja, kurz. Das kennen wir …“<br />

„Nana, nicht frech werden. Ja, wie gesagt ... eine Rede und dann werdet<br />

ihr alle nacheinander aufgerufen und erhaltet eure Abschlusszeugnisse<br />

zur Mittleren Reife. Anschließend können sich alle im hinteren Teil der<br />

Turnhalle noch zusammentun und unterhalten. Es gibt Kaffee, Softdrinks<br />

und Kekse. Wer will, kann auch gleich heimgehen. Und das war’s<br />

dann auch schon.“<br />

„Werden denn die Zeugnisnoten vor allen Leuten laut vorgelesen?“,<br />

fragte Holger Blotte, genannt Hotte. Das wäre ihm nämlich gar nicht<br />

recht. Er glaubte zwar, er habe dieses Mal bestanden, aber bestimmt<br />

nicht mit einer guten Note.<br />

„Nein, keine Sorge. Es werden nur am Anfang ein paar Schüler aufgerufen,<br />

deren Noten über 2,0 liegen. <strong>Die</strong> bekommen alle einen Preis. Aber<br />

es sind a) nicht viele und b) bei euch sowieso nur einer.“<br />

„Und wer ist das?“, wollte Ilaria Bandini wissen.<br />

„Na, das werdet ihr schon sehen“, grinste Reiber.<br />

„Och, Herr Reiber, jetzt seien Sie doch nicht so. Wenn es bei der Abschlussfeier<br />

sowieso verkündet wird, weiß es dann doch jeder. Da können<br />

Sie es uns auch gleich sagen.“ Ilaria mit ihren pechschwarzen Haaren<br />

und ihren dunklen Augen schaute ihn bittend an. Sie war sehr hübsch<br />

und wusste das auch. Reiber erlag prompt ihrem Charme und meinte:<br />

„Naja, ist sowieso nur einer. Ihr müsst mir aber ganz fest versprechen,<br />

dass ihr es vorher nicht herumerzählt. Okay?“<br />

„Klar, ist doch Ehrensache!“, murmelte die ganze Klasse wie aus einem<br />

Mund. „Sagen Sie schon.“<br />

3


„Also, es ist Peter Demmele. Demmele, du musstet damit rechnen, als<br />

einer der Ersten aufgerufen zu werden.“ Peter grinste verschämt und<br />

freute sich, dass er einen Preis bekam. Er hatte zwar nicht unbedingt<br />

damit gerechnet, es aber gehofft.<br />

„Und mit welcher Note hat er bestanden?“, wollte Peggy Fendt wissen.<br />

Sie war immer ein bisschen naiv, aber sehr nett und überhaupt nicht<br />

dumm. „Ihr werdet es schon noch erfahren. Ich hab’ jetzt genug ‚rausgelassen‘.“<br />

„Wir haben doch versprochen, niemandem etwas zu sagen. Da können<br />

Sie uns schon vertrauen. Wir würden Sie niemals enttäuschen, Herr Reiber.“<br />

Der Klassenlehrer war gerührt und sagte nur kurz und bündig „1,7“.<br />

„Wow!“, staunte Paul Hübner. „Nicht übel!“<br />

„Und ich? Was hab’ ich?“ Ilarias Augenaufschlag war schon fast filmreif.<br />

Sie schaute Herrn Reiber schmachtend an. „Sie können es ruhig sagen.<br />

Mir macht es nichts aus, wenn die anderen es wissen.“<br />

„Ja, überhaupt“, warf Freddy Kolb ein. „Warum lesen Sie uns nicht rasch<br />

mal unsere Ergebnisse vor. Ich glaube nicht, dass irgendeiner was dagegen<br />

hat. Oder?“ Er schaute in die Runde und die meisten nickten.<br />

„Ja, bitte“, versuchte Ilaria es noch einmal.<br />

Herr Reiber war verunsichert: „Ich weiß nicht, Leute, ob ich das tun darf.<br />

Eigentlich ist es ja nichts Schlimmes, aber …, hmm, na gut. Aber ihr<br />

dürft das wirklich nicht weitererzählen. Okay?“<br />

Alle redeten aufgeregt durcheinander. „Natürlich nicht … ist doch klar<br />

… wir halten dicht … keine Sorge.” Reiber kannte seine Klasse seit Jahren.<br />

Er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte, und seufzte: „Überredet.<br />

Also, wer will seine Note wissen?“<br />

„Na alle.“<br />

„Nee, ich nicht“, warf Lukas ein. „Ich will bloß wissen, ob ich bestanden<br />

habe.“<br />

„Ja, hast du, mit 3,3.“ Reiber grinste Lukas an und sagte: „Entweder alle<br />

oder keiner. Klar?“<br />

Lukas zuckte mit Schultern. Ihm war nur wichtig, zu wissen, ob er es<br />

geschafft hatte. Noch ein Jahr auf der Schule hätte er nicht ausgehalten.<br />

Aber so war es gut. Mit 3,3 konnte er leben. Er hörte nur noch bruchstückhaft<br />

hin …<br />

„Artner, 2,0, sehr schön, Bandini 2,5, Blotte, 3,8, na endlich geschafft,<br />

Breitling 3,0, Demmele wie gesagt 1,7, beste Note, gratuliere! Fendt 2,8,<br />

4


Frommer, 3,4, Hübner, 2,7, Kolb 2,9, Michalski 3,3, Peters, hmm, bis<br />

nächstes Jahr, Schmitt 3,1…“<br />

„So, Leute, ich hoffe, dass ihr jetzt zufrieden seid. Ich wünsche euch allen<br />

viel Erfolg auf eurem weiteren Lebensweg. Verzweifelt nie. Es geht immer<br />

weiter. Mal auf, mal ab. Aber es geht weiter. Und wenn ihr in Dingen,<br />

die euren künftigen Beruf betreffen, unsicher seid – ihr könnt gern<br />

zu mir in die Sprechstunde kommen. Ihr wisst – wie immer montags um<br />

10:45 h. Einfach im Lehrerzimmer melden. Und jetzt ab mit euch bis<br />

nächsten Freitag! Tschüss!“<br />

Alle verließen das Klassenzimmer. <strong>Die</strong> einen rannten, andere gingen eher<br />

gemächlich. So auch Hotte. Er gesellte sich zu Lukas, seinem besten<br />

Freund, und klopfte ihm auf die Schulter: „Geschafft, mein Junge.“<br />

„Ja, Hotte, Gott sei Dank du auch. Gehen wir in die ‚Laugenbrezel‘?“<br />

Paul Hübner kam dazu. „He Leute, es ist erst halb 11 Uhr. Ich muss noch<br />

zu meinem Vater und helfen, ein paar Sachen zu verladen.“ Sein Vater<br />

hatte ein Transportunternehmen und er musste dort öfter helfen, Lkws<br />

zu beladen. Dafür durfte er sich ab und zu einen Sprinter ausleihen, den<br />

allerdings Hotte fahren musste, weil Paul noch keinen Führerschein<br />

hatte.<br />

„Ja“, sagte Freddy, „ich geh’ auch erst mal heim, was essen.“<br />

„Okay“, meinte Lukas, „dann sehen wir uns heute Abend um acht in der<br />

‚Laugenbrezel‘. Kommt ihr auch?“ Gemeint waren Ilaria und Peggy, die<br />

sich ihnen angeschlossen hatten.<br />

„Logisch! Aber jetzt gehe ich erst einmal heim, hole meine Sportsachen<br />

und dann ins D9“, sagte Ilaria. „Kommst du mit Peggy?“<br />

„Ja, später. Meine Mutter wartet bestimmt schon auf mich. Ich muss ihr<br />

beim Kochen helfen.“<br />

„Sagt jemand Emy Bescheid?“, wollte Paul wissen. Ihm war sehr daran<br />

gelegen, dass Emely Fruhmann-Berger auch dazu kam. Er wollte schon<br />

lange ein Date mit ihr, bisher aber ohne Erfolg. Aber wer Paul kannte,<br />

wusste, dass er nicht so schnell aufgab. Alle sieben gehörten zur so genannten<br />

‚Clique‘ und trafen sich regelmäßig im Bistro ‚Laugenbrezel‘.<br />

<strong>Die</strong> Bezeichnung ‚Clique‘ stammte von Emy. Sie war ein wenig in die<br />

französische Sprache verliebt, seit sie einmal mit ihrer Klasse in Paris<br />

war.<br />

<strong>Die</strong> Mädchen gingen oft miteinander ins Fitness-Center D9, die Jungs<br />

weniger. Lukas hatte kein Geld dafür, Hotte und Freddy keine Lust. Nur<br />

Paul kam ab und zu. Ihm ging es dabei nicht nur um seine Fitness, son-<br />

5


dern auch um Emy. Oft verabredete sich die Clique auch zum Besuch<br />

von Handball- und Fußballspielen oder sie gingen gemeinsam ins Kino<br />

und die Disco.<br />

„Gut, um acht in der ‚Laugenbrezel‘. Bis dann.“ <strong>Die</strong> sechs Freunde<br />

trennten sich. Ria, wie Ilaria kurz genannt wurde, hatte bereits ihr Handy<br />

rausgeholt und schickte Emy eine WhatsApp. Wahrscheinlich war die<br />

sowieso schon im D9, aber Ilaria wollte sichergehen, dass sie sich nachher<br />

trafen.<br />

Emy war Ilarias und Peggys beste Freundin schon seit Kindergartenzeiten.<br />

Sie gehörte deshalb mit zur Clique, obwohl sie nicht mit den anderen<br />

auf der Realschule war. Emy war bereits 18, wie Hotte, und damit ein<br />

Jahr älter als der Rest der Clique. Sie hatte gerade das Abitur gemacht<br />

und auf Anhieb mit 2,1 bestanden! Als eine der ersten hatte sie vom verkürzten<br />

G8 profitiert. Und obwohl sie aufs Gymnasium ging, wurde sie<br />

von den Jungs sofort akzeptiert, weil sie sehr sympathisch und kein bisschen<br />

hochnäsig war.<br />

Lukas überlegte, wie er den Rest des Tages verbringen würde, bevor sie<br />

sich im Bistro trafen. Jetzt würde er erst einmal zum Bäcker gehen und<br />

sich ein paar Schneckennudeln holen. Fürs Bistro war es zu früh, das<br />

hatte noch nicht auf. Vielleicht nahm er auch noch ein Mohnstückchen<br />

dazu, das war dann sein Mittagessen. Anschließend würde er auf seinen<br />

Vater warten, der um 11:30 Uhr Mittagspause hatte und zum Essen meist<br />

nach Hause kam, um Geld zu sparen. Sein Vater arbeitete im Baumarkt<br />

und manchmal ging er auch zum Dönerstand und aß dort eine Currywurst.<br />

Aber heute würde er bestimmt nach Hause kommen, weil er wissen<br />

wollte, ob Lukas bestanden hatte. Jedenfalls ging Lukas davon aus.<br />

Und dann musste er unbedingt seinen Vater um das Taschengeld für die<br />

nächste Woche bitten, weil er für heute Abend nicht mehr genügend<br />

Geld bei sich hatte. Normalerweise bekam er seine 20 Euro erst sonntags,<br />

aber nach bestandener Prüfung hoffte er auf eine Belohnung. Er<br />

hatte zwar noch ein Sparschwein, in dem sich etwas Kleingeld befand,<br />

aber das musste man kaputtmachen, um dranzukommen. Und das wollte<br />

er nicht. Von seinem wöchentlichen Taschengeld blieb in der Regel nicht<br />

viel übrig und den Mitgliedsbeitrag für das Fitness-Center konnte er sich<br />

schon zweimal nicht leisten. Ab und zu kaufte er sich eine Tageskarte,<br />

wenn er etwas durch Jobben verdient hatte. Er war schon gern dabei,<br />

wenn die anderen im D9 waren. Freddy und Hotte fehlte ebenfalls das<br />

nötige Kleingeld, obwohl Freddys Vater weiß Gott nicht arm war. Aber<br />

6


er war eben Schwabe. Nur Paul bekam von seinen Eltern genügend Geld,<br />

weil sie es gut fanden, wenn er sich fit hielt – wie er einmal grinsend<br />

erläutert hatte. Schließlich musste er ständig beim Beladen der Lkws helfen.<br />

Emy dagegen war immer dabei und gehörte fast schon zum Inventar.<br />

Sie nützte jede freie Minute, um Sport zu treiben und sich mit den<br />

anderen zu unterhalten. Ria und Peggy kamen ebenfalls regelmäßig. Sie<br />

hatten ein Jahresabonnement und verabredeten sich meist mit Emy.<br />

Lukas schaute oft im Stadtanzeiger oder in der Zeitung unter ‚Verschiedenes‘<br />

nach, ob er irgendeinen Job finden konnte, bei dem er etwas Geld<br />

verdienen konnte. Meist mähte er Rasen, schnitt Hecken oder konnte<br />

gelegentlich mal einen Baum fällen. Das brachte dann so um die 50 Euro<br />

ein – je nach Größe des Baumes. Hotte hatte ihm einmal dabei geholfen,<br />

die Äste und den Stamm mit einem Sprinter wegzubringen, nachdem<br />

Lukas ihn zerlegt hatte. Den Sprinter hatten sie sich von Pauls Vater geliehen.<br />

Aber jetzt im Frühjahr standen seine Chancen schlecht. Man<br />

durfte nur dann Bäume fällen, wenn Bruchgefahr bestand. Und das war<br />

leider sehr selten der Fall. <strong>Die</strong> Arbeit machte ihm Spaß. Es ging ihm nicht<br />

allein ums Geld, am liebsten hätte er einen eigenen Garten gehabt, wo er<br />

seine Ideen ausleben konnte. Nur, das würde er wohl nie in seinem Leben<br />

erreichen.<br />

Als Lukas zuhause ankam, packte er seine Schneckennudeln und das<br />

Mohnstückchen aus, füllte sich ein Glas mit Wasser und setzte sich an<br />

den Tisch, um zu essen. Kurz nach halb zwölf hörte er seinen Vater die<br />

Treppe zum ersten Stock heraufkommen, in dem sie wohnten. Lukas<br />

ging zur Wohnungstür, um seinem Vater aufzumachen, und sie begrüßten<br />

sich durch kurzes Kopfnicken.<br />

„Wie ist es gelaufen?“, wollte sein Vater tatsächlich als erstes wissen.<br />

„Hab’ bestanden. Keine Probleme. Nächsten Freitag ist Abschlussfeier.<br />

Da werden die Zeugnisse verteilt.“<br />

„Mit was hast du bestanden?“, wollte sein Vater wissen und Lukas, der<br />

genau wusste, dass sein Vater mit 3,3 nicht zufrieden sein würde, schwindelte<br />

ihn an: „Weiß nicht. <strong>Die</strong> Zeugnisse werden erst nächsten Freitag<br />

ausgegeben.“<br />

„Na ja“, meinte sein Vater, „wenigstens bestanden.“<br />

„Ja, ich bin auch froh. Gibt es dafür eine kleine Belohnung, Vater?“ Lukas<br />

versuchte es erst einmal auf die seichte Tour.<br />

7


Sein Vater schaute kurz zu ihm rüber. „Sagen wir einen Euro für alles<br />

was unter 3,0 liegt, fünf Euro für alles, was mit einer 2 anfängt und 20<br />

Euro, falls es mit einer Eins beginnt.“<br />

Lukas war sauer. „Das ist doch keine Belohnung dafür, dass ich die Mittlere<br />

Reife geschafft habe“, argumentierte er.<br />

„Dass du die Mittlere Reife geschafft hast, ist ja wohl das Mindeste. Dafür<br />

gibt es keine Belohnung.“<br />

Lukas war sprachlos. Das hatte er nicht erwartet. Aber es kam noch<br />

schlimmer. „Kannst du mir wenigstens schon mal mein Taschengeld für<br />

nächste Woche geben? <strong>Die</strong> Clique will heute Abend ein bisschen zusammensitzen<br />

und feiern.“<br />

Lukas’ Vater kannte die Clique. Zwar nicht jeden Einzelnen davon, aber<br />

immerhin wusste er, dass es anständige junge Leute waren. Aber das<br />

schien ihm im Moment offensichtlich egal zu sein. „Du bekommst dein<br />

Taschengeld erst, wenn du mir einen Lehrvertrag zur Unterschrift vorlegst.<br />

Bewirb dich am besten als Schreiner, Maler oder Elektriker. Damit<br />

fängst du selbst dann etwas an, wenn sie dich nach der Lehrzeit nicht<br />

übernehmen. Versprichst du mir das?“<br />

„Aber Vater, ich kann doch nicht losrennen und bis Sonntag einen Lehrvertrag<br />

bekommen. Wie soll denn das gehen? Gib mir wenigstens ein<br />

paar Wochen Zeit.“ „Nix da. Versprich mir, dass du dich gleich nächste<br />

Woche um einen Lehrvertrag kümmern wirst. Ja?“<br />

Lukas sagte nichts, drehte sich um und ging in sein Zimmer. Das musste<br />

er erst einmal verdauen. Er schüttelte den Kopf. Das konnte doch wohl<br />

nicht wahr sein. Was war dem denn für eine Laus über die Leber gelaufen?<br />

Er setzte sich auf sein Bett und versuchte einen klaren Gedanken<br />

zu fassen, aber es gelang ihm nicht. Also beschloss er, zu Paul zu gehen<br />

und ihm beim Beladen der Lkws zu helfen. Dafür würde er zwar nichts<br />

bekommen, aber er war wenigsten beschäftigt und kam auf andere Gedanken.<br />

Er schnappte sich seine Jeansjacke und machte sich in Richtung<br />

Industriegebiet auf.<br />

Als er im Hof der Firma Hübner ankam, schaute Paul ihn fragend an.<br />

„Was ist? Langweilig?“<br />

„Genau“, antwortete Lukas.<br />

„Kann ich dir irgendwie helfen?“<br />

„Klar, immer. Hol’ die Kartons hinten im Lager und bring’ sie zum<br />

176er.“<br />

8


Lukas verstand. <strong>Die</strong> Lastwagen der Firma von Pauls Vater hatten alle die<br />

Buchstaben ‚CH‘ hinter dem Städtekennzeichen für ‚Christian Hübner‘<br />

und dahinter eine fortlaufende Nummer, die sich Pauls Vater beim Landratsamt<br />

hatte reservieren lassen. Also musste er nur nach dem Lkw suchen,<br />

der ein Kennzeichen hatte, das mit ‚176‘ endete. „Kannst aber nix<br />

dabei verdienen“, rief ihm Paul noch nach, als er in der Halle verschwand.<br />

„Ich krieg’ auch nix dafür. Also kann ich dir auch nix abgeben.“<br />

„Ist schon okay, Paul. Mir ist wirklich nur langweilig. Ich helfe dir gerne.“<br />

Als sie nach zwei Stunden mit Beladen fertig waren, kam Pauls Vater mit<br />

drei Flaschen Bier in der Hand und gab Paul und Lukas je eine davon.<br />

„Hab’ gesehen, dass du geholfen hast, Lukas. Hier eine kleine Erfrischung.“<br />

Sie setzten sich alle drei nebeneinander auf die Begrenzungsmauer,<br />

genossen ihr Bier und redeten übers Wetter und die Staugefahren<br />

auf der Autobahn.<br />

„Wir gehen heute Abend in die ‚Laugenbrezel‘, Papa“, sagte schließlich<br />

Paul zu seinem Vater, „und wollen ein bisschen feiern. Ich bin also heute<br />

Abend nicht da.“<br />

„Ja, verstehe. Das gehört dazu. Sauft nicht so viel und komm’ nicht so<br />

spät nach Hause. Und sei leise, damit deine Mutter nicht aufwacht.“<br />

„Geht klar, Papa.“<br />

„Warte, Paul, hier hast du einen Zehner. Und iss was zwischendurch. Am<br />

besten ein paar von Heiners berühmten Butterbrezeln.“<br />

„Ja, gute Idee, Papa. Mach’ ich.“<br />

Lukas schaute auf seine Uhr. Es war mittlerweile 18 Uhr. „Was machst<br />

du jetzt noch, Paul?“<br />

„Na, ich denke, wir werden wohl so langsam zum Abendessen gehen,<br />

was Papa?“<br />

„So ist es“, antwortete dieser, „aber lasst euch Zeit, wir essen ja erst um<br />

19 Uhr.“<br />

Paul und Lukas redeten noch eine Weile über dies und das. Paul interessierte<br />

sich hauptsächlich dafür, wie Lukas seine Chancen bei Emy sah.<br />

Lukas war nicht so ein Casanova wie Paul und kannte sich demnach auch<br />

nicht gut mit Mädchen aus. „Soweit ich weiß, hat Emy keinen festen<br />

Freund. Da musst du eben baggern“, fiel Lukas dazu ein. „Das kannst<br />

du doch viel besser als ich.“<br />

„Na ja, vielleicht schon, aber Emy geht überhaupt nicht auf mich ein.“<br />

„Ich finde Peggy ganz nett. Sie ist zwar ziemlich mollig, aber unheimlich<br />

nett. Ich war auch schon zwei Mal in der Disco mit ihr.“<br />

9


„Und was ist mit Ria?“<br />

„Ach, die ist doch viel zu hübsch. Bei der hab’ ich garantiert keine Chancen.“<br />

„Freddy steht auf Ria. Glaub’ mir, das hat er mir selbst erzählt.“<br />

„Aber Freddy geht doch hauptsächlich mit Tugce und Yasmina.“<br />

„Er steht eben auf dunkelhaarige Typen. Und bei den Türkinnen ohne<br />

Kopftuch kommst du als Deutscher meist an. <strong>Die</strong> sind scharf darauf,<br />

einen Deutschen zu bekommen.“<br />

„Meinst du? Ich weiß nicht.“<br />

„Doch, doch, probier’s mal. Quatsch einfach eine an.“<br />

„Hey Paul, spinnst du? Womöglich geht die dann darauf ein und was<br />

mach’ ich dann?“<br />

„Na, du kannst aber dämlich fragen! Schau’, dass du immer einen Präser<br />

dabei hast. Das ist die Hauptsache.“<br />

Lukas sah das absolut nicht so und dachte sich insgeheim, dass er mit<br />

Peggy zufrieden wäre. Außerdem hatte er kein Geld und von seinem Vater<br />

würde er jetzt wohl auch nichts mehr bekommen. Also musste er im<br />

Stadtanzeiger suchen, ob es irgendwo ein paar Euro zu verdienen gab.<br />

„Paul, kennst du jemanden, der ein paar Kröten für einen einfachen Job<br />

springen lassen würde?“<br />

„Hmm, lass mich mal überlegen. Frag’ doch im Supermarkt, ob sie jemanden<br />

brauchen können. Vielleicht im Getränkelager, da brauchen sie<br />

oft Leute zum Kisten stapeln. Oder schau’ einfach in der Zeitung unter<br />

‚Verschiedenes‘ nach, vielleicht findest du da was.“<br />

„Okay, mach ich. Aber wenn du was Konkretes hörst, sag’ mir Bescheid,<br />

ja?“<br />

„Klar doch. Kannst dich auf mich verlassen.“<br />

Kurz vor sieben trennten sie sich. Paul ging nach Hause und Lukas schon<br />

mal zur ‚Laugenbrezel‘. Er hatte Hunger und sein Kopf schwirrte. Draußen<br />

war es ihm zu kalt, also ging er hinein und setzte sich an die Theke.<br />

„Hallo Lukas.“<br />

„Hallo Heiner.“ Heiner war der Wirt der ‚Laugenbrezel‘. Er war Mitte<br />

vierzig und verheiratet. Seine Frau arbeitete beim Finanzamt und half am<br />

Wochenende manchmal im Bistro mit aus. Geöffnet hatte er jeden Tag<br />

von 12 bis 22 Uhr, außer montags, da war Ruhetag. Heiner kannte jeden<br />

einzelnen seiner Gäste beim Namen und natürlich auch die der Clique.<br />

Ihm war sehr viel daran gelegen, guten Kontakt mit seinen Gästen zu<br />

haben. Er wusste über jeden das Wichtigste und konnte sich so fast väter-<br />

10


lich mit ihnen unterhalten. Heiner betrieb sein Bistro schon seit vielen<br />

Jahren. Ursprünglich kam er von irgendwo aus Norddeutschland, aber<br />

von woher genau, sagte er nicht. Früher war er einmal Bäcker mit einer<br />

eigenen Backstube gewesen, aber da hatte er zu wenig soziale Kontakte,<br />

wie er es nannte. Deshalb hatte er seine Bäckerei aufgegeben, einen der<br />

Backöfen mitgenommen und sein Bistro aufgemacht. Jetzt backte er nebenbei<br />

noch Laugenbrezeln oder Baguette und machte daraus Sandwiches.<br />

Dazu belegte er sie mit allen möglichen Zutaten, wie Butter, Petersilie,<br />

Salat, Essiggurken, Leberkäse, Schwarzwälder Schinken, Eier oder<br />

Käse. Ganz, wie man es wollte. Wenn er wusste, dass jemand zum Essen<br />

kam, hatte er meist schon ein Backblech vorbereitet und schob es nur<br />

noch in den Ofen. Dann dauerte es circa 15 Minuten, bis es fertig war,<br />

und nur wenige Sekunden, bis Heiner es belegt hatte. Blieb mal gegen<br />

später etwas übrig, dann wurde es entweder eingefroren oder er verschenkte<br />

es an die weniger Begüterten. Aus Heiners Augen gehörte da<br />

Lukas auch dazu. Er wusste, dass Lukas Vater höchst selten kam, weil er<br />

nicht so viel verdiente und Lukas nur 20 Euro Taschengeld pro Woche<br />

bekam.<br />

„Wo hast du denn die anderen gelassen?“, fragte Heiner.<br />

„<strong>Die</strong> kommen erst um acht. Aber ich hab’ jetzt schon Hunger. Kannst<br />

du mir zwei belegte Brezeln machen?“<br />

„Geht klar. Was drauf?“<br />

„Käse und Ei.“<br />

„Was zu trinken dazu?“<br />

„Ja, zapf’ mir ein Bier.“<br />

Den Salat, die Gurken, die Petersilie und Zwiebeln bekam man automatisch<br />

dazu. Heiner wusste auch ganz genau, wenn einer seiner Gäste etwas<br />

nicht mochte, wie zum Beispiel Essiggurken oder Zwiebeln. Das<br />

brauchte man ihm gar nicht zu sagen. Er ließ es einfach weg. Alles wurde<br />

bei Heiner nach Wunsch gefertigt. Eine Speisekarte gab es nicht, nur eine<br />

Preistafel und die hing hinter der Theke an der Wand. Eine belegte Brezel<br />

kostete bei Heiner 2 Euro und ein belegtes Baguette 2,50 Euro. Eine<br />

Butterbrezel gab es dagegen schon für 1,20 Euro.<br />

„Und, was macht die Schule? Bist du fertig?“, fragte Heiner, während er<br />

das Bier zapfte.<br />

„Na klar, was denkst du denn?“<br />

11


„Hätte ja sein können, du wolltest dein Wissen noch etwas vertiefen und<br />

hättest um ein weiteres Jahr gebeten“, feixte er augenzwinkernd Lukas<br />

zu.<br />

„Um Gottes willen, nein. Bin froh, dass es vorbei ist.“<br />

„Und was hast du jetzt vor?“<br />

„Keine Ahnung, erst mal ausspannen. <strong>Die</strong> Clique will einen Ausflug machen.<br />

Wir wissen bloß noch nicht wohin. Das werden wir nachher besprechen.<br />

Aber zuerst wird gefeiert.“<br />

„Verstehe.“<br />

Und Heiner verstand das wirklich. Er konnte sich noch gut an die Zeit<br />

erinnern, als er mit der Schule fertig war. Da ging es ihm ähnlich.<br />

„So, dein Bier. <strong>Die</strong> Brezeln kommen gleich. Hatte schon ein Blech vorbereitet.<br />

Erzähl’ mal. Was gibt es Neues? Habt ihr alle bestanden?“ „Ja,<br />

die von der Clique schon. Nur die Viola Peters nicht. Aber das war klar.<br />

Sie ist heute auch gar nicht erst zur Schule gekommen.“<br />

„Ach so, deshalb habe ich sie heute Morgen beim Einkaufen gesehen.<br />

Hab’ mich schon gewundert. Na ja, dann eben nächstes Jahr. Davon geht<br />

die Welt nicht unter.“<br />

„So, deine Brezeln. Ohne Petersilie, wie immer.“<br />

Er biss in die erste Brezel, nahm einen Schluck Bier hinterher und genoss<br />

das Ganze. „Gut wie immer, Heiner.“<br />

Das freute den, weil er wusste, dass Lukas es ehrlich meinte.<br />

„Was hast du den ganzen Tag getrieben?“, wollte er wissen.<br />

„War bei Paul und hab’ geholfen, Kartons zu verladen.“<br />

„Und? Hast du was verdient dabei?“<br />

„Nö, leider nicht. Aber sein Alter hatte uns am Schluss ein Bier spendiert.<br />

Und das auf leeren Magen! Deshalb war ich jetzt auch scharf darauf, was<br />

zu essen zu kriegen.“<br />

„Klar, das ist verständlich. Warum hast du geholfen, wenn du nichts dafür<br />

kriegst?“<br />

„Mir war langweilig.“<br />

Damit verstummt ihre Unterhaltung für eine Weile, bis plötzlich die Türe<br />

aufging und Hotte reinkam.<br />

„Hallo Hotte! Schön dich zu sehen. Alles klar?“<br />

„Hallo Heiner. Ja, Mann, endlich geschafft! Zapf’ mir gleich mal ein Bier.<br />

– Hallo Lukas, schon lange hier?“<br />

„Nee, erst eine halbe Stunde. Hatte Hunger.“<br />

12


„Ist ja gleich acht, da werden die anderen auch bald kommen. Aber ich<br />

denke, die haben schon zu Abend gegessen. Da kannst du nicht viel verkaufen“,<br />

meinte Lukas, Heiner zugewandt.<br />

„Kein Problem. Im Laufe des Abends wird der eine oder die andere<br />

schon noch einen kleinen Happen brauchen. Da mach’ ich mir mal keine<br />

Sorgen.“<br />

Emy war die Nächste, die erschien. „Hi, Jungs. Hallo Heiner. Bin ich die<br />

erste?“ Gemeint war natürlich, dass sie die erste der drei Mädchen der<br />

Clique war. Aber das verstanden alle sofort. „Für mich eine Apfelsaftschorle,<br />

wie immer.“<br />

Heiner hatte nichts anderes erwartete und bereits ein Flasche Apfelsaft<br />

und eine Flasche Sprudel aus den Kästen unter der Theke hervorgeholt.<br />

„Ihr Selters mit Apfelgeschmack, gnädige Frau“, witzelte er und strahlte<br />

Emy an.<br />

„Ist ja schon gut, Heiner. Ich danke dir.“ Zu Lukas und Hotte gewandt<br />

sagte sie nur „Prost Gemeinde!“, und ließ sich ihre Apfelsaftschorle<br />

schmecken. Emy trank selten Alkohol und wenn, dann kein Bier. „Habe<br />

gehört, dass ihre alle bestanden habt – bis auf Viola. Das tut mir sehr leid<br />

für sie. Aber ich glaube, das war schon seit einiger Zeit klar. Oder?“<br />

„Ja“, meinte Hotte, „gegen Schluss zu hat sie nicht einmal mehr gelernt.“<br />

Gerade als Emy sich Lukas zuwenden wollte, ging die Türe auf und die<br />

beiden anderen Mädchen kamen herein.<br />

„Hallo, ihr Hübschen“, rief Heiner Peggy und Ilaria zu, „Spezi, wie immer?“<br />

„Klar doch Heiner, grüß’ dich“, antworteten beide wie aus einem Mund.<br />

„Wo sind Paul und Freddy?“, wollte Peggy wissen.<br />

„<strong>Die</strong> kommen schon noch“, sagte Hotte. „Stellen wir schon mal zwei<br />

Tische und die Stühle zusammen.“<br />

Das fanden alle gut und halfen Hotte dabei. Heiner stellte den Mädchen<br />

ihre Gläser auf den Tresen. „Zweimal Cola-Limo-Mix für die Damen.“<br />

<strong>Die</strong> beiden schnappten sich ihre Gläser und nahmen noch die beiden<br />

Biere für Hotte und Lukas mit. Dann setzten sie sich zu den anderen an<br />

den Tisch. Genau in dem Moment kamen die beiden fehlenden Jungs<br />

herein.<br />

„Da seid ihr ja. Kommt her, wir haben es uns schon gemütlich gemacht.“<br />

Paul und Freddy begrüßten erst Heiner und dann die Kameraden. „Ein<br />

Bier für mich, Heiner“, rief Freddy ihm zu und Paul schloss sich gleich<br />

an. „Für mich auch.“<br />

13


Heiner brachte es ihnen und dann ging die Fragerei los. „Was machst du<br />

jetzt, Paul?“<br />

„Na, ist doch klar. Ich gehe zu meinem Vater ins Geschäft und mache<br />

erst einmal den Führerschein. Dann werde ich Lkw-Fahrer und später<br />

übernehme ich das Geschäft.“<br />

„Da wirst du aber noch einiges über Betriebswirtschaft lernen müssen“,<br />

wandte Freddy ein. „So einfach geht das nicht.“<br />

„Doch, doch. Ich mach’s wie mein Vater und hole mir einen Buchhalter.<br />

Der kümmert sich dann um alles. Ich meine die Bilanzen und so. Und<br />

natürlich auch die Steuer.“<br />

Hotte nickte anerkennend: „Nicht schlecht. Du wirst bestimmt mal<br />

ziemlich reich.“<br />

„Was wirst du jetzt machen, Hotte?“, wollte Emy wissen. „Hast du schon<br />

eine Idee?“<br />

„Ja, ich geh’ auf den Bau und werde Maurer. Mein Alter hat schon bei<br />

der Firma Hagenmaier im Industriegebiet angefragt. <strong>Die</strong> würden mich<br />

nehmen.“<br />

„Hey, das ist gut. Und bei deiner Statur genau das Richtige.“<br />

Hotte war 1,88 m groß und sehr kräftig gebaut. Wenn er zupackte, hob<br />

er mühelos 50 kg hoch.<br />

„Und du, Emy?“, fragte Hotte zurück.<br />

„Hmm, ich weiß noch nicht so genau. Irgendwas mit Sport. Eigentlich<br />

will ich Trainerin werden. Vielleicht gehe ich aber auch zur Polizei.“<br />

„Waas?“, rief Paul erschrocken, „zu den Bullen? Warum denn das?“<br />

„Ach, beruhige dich“, wandte Freddy ein. „<strong>Die</strong> nehmen sie sowieso<br />

nicht. Emy ist viel zu klein dafür. Bei der Polizei und dem Zoll werden<br />

Mindestkörpergrößen verlangt. Bei den Männern liegt das – glaube ich –<br />

bei 1,65 m und bei den Frauen bei 1,60 m. Wie groß bist du, Emy?“ Emy<br />

wusste, dass sie nur 1,57 m groß war, sagte aber nichts.<br />

Paul schätzte: „Du bist nicht ganz 1,60 m, stimmt’s?“<br />

Emy nickte nur kurz und nippte an ihrer Apfelsaftschorle. Also kam das<br />

für sie nicht in Frage. Sie war ein bisschen geschockt. Das wusste sie<br />

nicht.<br />

Paul hatte natürlich gleich sein Handy in der Hand und schaute im Internet<br />

nach. „Hey, das gilt nur für Bayern. In Baden-Württemberg sind es<br />

für Männer und Frauen 1,60 m. „Aber Emy schafft das trotzdem nicht.“<br />

„Da musst du wohl auf die Streckbank“, witzelte Hotte, aber Emy<br />

konnte darüber nicht lachen.<br />

14


Heiner mischte sich ein: „Wenn du Sporttrainerin werden willst, kannst<br />

du dich doch auch auf einem Kreuzfahrtschiff als Fitnesstrainerin bewerben.<br />

Was hältst du davon?“<br />

Emy schaute ihn an und überlegte. „Eigentlich gar nicht so schlecht.<br />

Werde es mir überlegen.“<br />

„Wie groß seid ihr eigentlich?“, wollte Lukas an Ilaria und Peggy gewandt<br />

wissen.<br />

„Ich wäre mit meinen 1,63 m dabei“, meinte Ria.<br />

„Und ich bin 1,65 m groß“, sagte Peggy ganz stolz, „aber zur Polizei<br />

möchte ich nicht.“<br />

„Und du Ria, was machst du jetzt nach der Schule?“<br />

„Ich weiß noch nicht genau. Wahrscheinlich eine Friseurlehre. Später will<br />

ich dann eine eigene Boutique aufmachen. Während der Friseurlehre<br />

gehe ich abends an die Berufsakademie und mache meinen Betriebswirt.<br />

So kann ich später einmal meine Boutique geschäftsmäßig führen. Und<br />

ihr, Jungs, was habt ihr vor?“, wandte sich Ilaria an Freddy und Lukas.<br />

Als alle Freddy anschauten, druckste der verlegen herum. „Na ja, vielleicht<br />

Fliesenleger. Allerdings hab’ ich mich noch nicht weiter darum gekümmert.<br />

Mein Alter meint, er könnte ein gutes Wort für mich einlegen.<br />

Ich soll mich beim Fliesen-Kammerer erkundigen.“<br />

„Na, das ist doch ein ordentlicher Beruf. Da kannst du eine Menge Geld<br />

sparen, wenn du später mal deine eigene Wohnung fliesen kannst.“<br />

„Ja, ja, und am Wochenende für die Freunde schwarzarbeiten. Ich melde<br />

mich schon einmal dafür an“, lachte Paul. „Einen Fliesenleger als Freund<br />

zu haben, ist eine feine Sache.“<br />

„Und Hotte könnte die Mauern hochziehe. Da braucht man nur noch<br />

ein Grundstück.“<br />

Peggy war begeistert. „Und einen Innenausstatter.“<br />

Jetzt war Lukas dran. „Und du“, fragte Peggy, „was machst du?“ „Weiß<br />

nicht. Keine Ahnung. Erst mal entspannen.“<br />

„Aber irgendwas musst du doch anpeilen. Was würdest du denn am<br />

liebsten machen?“, bohrte Peggy weiter.<br />

„Na, ich sag’ doch, ich weiß es noch nicht. Wie steht es denn mit dir,<br />

Peggy?“, lenkte Lukas ab.<br />

„Mal sehen. Im Supermarkt oder beim Bäcker suchen sie noch Leute.<br />

Vielleicht Verkäuferin oder Kassiererin? Ist doch nichts Verkehrtes,<br />

oder?“ Sie sagte das, mit der ihr üblichen entwaffnenden Offenheit, so<br />

dass keiner lachte.<br />

15


„Aber das willst du doch nicht auf ewig machen, oder?“<br />

„Nein, natürlich nicht. Nur bis der Richtige vorbeikommt und mich heiratet.<br />

Dann werde ich Hausfrau und Mutter. Kochen kann ich schon<br />

ganz gut und beim Kindererziehen hilft mir meine Mutter. <strong>Die</strong> freut sich<br />

jetzt schon drauf, Oma zu werden.“<br />

Jetzt lachten doch alle und bewunderten Peggy für ihre Ehrlichkeit. Lukas<br />

würde sich da schon zur Verfügung stellen. Jedenfalls mochte er<br />

Peggy und ihre einfache Art gefiel ihm sehr gut. Aber dann müsste er das<br />

Geld verdienen und er wusste nicht wie. Vielleicht könnten sie nach<br />

Australien auswandern. Aber da würde Peggy bestimmt nicht mitkommen.<br />

Also vergessen wir es lieber, dachte er bei sich und hielt die Klappe.<br />

Alle prosteten sich zu und die Stimmung stieg. Biere, Apfelsaftschorle<br />

und Spezies wurden nachbestellt und plötzlich stand Heiner bei ihnen<br />

am Tisch. „He, Leute, ich habe ein bisschen gelauscht. Gefiel mir sehr<br />

gut, was ihr so plant. Deshalb gebe ich eine Runde Butterbrezeln aus.<br />

Wer ist dabei?“<br />

Alle waren begeistert, bedankten sich überschwänglich und dann kam<br />

man zum Thema Ausflug.<br />

<strong>Die</strong> Mädchen, angeführt von Emy, wollten alle nach Paris.<br />

Emy war schon einmal mit der 5. Klasse dort und wollte es gern wiedersehen.<br />

<strong>Die</strong>smal aber mit mehr eigener Bewegungsfreiheit. Damals lief<br />

alles – von der Lehrerin geführt – sehr rasch ab und wenn man etwas<br />

näher ansehen oder auch mal an die Seine runter wollte, hieß es gleich:<br />

„Halt, halt. Alle bleiben zusammen. Das ist viel zu gefährlich, hier alleine<br />

herumzulaufen.“ Aus Gründen der Freundschaft, aber auch, weil sie Paris<br />

faszinierte und sie noch nie dort waren, solidarisierten sich Peggy und<br />

Ilaria mit ihr.<br />

<strong>Die</strong> Jungs, angeführt von Freddy, wollten lieber an den Gardasee zum<br />

Zelten. Bei einer Abstimmung wäre Paul der Ausschlaggebende. Einerseits<br />

würde er Emy gerne einen Gefallen tun, um sich bei ihr einzuschmeicheln<br />

und für Paris stimmen, andererseits wäre er lieber nach Italien<br />

gegangen. In diesem Moment griff das Schicksal ein und Emys<br />

Handy klingelte. Ihr Bruder war dran. Sie stand auf und ging raus. Nach<br />

ein paar Minuten war sie zurück und sagte mit etwas betrübter Miene:<br />

„Ich muss meinen Bruder abholen. Der hat eine Panne mit seinem Wagen.<br />

Tut mir leid, Leute. Macht ohne mich weiter. Ihr könnt ruhig weiter<br />

diskutieren und entscheiden. Ich schließ’ mich in jedem Fall an.“ Das<br />

war typisch Emy, immer bescheiden und kompromissbereit.<br />

16


„Na gut“, sagte Paul, „dann wünschen wir dir noch eine Gute Nacht und<br />

pass auf dich auf.“<br />

„Bis morgen“, riefen die anderen ihr hinterher. Emy ging zu Heiner, bezahlte<br />

ihre Apfelsaftschorle, lächelte noch einmal verkrampft zu den anderen<br />

hinüber und verschwand.<br />

„Also, Mädels, wie ist das mit euch?“, wollte Freddy wissen, „wollt ihr<br />

immer noch nach Paris? Was macht euer Französisch? Meines ist ziemlich<br />

schlecht und das wisst ihr. Ich habe, ehrlich gesagt, keine Lust wegen<br />

jeder Kleinigkeit Emy zu fragen, wie das auf Französisch heißt. Oder darf<br />

es auch Italien sein? Zum Beispiel Zelten am Gardasee?“<br />

Ein lautes Stimmengewirr war die Antwort. „Das war unfair.“<br />

„Rede doch nicht so einen Unsinn. Was müssen wir denn in Paris Französisch<br />

reden? Emy macht das schon und die kann gut Französisch.“<br />

„Aber ich will nicht von ihr abhängig sein. Vielleicht will ich genau das,<br />

warum Emy wieder nach Paris will, nämlich meine eigenen Entscheidungen<br />

treffen. Mal im Künstlerviertel Montmartre stehen bleiben und den<br />

Malern zusehen und nicht hinter Emy, der Polizistin, hinterherrennen.“<br />

„Das ist gemein, Lukas. Du solltest dich schämen!“<br />

„Ist doch wahr. Und wo übernachten wir? Hä? Glaubt ihr, ich könnte<br />

mir ein Hotel leisten? Oder wollt ihr auf der Champs Élysées zelten? Ich<br />

hab’ nicht so viel Geld, das wisst ihr genau.“<br />

Lukas hatte ein Thema angesprochen, das auch für die Hotte und Freddy<br />

galt. Für Paul vielleicht nicht so sehr, aber auch der musste sich sein Geld<br />

bei seinem Vater erst einmal verdienen.<br />

„Wann wollen wir überhaupt starten?“, fragte Hotte. „Wie lange habe<br />

ich Zeit, Geld zusammenzukratzen? Das muss ich doch mit meinem<br />

Lehrbeginn koordinieren.“<br />

„Zelten wäre da viel billiger.“<br />

Wie es schien, war das Thema doch komplizierter, als man dachte.<br />

„Also, hört mal her Leute“, mischte sich plötzlich Heiner wieder ein. „Ihr<br />

solltet auf dem Teppich blieben und das machen, was sich alle leisten<br />

können. Es geht mich zwar nichts an, aber wenn ihr so weiter streitet,<br />

kriegt ihr bloß noch Krach miteinander. Das muss nicht sein. Deshalb<br />

schlage ich vor, dass ihr ganz demokratisch vorgeht und abstimmt. Was<br />

sind die Alternativen?“<br />

„Na, Paris oder Gardasee. Oder gibt es noch einen anderen Vorschlag?“<br />

Keiner meldete sich und Paul ergriff das Wort: „Dann wollen wir es so<br />

machen, wie Heiner sagt. Stimmen wir ab. Wer ist für Paris? Hand hoch.“<br />

17


Ria hob sofort beide Hände und sagte dazu „Ich stimme für Emy mit ab.<br />

Okay?“ Keiner hatte etwas einzuwenden. Peggy hob zögerlich ihre Hand<br />

und schaute etwas ängstlich in die Runde. Sie würde sich sicher jedem<br />

Vorschlag anpassen. Aber sie wollte Emy einen Gefallen tun. „Komm,<br />

Paul. Du auch“, animierte ihn Ria. „Aber dann gehen womöglich Lukas<br />

und Hotte nicht mit. Das darf nicht sein. Seid vernünftig. Es können sich<br />

eben nicht alle Paris leisten. Seid fair.“<br />

Peggy ließ ihre Hand wieder sinken und sagte ganz leise: „Wenn nicht<br />

alle mitgehen, macht es keinen Spaß.“<br />

„Seid ihr denn mit dem Gegenvorschlag einverstanden?“, meldete sich<br />

noch einmal Heiner. „Hand hoch, wer für den Gardasee ist.“<br />

Alle vier Jungs nahmen sofort den Arm hoch, auch Paul. <strong>Die</strong> beiden<br />

Mädchen schauten nur, sagten aber nichts. „Dann ist der Gardasee angenommen.<br />

Oder wollt ihr dann nicht mehr mit?“, fragte Heiner an die<br />

Mädchen gewandt.<br />

„Doch, klar. <strong>Die</strong> Mehrheit entscheidet.“<br />

Selbst Ria meinte „Ja, ist okay. Ich denke, so ist es für alle das Beste.“<br />

<strong>Die</strong> Sache war entschieden.<br />

„Bleibt noch die Frage, wann wir starten und für wie lange wir gehen.“<br />

„Ich denke, eine Woche wäre genug“, war Freddys Meinung.<br />

„Ja, einverstanden.“ Keiner hatte dagegen etwas einzuwenden. „Und<br />

wann starten wir?“<br />

Lukas gab zu bedenken, dass er bestimmt zwei bis drei Wochen brauchte,<br />

um genügend Geld durch Jobben zu sparen.<br />

„Gibt dir dein Vater denn kein Geld?“, fragte Peggy.<br />

„Nein, leider nicht einen Cent. Ich muss mir alles selbst verdienen. Und<br />

ihr wisst, dass das jetzt im Mai mit Gartenarbeit noch nicht so gut läuft.<br />

Aber ich denke, dass ich es bis in drei Wochen schaffen werde.“<br />

„Gut“, sagte Ria, „in drei Wochen ist es vielleicht auch ein bisschen wärmer<br />

und wir können im Gardasee schon schwimmen gehen.“<br />

Alle holten ihr Handy raus, nur Lukas nicht. Der hatte nämlich keines.<br />

<strong>Die</strong> anderen trugen sich den Termin ein.<br />

„Wie machen wir es mit dem Fahren?“<br />

„Ich gehe davon aus, dass Emy mit ihrem Golf fährt und wir Mädels bei<br />

ihr mitfahren können.“<br />

„Ich kriege bestimmt einen Sprinter von meinem Vater. Allerdings müsstest<br />

du fahren, Hotte. Ginge das in Ordnung?“<br />

„Ja, klar. Mach’ ich.“<br />

18


„Aber wir können nur zu dritt mit dem Sprinter fahren, weil niemand auf<br />

der Ladefläche während der Fahrt sein darf. Dafür kriegen wir das ganze<br />

Gepäck bei uns unter. Meint ihr, ihr könntet noch einen von uns bei euch<br />

im Golf unterbringen?“<br />

„Ja, wenn ihr das Gepäck nehmt.“<br />

Plötzlich stand Emely wieder in der Tür. „Hallo Leute. Wie sieht es aus?<br />

Alles geklärt?“<br />

„Wo kommst du denn auf einmal wieder her? Das ist aber eine nette<br />

Überraschung. Wie schön!“ Das war natürlich Paul, der schon überlegt<br />

hatte, wie man es Emy beibringen sollte, dass man gegen Paris gestimmt<br />

hatte, ohne dass sie sauer wäre.<br />

„Wir haben für den Gardasee gestimmt, Emy, weil ich mir Paris nicht<br />

leisten kann“, sagte Lukas gerade heraus und alle hielten den Atem an,<br />

was Emy jetzt sagen würde. „Das habe ich schon erwartete. Ist nicht<br />

weiter schlimm. Dann fahren wir also an den Gardasee.“<br />

Paul war erleichtert. „Das ist wirklich toll, dass du nicht sauer bist. Wir<br />

waren gerade am überlegen, wie wir sieben Leute in zwei Fahrzeugen<br />

unterbringen können. Du kannst doch mit deinem Golf fahren, oder<br />

nicht?“<br />

„Aber ja. Kein Problem. Und wer fährt noch?“<br />

„Hotte mit einem Sprinter von Hübners. Allerdings passen da nur drei<br />

Leute rein. Folglich müsstest du noch drei bei dir mitnehmen, Emy.<br />

Ginge das?“<br />

„Sicher, warum nicht? Wenn ihr das Gepäck in den Sprinter tut, sehe ich<br />

da kein Problem.“<br />

„Wann geht es los?“<br />

„In drei Wochen, am Samstag in der Frühe. Als Abfahrtsort schlage ich<br />

den Fabrikhof bei uns vor“, meinte Paul.<br />

„Einverstanden. Sagen wir um 9 Uhr morgens. Okay?“, ergänzte Freddy.<br />

Emy trug sich alles in ihr Handy ein und bestellte sich bei Heiner ein<br />

Glas Sekt. Ria und Peggy schlossen sich an und dann stießen alle miteinander<br />

an. „Auf unseren Ausflug!“<br />

„Wie ist das mit den Zelten? Ich hab’ keines“, meldete sich Hotte noch<br />

einmal. „Wir haben ein riesiges Zelt für unsere Werbeveranstaltungen in<br />

der Firma. Ich bin sicher, dass mein Vater uns erlaubt, es zu benützen.<br />

Da kriegt man locker 10 Leute drin unter. Wäre das was?“<br />

„Hey super.“<br />

19


„Und wie ist das mit uns? Kann man das Innere unterteilen?“, wollte<br />

Ilaria wissen.<br />

„Das geht“, meinte Paul, „wir spannen einfach ein Seil in der Mitte quer<br />

von einer Seite auf die andere und hängen dann ein Betttuch oder zwei<br />

darüber. Das müsste allerdings eine von euch mitbringen.“<br />

„Das mach’ ich“, sagte Ilaria und alles schien geklärt.<br />

„Gut. Wir treffen uns morgen wieder und gehen alles noch einmal<br />

durch.“<br />

„Ja, gute Idee.“ Alle waren einverstanden.<br />

Es wurde merklich lauter, einige Biere kamen noch nach. Heiner drehte<br />

das Radio etwas lauter und rief: „Auf allgemeinen Wunsch einer einzelnen<br />

Person namens Ilaria, damit man die Musik besser hören kann.“ Alle<br />

sangen mit, soweit sie die Songs kannten. Nur Lukas war ziemlich ruhig.<br />

Er saß da und überlegte, was er alles anstellen könnte, um an Geld zu<br />

kommen. Bald umnebelten ihm aber die Bierchen seine Gedanken und<br />

er sang mit den anderen mit.<br />

<strong>Die</strong> Mädchen standen im Raum vor der Theke und bewegten sich im<br />

Rhythmus der Musik. Ein paar andere Gäste waren auch noch da und<br />

freuten sich über die gute Stimmung. Lukas versuchte sich ebenfalls im<br />

Tanzen, hatte aber Mühe, das Gleichgewicht zu halten und setzte sich<br />

wieder hin.<br />

Dann verabschiedeten sich die drei Mädchen mit Küsschen bei den<br />

Jungs und verschwanden. <strong>Die</strong> tranken zusammen noch weitere Bierchen<br />

und als es gegen Mitternacht ging, versuchte Heiner, zu kassieren. Alle<br />

bezahlten mit ihrem letzten Taschengeld, nur bei Lukas reichte es nicht.<br />

„Lass man, Junge. Ich schreib dir’s an. Zahl’ nächstes Mal.“ Damit schob<br />

er sie allesamt hinaus. Er war müde, aber auch froh, dass er der Clique<br />

bei ihren Entscheidungen helfen konnte. Sah doch jetzt eigentlich ganz<br />

gut aus, meinte er zu sich selbst, schloss das Bistro ab und fing an, aufzuräumen.<br />

20


Das Ereignis<br />

Lukas schwankte nach Hause und sah plötzlich Lichter vor sich. Er<br />

dachte, das wäre ein Auto und versuchte auf den Bürgersteig auszuweichen,<br />

stolperte aber über den Bordstein und fiel der Länge nach hin. <strong>Die</strong><br />

Lichter sah er immer noch. Sie waren bläulich-silbern. Er verstand nicht,<br />

was das sollte, da er doch auf dem Gehweg lag. Aber in seinem Rausch<br />

dachte er nicht weiter darüber nach.<br />

Was er nicht wusste und auch niemals begreifen würde, war, dass an dieser<br />

Stelle ein minimaler Riss zwischen zwei Universen durch Berührung<br />

in einer höheren Dimension entstanden war.<br />

Lukas griff nach den Lichtern, weil er dachte, das Auto sei stehen geblieben<br />

und wollte sich an der vermeintlichen Stoßstange hochziehen. Das<br />

gelang ihm jedoch nicht. Stattdessen hielt er etwas in den Händen, das<br />

sich bewegte, glibberig anfühlte und in einem bläulich-silbrigen Leuchten<br />

schwebte. Lukas kam es vor wie der Arm eines großen Tintenfisches. Er<br />

zog ihn zu sich heran und drückte ihn an seine Brust, um sich darauf zu<br />

stützen. Das verursachte für einen kurzen Moment ein leicht stechendes<br />

Gefühl, das aber gleich wieder verging.<br />

Tatsächlich hatte er damit eine Verbindung zum anderen Universum in<br />

sich aufgenommen und fixiert. Das bläulich-silbrige Flimmern war in seiner<br />

Brust verschwunden und von außen nicht mehr sichtbar. Er war verknüpft<br />

mit Orghmar, einem Lebewesen aus einem anderen Universum<br />

und dessen Energie. Wäre Lukas nicht betrunken gewesen, hätte das Ereignis<br />

vermutlich nie stattgefunden. Er wäre vor dem bläulich-silbrigen<br />

Licht sicher zurückgeschreckt und hätte es niemals gewagt, es zu berühren.<br />

Wahrscheinlich waren solche Überschneidungen der beiden benachbarten<br />

Universen schon öfter vorgekommen. Aber nie hatte es einer gewagt,<br />

hinüberzugreifen!<br />

Lukas lag immer noch auf dem Rücken. Über sich sah er eine Straßenlaterne.<br />

Völlig betrunken, wie er war, griff er nach dem Lampenteil ganz<br />

oben in vier Meter Höhe, hielt sich daran fest und zog sich hoch wie ein<br />

Käfer an einer Glockenblume. Plötzlich stand er wieder auf beiden Beinen.<br />

Er bedankte sich lallend bei der Laterne, zog den Schirm noch einmal<br />

ganz nah zu sich heran und küsste ihn. „Danke, mein Freund. Ich<br />

liebe dich.“<br />

21


Dann schwankte er in Richtung Wohnung und summte dabei den letzten<br />

Song aus dem Radio von Heiner vor sich hin. Nach einigen Versuchen<br />

gelang es ihm, die Haustüre aufzuschließen und die Treppe zum ersten<br />

Stock hinaufzuklettern. An der Wohnungstüre hatte er mehr Glück: Er<br />

traf auf Anhieb das Schloss und konnte die Türe öffnen. Dann torkelte<br />

er in sein Zimmer und warf sich, wie er war, aufs Bett, und schlief innerhalb<br />

weniger Sekunden ein.<br />

22


Der Tag danach<br />

Als er wieder zu sich kam, war es heller Tag. Sein Schädel dröhnte<br />

und er hatte einen ekelhaften Geschmack im Mund und im Rachenraum.<br />

In der Brust spürte er ein eigenartiges Ziehen, das aber nicht wehtat. Er<br />

zog sich aus, ging ins Bad, duschte erst einmal, putzte dann seine Zähne<br />

und ging unrasiert in die Küche. Sein Vater war nicht da. Er warf die<br />

Kaffeemaschine an, fand noch ein paar Bananen, die er aß, und trank<br />

einen Kaffee dazu. Langsam legte sich das Dröhnen in seinem Kopf, nur<br />

das leichte Ziehen in seiner Brust zwischen Hals und Schulter war noch<br />

da. Er wusste nicht, woher er es hatte, vermutete aber, dass er in seinem<br />

Rausch irgendwo dagegengelaufen war. Es war nicht schmerzhaft, aber<br />

auch nicht angenehm. Er konnte es nicht beschreiben. Wie er nach<br />

Hause gekommen war, wusste er nicht mehr genau. Er wusste nur noch,<br />

dass sich heute Abend alle wieder in der ‚Laugenbrezel‘ treffen wollten.<br />

Das Beste gegen einen Kater, sagte Hotte, wäre, mit dem weiterzumachen,<br />

mit dem man aufgehört hatte. Das wäre in diesem Fall erst mal ein<br />

Bier. Sein Vater würde sagen, frische Luft wäre das Beste. Und weil ihm<br />

nichts Besseres einfiel, beschloss er, genau das zu machen – obwohl es<br />

der Rat seines Vaters war.<br />

Er holte ein paar neue Klamotten aus dem Schrank, und warf die alten<br />

von gestern Abend, die nach Kneipe stanken, in den Wäschebehälter.<br />

Dabei fiel ihm auf, dass sein Pullover auf dem Rücken ganz schmutzig<br />

war. Er musste wohl irgendwo ‚rumgelegen‘ sein. Im Bistro war es nicht,<br />

das wusste er noch. Also musste es auf dem Heimweg passiert sein, aber<br />

so genau konnte er sich nicht erinnern. Irgendwas war mit einer Laterne<br />

und Lichtern. Mehr bekam er nicht mehr zusammen.<br />

Dann ging er hinaus.<br />

Es war mittlerweile kurz nach drei Uhr und weil es Samstag war, müsste<br />

sein Vater eigentlich zuhause sein. War er aber nicht. Merkwürdig, dachte<br />

Lukas, wo konnte er sein? <strong>Die</strong> frische Luft traf ihn wie ein Schlag. Er<br />

blieb erst einmal stehen, atmete ein paar Mal tief durch, bis ihm besser<br />

wurde und lehnte sich gegen die Hauswand.<br />

Gegenüber glotzte die alte Henriette aus dem Fenster, was sie den lieben<br />

langen Tag machte, und grüßte ihn freundlich, nicht ohne dabei zu zwinkern.<br />

Ihm war es egal, was sie dachte. Er brauchte jetzt erst einmal ein<br />

Bier. Er riss sich zusammen und ging den Weg hoch zur Hauptstraße.<br />

23


An der Ecke standen ein halbes Dutzend Leute aus der Nachbarschaft<br />

herum und diskutieren. Sein Vater war auch dabei. Aha, dachte Lukas,<br />

deshalb war er nicht daheim.<br />

„Und jetzt bleibt es wieder am Steuerzahler hängen. Sprich, wir zahlen<br />

das“, rief einer der Männer.<br />

„Ja, Riesensauerei!“, pflichtete ihm ein anderer bei, „Vandalismus, alles<br />

Idioten. Dem sollte man mal ordentlich eins in die Fresse geben, wenn<br />

man ihn kriegt.“<br />

Lukas ging zu seinem Vater und fragte ihn. „Was ist denn bei euch los?<br />

Wozu die große Versammlung?“<br />

Der unterbrach kurz die Diskussion mit seinem Nachbarn und antwortete:<br />

„Schau dir das mal an.“ Er zeigte auf eine Laterne, die ein Stück<br />

abseits neben den Leuten völlig verbogen dastand. „Irgend so ein Idiot<br />

ist gegen die Laterne geknallt und hat sie demoliert. Dann ist er abgehauen.“<br />

Jetzt schien das erwartete Donnerwetter zu kommen.<br />

„Wann bist du gestern heimgekommen? War da die Laterne schon kaputt?“<br />

Nanu, dachte Lukas, war es das schon? Da hatte er ja wohl Glück gehabt,<br />

dass dem Vater die Laterne wichtiger war als der Anschiss. Dass er keine<br />

Erinnerung hatte, wollte Lukas nicht zugeben. Also sagte er wie selbstverständlich:<br />

„Nein, als ich heimkam, war noch alles in Ordnung.“<br />

„Wann war das?“, fragte ihn sein Vater.<br />

„Na, so kurz nach Mitternacht.“ Lukas wusste das zwar nicht mehr, aber<br />

Heiner warf seine Gäste spätestens kurz nach Mitternacht hinaus, wenn<br />

er seine Ruhe wollte. Also musste es wohl um diese Zeit gewesen sein.<br />

„Hört mal her“, rief sein Vater in die Runde, „um Mitternacht war die<br />

Laterne noch ganz. Lukas ist da heimgekommen. Na, dann ist es ja klar,<br />

dass niemand was gehört und gesehen hat. War ja viel zu spät. Auf jedem<br />

Fall ist es eine Riesensauerei, die Laterne umzufahren und dann abzuhauen.“<br />

„Ja, ja“, stimmten alle sofort zu und dann ging die Diskussion weiter.<br />

Lukas schaute sich die Laterne genau an. <strong>Die</strong> war nur heruntergebogen<br />

und hatte überhaupt keine Schramme, dachte er bei sich. Sehr eigenartig.<br />

Ein Lastwagen konnte das nicht gewesen sein und ein Pkw schon gar<br />

nicht. Jemand musste ein Seil ganz oben am Lampenschirm befestigt und<br />

an die Anhängerkupplung gebunden haben. Dann ist er losgefahren und<br />

hatte die Laterne mit Gewalt runtergezogen. Anders konnte das nicht<br />

passiert sein. Aber wer machte etwas so Sinnloses und warum? Außer-<br />

24


dem stimmte auch das nicht. <strong>Die</strong> Laterne war nicht weg-, sondern heruntergezogen<br />

worden. Und sowas ging nicht, wenn man das mit einem<br />

Auto versuchte. Das war ihm zu hoch.<br />

„Wenn man den erwischt, ist er dran. Das war Fahrerflucht!“, meinte ein<br />

anderer.<br />

„Aber da ist ja nirgendwo eine Schramme“, hielt Lukas dagegen. „Wo<br />

soll der denn dagegen geknallt sein?“<br />

„Ach halt’ dich da raus“, meinte sein Vater, „und schau’, dass du dich<br />

um eine Lehrstelle bemühst.“<br />

Ging das wieder los, dachte Lukas. Um weiteren Diskussionen aus dem<br />

Weg zu gehen, beschloss Lukas, erst einmal zu verduften, und machte<br />

sich wortlos in Richtung ‚Laugenbrezel‘ auf. Er konnte sich nicht genau<br />

erinnern, meinte aber zu wissen, dass er bei Heiner noch seine Bierchen<br />

zahlen musste, denn er hatte ja kaum noch Geld in der Tasche, als sie<br />

sich dort getroffen hatten.<br />

<strong>Die</strong> Sache mit der Laterne war schon merkwürdig, wie sie da umgebogen<br />

herunterhing und doch nirgendwo eine Beschädigung aufwies.<br />

Egal, war nicht sein Problem.<br />

Er ging ins Bistro, begrüßte Heiner, und meinte „Ich bräuchte jetzt dringend<br />

ein Bier, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.“<br />

Heiner grinste ihn an: „He, he, Lukas, bevor ich dir das gebe, solltest du<br />

erst mal die Zeche von gestern zahlen. Meinst du nicht auch?“<br />

„Was schulde ich dir denn?“<br />

„21 Euro 45. Ihr habt ja übel zugeschlagen. Also wenigstens einen Zwanziger<br />

will ich sehen, bevor du wieder was kriegst.“<br />

Lukas suchte in seinen Taschen und fand ein paar Eurostücke und etwas<br />

Kleingeld. „Warte mal“, sagte er zum Wirt, „ich will mal mein Glück am<br />

Automaten versuchen. Vielleicht gewinne ich was.“<br />

„Lass das lieber, sonst bist du völlig pleite.“<br />

„Ach Chef, lass es mich wenigstens ein einziges Mal versuchen. Heute<br />

ist mein Glückstag.“<br />

„Ja von wegen, das sagen sie alle und dann ist alles futsch.“<br />

Lukas ging trotzdem zum Automaten und warf einen Euro ein. Es war<br />

noch ein alter Automat, bei dem alles mechanisch lief, nicht elektronisch.<br />

Heiner hatte ihn früher einmal auf dem Flohmarkt gekauft und bei sich<br />

an die Wand gehängt. <strong>Die</strong> Räder drehten sich und gerade, als Lukas die<br />

7 kommen sah, wünschte er sich, dass sie anhalten würde. Und genau<br />

das tat sie! Er wurde ganz aufgeregt vor Freude und versuchte, auch die<br />

25


zweite 7 anzuhalten – und tatsächlich, auch die blieb ruckartig stehen.<br />

Jetzt war er sicher, dass heute sein Glückstag war, und wartete, bis die<br />

dritte 7 sich herunterdrehte und hielt sie in Gedanken einfach an. Bingo!<br />

Es schepperte und schepperte und unten flogen nach und nach jede<br />

Menge Eurostücke raus.<br />

„Hab’ ich dir nicht gesagt, dass heute mein Glückstag ist?“, rief er lautstark<br />

Heiner zu. Der zog die Augenbrauen hoch und kam näher. „Lass’<br />

mal sehen, wieviel du gewonnen hast.“ Er schnappte sich das Geld und<br />

zählte es durch. „Das sind in der Tat 20 Euro“, meinte er. „<strong>Die</strong> kassiere<br />

ich gleich mal ein, bevor du sie wieder verspielst. Wie hast du das denn<br />

geschafft? Du hast ja den Automaten richtig hypnotisiert!“<br />

Da lachte Lukas vor Freude und sagte: „Gelernt ist halt gelernt.“<br />

Heiner schüttelte immer noch ungläubig seinen Kopf. „Na, du hast ja<br />

einen Dusel. Hör jetzt lieber auf, sonst strapazierst du dein Glück vielleicht<br />

ein bisschen zu viel.“<br />

„Ha, ha“, entgegnete Lukas, „du hast ja bloß Angst, dass ich dir deinen<br />

Automaten leere. Wie soll ich denn weitermachen, wenn du mir mein<br />

ganzes Geld wegnimmst?“<br />

„Wieviel genau hast du denn noch?“, fragte der Wirt.<br />

Lukas durchsuchte noch einmal alle Taschen, legte das ganze Kleingeld<br />

auf den Tresen und zählte es durch. „Sieht so aus, als wären es knapp<br />

über vier Euro.“<br />

„Na gut, mein Junge“, murmelte Heiner, „Ich zapf’ dir ein kleines Bier<br />

als Anerkennung für dein Glück. Das war schon unglaublich. So viel hat<br />

da schon lange niemand mehr rausgeholt. <strong>Die</strong> restlichen 1,45 Euro<br />

Schulden erlasse ich dir. Aber dann ist Schluss und sauf nicht mehr so<br />

viel.“<br />

„Geht klar. Das war gestern nur wegen unserem Schulabschluss.“<br />

„Wie hast du überhaupt bestanden?“<br />

„Mit 3,3.“<br />

„Na, das ist ja gar nicht so schlecht. Und was wirst du jetzt machen?“<br />

Fing der jetzt auch mit der dämlichen Fragerei an, dachte Lukas. „Erst<br />

mal ausspannen. Und dann fahren wir mit der Clique an den Gardasee.“<br />

„Und dann?“<br />

„Keine Ahnung, wird sich zeigen.“<br />

Er schaute auf die Uhr. Es war halb vier. Um acht wollte sich die Clique<br />

wieder treffen. <strong>Die</strong> Mädels waren jetzt garantiert im D9 und gingen hinterher<br />

sicher zum Abendessen heim. Also hatte er reichlich Zeit. Nach<br />

26


Stuttgart in die Innenstadt mit der U7 dauerte es 25 Minuten. Das machte<br />

für hin und zurück eine Stunde, also 16:30 Uhr. Dann hatte er noch mehr<br />

als drei Stunden Zeit. Da er noch seine Schülerkarte für die Öffentlichen<br />

hatte, lief er zur nächsten Haltestelle.<br />

Wenn Heiner ihn nicht mehr spielen ließ und er nur noch vier Euro hatte,<br />

musste er unbedingt nach Stuttgart und sein Glück dort versuchen. Er<br />

war total überzeugt davon, dass heute sein Glückstag war und das sollte<br />

er ausnützen. Wenn nicht, müsste er es noch einmal bei seinem Vater<br />

versuchen oder Paul anpumpen.<br />

Gesagt, getan. Am Hauptbahnhof stieg er aus, lief am Hotel Zeppelin<br />

vorbei die Straße hoch und ging auf die andere Straßenseite. Eigentlich<br />

war er ja erst 17, aber seinem Äußeren nach müsste er schon als 18 durchgehen.<br />

Er betrat absichtlich cool die Spielhalle und schaute ein bisschen<br />

herum. Der Typ am Tresen schaute zwar kurz zu ihm herüber, befasste<br />

sich aber gleich wieder mit seinem Handy.<br />

Gut, versuchen wir es, sagte Lukas zu sich selbst. Er ging zu einem Spielautomaten<br />

und warf ein Eurostück ein. In der Anzeige drehten sich die<br />

Symbole, aber es waren keine Walzen dahinter. Es lief alles elektronisch<br />

ab und ging ihm viel zu schnell. <strong>Die</strong> Räder blieben stehen und er schaute<br />

sich das Ergebnis an: nichts gewonnen. Er überlegte kurz und ging ein<br />

Stück weiter. Da sah er einen Spielautomaten, der dem von Heiner sehr<br />

ähnlich war. Es war ebenfalls ein älteres Exemplar, das mechanisch funktionierte.<br />

Er warf das zweite seiner letzten vier Eurostücke ein und beobachtete,<br />

wie sich die Räder drehten. Als er gerade die Trauben kommen<br />

sah – das Gerät hatte keine Zahlen, nur Früchte – war es zu spät. Das<br />

erste Rad blieb stehen und zeigte eine Zitrone an. Na prächtig, dachte<br />

Lukas, das fängt ja gut an. So ein Mist. Er drückte auf die Freigabetaste<br />

und konzentrierte sich auf die Trauben. Er schaffte es, die erste Walze<br />

bei einer Traube anzuhalten. Jetzt war er total konzentriert und blickte<br />

wie gebannt auf die Symbole. Er sah die Traube auf dem zweiten Rad<br />

kommen, und ‚hypnotisierte‘, wie Heiner gesagt hatte, den Automaten.<br />

Es klappte! Jetzt noch die dritte Traube. Aber er verpasste den richtigen<br />

Moment und bekam eine Banane. Sch…! Beim Drehen der Räder hatte<br />

er gesehen, dass es auch eine Glocke als Symbol gab. Vielleicht war die<br />

besser. Er warf sein vorletztes Eurostück ein und konzentrierte sich auf<br />

die Glocke. Da kam sie. Stopp! Hatte geklappt. Jetzt die Nächste. Upps,<br />

die kam aber schnell. Rasch stoppen. Ja, gerade noch. Und die Dritte.<br />

27


Ha, Wahnsinn! Es hatte funktioniert! Aber wo blieb das Geld? Verflixt,<br />

das gab fünf Freispiele, aber kein Geld. Damit hatte er nicht gerechnet.<br />

Jetzt befasste er sich erst einmal genauer mit dem Gewinnprinzip dieses<br />

Automaten. Er entdeckte, dass es auch Lorbeerblätter gab und man mit<br />

denen am meisten gewinnen konnte. Wie viel war ihm nicht klar. Er<br />

musste es eben ausprobieren. Er gab das erste Freispiel frei. Er war ganz<br />

aufgeregt, er lauerte, er drückte, er schwitzte. <strong>Die</strong> Räder drehten sich viel<br />

zu schnell. Knapp vorbei. Er versuchte es gleich noch einmal und im<br />

dritten Freispiel hatte er es geschafft: 3-mal Lorbeerblätter! Der Automat<br />

klingelte und zeigte einen Gewinn an, spuckte aber kein Geld aus. Donnerwetter<br />

noch mal, dachte Lukas. Was soll denn das?<br />

„Wieso kommt denn der Gewinn nicht heraus?“, rief er zum Aufpasser<br />

am Tresen hinüber.<br />

„Sie müssen die blaue Taste drücken, wenn Sie nicht mehr spielen wollten<br />

und der Gewinn ausbezahlt werden soll.“<br />

„Aha, vielen Dank.“<br />

Der Typ hatte ihn mit ‚Sie‘ angeredet. Das war ein gutes Zeichen. Der<br />

denkt sicher, dass ich schon 18 bin. Ermutigt drückte er sein viertes Freispiel<br />

ab. <strong>Die</strong>smal ließ er alles laufen und stoppte nicht ab. Er wollte den<br />

Aufpasser nicht misstrauisch machen. Beim fünften und letzten Freispiel<br />

schlenderte der Typ mit dem Handy langsam auf ihn zu. Das war nicht<br />

gut, dachte Lukas. Riskieren wir nichts und sind wir erst einmal mit dem<br />

einen Gewinn zufrieden. Er wartete, bis die Räder aufhörten, sich zu<br />

drehen. Es waren eine Glocke, eine Sieben und eine Traube – nichts gewonnen.<br />

Laut sagte er dann vor sich hin, sodass es der Aufpasser hören<br />

konnte: „Dann eben nicht! Schluss jetzt“, und drückte die blaue Taste.<br />

Es ratterte und schepperte ziemlich lange. Lukas fischte die Eurostücke<br />

aus der Schale unten und stopfte sie sich in die rechte Tasche. Dann ging<br />

er weiter zum nächsten Automaten, warf eine Münze von seinem Gewinn<br />

ein, ließ den Automaten laufen und schaute zu, wie er nichts gewann.<br />

Das reicht jetzt, dachte er und beschloss zu gehen. Der Typ war<br />

inzwischen wieder zum Tresen zurückgekehrt und Lukas verließ die<br />

Spielhalle.<br />

Er ging durch die Kronenstraße zur Königstraße hinüber und stellte fest,<br />

dass ihm die Eurostücke die Hose hinunterzogen. Vorsichtig holte er<br />

eine Handvoll aus der rechten Hosentasche und stopfte die Geldstücke<br />

in die linke. Ein Stück weiter sah er einen Kiosk und ließ sich ein Sandwich<br />

mit Schinken geben.<br />

28


„Macht 4,50 Euro“, sagte die Verkäuferin.<br />

Lukas fingerte fünf Eurostücke aus der rechten Tasche und gab sie ihr.<br />

„Stimmt so. Können Sie noch mehr Kleingeld gebrauchen?“<br />

<strong>Die</strong> Verkäuferin bejahte erfreut: „Aber immer, junger Mann. Nur her<br />

damit.“<br />

Lukas zählte ihr nach und nach zwanzig Stücke hin. „Hab’ ich gerade in<br />

der Spielhalle gewonnen“, sagte er halb entschuldigend, halb stolz und<br />

die Verkäuferin gab ihm lächelnd einen Zwanzig Euro Schein dafür.<br />

Lukas ging ein Stück weiter in den Schlossgarten, suchte sich eine ruhige<br />

Ecke und setzte sich auf eine Bank. Erst verzehrte er das belegte Brötchen,<br />

dann fing er an, sein Geld zu zählen. Alles in allem waren es mit<br />

dem Zwanziger unglaubliche 50 Euro! So viel, wie für das Fällen eines<br />

ganzen Baumes. Junge, Junge! Heute war wahrlich sein Glückstag. Er<br />

überlegte, wo er noch eine Spielhalle kannte. Oben am Wilhelmsbau war<br />

noch eine.<br />

Gerade, als er aufstand und weitergehen wollte, kam ein junger Mann auf<br />

ihn zu, der ihn schon die ganze Zeit beobachtet hatte. „Willst du was?“,<br />

fragte er Lukas. Der sah ihn nur erstaunt an und erwiderte: „Ich hab’<br />

nichts gesagt. Von was redest du?“<br />

„Tu’ nicht so. Brauchst du Stoff?“<br />

Jetzt begriff Lukas. Das war ein Dealer. Wie der auf die Idee kam, dass<br />

er Drogen bräuchte, war ihm rätselhaft. Sowas lag Lukas fern. Außerdem<br />

war der junge Mann ihm extrem unsympathisch. Ein richtig schmieriger<br />

Typ. Passte zu seinem Job. „Nein, vielen Dank“, sagte Lukas höflich und<br />

ging zur Königstraße zurück. Dort fand er noch einen anderen Imbissstand<br />

und tauschte weitere zwanzig Euromünzen in einen Schein um.<br />

Er kam zur Spielothek, ging hinein und lief erst einmal herum, um sich<br />

zu orientieren. <strong>Die</strong>smal würde er es vorsichtiger angehen lassen. Er spielte<br />

an verschiedenen Automaten mit wechselndem Glück. Meist gewann<br />

er nichts, dann wieder ein paar Freispiele. Plötzlich entdeckte er einen<br />

Automaten, der dem in der Lautenschlagerstraße ähnelte, an dem er so<br />

viel gewonnen hatte. Es war wieder ein mechanisches Gerät. Er wusste<br />

jetzt, was er machen musste und wie es ging. Also ließ er erst einmal die<br />

Räder laufen und beobachtete, wie die Lorbeerblätter kamen. Nanu,<br />

dachte Lukas, die Räder drehten sich ja schneller als bei dem Automaten<br />

vorhin. Aber die Symbole waren gleich. Er musste sich mächtig konzentrieren,<br />

um jeweils den richtigen Moment zum Abstoppen zu erwischen.<br />

29


Sein erster Versuch ging prompt daneben. Beim zweiten Versuch bekam<br />

er zwei Freispiele. Er drückte die Freigabetaste, stoppte die erste Walze<br />

präzise ab, dann die zweite und auch die dritte. Es klimperte und schepperte<br />

wie verrückt. <strong>Die</strong>ser Automat spuckte ja den Gewinn sofort aus,<br />

stellte Lukas erschrocken fest. Plötzlich stand ein Typ hinter ihm, dem<br />

er im Dunkeln nicht begegnen wollte.<br />

„Kann ich mal deinen Ausweis sehen?“, fragte er ganz ruhig.<br />

„Klar“, sagte Lukas und fummelte die Monatskarte für den VVS 1 aus<br />

seiner Tasche.<br />

„Nein, das nicht. Deinen Personalausweis.“<br />

Lukas wurde es etwas mulmig, aber er blieb cool. „Den hab’ ich nicht<br />

dabei“, sagte er und schob sich die erste Hand voll Münzen aus dem<br />

Ausgabeschlitz in die Tasche. „Ich bin aber 18, keine Sorge.“<br />

„Stopp! Lass’ das Geld liegen. Erst deinen Ausweis.“<br />

„Na, hören Sie mal“, erwiderte Lukas, „kaum gewinnt man mal etwas,<br />

schon gönnt man es einem nicht. Ich hab’ doch gesagt, dass ich 18 bin.<br />

Meinen Perso hab’ ich eben nicht dabei. Na und?“ Damit steckte er die<br />

zweite Handvoll Münzen ein.<br />

Da packte ihn der Typ am Arm und zog ihm die Hand aus der Tasche.<br />

Lukas ließ die Münzen in die Tasche rutschen und schrie laut: „Fassen<br />

Sie mich nicht an.“<br />

Alle drehten sich zu ihnen herüber. Der Dunkelhaarige mit dem Vollbart<br />

und seinen ca. 1,95 m ließ ihn los und sagte: „Du bleibst jetzt hier stehen.<br />

Ich hole die Polizei.“<br />

Lukas nickte. „Okay, wenn Sie meinen. Kein Problem.“<br />

Während der andere wegging, schob er sich rasch all die weiteren Eurostücke<br />

in die Tasche. So, wie er schätzt, waren es genauso viel wie beim<br />

ersten Mal, also wieder 50 Euro. Jedenfalls zog es ihm in gleichem Maße<br />

die Hose durch das Gewicht hinunter wie vorhin in der anderen Spielhalle.<br />

Deshalb verteilte er die Münzen gleichmäßig in beide Taschen.<br />

‚Was mach’ ich jetzt?‘, überlegte Lukas. ‚Heute ist mein Glückstag, also<br />

muss ich das ausnützen.‘ Er schaute zu dem Aufpasser hinüber, aber dieser<br />

ließ ihn nicht aus den Augen. Er hatte einen altmodischen Telefonhörer<br />

in der Hand und schien gerade eine Verbindung gewählt zu haben.<br />

Lukas wünschte sich, dass die Verbindung nicht klappte, fixierte den Telefonapparat<br />

und drückte in Gedanken – aus einer Entfernung von ca.<br />

1<br />

Verkehrsverbund Stuttgart<br />

30


15 Metern – auf die Gabel. Der Typ schaute auf einmal total irritiert den<br />

Hörer an und drückte selbst ein paar Mal auf die Gabel. Dann begann er<br />

erneut zu wählen.<br />

Lukas tat so, als würde er zu ihm hinübergehen, hatte aber längst den<br />

Ausgang im Blick. Wenn er doch wenigstens einmal woanders hinschauen<br />

würde, dachte Lukas. Zum Beispiel, wenn plötzlich der Telefonapparat<br />

hinunterfallen würde. Aber wie sollte das passieren?<br />

Er fixierte den Telefonapparat erneut und schob ihn in Gedanken an den<br />

Rand der Theke. Noch ein kleiner Schubs und – zack, fiel der tatsächlich<br />

runter. Als Yilmaz, wie der Aufpasser hieß, sich hinunterbeugte, um den<br />

Apparat wieder aufzuheben, rannte Lukas los. <strong>Die</strong> Leute schauten jetzt<br />

alle fasziniert dem Geschehen zu. Endlich war mal etwas los!<br />

Yilmaz kam wieder hinter dem Tresen hoch und sah, wie Lukas davonrannte.<br />

Er knallte den Telefonapparat auf die Theke und rannte ebenfalls<br />

los. Lukas bekam das noch aus den Augenwinkeln mit und konzentrierte<br />

sich auf dessen Beine. Er hoffte in Gedanken, dass der Typ über seine<br />

eigenen Beine stolpern würde. Was er nicht mehr mitbekam, war, dass<br />

Yilmaz der Länge nach hinknallte, mit der Faust auf den Boden schlug<br />

und laut ‚Lanet olsun!‘ schrie. <strong>Die</strong> Leute in der Spielhalle lachten und<br />

klatschten derweil vor Begeisterung, obwohl sie den türkischen Fluch<br />

nicht verstanden hatten. Aber sie konnten sich sehr gut vorstellen, was<br />

gemeint war!<br />

Inzwischen war Lukas aus der Spielhalle heraus. Er bog absichtlich nicht<br />

nach rechts in die belebte Königstraße ein – wie jeder es vermuten würde<br />

– sondern rannte in die entgegengesetzte Richtung. An den Treppen zur<br />

Altstadt bog er links ab, hinunter zum Rathaus.<br />

Yilmaz stand derweil fassungslos in der Königstraße, hüpfte dauernd<br />

hoch und spähte in die Menschenmenge vor ihm. Aber er konnte den<br />

kleinen Teufel nicht entdecken. Dann ging er stinksauer zurück in die<br />

Halle. Schließlich war nichts kaputt, überlegte er, der Telefonapparat war<br />

noch ganz und auch sonst gab es nichts, was er seinem Chef heute Abend<br />

zu beichten hätte. Oder? Wie sollte er auch erklären, dass er hingefallen<br />

war? Das wusste er selber nicht! <strong>Die</strong> Leute in der Spielhalle verstummten<br />

sofort, als er wieder hereinkam und für alle war die Angelegenheit scheinbar<br />

erledigt. Aber am Abend zuhause, beziehungsweise in der Kneipe,<br />

hatten sie etwas zum Erzählen und Lachen!<br />

31


Lukas schaute sich um. Er schien nicht verfolgt zu werden. Gut. Er mäßigte<br />

seine Schritte, ging zügig, aber ohne große Hast am Rathaus vorbei,<br />

über den Marktplatz und zum Charlottenplatz. Dort lief er in die U-<br />

Bahnstation hinunter und wartete, bis die U7 kam. Als sie einfuhr, war<br />

er sehr erleichtert, stieg ein und suchte sich einen Sitzplatz. Für heute<br />

hatte er genug Aufregung. Es reichte ihm jetzt. 100 Euro gewonnen!<br />

Wahnsinn!<br />

Unterwegs überlegte Lukas, dass die letzten Ereignisse – vor allem das<br />

mit dem Telefonapparat – nichts mit einem Glückstag zu tun haben<br />

konnten. Irgendwie hatte er sich die Dinge gewünscht und sie gingen in<br />

Erfüllung. Wie im Märchen. Merkwürdig. Er war sich absolut nicht im<br />

Klaren darüber, was er davon halten sollte. Und jedes Mal hatte er dabei<br />

dieses eigenartige leichte Ziehen in der Brust gehabt! Das musste etwas<br />

damit zu tun haben. Aber was? Er konnte sich das nicht erklären. Und –<br />

wenn er an den Automaten gespielt hatte, gewann er immer nur an den<br />

mechanischen Geräten, nie an den elektronischen. Was hatte das zu bedeuten?<br />

Als er in der ‚Laugenbrezel‘ ankam, war es kurz vor acht. „Machst du mir<br />

zwei belegte Laugenbrezeln, Heiner? Ich habe einen Mordshunger.“<br />

„Klar, doch. Wie ist es gelaufen? Bist du pleite?“<br />

Lukas überlegte, dass es besser war, wenn er zunächst niemandem etwas<br />

von seinen Erlebnissen erzählte. „Nein, nein, hab’ ein bisschen was gewonnen.<br />

Nicht viel. Jedenfalls kann ich mir die Laugenbrezeln wieder<br />

leisten. Keine Sorge – und bitte noch ein Bier dazu. Okay?“<br />

Heiner brachte ihm das Gewünschte und Lukas versank wieder in Grübelei.<br />

Wieso war der Telefonapparat runtergefallen? Er hatte ihn in Gedanken<br />

nach hinten geschoben und hatte mit eigenen Augen gesehen,<br />

dass er sich tatsächlich bewegt hatte. Dann hatte er ihn über den Tresen<br />

hinaus geschubst und er war runtergefallen. Niemand war auch nur in<br />

der Nähe gewesen, nur er hatte sich das gewünscht.<br />

Lukas saß an der Theke und starrte in die Vitrine mit den Gläsern an der<br />

Wand vor ihm. Er fixierte das vorderste Bierglas und schob es in Gedanken<br />

ein Stück nach hinten, genauso wie er es in der Spielhalle mit dem<br />

Telefonapparat getan hatte. Wieder spürte er ein ganz leichtes Kribbeln<br />

in der Brust. Aber es war eher ein Kitzeln, kein Schmerz. Da! Das Glas<br />

hatte sich bewegt! Oder hatte er es sich eingebildet?<br />

Er schaute sich im Lokal um. Heiner bediente zwei ältere Herrschaften<br />

am anderen Ende der Theke. Keiner schaute zu ihm herüber. Also ver-<br />

32


suchte er es noch einmal. Und tatsächlich: Das Bierglas hatte sich bewegt!<br />

Unglaublich! Er war diesmal ganz sicher, dass es keine optische Täuschung<br />

war. Er hatte es getan! Das würde ja bedeuten, dass er telekinetische<br />

Kräfte hatte! Er war ein Mutant, ein X-Man!<br />

Blödsinn, so etwas gab es überhaupt nicht. Das war nur eine Erfindung<br />

der Comic-Schreiber. Dazu war bestimmt ein Gen-Defekt notwendig<br />

und der kam nicht über Nacht, dachte Lukas. Hatte das Ganze etwas mit<br />

seinem Filmriss letzte Nacht zu tun? Was war da geschehen? Er konnte<br />

sich beim besten Willen an nichts erinnern. Er konzentrierte sich lieber<br />

auf seine Brezeln, die sein Abendessen darstellten und genoss sie.<br />

<strong>Die</strong> Tür ging auf. Hotte und Paul kamen zusammen herein. „Hallo Lukas.<br />

Schon da? Alles klar?“<br />

„Ja, Leute. Und bei euch?“<br />

Alle drei suchten sich einen Tisch in der Ecke des Bistros. „Bringst du<br />

uns mal zwei Biere, Heiner?“<br />

„Hast du mit deinem Vater geredet, wegen dem Sprinter, Paul?“, wollte<br />

Lukas wissen.<br />

„Ja. Geht in Ordnung. Hotte wird fahren.“<br />

„Und wo genau werden wir hingehen? Wisst ihr das schon?“<br />

„Nun, es ist so: Da gibt es einen tollen Zeltplatz am Ostufer des Gardasees.<br />

Er hieß ‚La Quercia‘. Wir waren mal mit der ganzen Familie dort.<br />

Sehr sauber und ordentlich. Aber auch nicht ganz billig. Und dann gibt<br />

es noch einen anderen Zeltplatz, unten am Südufer bei Sirmione. Der ist<br />

nicht so teuer. Wir müssen uns halt vorher entscheiden, wo wir hinwollen,<br />

weil es zwei verschiedene Fahrtrouten wären. Eine über Riva und an<br />

der Steilküste im Westen am See entlang, eine landschaftlich sehr hübsche<br />

Strecke, oder die andere, gemächlichere Strecke auf der anderen<br />

Seite.“<br />

„Also ich bin für den preisgünstigeren Zeltplatz“, meldete sich Lukas<br />

sofort.<br />

„Hab’ ich mir schon gedacht“, grinste Paul. „Hotte und ich haben auch<br />

schon mal darüber gesprochen. Er dachte genauso. Ich wusste, ihr habt<br />

nicht so viel Taschengeld zur Verfügung. Von mir aus ist das kein Problem.<br />

Wir müssen nur noch mit den anderen reden.“<br />

„Ja, sicher.“<br />

„Also, die Allgemeinkosten, wie Sprit, Zeltplatz und Mautgebühren kann<br />

ich für alle im Voraus bezahlen. Am Schluss wird alles zusammengerech-<br />

33


net und durch sieben geteilt. Ihr gebt mir dann euren Teil, wenn wir wieder<br />

zuhause sind. Einverstanden?“<br />

„Das ist eine gute Idee. So machen wir es. Wir müssen aber die anderen<br />

noch fragen, ob sie damit einverstanden sind.“<br />

Genau in diesem Moment ging die Türe auf und Freddy kam mit den<br />

drei Mädels herein.<br />

„Hallo ihr Lieben“, rief Ilaria quer durch den Raum, „Habt ihr noch Platz<br />

für uns?“<br />

Rasch wurde noch ein Tisch dazugestellt und nachdem sich alle umarmt<br />

hatten, erläuterte Paul noch einmal seine Alternativen. Eigentlich wären<br />

Emy und Ria für ‚La Quercia‘ gewesen, aber da auch Peggy nicht so viel<br />

Geld zur Verfügung hatte, einigte man sich auf Sirmione.<br />

„Gut“, meinte Paul, „dann ist ja alles klar. Wir nehmen die Steilküste am<br />

Westufer. Ihr werdet begeistert sein.“<br />

„Wieviel sollten wir ungefähr an Barem dabeihaben?“<br />

Das war für Lukas wichtig. „Keine Ahnung, aber alles in allem wirst du<br />

vielleicht auf 200 Euro kommen“, vermutete Paul.<br />

Lukas wusste noch nicht, wie er die fehlenden 100 Euro beschaffen<br />

sollte, wenn sein Vater ihm nichts mehr gab. Aber vielleicht konnte er<br />

seine neuen Fähigkeiten dafür einsetzen. Er hatte zwar noch absolut<br />

keine Ahnung wie, aber es waren ja noch drei Wochen Zeit.<br />

Man redete noch eine ganze Weile über belanglose Themen. <strong>Die</strong> Zeit<br />

verging wie im Flug und plötzlich war es elf Uhr. Heiner kam an den<br />

Tisch und meinte „Seid mir nicht böse Leute, aber gestern war es sehr<br />

spät und ich möchte heute etwas früher ins Bett. Okay? Dann rechnen<br />

wir mal ab. Musst du wieder anschreiben, Lukas?“<br />

„Nein, nein“, beeilte der sich, zu sagen. „Ich zahle bar.“<br />

Alle grinsten ein wenig, aber keiner dachte sich etwas dabei, als Lukas<br />

einen zwanzig Euroschein aus der Tasche zog. Jeder nahm an, dass das<br />

sein Taschengeld war.<br />

Dann verabschiedeten sie sich voneinander, wobei Freddy, Peggy und<br />

Ria fast denselben Weg hatten. <strong>Die</strong> drei gingen zusammen. Lukas, Hotte,<br />

Emy und Paul verkrümelten sich in verschiedene Richtungen.<br />

Als Lukas an der Laterne vorbeikam, blieb er stehen und betrachtete sie<br />

lange. „Du schaust schon recht traurig aus. Irgendwie mag ich dich. Lass<br />

doch dein Köpfchen nicht so hängen.“<br />

Ihm dämmerte etwas, aber er konnte sich nicht wirklich erinnern.<br />

34


„Warte, ich helfe dir.“ Er fuhr in Gedanken den Laternenmast entlang<br />

und drückte dabei fest zu. Das verursachte ein gewisses Ziehen in der<br />

Brust. Tat aber nicht weh. <strong>Die</strong> Laterne bog sich nach oben und Lukas<br />

staunte. „Ich kann das wirklich. Dann hab’ ich dich letzte Nacht vermutlich<br />

auch verbogen. Das tut mir sehr leid. Ich mach’ es wieder gut. Siehst<br />

du, jetzt bist du wieder hübsch. So ist das schön.“<br />

Er staunte jetzt kaum noch, war eher ängstlich, weil er nicht wusste,<br />

wieso er das alles konnte. Er tätschelte noch einmal den Laternenschirm<br />

hoch oben, verbog ihn dabei, schaute sich kurz um – keiner da – und<br />

rückte ihn wieder zurecht. Dabei bemerkte er, dass, je größer die Anstrengung,<br />

desto größer das Ziehen in seiner Brust wurde. Da gab es einen<br />

Zusammenhang.<br />

Dann ging er heim und legte sich ins Bett.<br />

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