faktor Winter 2019
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15. Jahrgang <strong>Winter</strong> <strong>2019</strong> 8 Euro<br />
› MEHR ALS EIN MAGAZIN<br />
› DAS ENTSCHEIDER-MAGAZIN FÜR DIE REGION GÖTTINGEN<br />
erfolgsgeschichte Für Christian Jankowski liegt die wahre Kunst im täglichen Leben 138
Wir verwalten Ihren Verein<br />
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Vereine leisten einen essentiellen Beitrag zum Wohle unserer Gesellschaft. Sie zu führen<br />
ist eine erfüllende Aufgabe – und manchmal eine echte Herausforderung. Denn<br />
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editorial<br />
Das Beste für´s Büro<br />
FOTO COVER: ALCIRO THEODORO DA SILVA / FOTO EDITORIAL: LUKA GORJUP<br />
Tiiieeef durchatmen ... und dann dauerhaft entspannt durchs<br />
Leben gehen – wie klingt das für Sie? In meinen Ohren wundervoll.<br />
Wie das gelingt? Kann ich Ihnen nicht sagen. Was ich aber weiß: dass es<br />
ganz sicher verschiedene Wege dahin gibt. Ich selbst habe erst kürzlich an<br />
einem Achtsamkeits- Seminar teilgenommen (siehe Seite 17) und festgestellt,<br />
wie sehr mich dieses Thema bewegt. Sicher, aus mir ist kein kleiner Buddha<br />
geworden. Doch in der Zeit mit Meditation, Atemübungen, Journaling und<br />
Co. habe ich vieles gelernt. Ich gehe achtsamer durchs Leben, bin öfter im<br />
Hier und Jetzt und kann mich bewusster auf die spannenden Menschen<br />
mir gegenüber konzentrieren – dabei finde ich Ruhe.<br />
So nehme ich heute aus meinen Begegnungen noch mehr mit als zuvor –<br />
wie beispielsweise aus dem Treffen mit Hotelier und Kaufhaus-Inhaber<br />
Ralf Schwager in meiner alten Heimat Holzminden. Der 78-Jährige sprüht<br />
vor Elan und ansteckender Lebensfreude, auch wenn er häufig mit starkem<br />
Gegenwind zu kämpfen hat. Seine Arbeit und der Wunsch, sich für seine<br />
Stadt zu engagieren, treiben ihn so an, dass er auch die nächsten zehn Jahre<br />
bereits fest verplant hat. Mehr dazu ab Seite 80.<br />
Auch der Besuch bei Performance-Künstler Christian Jankowski in<br />
Berlin ist mir bewusst im Gedächtnis geblieben. Seine Art, mit dem Leben<br />
umzu gehen und die Kunst im Alltäglichen zu sehen, haben meine Sichtweise,<br />
auch auf humorvolle Art, nachhaltig geprägt – zum Beispiel beim schnöden<br />
Einkauf im Supermarkt. Erfahren Sie mehr ab Seite 138.<br />
Versuchen Sie’s doch auch einmal: einen Moment innehalten, nur zwei<br />
Minuten. Tief ein- und ausatmen und sich dabei einfach nur diese eine Frage<br />
stellen: Was ist jetzt gerade wirklich wichtig? Sie werden überrascht sein.<br />
Ich wünsche Ihnen dabei viel Freude sowie eine entspannte <strong>Winter</strong>zeit –<br />
und nun viel Vergnügen beim Lesen dieser Ausgabe!<br />
Ihre Elena Schrader<br />
Chefredakteurin<br />
schrader@<strong>faktor</strong>-magazin.de<br />
ES WIRD LICHT<br />
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Leuchten in unserer<br />
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4 |<strong>2019</strong> 3
inhalt<br />
service<br />
3 Editorial<br />
6 Momentaufnahmen<br />
12 33. <strong>faktor</strong>-Business-Lounge<br />
14 Aktuelles<br />
45 Top-Entscheider der Region<br />
153 Impressum<br />
mensch<br />
unternehmen<br />
18 Harzer Hexenküche<br />
KKT – das ,Silicon Valley‘<br />
Südniedersachsens<br />
32 Der Weihnachtsbaum-Mann<br />
Markus Billen sorgt für<br />
stimmungsvolle Momente<br />
38 Lösungen, die verändern<br />
Der Innovationspreis <strong>2019</strong><br />
42 Schlüssel zum Erfolg<br />
Arineo lebt das Prinzip der<br />
kollegialen Führung<br />
wissen<br />
52 Ethik statt Egoismus<br />
So gelingt der Wertewandel in<br />
unserer Gesellschaft<br />
58 Big in der Bio-Branche<br />
Die ,Fair-Bio-Genossenschaft‘<br />
setzt auf regionale Strukturen<br />
62 Stadt der Quartiere<br />
EBR-Projektentwickler arbeiten<br />
am Göttingen von Morgen<br />
68 Da liegt was in der Luft<br />
Im Fokus: Wirtschaftsregion<br />
Holzminden<br />
74 „Vom ländlichen Idyll wird<br />
niemand satt!“<br />
Zwei Holzmindener im Interview<br />
4 4 |<strong>2019</strong><br />
80 Weltbürger von der Weser<br />
Hotelier und Kaufhaus-Inhaber<br />
Ralf Schwager engagiert sich für<br />
seine Stadt<br />
92 Der Routinier<br />
Wolfgang Brück – wer ist der Neue<br />
an der Spitze der UMG?<br />
96 Mit Licht zum Hören<br />
Tobias Moser lässt die Fachwelt<br />
und Patienten aufhorchen<br />
leben<br />
104 Einladung zur Auszeit<br />
Reise durch eine lebendige<br />
Klosterlandschaft in der Region<br />
120 Geistliches Leben meets<br />
Wirtschaft<br />
Eine ungewöhnliche Auszeit im<br />
Kloster Bursfelde<br />
124 Na, dann zeigen Sie mal!<br />
Filmstar Göttingen will wieder<br />
eine Hauptrolle spielen<br />
130 Unter Strom<br />
Elektromobilität<br />
auf der Überholspur<br />
138 The Travelling Artist<br />
Christian Jankowski –<br />
seine Kunst, sein Leben<br />
154 Wissensbissen<br />
New Work – Folge 2: VUCA<br />
gezeichnet von Tanja Wehr<br />
58 Faire Bio-Branche<br />
Auf dem Vormarsch. Vorreiter<br />
Hermann Heldberg, Geschäftsführer<br />
von Naturkost Elkershausen, über die<br />
Frage, wann Bio wirklich Bio ist.<br />
80 Streitbarer Weltbürger<br />
Der Macher. Der Hotelier und<br />
Inhaber von mehreren Kaufhäusern<br />
Ralf Schwager bestimmt wie kein<br />
Zweiter die Geschicke in Holzminden<br />
– und der 78-Jährige denkt noch lange<br />
nicht an Ruhestand.
138 Zu Besuch bei Christian Jankowski in Berlin<br />
„Ich hoffe, dass die Menschen auf lange Sicht hin<br />
wahrnehmen, dass Humor in meiner Arbeit nicht<br />
das Ziel, sondern eine Begleiterscheinung ist.“<br />
18 Erfolgsrezepte aus der Hexenküche<br />
International auf Kurs. Bei KKT Frölich<br />
im beschaulichen Straßendorf Osterode-<br />
Lerbach werden Silikone und Gummi<br />
produziert, die weltweit Leben retten.<br />
FOTOS: ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
104 Einkehr und weltliche Moderne<br />
Auszeit im Kloster. <strong>faktor</strong> geht auf eine Reise durch die lebendige<br />
Klosterlandschaft unserer Region.<br />
4 |<strong>2019</strong> 5
momentaufnahmen<br />
Momentaufnahmen<br />
<strong>faktor</strong> lässt besondere Ereignisse in der Region mit ausgewählten Impressionen Revue passieren.<br />
FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
Zwei Welten prallen aufeinander<br />
,Pianist der Trümmer‘ – so lernte die Welt Musiker Aeham Ahmad kennen. Aufgewachsen als palästinensischer<br />
Geflüchteter im Lager Jarmuk in Damaskus, berührte er mitten im Syrien-Krieg die Menschen mit seinem Spiel am<br />
Klavier und seinem Gesang – während die Stadt um ihn herum in Trümmern versank. 2015 floh Ahmad nach<br />
Deutschland, wo er bereits mit zahlreichen Konzerten sein Publikum begeisterte.<br />
So auch beim 42. Göttinger Jazz-Festival Anfang November. Hier traf der 31-Jährige im Deutschen Theater auf den<br />
Komponisten und Pianisten Edgar Knecht aus Kassel, der durch die Synthese aus Jazz, Weltmusik und der Klarheit<br />
alter Volkslieder alten Melodien neue Strahlkraft verschafft. Im Zusammenspiel mit Ahmad verbanden sich Jazz,<br />
Latin und arabische Rhythmen zu neuen emotionalen und klangvollen Kompositionen.<br />
6 4 |<strong>2019</strong>
momentaufnahmen<br />
4 |<strong>2019</strong> 7
momentaufnahmen<br />
Mit Elan durch den Modder<br />
Der Great Barrier Run feierte in Göttingen in diesem Jahr ein kleines Jubiläum:<br />
Bereits zum fünften Mal machten sich Mitte September über 3.000 Teilnehmer daran,<br />
den Hindernislauf auf dem Gelände des Hochschulsports zu überwinden – Matschkur inklusive.<br />
Neben der sportlichen Herausforderung stand auch dieses Mal wieder Teamwork ganz klar im<br />
Fokus – denn allein ist man beim Great Barrier Run verloren. Und so zogen sich die<br />
hoch motivierten Kämpfer erneut gegenseitig aus dem Schlamm und hievten<br />
ihre Mitläufer tapfer die zahlreichen Hindernisse hinauf. Der Muskelkater<br />
am nächsten Tag wurde dabei gern in Kauf genommen.<br />
8 4 |<strong>2019</strong>
momentaufnahmen<br />
4 |<strong>2019</strong> 9
momentaufnahmen<br />
10 4 |<strong>2019</strong>
momentaufnahmen<br />
Doppelte Dröhnung<br />
11 Tage, 80 Veranstaltungen und 37 Spielstätten – das war der 28. Göttinger Literaturherbst im Oktober.<br />
Gleich zweimal durfte Schauspieler Ulrich Tukur (Foto) ran: Nachdem seine erste Veranstaltung im Deutschen<br />
Theater in Windeseile ausverkauft war, schaffte es Sartorius als Hauptsponsor, noch eine zweite Veranstaltung im<br />
Sartorius Forum zu organisieren. Tukur las aus seinem neuen Roman ,Der Ursprung der Welt‘, in dem sich der<br />
Protagonist auf der Suche nach seinem zweiten Ich auf eine Reise durch die Zeit begibt.<br />
Aber auch sonst war der Literaturherbst wieder einmal gut besucht: Mit über 19.400 Zuschauern blieb die Zahl<br />
auf dem Rekordniveau des Vorjahres. Das facettenreiche Angebot setzte unter anderem einen deutlichen Akzent auf<br />
hochaktuelle politische Themen wie Demokratie und Toleranz, die aus sehr unterschiedlichen Perspektiven<br />
beleuchtet wurden. Neben Tukur zählten unter anderem Joachim Gauck, die Göttinger Klimaschutzaktivistin<br />
Luisa Neubauer, Nobelpreisträgerin Herta Müller und die verschobene Lesung mit Ex-Minister<br />
Thomas de Maizière zu den diesjährigen Höhepunkten.<br />
4 |<strong>2019</strong> 11
aktuelles<br />
Aufstehen, Krönchen richten –<br />
reicht nicht!<br />
„Es gibt Momente, da bleibt die Zeit einfach stehen.“ So beschreibt Marc Wallert auf der 33. <strong>faktor</strong>-<br />
Business- Lounge – in Kooperation mit dem Volkswagen Zentrum Göttingen – den wohl einschneidendsten<br />
Augenblick in seinem Leben. Es war jener Ostersonntag vor rund 20 Jahren, als er zusammen mit<br />
seinen Eltern nach einem Tauchgang am Traumstrand in Malaysia saß und plötzlich in den Lauf einer<br />
Bazooka blickte. Jener Tag, an dem seine 140 Tage als Geisel in Gefangenschaft begannen.<br />
TEXT ELENA SCHRADER FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
12 4 |<strong>2019</strong>
aktuelles<br />
Bleibende Eindrücke Nach der Begrüßung durch den Hausherrn Horst Schöberl vom Volkswagen Zentrum Göttingen (Mitte)<br />
lauschten die rund 80 Gäste gebannt Marc Wallert (links) und seinen bewegenden Erlebnissen in Gefangenschaft.<br />
Wie selten zuvor beeindruckt der Referent<br />
des Abends die Gäste der 33.<br />
<strong>faktor</strong>- Business-Lounge am 26. November<br />
<strong>2019</strong> mit seiner persönlichen<br />
Geschichte – unterhaltsam und schonungslos.<br />
Sein Thema: ,Stark durch Krisen.‘ Und wenn<br />
jemand weiß, wovon er spricht, dann Marc Wallert. „Die<br />
erste Reaktion in so einer Situa tion ist ganz typisch: hätte,<br />
könnte, wäre – warum ich? So erging es auch mir zunächst“,<br />
erzählt der 46- Jährige über den Moment der<br />
Entführung. „Die Gedanken kreisen und malen sich das<br />
Schlimmste aus.“ Doch Tatsachen sind nicht zu ändern.<br />
„Dieser Mechanismus schmälert nur die Energie, die man<br />
braucht, um mit den Fakten umzu gehen. Das erste Lösungswort<br />
lautet daher: Akzeptanz.“<br />
WALLERT BESCHREIBT DIE ENTFÜHRUNG heute für<br />
sich als Wink des Schicksals, steckte er doch bereits vor<br />
dem als entspannende Auszeit geplanten Urlaub in einer<br />
persönlichen Krise. „Plötzlich war da diese Klarheit. Es<br />
ist zwar gefährlich, aber ich weiß jetzt in diesem Moment,<br />
wofür ich da kämpfe: zu überleben.“ Sein zweites<br />
Hilfsmittel: Er entwickelte Sehnsuchtsbilder – wie das<br />
nächste kühle Bier mit seinem Bruder – und arbeitete an<br />
Optimismus. Wie das geht? „Wir hatten jeden Abend ein<br />
Dankesritual und nannten drei Dinge, für die wir dankbar<br />
sind: die Familie, Leben, Wasser ... – die Auswahl<br />
war nicht allzu groß“, sagt Wallert und lacht. Galgenhumor<br />
und Optimismus – beides half ihm, den aufkommenden<br />
Stresslevel zu managen.<br />
Und Stress sei ein wichtiger Faktor, um aus Krisen herauszukommen.<br />
Denn wer keinen Stress hat, hat auch keine<br />
Energie. Der richtige Umgang damit sei entscheidend –<br />
und das lasse sich durchaus trainieren. Schutz<strong>faktor</strong>en<br />
aufbauen, nennt Wallert das: Dankesrituale, ein Akzeptanz-<br />
Tagebuch schreiben, meditieren und mehr. „Sie stellen sich<br />
vielleicht die Frage: Brauche ich das gerade überhaupt?<br />
Mir geht es doch gut. Keine Krise in Sicht“, sagt Wallert<br />
zum Publikum gewandt. „Das ist der beste Moment, damit<br />
anzufangen! Denken Sie an die Feuerwehr. Sie trainiert<br />
auch nicht erst, wenn’s brennt. Dann ist es zu spät.“<br />
GRUNDSÄTZLICH KANN WALLERT jeder drohenden<br />
Krise auch etwas Positives abgewinnen: „Sie sind ein<br />
guter Motor, um zu sehen: Wo stehe ich? Was stimmt in<br />
meinen Leben nicht? Und was will ich überhaupt?“ Ist<br />
eine Krise überstanden, folgt häufig Euphorie – und man<br />
macht weiter wie zuvor. „Ein großer Fehler, der mir nach<br />
der Entführung auch selbst passiert ist“, sagt Wallert mit<br />
Nachdruck. „Aufstehen, Krönchen richten – reicht<br />
nicht! Das Wichtigste bei einer Krise ist, sie auch zu nutzen.“<br />
Mit diesem nachhaltigen Appell überließ Marc Wallert<br />
die Gäste der Lounge, die den weiteren Abend im Autohaus<br />
bei leckeren Köstlichkeiten noch lange zum intensiven<br />
Gedankenaustausch – auch mit dem Referenten<br />
selbst – nutzten, ihren Gesprächen. ƒ<br />
Übrigens: Am 21. Februar 2020 bietet Marc Wallert zum<br />
Thema ,Stark durch Krisen‘ einen ausführlichen Workshop<br />
in der <strong>faktor</strong>-Akademie an – mehr dazu auf Seite 14.<br />
Weitere Inpressionen des Abends<br />
gibt es in der Bildergalerie unter:<br />
www.<strong>faktor</strong>-magazin.de/fotostrecken/<br />
bildergalerie-zur-33-<strong>faktor</strong>-businesslounge-mit-marc-wallert<br />
4 |<strong>2019</strong> 13
aktuelles<br />
<strong>faktor</strong>-Mittagsclub<br />
Impulse zum Essen<br />
FOTO: ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
Auch im letzten Quartal traf sich der <strong>faktor</strong>-Mittagsclub wieder Monat für<br />
Monat für einen kurzen Impulsvortrag mit anschließendem Gedankenaustausch<br />
zum Mittagessen im Amavi. So war im September die Ärztin und<br />
Wissenschaftlerin Isabel Schellinger zu Gast, die vom Wirtschaftsmagazin<br />
Forbes in das Europaranking der wichtigsten Persönlichkeiten ,30 unter 30‘<br />
aufgenommen wurde. Sie berichtete über ihr Start-up ,Angiolutions‘ und<br />
wie es zukünftig gelingen kann, frühzeitig lebensbedrohliche Bauchaortenaneurysmen<br />
zu erkennen. Im Oktober stellten Simone Münz und<br />
Ella Albrecht von ‚BarBQ‘ ihre Bar-App für Göttingen vor und erzählten<br />
von den Herausforderungen des Gründens. Und im November schließlich<br />
gewährte Marko Weinrich (Foto), seit Juli <strong>2019</strong> Mitglied der Geschäftsführung<br />
der Arineo, Einblicke in das Konzept ‚Employee Owned Company‘<br />
(EOC) beim neuen Göttinger IT-Dienstleister.<br />
› MEHR ALS EIN MAGAZIN<br />
GESUNDHEıT<br />
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Workshop<br />
Stark durch Krisen<br />
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Plastische Chirurgie<br />
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Was fällt Ihnen spontan zum Thema Plastische Chirurgie<br />
ein? Botox, Brustvergrößerungen und Fettabsaugung?<br />
Damit sind Sie nicht allein. Doch das Fachgebiet hat weit<br />
mehr zu bieten als nur die Befriedigung eines erträumten<br />
Schönheitsideals. Was genau, das zeigen wir in der aktuellen<br />
Ausgabe von <strong>faktor</strong>Gesundheit.<br />
Zusätzlich servieren wir Ihnen dazu noch ein weiteres Heft<br />
im Heft: das UMG Spezial! Wir stellen Ihnen Wolfgang<br />
Brück vor, den neuen Mann an der Spitze der Universitätsmedizin<br />
Göttingen, und nehmen den Status Quo sowie die<br />
Zukunftspläne unseres größten Arbeitgebers der Region genauer<br />
unter die Lupe.<br />
Möchten Sie ein Exemplar lesen? Dann schicken Sie einfach<br />
eine E-Mail an: redaktion@<strong>faktor</strong>-magazin.de<br />
Vom Entführungsüberlebenden<br />
zum Keynote-Speaker – das ist<br />
Marc Wallert. Im Jahr 2000 wurde<br />
er zusammen mit seinen Eltern<br />
bei einem Tauchurlaub entführt<br />
und mehrere Monate im malaysischen<br />
Dschungel festgehalten.<br />
Wie kann man so etwas überwinden?<br />
Wie kann man Stärke aus<br />
solchen Momenten ziehen?<br />
Wallerts Geschichte beschreibt eine Extremsituation, aber auch den<br />
Weg hinaus. Nach einem beeindruckenden Auftakt auf der 33. <strong>faktor</strong>-<br />
Business-Lounge (siehe ab Seite 12) gibt Wallert am 21. Februar 2020<br />
von 14 bis 18 Uhr in der <strong>faktor</strong>-Akademie zum Thema ‚Stark durch<br />
Krisen‘ einen exklusiven Workshop zur Stärkung der eigenen Resilienz.<br />
Sie erhalten Inspiration, wie Sie gestärkt aus Krisen hervorgehen,<br />
und erarbeiten gemeinsam Möglichkeiten, wie Sie mit Wallerts<br />
Dschungelstrategien Akzeptanz, Optimismus, Stresskompetenz, Selbstwirksamkeit,<br />
soziale Unterstützung sowie Fitness und Disziplin auch<br />
auf Ihren Alltag übertragen können.<br />
Interesse? Dann melden Sie sich jetzt an unter:<br />
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14 4 |<strong>2019</strong>
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Führungsqualität verstanden wird.<br />
FOTO: ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
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FOTO: PFH<br />
Ideen über Ideen<br />
Schüler entwickeln<br />
Zukunftskonzepte<br />
Am 15. November ging der fünfte<br />
‚Ideencampus Südniedersachsen‘ des<br />
ZE Zentrum für Entrepreneurship<br />
der PFH zu Ende. Während des<br />
zweitägigen Workshops mit<br />
Gründungsexperten und Unternehmern<br />
aus der Region arbeiteten<br />
51 Schüler daran, aus ihren Ideen realistische und umsetzbare Konzepte zu formen.<br />
In Impulsvorträgen, unter anderem von <strong>faktor</strong>-Herausgeber Marco Böhme (Foto),<br />
lernten sie, wie sie mit Rückschlägen und Scheitern erfolgreich umgehen können, und<br />
bekamen Tipps von Start-ups, wie sie ihren Traumberuf ver wirklichen. Am Ende kürte<br />
eine dreiköpfige Jury die besten von ihnen: zum Beispiel die Schülergruppe des<br />
Otto-Hahn-Gymnasiums, die ein umweltfreundliches Cool Pack aus Latex und<br />
Amaranth-Körnern entwickelte, und ein Team des Max-Planck- Gymnasiums für<br />
seine Idee eines ökologischen Fahrrad-Lieferservices in Göttingen.<br />
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4 |<strong>2019</strong> 17
unternehmen<br />
Harzer Hexenküche<br />
Südniedersachsen hat sein eigenes ‚Silicon Valley‘ – im beschaulichen Straßendorf<br />
Osterode-Lerbach werden Silikone und Gummi produziert, die weltweit Leben retten.<br />
<strong>faktor</strong> begleitet Sven Vogt durchs Werk bei KKT Frölich. Der geschäftsführenden Gesellschafter<br />
des Chemie unternehmens gibt Einblicke in seine Erfolgsrezepte und erzählt von seiner Mission,<br />
den Nachwuchs im Harz zu fördern.<br />
TEXT ANJA DANISEWITSCH FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
18 4 |<strong>2019</strong>
unternehmen<br />
4 |<strong>2019</strong> 19
unternehmen<br />
20 4 |<strong>2019</strong>
unternehmen<br />
An einem kühlen <strong>Winter</strong>morgen<br />
von Göttingen aus in den Harz zu<br />
fahren, ist schon ein besonderes<br />
Erlebnis. Die Natur zeigt sich in<br />
ihrer schönsten Pracht. Zwischen<br />
den Bäumen steigt der Nebel empor<br />
und scheint sagenhafte Gestalten<br />
uralter Mythen zum Leben zu<br />
erwecken. Eine asphaltierte Straße, kalt und nass,<br />
schlängelt sich die Berge hinauf. Die ‚echten‘ Oberharzer<br />
Autofahrer wissen genau, wie sie die kurvenreiche Strecke<br />
zu fahren haben und wann sie zum Überholen ansetzen<br />
müssen. Nichts für Flachlandfahrer und Dauerbremser.<br />
Wohl dem, der bei extremen Witterungsverhältnissen<br />
die richtige Bereifung hat und sich auf optimale<br />
Bodenhaftung verlassen kann.<br />
„Hatten Sie eine gute Fahrt hierher?“, begrüßt uns<br />
Sven Vogt wissend. Er ist der geschäftsführende Gesellschafter<br />
von KKT Frölich, einem mittelständischen Unternehmen,<br />
das unter anderem die Gummimischungen<br />
für Continental-Autoreifen produziert und mittlerweile<br />
bereits seit 20 Jahren auf seinem Posten. Als der promovierte<br />
Diplomkaufmann hier einstieg, war er gerade einmal<br />
27 Jahre alt, hatte sein Studium in Berlin beendet<br />
und als Werkstudent bei BMW, VW und Audi gearbeitet.<br />
Seine Entscheidung, eine Firma im Harz zu übernehmen,<br />
fiel im Jahr 1999. Als Vogt kam, hieß das Unternehmen<br />
allerdings noch ‚Ernst Frölich Gummiwerke‘ und war<br />
mit sieben Millionen DM verschuldet. Nachdem ein<br />
Übernahmeplan durch eine andere Firma scheiterte,<br />
entschied sich Vogt, selbst in die Bresche zu springen.<br />
Zusammen mit dem zweiten Geschäftsführer vom<br />
oberfränkischen Standort Pressig, Andreas Sandner,<br />
übernahm er den maroden Betrieb. „Ich hatte damals<br />
noch keine Familie und habe mir nicht wirklich Gedanken<br />
darüber gemacht, was es bedeutet, so viele Schulden<br />
zu übernehmen“, erzählt er gelassen. Denn KKT Frölich<br />
geht es heute wirtschaftlich sehr gut – und ihm persönlich<br />
auch. „Wenn meine frühere Chemielehrerin wüsste,<br />
dass ich heute ein Chemie unternehmen leite …“ Der<br />
47-Jährige lacht herzlich bei der Erinnerung an seine<br />
Schulzeit. „Chemie war nie meine Stärke“, sagt der gebürtige<br />
Sachsen-Anhalter. Seine Abiturzeit fiel genau in<br />
die Wende. Eine Umbruchzeit, in der viele Jugendliche<br />
damals recht orientierungslos waren, weil die traditionellen<br />
Berufswege über Nacht verschwanden. „Man studierte<br />
Medizin, Jura oder eben BWL – so wie ich.“<br />
KKT FRÖLICH IN LERBACH, einem Ortsteil von Osterode<br />
am Harz, ist eines von neun Werken der KKT Holding<br />
GmbH. Dazu gehören drei weitere Werke in<br />
Deutschland: Elastica – ebenfalls in Lerbach –, KKT<br />
Pressig in Oberfranken und Norsystec in der Nähe von<br />
Nordhausen. Jeder einzelne Unternehmensstandort hat<br />
sich auf eine spezielle Produktpalette ausgerichtet, ist<br />
autark und zugleich in der Gesamtproduktion vernetzt.<br />
Mit Stand orten in den USA, Mexiko, Tunesien, Rumänien<br />
und China hat das Unternehmen in den letzten zehn<br />
Jahren ein welt weites Netzwerk aufgebaut. Es gehört<br />
zum strategischen Ziel der KKT-Gruppe, sich am Markt<br />
sehr breit aufzustellen. „70 bis 80 Prozent der Wertschöpfung<br />
kommt dabei allein aus unseren eigenen Produktionsstätten<br />
– mit steigender Tendenz“, erklärt der<br />
Geschäftsführer, und ein wenig Stolz schwingt mit. Der<br />
Gesamtumsatz der Holding lag im Jahr 2018 bei<br />
ca. 60 Millionen Euro und wird in <strong>2019</strong> voraussichtlich<br />
ca. 65 Millionen Euro betragen. Als Vogt 1999 den<br />
Betrieb übernahm, lag der Umsatz gerade einmal bei<br />
16 Millionen Euro.<br />
„Wir versuchen dennoch, dem hohen Anspruch eines<br />
Familienunternehmens gerecht zu werden und ihn zu<br />
leben“, sagt Sven Vogt, der bis vor zehn Jahren nicht nur<br />
die Namen aller Angestellten, sondern auch die Namen<br />
von deren Kindern kannte. Am Standort Osterode mit<br />
rund 250 Mitarbeitern gelinge ihm das auch heute noch<br />
ganz gut, sagt er, aber bei 700 Mitarbeitern weltweit<br />
kann er dies natürlich nicht mehr durchhalten. Trotz<br />
Wachstum will KKT von seinem Selbstverständnis her<br />
ein Familienunternehmen bleiben, auch in Zukunft.<br />
Zur Person<br />
Geboren in Genthin in Sachsen-Anhalt, wuchs Sven Vogt<br />
in der ehemaligen DDR auf und erlebte die Jahre der<br />
Wiedervereinigung während seiner Abiturzeit. Kurz nach<br />
einem BWL-Studium in Berlin und seiner Promotion zog<br />
Vogt nach Osterode, wohin ihm später seine Frau folgte<br />
und sie eine Familie gründeten. Als geschäftsführender<br />
Gesellschafter der KKT Gruppe setzt er seit Jahren erfolgreich<br />
auf immer wieder verbesserte Organisationsstrukturen.<br />
Sein Bestreben ist es, die Wirtschaft und den<br />
Gemeinschaftssinn der Region Osterode zu fördern.<br />
4 |<strong>2019</strong> 21
unternehmen<br />
»Wir versuchen dennoch, dem hohen Anspruch eines<br />
Familienunternehmens gerecht zu werden und ihn zu leben. «<br />
DIE FRAGE, WAS DIE KKT GRUPPE nun eigentlich produziere,<br />
ist jedoch nicht in einem Satz zu beantworten.<br />
Gummi und Silikon, das können sie. ,Elastomerbauteile<br />
aus Gummi und Silikon‘ nennen es die Fachleute vor<br />
Ort. Aber auch Verbundteile wie ca. drei Millionen Umlenkhebel<br />
pro Jahr für alle Marken des VW-Konzerns<br />
und ebenso die gesamte Schaltabdeckung des Golf GTI<br />
mit Golfballoptik. Kein Flugzeug von Airbus fliegt ohne<br />
KKT-Dichtungen. Und auch wenn es mal brennt, ist<br />
KKT dabei. Nur zwei Firmen sind in Europa als Zulieferer<br />
für Feuerwehrmasken zertifiziert – eine davon ist<br />
KKT mit einem Produktionsvolumen von 300.000 Stück<br />
pro Jahr. Eine Werksführung durch den Produktionsprozess<br />
soll helfen, den Weg vom Naturkautschuk zur Feuerwehrmaske<br />
zu verstehen: Keimzelle ist die Elastica<br />
GmbH, die 2008 aus der KKT Frölich heraus gegründet<br />
wurde. Es sind verschlungene Pfade, die in die Produktion<br />
führen. Schmale Wege hinauf und hinunter – und<br />
spätestens nach der dritten Treppe und dem fünften<br />
Gang gibt der Orientierungssinn sich geschlagen. Der<br />
Ort Lerbach ist ein Straßendorf, das auf der einen Seite<br />
von Bergen und auf der anderen Seite vom Lerbach begrenzt<br />
wird – und so konnte auch das Werk mit Anbauten<br />
und Erweiterungen über Jahre nur in die Länge und<br />
Höhe wachsen und nicht in die Breite.<br />
„Die Elastica nennen wir liebevoll auch unsere Hexenküche<br />
und Backstube“, erklärt Vogt. Denn hier werden aus<br />
Kautschuk, Ruß und 15 und mehr anderen Pülverchen<br />
Rezepturen erstellt, die die Grundvoraussetzung für den<br />
Erfolg der KKT-Produkte darstellen. Denn Gummi ist<br />
nicht gleich Gummi. Das Anforderungsprofil an Gummiteile<br />
ist höchst komplex und vielseitig. Eine Feuer wehrmaske<br />
darf nicht brennbar sein, muss hohe Temperaturen<br />
aushalten und gleichzeitig dynamisch und hautverträglich<br />
sein – eine extreme Kombination, wie der<br />
Diplomkaufmann betont. Kabel für die Sauerstoffversorgung<br />
in der Medizin hingegen müssen flexibel und<br />
gleichzeitig so fest sein, dass sie nicht komplett zusammengedrückt<br />
werden können, damit, egal was passiert,<br />
immer Sauerstoff durch den Schlauch durchkommt –<br />
und gleichzeitig müssen die Reinheitsrichtlinien für medizinische<br />
Produkte eingehalten werden. Autoreifen<br />
müssen Temperaturen von –10 bis +30 Grad Celsius<br />
problemlos händeln. Und so weiter und so weiter – eine<br />
faszinierende Welt der Kausalitäten öffnet ihre Pforten.<br />
Für all das bilden die Rezepturen der ‚Hexenküche‘ die<br />
Grundlage. Hier wird eine elastische Grundmasse produziert,<br />
die sich dehnen lässt, aber nicht wie das fertige<br />
Gummi wieder in ihre ursprüngliche Form zurückfindet.<br />
Durch den hohen Anteil an beigemischtem Ruß erinnert<br />
das Zwischenprodukt an überdimensionale Lakritzstangen.<br />
EIN FERTIGES PRODUKT wie beispielweise Gummieinsätze<br />
für Feuerwehrmasken wird die schwarze Masse<br />
in einer angrenzenden Werkhalle. Mit einem kurzen<br />
Gang über den Hof hinein in die nächste Halle hat<br />
22 4 |<strong>2019</strong>
unternehmen<br />
Grundzutaten in der Hexenküche Die Farbe von Kautschuk (o.) reicht von creme- bis karamellfarben. Für die Produktion werden die<br />
weiteren benötigten Zusatzstoffe (u.) wie Alterungsschutzmittel und Prozesshilfsmittel in Schüsseln abgewogen.<br />
4 |<strong>2019</strong> 23
unternehmen<br />
,Lost Places‘ im Harz Im älteren Fabrikraum werden Öle und Ruße für Klein- und Sonderbedarfe abgewogen – eine schmutzige Angelegenheit.<br />
24 4 |<strong>2019</strong>
unternehmen<br />
4 |<strong>2019</strong> 25
unternehmen<br />
Täuschend echt Was aussieht wie leckere Lakritzstangen, ist die mit Ruß versetzte Rohmischung, die zu Gummi weiterverarbeitet wird.<br />
26 4 |<strong>2019</strong>
unternehmen<br />
man bereits das Unternehmen gewechselt und ist nun bei<br />
KKT Frölich. Vulkanisierung heißt hier das Zauberwort,<br />
um in der Metapher der Hexenküche zu bleiben. Erst Hitze<br />
um 140 bis 160 Grad Celsius bringt alle gewünschten<br />
Eigenschaften eines Produkts zusammen und schafft<br />
Form und Beständigkeit. „Wir stellen Produkte im High-<br />
End- Bereich her, denn mit Standorten in Deutschland<br />
braucht man nicht über den Preis zu kommen, da kommt<br />
es auf Technologie und Material- und Fertigungskompetenz<br />
an. Wir sind Problemlöser für unsere Kunden“, erklärt<br />
Vogt selbst bewusst und stolz. KKT zählt bei Atemschutztechnik,<br />
Luft- und Raumfahrt, Entkopplungs- und<br />
Schal tungs teilen in der Automobilindustrie und bei Steckverbindern<br />
auf dem Elektromarkt zu den Top Five in<br />
Europa.<br />
Sven Vogt ist ein Mittvierziger, der auf sympathische<br />
Weise bescheiden wirkt und gleichzeitig etwas sehr Verbindliches<br />
und Zielstrebiges in sich vereint. Er hat eine<br />
Mission – so könnte man es nennen. Und diese Mission<br />
lautet: „Als Unternehmen haben wir eine gesellschaftliche<br />
Aufgabe.“ Mehrmals wiederholt er diesen Satz,<br />
und es wird deutlich, wie stark es eine wahre Herzensangelegenheit<br />
für ihn ist, wirtschaftlichen Erfolg zu teilen.<br />
Dazu zählt, dass sein Unternehmen hilft, die Region<br />
zu stärken und damit eine Zukunft für die Kinder und<br />
Jugendlichen in der Harzregion zu schaffen. „Wir Erwachsenen<br />
können unser Leben selbst in die Hand nehmen,<br />
aber den Kindern müssen wir helfen – in allen Bereichen“,<br />
sagt der Geschäftsführer, der seit elf Jahren<br />
verheiratet ist und selbst zwei Töchter im Alter von acht<br />
und elf Jahren hat.<br />
4 |<strong>2019</strong> 27
unternehmen<br />
GEMEINSAM MIT RAINER GIESE vom Versicherungskontor<br />
Osterode ist KKT Hauptsponsor der Kinder-<br />
SportStiftung Harz. Deren größte Spendenaktion ist<br />
gleichzeitig eines der größten Events in Osterode: der<br />
Osteroder City BeachCup. So werden jedes Jahr im Sommer<br />
auf dem Kornmarkt 350 Tonnen Sand angefahren,<br />
und die Innenstadt wird zur Strandzone. „Mit den Spendengeldern<br />
unterstützen wir Kindergärten, Grundschulen<br />
und Vereine – seit Neuestem auch mit Erfolg die weiterführenden<br />
Schulen wie Realschule und Gymnasium“,<br />
erzählt Vogt, und seine Augen beginnen zu strahlen. Ob<br />
Stand-up-Paddling, Parkour oder Sportgeräte für die<br />
Kleinsten – Sport schaffe einen Gemeinschaftssinn, ein<br />
Zugehörigkeitsgefühl und eine Verantwortung füreinander.<br />
Dazu gehört für ihn unabdingbar auch die Integration<br />
von Kindern aus Migrantenfamilien. „Ich glaube,<br />
das Problem ist, dass wir alle falsch damit umgehen. Wir<br />
sollten die Integration viel mehr leben, um zu zeigen,<br />
dass beispielsweise Familien mit Kindern aus Syrien keine<br />
Gefahr sind, sondern eine Chance“, so der zweifache<br />
Vater. Und er erzählt, wie ihm die Tränen kamen, als ein<br />
syrischer Freund seiner Tochter berichtete, wie seine<br />
Großeltern vor seinen Augen starben. „Und nun erklären<br />
Sie diesem Jungen, warum Menschen in Deutschland ihn<br />
hassen …“ Ein kurzes Schweigen setzt ein, weil ihm die<br />
Worte fehlen. Integration ist ein Thema, das sich im Leben<br />
des Sven Vogt auf vielen Ebenen wiederfindet. Er engagiert<br />
sich nicht nur als Sponsor, sondern schafft Netzwerke<br />
innerhalb der Region zwischen Unternehmen und Lernpatenschaften<br />
oder Schulen, ist im Vorstand des MEKOM-<br />
Regionalmanagements und sucht auch bei KKT immer<br />
wieder nach Möglichkeiten, die Lebenssituationen junger<br />
Menschen zu verbessern. „Als ich vor 20 Jahren hier einstieg,<br />
haben wir erst einmal angefangen, auszubilden“,<br />
erzählt er. „Vorher gab es nur das amerikanische Prinzip<br />
des Learning by Doing.“ In diesem Jahr feierten einige<br />
aus der ersten Azubi-Generation ihr 20-jähriges Betriebsjubiläum.<br />
„Was mich besonders freut: Wir haben inzwischen<br />
sogar die ersten KKT-Kinder von Angestellten, die<br />
sich im Betrieb kennengelernt haben und nun Familie<br />
sind. Diese haben natürlich später einen Arbeitsplatz bei<br />
uns sicher“, sagt der Geschäftsführer mit einem Augenzwinkern.<br />
Und die Azubis bekommen bei KKT nicht nur<br />
das übliche Ausbildungsprogramm, sondern jeder Azubi<br />
hat zusätzlich einen Mentor an seiner Seite, der ein Stück<br />
weit hilft, sich in der Welt des Erwachsenwerdens zu orientieren.<br />
„Ohne ein gutes Team könnten wir nicht erfolgreich<br />
sein“, so Vogt. „Wenn der General vorn steht und sagt:<br />
‚Auf in den Kampf!‘ und hinter ihm steht keiner, dann kann<br />
er nur die weiße Fahne schwenken.“ Das ist wahr.<br />
28 4 |<strong>2019</strong>
unternehmen<br />
Ein langer Weg Bevor die Gummiteile fertig zur<br />
Auslieferung sind, gehen sie durch viele Hände – von<br />
der Walze (links) über die Spritzgießmaschine für<br />
die Rohteile (rechts o.) bis hin zur Qualitätskontrolle<br />
der noch heißen Artikel (Mitte) – wie hier bei einem<br />
Gummi einsatz für Feuerwehrmasken. Schlussendlich<br />
wird den fast fertigen Teilen an der Kaltengratungs -<br />
anlage noch der letzte Schliff verliehen (unten).<br />
EIN UNTERNEHMEN MIT ZUKUNFTSAUSRICHTUNG.<br />
Aber wie sieht es in Zeiten von Fridays for Future mit<br />
Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung aus? Durch<br />
den Vulkanisationsprozess bilden sich Molekülketten im<br />
Werkstoff, die nicht wieder aufgehoben werden können.<br />
Das bedeutet: Gummi bleibt Gummi und kann nicht in<br />
einem Recyclingverfahren wieder zu einem neuen Gummiprodukt<br />
werden. Dennoch: „In dem Moment, wo wir<br />
anfangen, uns zu rechtfertigen, haben wir schon verloren“,<br />
sagt Vogt. Was nicht heißen soll, dass sie keine<br />
Verantwortung übernehmen. „Unsere Herausforderung<br />
für die nächsten Jahre wird lauten: Wie kann ich es erreichen,<br />
dass ich die Produkte wiederverwenden kann –<br />
dass sie nicht auf dem Schrott landen“, ergänzt er. Denn<br />
Gummi mit einer Lebensdauer von 30 bis 40 Jahren<br />
wird derzeit lieber mit anderen Bauteilen zusammen verschrottet,<br />
weil es günstiger ist. Ziel von KKT sei es,<br />
durch Leichtbau weniger Materialeinsatz zu erreichen,<br />
Hohlräume, wo möglich, zu integrieren. Und: Ein großes<br />
Projekt sei die umweltschonende Gewinnung von<br />
Ruß. Ruß ist ein Abfallprodukt der Benzinherstellung<br />
aus Erdöl, soll aber in den kommenden Jahren durch<br />
Ruß aus Recyclingpapier ersetzt werden.<br />
Doch es ist leicht, den Finger auf die Industrie zu richten<br />
und die Verantwortung von sich als Einzelperson<br />
fortzuschieben. „Wir als Menschen sind auch daran beteiligt“,<br />
sagt Vogt. „Wir verlangen von einem Produkt<br />
eine unwahrscheinlich hohe Qualität und allen Komfort,<br />
wollen gleichzeitig aber weniger Plastik.“ Als Beispiel<br />
nennt er die E-Mobilität, die von vielen als Heilbringer<br />
der Nachhaltigkeit und Energiewende gefeiert wird. Man<br />
überlege einmal, wie viele Meter Kabel in einem Elektroauto<br />
verbaut werden? Die Isolierung ist aus Gummi.<br />
Strom, WLAN, Autoreifen – auf welchen Luxus wollen<br />
wir verzichten? CO 2 und Abrieb auf den Straßen entsteht<br />
vor allem durch das Bremsen und Anfahren. Also<br />
lautet nicht die dringende Frage, wie sich Infrastrukturen<br />
so steuern lassen, dass der Verkehr fließender<br />
4 |<strong>2019</strong> 29
unternehmen<br />
Nützliche Helferlein Diese Teile aus Kunststoff mit Gummiverbindung von KKT befinden sich in der Schaltung eines jeden VWs.<br />
wird? Vogt wirft viele Fragen auf, die uns in der Zukunft<br />
noch oft begegnen werden.<br />
UND WIE SIEHT ES MIT SEINEN ZUKUNFTSZIELEN<br />
für KKT aus? „Wir wollen unsere Kompetenz im Automobil-Bereich<br />
und im Industriesektor noch weiter ausbauen.<br />
Aber es ist eher ein langsames und gezieltes<br />
Wachstum, das wir anstreben. Und hier am Standort<br />
sind wir baulich an unserer Grenze angelangt“, sagt er.<br />
Und schließlich habe er auch noch eine Familie, die ihm<br />
sehr wichtig sei. Seine Töchter aufwachsen zu sehen und<br />
seinem Hobby, dem Skifahren, nachzugehen – und nicht<br />
zu vergessen: Zeit mit seiner Frau zu verbringen. „Ohne<br />
sie wäre vieles nicht möglich. Sie ist das Rückgrat unserer<br />
Familie und nimmt als Syndikusrechtsanwältin eine<br />
wichtige Funktion im Unternehmen wahr“, sagt der<br />
Ehemann. Nach vielen anstrengenden Jahren, in denen<br />
er das Unternehmen aus den roten in die schwarzen<br />
Zahlen geführt hat, genießt er den Freiraum, den er sich<br />
inzwischen etwas mehr leisten kann. „Ich würde, wenn<br />
ich heute KKT noch einmal übernehmen würde, vieles<br />
anders machen. Aber ich würde es immer wieder tun.<br />
Dass ich meine eigene Unternehmensphilosophie leben<br />
kann, das ist einmalig.“ ƒ<br />
ZUM UNTERNEHMEN<br />
Was zunächst im kleinen Lerbach, einem Stadtteil<br />
von Osterode, im Jahr 1932 unter dem Namen Ernst<br />
Frölich Gummiwerke seinen Anfang fand, ist heute<br />
zu einem international agierenden Unternehmen mit<br />
acht Standorten auf vier Kontinenten geworden.<br />
Dank der breit angelegten Produktpalette aus Gummiund<br />
Kautschukmischungen, Leder in Ergänzung mit<br />
Kunststoffen für die Automobilindustrie, Spritzgussformen<br />
und vielem mehr gehören namhafte Konzerne<br />
aus allen Bereichen der Wirtschaft zu den Kunden der<br />
KKT-Gruppe – wie etwa VW, Siemens oder Airbus.<br />
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30 4 |<strong>2019</strong>
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32 4 |<strong>2019</strong>
unternehmen<br />
Der<br />
Weihnachtsbaum-Mann<br />
Markus Billen sorgt in zahlreichen Haushalten<br />
Südniedersachsens für stimmungsvolle Momente:<br />
Mit seiner Forstbaumschule in Bösinghausen<br />
ist er der größte Weihnachtsbaumproduzent<br />
und -händler der Region.<br />
TEXT STEFAN LIEBIG FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
LESEZEIT: 4 MINUTEN<br />
Und im Dezember kommen dann immer<br />
die ganzen Lkw und liefern die Weihnachtsbäume<br />
zum Gelände von Billen<br />
Forst ...“ Als Markus Billen diesen Gesprächsfetzen<br />
aus einer Unterhaltung<br />
im Freundeskreis aufschnappt, traut er<br />
seinen Ohren nicht. „Ihr glaubt allen Ernstes, die liefern<br />
uns die Bäume?“, sagt er und geht irritiert dazwischen.<br />
Erstaunte Blicke in der Runde. Natürlich kann er diese<br />
Aussage nicht unwidersprochen im Raum stehen lassen,<br />
denn der Diplom-Forst ingenieur erntet in seinem Betrieb,<br />
der bereits seit 1987 besteht, unter vollem Einsatz<br />
jährlich eine fünfstellige Zahl von Bäumen. Ein Großteil<br />
davon sind Weihnachtsbäume, die in der Hochsaison in<br />
großen Stückzahlen von seinem Betriebsgelände in<br />
Waake- Bösinghausen abgeholt und zu Händlern und Verkaufsständen<br />
in der ganzen Region gebracht werden.<br />
4 |<strong>2019</strong> 33
unternehmen<br />
»Die Qualität unserer Bäume hat uns zu einer etablierten<br />
Forstbaumschule und zum größten Weihnachtsbaumproduzenten<br />
und -händler zwischen Kassel und Hannover wachsen lassen. «<br />
34 4 |<strong>2019</strong><br />
„Dieser Irrtum herrscht wohl bei vielen Einheimischen<br />
aus der Gegend vor“, erklärt Billen schmunzelnd. Denn<br />
wer nur das Betriebsgelände sieht, ahnt nichts von seinen<br />
50 Hektar Anbaufläche im Umkreis von 50 Kilometern.<br />
Fünf feste Mitarbeiter und 15 Saisonmitarbeiter sorgen<br />
hier das Jahr über für den perfekten Wuchs. Dabei züchtet<br />
Billen längst nicht nur Weihnachtsbäume, sondern<br />
betreibt auch eine Forstbaumschule. Der geschäftigste<br />
Jahresabschnitt beginnt für sein Team, wenn viele Menschen<br />
sich lieber ins gemütliche Wohnzimmer vor ihren<br />
holzbefeuerten Kamin zurückziehen. Denn sobald die<br />
Blätter nach dem ersten Frost gelb werden, steht nicht<br />
nur die Ernte der Weihnachtsbäume kurz bevor, sondern<br />
es geht auch raus auf die Wirtschaftsflächen zum Setzen<br />
der nächsten Generation an jungen Bäumen. Die Pflanzzeit<br />
endet im Frühjahr, wenn die ersten Laubbäume wieder<br />
austreiben – Unterbrechungen gibt es nur bei gefrorenem<br />
Boden.<br />
NEBEN DEN KÖRPERLICHEN ANFORDERUNGEN machen<br />
Billen in den letzten Jahren auch zunehmend viele<br />
geänderte Rahmenbedingungen zu schaffen. „Es ist<br />
schwierig, Saisonarbeiter für diesen anstrengenden Job<br />
zu verpflichten. Meistens kommen sie aus Polen“, berichtet<br />
der 59-Jährige, dessen Lieblingsbaum die Schwarzerle<br />
ist. Und auch die klimatischen Bedingungen fordern<br />
Forstwirten eine immer größere Flexibilität ab. „Wir<br />
mussten in den letzten Jahren öfter mit Extremwetterlagen<br />
wie Hagel, Sturm oder Trockenheit zurechtkommen“, erzählt<br />
Billen. „Durch die milderen <strong>Winter</strong> endet unsere<br />
Pflanzzeit bereits drei Wochen früher als noch vor<br />
20 Jahren.“ Die Trockenheit der vergangenen beiden<br />
Jahre hingegen stellt für den aus dem hessischen Dietzhölztal<br />
stammenden Baumliebhaber kein so großes Problem<br />
dar. Denn Nordmanntannen als Pfahlwurzler verkraften<br />
Extremwetterlagen gut. Dieses Zusammenspiel<br />
mit der Umwelt bildet für Billen einen Kern des Geschäfts.<br />
Seine nachhaltige und umweltschonende Baumproduktion<br />
ist vom Deutschen Institut für Gütesicherung und<br />
Kennzeichnung zertifiziert. Seine Pflanzungen umfassen<br />
immer Bäume aus verschiedenen Pflanzjahren. Deshalb<br />
werden sie nie komplett gerodet. „So entwickeln sich<br />
wertvolle Biotope für unzählige Vögel, Insekten und viele<br />
andere Lebewesen“, erklärt Billen. Er unterstreicht damit,<br />
dass der eigene Weihnachtsbaum, wenn er auch nur<br />
eine kurze Nutzungsdauer habe, definitiv nachhaltiger<br />
sei als die ,pflegeleichte‘ Kunststoffalternative.<br />
Um die Bodenpflege an einigen seiner Standorte kümmern<br />
sich übrigens die acht Shropshire-Schafe von Billens<br />
Frau. Dabei handelt es sich um die einzige Schafrasse, die<br />
allergisch gegen Nadelbäume ist – so bleiben die Bäume<br />
stets unverbissen.<br />
„DIE QUALITÄT UNSERER BÄUME HAT UNS zu einer etablierten<br />
Forstbaumschule und zum größten Weihnachtsbaumproduzenten<br />
und -händler zwischen Kassel und<br />
Hannover wachsen lassen“, erklärt der Hobby-Mountainbiker<br />
mit stolzer Brust. Doch die wachsende Konkurrenz<br />
durch Großmärkte und Internet, die fallenden Holzpreise<br />
und Probleme bei der Verpflichtung von qualifiziertem<br />
und zuverlässigem Verkaufspersonal für die<br />
16 Weihnachtsverkaufsstände in Südniedersachsen machen<br />
auch der Billen Forst zu schaffen.<br />
Die Vorfreude auf das alljährliche Weihnachtsgeschäft<br />
lässt sich Markus Billen davon allerdings niemals schmälern.<br />
Wenn die Kunden kurz vor den Festtagen nach Bösinghausen<br />
kommen und bei Bratwurst und Glühwein<br />
,ihren‘ Baum finden und absägen, dann erinnert ihn diese<br />
Stimmung stets zurück an seine Kindheit – daran, wie er<br />
als kleiner Junge Jahr für Jahr mit seinem Vater in den<br />
Wald ging, um gemeinsam den Weihnachtsbaum für die<br />
Familie zu schlagen. So blickt er trotz aller Schwierigkeiten<br />
positiv in die Zukunft. „Weihnachten war immer etwas<br />
Besonderes und wird es bleiben. Und der Weihnachtsbaum<br />
gehört nach wie vor für die meisten Menschen<br />
zum Fest mit der Familie.“ ƒ
Blackbit<br />
DR. MATTHIAS REICHART<br />
NOTAR UND FACHANWALT FÜR BAU- UND<br />
ARCHITEKTENRECHT UND MIET- UND WEG-RECHT<br />
KARL-HEINZ MÜGGE<br />
FACHANWALT FÜR<br />
STRAFRECHT UND STEUERRECHT<br />
MARCO ENGELHARDT<br />
FACHANWALT FÜR VERKEHRSRECHT<br />
UND MIET- UND WEG-RECHT<br />
ROBERT CARL<br />
FACHANWALT FÜR<br />
BAU- UND ARCHITEKTENRECHT<br />
GERO GEIßLREITER<br />
RECHTSANWALT<br />
VERWALTUNGSRECHT<br />
YVONNE WAUKER<br />
RECHTSANWÄLTIN<br />
STRAFRECHT<br />
ERIK PREISS<br />
RECHTSANWALT<br />
MIET- UND WEG-RECHT<br />
BERNHARD DAAMEN<br />
NOTAR a.D. UND FACHANWALT FÜR<br />
VERSICHERUNGSRECHT UND ARBEITSRECHT<br />
WALTER STURM<br />
FACHANWALT FÜR<br />
VERKEHRSRECHT<br />
In Kooperation mit<br />
Kanzlei Dr. Reichart, Kriesten, Mügge<br />
Bertha-von-Suttner-Straße 9 • 37085 Göttingen<br />
Tel.: (0551) 707 28-0 • www.rkm-goettingen.de
PROFIL<br />
Frischer Wind für Büros !<br />
Struckmeier sorgt für die passende Arbeitsatmosphäre<br />
Jens Barwinske und Thomas Kleinert<br />
Vor einigen Jahren war es noch blanke<br />
Theorie, nun hält die Erlebniswelt<br />
immer mehr Einzug in die Bürolandschaften.<br />
Um heute gute Leistungen in der<br />
Wissensgesellschaft erbringen zu können, reichen<br />
funktionale und ergonomische Aspekte<br />
beim Arbeiten nicht mehr aus. Sie sind eher<br />
Grundvoraussetzungen, aber nicht mehr die<br />
Kür. Das neue Motto lautet: Wechsle die Atmosphäre<br />
– je nach Aufgabe.<br />
Ein positiver Effekt der Digitalisierung ist,<br />
dass die Daten, die zum Arbeiten benötigt<br />
werden, oft nicht mehr an nur einen Arbeitsplatz<br />
gebunden sind. Dadurch kann jeder Mitarbeiter<br />
mit seinen Daten „wandern“. Diese<br />
neu gewonnene Freiheit erlaubt eine neue<br />
Fokussierung auf die Arbeitsweise:<br />
Wie konzentriert muss gearbeitet werden?<br />
Wie viel Kommunikation mit Kollegen ist sinnvoll?<br />
Wie viele kreative Impulse werden für die<br />
Lösung der Aufgaben benötigt? Gibt es Regenerationsmöglichkeiten<br />
im Büro?<br />
Aus diesem Mix entstehen heute unterschiedliche,<br />
individuelle Bürolandschaften.<br />
Kleine Rückzugsräume, wohnliche Meetingpoints,<br />
kreative Besprechungsräume und sogar<br />
Räume für Sport, Spiel oder gemeinsames<br />
Kochen im Unternehmen. Wer denkt, dass<br />
hier nur von hippen Marketingagenturen die<br />
Rede ist, der irrt.<br />
Das Team der Struckmeier GmbH durfte<br />
gemeinsam mit ihren Kunden immer häufiger<br />
solche Raumkonzepte entwickeln. Von<br />
den Göttinger Verkehrsbetrieben, Sycor, der<br />
Sparkasse Göttingen, CSL Plasma, der heimischen<br />
Touristeninformation, Refratechnik bis<br />
zum Studentenwerk der Göttinger Universität.<br />
Überall wird mehr auf Arbeitsatmosphäre und<br />
Erlebniselemente geachtet, die oft mit geringem<br />
Aufwand erzielt werden können.<br />
STRUCKMEIER GIBT ES INZWISCHEN seit<br />
mehr als 85 Jahren. Seitdem sind die beiden<br />
Geschäftsfelder Bürobedarf und Büroeinrichtung<br />
stetig gewachsen. Mit der Erfahrung der<br />
letzten Jahrzehnte und einer Neuausrichtung<br />
am Puls der Zeit führen Jens Barwinske und<br />
Thomas Kleinert das Unternehmen zukünftig<br />
in der dritten Generation. Dabei besinnt man<br />
sich auf die alten Werte, die sich in dem Firmenmotto<br />
„Wir richten es ein“ darstellen. Es<br />
bedeutet, dass das Struckmeier-Team sich darauf<br />
ausrichtet, die Kundenwünsche möglich<br />
zu machen.<br />
Traditionell kann im Bürobedarf-Fachmarkt<br />
und der großen Einrichtungs-Ausstellung viel<br />
ausprobiert und getestet werden. Das ist als<br />
Ergänzung zur eher bildorientierten Internetwelt<br />
sehr hilfreich. Ein Bürostuhl ist heutzutage<br />
fast wie ein Maßanzug einstellbar. Dafür<br />
Sycor<br />
Sparkasse Göttingen<br />
Sycor
Beclever Werbeagentur<br />
CSL Plasma Göttingen<br />
Studentenwerk Göttingen<br />
Das Büro wird wohnlich: Für gute Arbeitsergebnisse sind zukünftig immer mehr gute Arbeitsatmosphären wichtig.<br />
muss der passende Stuhl aber auch beraten<br />
und getestet werden.<br />
Atmosphären wollen erlebt werden und<br />
auch Spezialthemen wie Akustik, Licht, Farbe,<br />
Pflanzen und Medientechnik sollten nicht<br />
anhand eines Fotos diskutiert werden. Dafür<br />
sind die über 2000 qm großen Ausstellungsflächen<br />
gedacht.<br />
Diese bewähren sich auch, wenn neueste<br />
Technik verwendet wird, um den Kunden ihre<br />
neuen Räume näherzubringen. Bei Struckmeier<br />
können geplante Räume bereits vorab<br />
virtuell erlebt werden. So können schon einmal<br />
unterschiedliche Situationen simuliert<br />
werden: Was sieht der Kunde, wenn er im Eingang<br />
steht? Kommt die Mitarbeiterin noch an<br />
die Fachbücher im obersten Regal? Mit der<br />
VR-Brille testet der Kunde mit echten Maßen,<br />
so können Fehler bereits vor der Umsetzung<br />
vermieden werden. Noch mehr Sicherheit erhält<br />
der Kunde, wenn er die Möbel und die<br />
neue Atmosphäre auch noch ausprobieren<br />
kann.<br />
DIE PRODUKTVIELFALT und die damit verbundenen<br />
Einrichtungsmöglichkeiten nehmen<br />
derart zu, dass ein Kunde bei der Neugestaltung<br />
seiner Büros schlichtweg überfordert ist.<br />
Zusätzlich halten neue agile Arbeitsmethoden<br />
immer mehr Einzug in die Unternehmen. Was<br />
häufig sogar zu Generationskonflikten in der<br />
Arbeitsweise führen kann.<br />
STRUCKMEIER BEGEGNET DIESER PROBLE<br />
MA TIK mit eigenen Workshops, in denen ganz<br />
zu Anfang eines Umgestaltungsprozesses die<br />
Frage gestellt wird: Wie möchten Sie im Unternehmen<br />
in Zukunft arbeiten?<br />
Diese simple Frage hat erhebliche Auswirkungen<br />
auf den Erfolg eines Unternehmens.<br />
Erstaunlich ist, welchen positiven Effekt die<br />
Klärung dieser Frage auf die Unternehmenskultur,<br />
die Ablaufprozesse, die Effektivität<br />
und natürlich auch die räumliche Umgebung<br />
hat. Das Ergebnis ist für Struckmeier ein<br />
räumliches Briefing, mit dem die Innenarchitekten<br />
in die Planungsphase gehen können.<br />
Für die Kunden bedeuten solche Workshops<br />
oft mehr Klarheit in der Art und Weise<br />
der Zusammenarbeit. Manchmal sind sie<br />
auch der Beginn eines Change-Management-<br />
Prozesses, weil durch die Aufgabe, gemeinsam<br />
die zukünftige Arbeit zu gestalten, viele<br />
strukturelle Themen erst bewusst werden.<br />
Sicher ist, dass unsere Gesellschaft an einem<br />
Wendepunkt der Arbeitswelt steht. Diesen<br />
zu begleiten und immer neue Umgebungen<br />
für unterschiedliche Arbeitsweisen zu<br />
ent wickeln, ist für Struckmeier eine Herausforderung,<br />
die Spaß macht.<br />
KONTAKT<br />
System-Büro Struckmeier GmbH<br />
Karl-Arnold-Straße 4<br />
37079 Göttingen<br />
Tel. 0551 506690<br />
info@struckmeier.de<br />
www.struckmeier.de
unternehmen<br />
Lösungen, die verändern<br />
,Innovation: Realisierung einer neuartigen, fortschrittlichen Lösung für ein<br />
bestimmtes Problem, besonders die Einführung eines neuen Produkts oder die<br />
Anwendung eines neuen Verfahrens‘ – so definiert das bekannteste deutsche<br />
Wörterbuch, der Duden, den Begriff ,Innovation‘ in der Wirtschaft. Viel besser<br />
auf den Punkt gebracht lässt sich Innovation wohl nur zusammenfassen mit:<br />
dem 17. Innovationspreis des Landkreises Göttingen.<br />
Einmal mehr reichten <strong>2019</strong> rund 100 Gründer, mittelständische Unternehmen,<br />
weltweit agierende Konzerne und Bildungseinrichtungen, aber auch Wissenschaftler<br />
und Studierende sowie soziale Projekte ihre Bewerbung ein. Und wieder<br />
zeigt sich an der Vielfalt, dem Zeitgeist und der Kreativität dieser Projekte: Unsere<br />
Region ist eine mit Potenzial und vor allem mit zukunftsfähigen, innovativen Gedanken!<br />
Mit dem Innovationspreis haben die Teilnehmer alljährlich die Möglichkeit,<br />
ihre Ideen, Produkte und Dienstleistungen einer breiten Öffentlichkeit aus<br />
Wirtschaft, Politik, Forschung, Kultur und Verwaltung zugänglich zu machen.<br />
38 4 |<strong>2019</strong>
unternehmen<br />
So geschehen vor allem am 14. November, als die Gewinner (siehe Seite 40) im<br />
voll besetzten Deutschen Theater in Göttingen vor mehr als 450 Gästen gebührend<br />
gefeiert wurden. Insgesamt 13 Preise im Wert von insgesamt 30.000<br />
Euro wurden an diesem Abend vergeben – ebenso wie die goldenen Reiter-<br />
Skulptur-Pokale, entworfen von dem Künstler Christian Jankowski (mehr zu<br />
ihm gibt es übrigens ab Seite 138 zu lesen).<br />
Unterstützt wurde der von der WRG Wirtschaftsförderung Region Göttingen<br />
ausgeschriebene Wettbewerb von den Sparkassen Göttingen, Duderstadt,<br />
Münden und Osterode am Harz sowie von der EAM, dem Measurement<br />
Valley und dem Niedersächsischen Ministerium für Umwelt, Energie, Bauen<br />
und Klimaschutz. <strong>faktor</strong> gratuliert allen Teilnehmern zu ihrem Ideenreichtum!<br />
TEXT LEA VAN DER PÜTTEN FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
4 |<strong>2019</strong> 39
unternehmen<br />
DIE GEWINNER<br />
Kategorie Gründer und Jungunternehmen (0 bis 2 Jahre)<br />
1. PLATZ<br />
IndiScale GmbH, Göttingen<br />
LinkAhead – Thinking Data Management Ahead<br />
Die Idee: Anpassung der Link-Ahead-Software an die dynamische Realität und<br />
somit eine Verbesserung des Datenmanagements, sei es beim Auffinden von<br />
Daten oder bei der Suche von Altdaten<br />
2. PLATZ<br />
freibeik – Iris-Sabine Langstädtler, Bremen<br />
freibeik – Fahrradfahren neu erleben<br />
Die Idee: ein Gelenk, das unter dem Fahrradsattel montiert wird und dazu<br />
führt, dass der Sattel sich den natürlichen Hüftbewegungen anpasst, was<br />
Rückenschmerzen und andere körperliche Beschwerden verringern soll<br />
3. PLATZ<br />
Abbundzentrum Seulingen, Seulingen<br />
Neugestaltung des Abbundprozesses<br />
Die Idee: Entlastung von Handwerksunternehmen im holzverarbeitenden<br />
Gewerbe mittels dreidimensionaler Modellplanung und durch den Einsatz<br />
einer neuen computergestützten vollautomatisierten Anlage<br />
Kategorie Bewerber mit bis zu 20 Mitarbeitern<br />
1. PLATZ<br />
GoePaTec GmbH, Göttingen<br />
GoePaTec MSGo 2.0 – Digitalisierung in der Fertigung<br />
Die Idee: Entwicklung des Software- und Hardwarekonzepts MSGo, mit dem<br />
sich Preise kalkulieren, das Lager verwalten und die Fertigung organisieren lässt;<br />
Verfügbarmachen von Wissen einzelner Mitarbeiter für alle durch die Einbindung<br />
von Bildern, Zeichnungen und Erläuterungen sowie einer Kommentarfunktion<br />
2. PLATZ<br />
MeyerundKuhl Spezialwäschen GmbH, Hardegsen<br />
Testverfahren – Waschleistung – kontaminierte PSA<br />
(Persönliche Schutzausrüstung)<br />
Die Idee: mit einem Spezialverfahren nachweisen, dass die Schutzbekleidung von<br />
Feuerwehrkräften nach der Reinigung frei ist von krebserregenden Stoffen und<br />
damit gesundheitsunschädlich<br />
3. PLATZ<br />
Img.ai, Göttingen<br />
Automatisierung des Spermiogramms<br />
Die Idee: ein Prototyp, mit dem künftig Spermiogramme präziser und sekundenschnell<br />
ausgewertet und in der Datenbank hinterlegt werden können und somit<br />
die Arbeit von Kinderwunschzentren erleichtert und optimiert werden kann<br />
Kategorie Unternehmen mit über 20 Mitarbeitern<br />
1. PLATZ<br />
KWS SAAT SE, Einbeck<br />
Erntezeitpunkt Silomais online bestimmen<br />
Die Idee: anhand von Satellitenbildern für Kunden den optimalen Erntezeitpunkt<br />
von Silomais bestimmen<br />
2. PLATZ<br />
Eisenhuth GmbH & Co. KG, Osterode am Harz<br />
RaSaNT-Hybrid<br />
Die Idee: ein Greifer, der mit vielen unterschiedlichen Kunststoff- oder<br />
Metallbauteilen umgehen kann und somit zur Automatisierung von der<br />
Serienfertigung von Hybridbauteilen beiträgt<br />
3. PLATZ<br />
Leitec – Firmengruppe, Heilbad Heiligenstadt<br />
leitec Hybridkollektor mit innovativer Steuerung<br />
Die Idee: Entwicklung eines Hybridkollektors mit der dazugehörigen<br />
Steuer- und Regelungstechnik zur Stabilisierung des Betriebs und zur<br />
Optimierung des Energieertrags<br />
Sonderpreis Umwelt<br />
Nefino GmbH, Hannover<br />
Location Intelligence für die Windindustrie<br />
Die Idee: Entwicklung einer Analysesoftware, die die Standorte von Windkraftanlagen<br />
bewertet, wodurch schnell beurteilt werden kann, ob eine Weiternutzung,<br />
ein Rückbau oder eine Erneuerung von bestehenden Anlagen<br />
wirtschaftlich sinnvoll ist<br />
Sonderpreis Integration und Soziales<br />
Fahrschule am Bahnhof, Göttingen<br />
Zurück in den Beruf mit dem No Handicap Truck<br />
Die Idee: Absolvierung einer zwölfwöchigen Ausbildung zum Berufskraftfahrer<br />
für Menschen mit einer Querschnittslähmung oder mit einer Beinprothese<br />
Sonderpreis Wissenschaft und Bildung<br />
DEMOCRACY Deutschland e. V., Göttingen<br />
Digitales Politikcontrolling & Wahlempfehlung<br />
Die Idee: eine App, die das Abstimmungsverhalten von Bundestagsabgeordneten<br />
transparent und für jedermann nachvollziehbar darstellt, wodurch Nutzer über<br />
aktuelle Gesetzesvorhaben abstimmen können und so herausfinden, welcher<br />
Abgeordnete im Laufe der Zeit über die verschiedenen Politikbereiche hinweg<br />
am ehesten ihre Interessen vertritt<br />
Sonderpreis Messtechnik<br />
Nokra GmbH, Sessenschmidt GmbH, Fachhochschule Südwestfalen<br />
Heißmesszelle für die Schmiedeindustrie<br />
Die Idee: die Möglichkeit, bis zu 1.250 Grad Celsius heiße Teile sofort nach dem<br />
Umformprozess dem Förderband zu entnehmen, geometrisch zu messen und<br />
zu prüfen, wodurch der Produktionsprozess insgesamt effizienter gemacht und<br />
der Ausschuss minimiert werden soll<br />
40 4 |<strong>2019</strong>
Wir sind innovativ !<br />
www.fh-bifo.de<br />
www.arineo.de<br />
www.harz-hilft.org<br />
www.goepatec.de<br />
www.stemcell.med.uni-goettingen.de/<br />
www.energieagentur-goettingen.de<br />
www.drk-georgia-augusta.de/<br />
kinderhospiz-sternenlichter<br />
www.gesunder-wmk.de<br />
www.eisenhuth.de<br />
www.leitec.de<br />
www.rlc-goettingen.de<br />
www.nokra.de<br />
Stil<br />
❉ LEBENSART UND WOHNKULTUR IN SÜDNIEDERSACHSEN<br />
www.regiolanda.de<br />
www.mehralseinmagazin.de<br />
Weitere Infos unter:<br />
www.innovationspreis-goettingen.de
unternehmen<br />
„Es gibt Führungsarbeit,<br />
aber keine Führungskräfte“<br />
Die Arineo GmbH hat eine turbulente Entwicklung hinter sich. Innerhalb eines halben Jahres ist das<br />
Göttinger IT-Unternehmen von 30 auf 200 Mitarbeiter gewachsen.<br />
Der Schlüssel zum Erfolg des Start-ups: das Prinzip der kollegialen Führung.<br />
INTERVIEW SVEN GRÜNEWALD FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
LESEZEIT: 7 MINUTEN<br />
Im Dezember 2018 wurde die Arineo GmbH gegründet – sie soll perspektivisch eine EOC werden, eine<br />
Employee Owned Company: Das Unternehmen soll nach zehn Jahren zu 100 Prozent den Mitarbeitern<br />
gehören. Gleichzeitig hat sich das IT-Unternehmen entschieden, auf eine klassische hierarchische Organisation<br />
zu verzichten und setzt auf das Prinzip der kollegialen Führung. Seit der Gründung entwickelt sich die<br />
Arineo hochdynamisch. Was mit 30 Mitarbeitern begann, hat inzwischen über 200 Mitarbeiter. Ein Quartett<br />
von ihnen – Wibke Jellinghaus (Projektmanagerin und im Aufsichtsrat), Ruven Heybowitz (Chief Transformation<br />
Officer und im Aufsichtsrat), Christian Lemburg (Solution Architect), Lea Barchewitz (Projektmanagerin<br />
und Agile-Coach) – sprechen im Interview darüber, was ,ihr‘ Unternehmen so erfolgreich macht.<br />
Die Arineo stellt in zweifacher Hinsicht eine Besonderheit<br />
dar: Sie ist in der Organisationsstruktur als eine Employee<br />
Owned Company (EOC) aufgebaut und setzt als Organisationsprinzip<br />
auf das der kollegialen Führung. War das von<br />
Anfang an Ziel bei der Neugründung?<br />
Christian Lemburg: Zu einer EOC-Inhaberstruktur, bei<br />
der jeder Mitarbeiter auch Inhaber ist, passt die kollegiale<br />
Führung natürlich sehr gut. Aber die Entscheidung<br />
für beides lief unabhängig voneinander. Zuerst war klar,<br />
dass wir eine EOC gründen wollten. Erst zeitlich deutlich<br />
danach haben wir uns dafür entschieden, uns auf die<br />
kolle giale Führung einzulassen, um unser Bedürfnis nach<br />
einer besseren Managementstruktur zu befriedigen.<br />
Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen kollegialer<br />
Führung und einer klassischen Hierarchie mit Managementstrukturen?<br />
Wibke Jellinghaus: Im Gegensatz zu einer klassischen<br />
hierarchischen Führungsstruktur, die im Grunde eine<br />
Linienorganisation ist, bietet die kollegiale Führung die<br />
Möglichkeit, eine Multihierarchie einzuführen. Es gibt<br />
zwar weiterhin Führungsarbeit, aber keine Führungskräfte,<br />
weil diese Führungsrollen rotieren und immer wieder<br />
von anderen wahrgenommen werden. Das geschieht<br />
in Teams, die sich sowohl planend als auch aufgabenverteilend<br />
selbst organisieren und eine gewisse Finanzentscheidungsbefugnis<br />
haben. Das ermöglicht eine ver-<br />
42 4 |<strong>2019</strong>
unternehmen<br />
Auf einer Ebene Wibke Jellinghaus, Ruven Heybowitz, Lea Barchewitz und Christian Lemburg (v.l.) arbeiten mit kollegialer Führung<br />
bei Arineo ganz ohne eine klassische Linien-Hierarchie.<br />
besserte Bearbeitung von Entscheidungssituationen, weil<br />
dazu das konkrete Expertenwissen und das Wissen um<br />
genaue Informationen zur Problemstellung genutzt wird<br />
– und nicht eine entfernte Führungskraft, die sich mit den<br />
Details gar nicht auskennen kann.<br />
Können Sie das etwas konkreter machen?<br />
Lemburg: Nehmen wir ein Projekt, bei dem eine Priorisierungsentscheidung<br />
über den Einsatz von Mitarbeitern<br />
ansteht. Die klassische Lösung ist, dass das über zwei<br />
oder drei Stufen die Hierarchie hochtransportiert wird.<br />
Auf jeder Stufe müssen Sie darüber berichten, worum es<br />
geht. Dabei geht die konkrete Information über den Fall<br />
oft verloren oder wird simplifiziert. Auch das Fachwissen<br />
zur Entscheidung, beispielsweise die Ressourcenlage, ist<br />
oben in der Hierarchie nicht vorhanden. Also werden im<br />
Ergebnis suboptimale Entscheidungen getroffen, die<br />
nicht immer im Gesamtinteresse des Unternehmens sind.<br />
Ruven Heybowitz: In klassischen Unternehmen lassen<br />
sich regelmäßig politisch motivierte Machtkämpfe um<br />
Personal und andere knappe Ressourcen beobachten, die<br />
für alle Beteiligten frustrierend sind und erfahrungsgemäß<br />
nicht zu einer optimalen Allokation führen. Diese<br />
haben wir weitestgehend eliminiert, indem wir die Entscheidungsautonomie<br />
in die Projektteams verlagert haben,<br />
weil diese Entscheidungen schneller und in höherer<br />
Qualität treffen können als Manager in einer klassischen<br />
Linienorganisation. Wir sehen, dass die Rate an einvernehmlicher<br />
Konfliktlösung dadurch zunimmt.<br />
Jellinghaus: Eine weitere Beobachtung ist, dass wir<br />
durch die kollegiale Führung die Geschwindigkeit und<br />
Genauigkeit bei Entscheidungen verbessern konnten.<br />
Ein weiterer Nutzen ist, dass die kollegiale Führung den<br />
Mitarbeitern die Gelegenheit gibt, sich selbst kreativ in<br />
Arbeitsabläufe und die Organisationsgestaltung einzubringen.<br />
Und da wir lauter sehr gut ausgebildete und<br />
motivierte Mitarbeiter haben, haben sie dieses Bedürfnis<br />
auch.<br />
Heybowitz: Auch das unternehmerische Bewusstsein<br />
verändert sich positiv. In klassischen Organisationen behalten<br />
Manager Einnahmen und Ausgaben im Auge,<br />
zentrale Abteilungen koordinieren Reisen, Beschaffungsfragen<br />
etc. Wir versuchen sicherzustellen, dass die Mitarbeiter<br />
möglichst alle relevanten Informationen haben,<br />
um kluge Entscheidungen treffen zu können. Diese<br />
4 |<strong>2019</strong> 43
unternehmen<br />
Transparenz erzeugt verantwortungsvolles Verhalten im<br />
Umgang mit Ressourcen. Wenn man weiß, was im Portmonee<br />
ist, kann man auch besser beurteilen, was man<br />
sich leisten kann.<br />
Welche Nachteile oder Probleme sind beim Umstieg auf die<br />
neue Führungskultur aufgetreten?<br />
Lea Barchewitz: Die größte Hürde war, sich bewusst zu<br />
machen, dass es ein Prozess ist, sich die kollegiale Führung<br />
bei uns noch entwickelt und wir eher am Anfang<br />
dieses Prozesses stehen. Mit der klassischen Hierarchie<br />
sind gewisse Strukturen verlorengegangen, die auch<br />
Sicherheit geben oder Weichen stellen. Beispiel Mitarbeiterjahresgespräch:<br />
Mit wem spreche ich über Gehalt<br />
oder persönliche Weiterentwicklung, wenn die Führungskraft<br />
weg ist? Das erfordert sehr viel Kommunikation<br />
– und dass man alle Mitarbeiter dabei mitnimmt.<br />
Gleichzeitig steigt durch die kollegiale Führung auch<br />
der Kommunikationsaufwand an, weil auf einmal viel<br />
mehr Leute mitreden.<br />
Wo klappt es noch nicht?<br />
Barchewitz: Unsere neuen Mitarbeiter, die aus einer<br />
klassischen Hierarchie kommen, müssen sich zunächst<br />
daran gewöhnen, selbst Verantwortung zu übernehmen<br />
– das kann für einige zunächst eine Herausforderung<br />
darstellen. Innerhalb der kollegialen Führung wird die<br />
Strukturierung der Arbeit von einer Zuteilung durch<br />
den Chef hin zu einer selbstorganisierten Arbeitsweise<br />
durch den Mitarbeiter ersetzt. Das hat auch viel mit<br />
Zeitmanagement zu tun. Eine weitere Veränderung<br />
kommt auf frühere Führungskräfte zu, da das alte Rollenbild<br />
und die hiermit verbundenen Aufgaben einer<br />
Führungskraft entfallen. Damit fällt der Titel weg, über<br />
den man sich vielleicht vorher stark definiert hat, und<br />
damit auch Macht und Einfluss. Es kann mitunter<br />
schwierig sein, diese Rolle abzulegen.<br />
Jellinghaus: Der Mensch kann sich mit Vertrauen und<br />
Freiräumen besser entwickeln. Er wird nicht kreativ,<br />
wenn er sich Sorgen macht oder das Eigenbedürfnis<br />
nach Sinnerfüllung in seiner Tätigkeit nicht erfüllt wird.<br />
Das wird gerne als leere Floskel abgetan, aber das ist es<br />
im Alltag überhaupt nicht, denn: Ich muss meinen Kollegen<br />
vertrauen, weil ich selbst nie alles wissen kann.<br />
Wir sehen, dass es tatsächlich funktioniert. Mit der Organisationsform<br />
ist eine hohe Effizienz verbunden.<br />
Lemburg: Aber natürlich knirscht es überall – wir sind<br />
ein neues Unternehmen, und wir sind innerhalb von einem<br />
halben Jahr von 30 auf 200 Mitarbeiter gewachsen.<br />
Normalerweise würde man sagen, dass das nur ein<br />
totales Chaos geben kann. Und ja, das war teilweise totales<br />
Chaos, in einigen Bereichen ist die Effizienz auch<br />
erst einmal gesunken, was aber durch andere Produktivitätseffekte<br />
mehr als ausgeglichen wurde. Daher haben<br />
wir trotzdem Gewinne gemacht. Das heißt, wir haben<br />
noch ein hohes Potenzial, das wir rausholen können,<br />
wenn es effizient läuft. Da sind wir aber noch nicht und<br />
können wir auch nicht sein.<br />
Heybowitz: Umgekehrt wären wir wahrscheinlich mit<br />
einer klassischen Struktur für dieses schnelle Wachstum<br />
viel zu langsam und unflexibel gewesen. Wenn man den<br />
Mitarbeitern detailliert vorgibt, was sie zu tun haben,<br />
tun sie regelmäßig auch nur das. Wir hatten in der Anfangsphase<br />
schlicht eine sehr lange Liste an Aufgaben,<br />
die es zu erledigen galt, und waren darauf angewiesen,<br />
dass sich Personen finden, die sich diese Aufgaben zutrauen<br />
und sie dann einfach übernehmen. Das hat in beeindruckender<br />
Weise funktioniert und war insbesondere<br />
für die Ex-Führungskräfte eine wichtige Erfahrung: Man<br />
kann die Menschen einfach machen lassen.<br />
Agilität in Projektteams – also sich schnell an sich verändernde<br />
Rahmenbedingungen anpassen – gilt als ein wesentliches<br />
Rezept in Unternehmen, um auf immer kürzere Innovationszyklen<br />
zu reagieren. Welche Hürden existieren in<br />
klassischen Unternehmen, um agiler zu werden?<br />
Barchewitz: Ein Hindernis sind die Strukturen und die<br />
Kommunikationswege. In der Agilität ist Transparenz in<br />
Kommunikation und Information das höchste Gut, sodass<br />
man seine Arbeitsinhalte immer wieder auf den<br />
neusten Stand bringen und anpassen kann. In klassischen<br />
Unternehmen erweist es sich als schwierig, über<br />
die Hierarchieebenen unternehmensübergreifend zu<br />
kommunizieren – die eine Abteilung weiß oft nicht, was<br />
die andere macht. Und dass man eigeninitiativ die Hierarchie<br />
umgeht und direkt mit Kollegen aus anderen Abteilungen<br />
spricht, ist nicht gern gesehen. In der Agilität reden<br />
wir aber auch von einer Fehlerkultur – also Fehler<br />
möglichst früh machen, um daraus zu lernen, und die<br />
weiteren Schritte daran anpassen. In großen Unternehmen<br />
ist diese Fehlerkultur allerdings nicht so stark ausgeprägt.<br />
Mit Agilität ist letztlich auch ein Wandel des<br />
Mindsets in einem Unternehmen verbunden. Aber den<br />
zu verändern, ist ein langwieriger Prozess.<br />
Vielen Dank für das Gespräch!<br />
Arineo GmbH<br />
Paulinerstr. 12<br />
37073 Göttingen<br />
Tel. 0551 521380<br />
info@arineo.com<br />
www.arineo.com<br />
44 4 |<strong>2019</strong>
präsentiert:<br />
Erfolgreiche Entscheider<br />
aus der Region<br />
Südniedersachsen<br />
4 |<strong>2019</strong> 45
PROFIL<br />
TOPENTSCHEIDER<br />
Uns kann man kein X<br />
für ein U vormachen<br />
Cohn in Göttingen – die Experten für Spiralfedern und professionelle Zerspanungsmechanik<br />
Andreas Funke, Geschäftsführer<br />
46 4 |<strong>2019</strong><br />
In der Luft liegt der Geruch von Öl und Metall.<br />
Der Lärm der Fräsen und Dreh maschinen<br />
macht die Verständigung schwer.<br />
Dirk Overkamp, Geschäftsführender Gesellschafter<br />
von Cohn Spiralfedern + Gerätebau<br />
GmbH, führt durch die Werkhalle, in der elf<br />
Fräs- und sieben CNC-Drehmaschinen stehen.<br />
Hier werden Bauteile für die Laser-, Wägeund<br />
Optikindustrie, die Medizintechnik, die<br />
Garnie rungsindustrie und für die Durchflussmesstechnik<br />
hergestellt. Und natürlich werden<br />
auch Federn produziert: Wurmfedern, Zugfedern,<br />
Blattfedern, Überlastfedern oder Knickschutzspiralen,<br />
teils maschinell oder im Bedarfsfall<br />
auch ganz manuell. „Das ist dann<br />
pure Handarbeit“, so Overkamp. Federn sind<br />
auch das ursprüngliche Geschäft von Cohn<br />
Spiralfedern, so der 53-Jährige, der schon seit<br />
1990 dem Betrieb angehört.<br />
DAMALS SUCHTE DER GELERNTE FEIN<br />
MECHANIKER nach seiner Ausbildung und<br />
verschiedenen Anstellungen nach neuen Herausforderungen.<br />
Bei Cohn Spiralfedern fand<br />
er sie: „Hier konnte ich mich ausprobieren.“<br />
Der Weg zur neuen Anstellung war nicht unbedingt<br />
klassisch. Statt der Bewerbung auf<br />
eine Anstellung wurde Overkamp gefragt, ob<br />
er nicht bei Cohn Spiralfedern anfangen wolle,<br />
Firmeninhaber Roland Funke suche Verstärkung<br />
für sein wachsendes Unternehmen. Und<br />
Overkamp wollte. 2005 wagte er den nächsten<br />
Schritt und fragte bei Funke senior an, ob er in<br />
den Betrieb mit einsteigen könne.<br />
In den Betrieb hineingeboren wurde dagegen<br />
Andreas Funke, Sohn von Roland Funke.<br />
„Nach meiner Lehre bei Sartorius zum Werkzeugmacher<br />
bin ich in den Betrieb meines Vaters<br />
eingestiegen“, erinnert sich der gebürtige<br />
Göttinger. Erst als Dreher und Fräser in der<br />
Produktion, dann in der Geschäftsführung.<br />
Der 48-Jährige schätzt die tägliche Herausforderung,<br />
die sein Beruf mit sich bringt. „Man<br />
kann gestalten und entwickeln.“<br />
BEIDE INHABER KOMMEN aus der Praxis<br />
und wissen, worum es in ihrem Bereich geht:<br />
„Uns kann man kein X für ein U vormachen.“<br />
Die Zusammenarbeit der beiden läuft Hand<br />
in Hand. Zeit, um selbst gelegentlich an der<br />
Fräse zu stehen, bleibt allerdings kaum – sehr<br />
zum Bedauern von Overkamp.<br />
Dafür haben Overkamp und Funke ein gut<br />
ausgebildetes Team. Beiden ist es wichtig, dass
PROFIL<br />
FOTO: ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
Dirk Overkamp, Geschäftsführender Gesellschafter, am neuen 5achs-Bearbeitungszentrum Hedelius T7<br />
das Verhältnis zu den Mitarbeitern stimmt.<br />
„Wir sind ein familiengeführter Betrieb mit einem<br />
guten Betriebsklima und einem gut funktionierenden<br />
Miteinander“, so Funke.<br />
DER GÖTTINGER TRADITIONSBETRIEB hat<br />
sich in den Jahren seit seiner Gründung 1946<br />
stetig weiterentwickelt und neue Geschäftsfelder<br />
für sich eröffnet. Die Herstellung von<br />
Federn macht dabei nur noch einen kleinen<br />
Teil des Umsatzes aus, was Funke und Overkamp<br />
mit einer gewissen Wehmut berichten.<br />
Der Schwerpunkt der Produktion liegt im<br />
Drehen und Fräsen von Edelstahl, NE-Metal len<br />
und Kunststoffen. Das Unternehmen kann auf<br />
einen stattlichen Maschinenpark mit CNC-Fräsen<br />
und Drehmaschinen blicken. „Durch den<br />
Einsatz von 5-Achs CNC-Fräsen wird die Fabrikation<br />
besonderer Werk stücke ermöglicht“,<br />
erklärt Overkamp und zeigt dabei an einem<br />
Werkstück die verschiedenen Bearbeitungsebenen.<br />
Der Einsatz von großen Fahrständer-<br />
3-Achs- Bettfräsmaschinen ist für das Unternehmen<br />
ein Alleinstellungsmerkmal in der<br />
Region.<br />
Durch den Platzmangel am Standort lagern<br />
Halbzeuge und Materialien sowie fertige Produkte<br />
in Paternoster-Regalen. „Die Investition<br />
in eine neue 5-Achs-CNC-Fräsmaschine mit<br />
großen Verfahrwegen, ermöglicht uns auch,<br />
dass wesentlich größere Bauteile – wie etwa<br />
ein sogenannter Strahlfänger, der in der optischen<br />
Industrie seine Verwendung findet<br />
– produziert werden können.“ Gefräst aus einem<br />
Stück Aluminium.<br />
DER BETRIEB HAT DEN ERSTEN SCHRITT<br />
Richtung Digitalisierung und Wirtschaft 4.0<br />
getan – die Arbeitsabläufe haben sich mit<br />
den Jahren deutlich geändert. „ Mittlerweile<br />
müssen die Fräsen und Drehmaschinen<br />
nicht mehr nur direkt vor Ort programmiert<br />
werden, wir haben auch sogenannte CAD-<br />
CAM-Arbeits plätze, die ein Programmie ren<br />
vom Schreibtisch aus ermöglichen“, so Funke.<br />
Die Investition in die Zukunft ist Funke und<br />
Overkamp sehr wichtig. Nur so könne man<br />
am Markt bestehen. „Man muss ein Gespür<br />
dafür entwickeln, was kommt.“ Und das werden<br />
laut Overkamp komplexe Bauteile sein,<br />
etwas, was Cohn Spiralfedern + Gerätebau<br />
beherrscht.<br />
TEXT: CAROLIN SCHÄUFELE<br />
KONTAKT<br />
COHN Spiralfedern + Gerätebau GmbH<br />
Karl-Arnold-Straße 6c<br />
37079 Göttingen<br />
Tel. 0551 633 92 86<br />
info@cohn-goettingen.de<br />
www.cohn-goettingen.de<br />
4 |<strong>2019</strong> 47
PROFIL<br />
TOPENTSCHEIDER<br />
Ästhetik und Präzision<br />
– das zeichnet Prenc Dental aus.<br />
„Wir arbeiten nachhaltig<br />
mit unseren Partnerinnen<br />
und Partnern zusammen,<br />
um das optimale Ergebnis<br />
für Zahnersatz zu<br />
bekommen.“<br />
48 4 |<strong>2019</strong><br />
Prenc Dental gehört zu den Erfolgsgeschichten<br />
in Göttingen. Das Dentallabor<br />
mit Sitz in der Bühlstraße 19 und<br />
am Opernplatz in Frankfurt am Main bietet im<br />
Bereich Zahntechnik erstklassige Resultate.<br />
Zahntechnikermeister Blaz Prenc vertritt die<br />
Meinung, dass qualitativ hochwertige Ergebnisse<br />
in seinem Berufsfeld nur möglich sind,<br />
wenn drei Faktoren perfekt zusammenspielen:<br />
hohe Anforderungen der Klienten in Hinblick<br />
auf Ästhetik, beste Ausbildung der Mitarbeiter<br />
und ein gemeinsames Gefühl für den Geist<br />
und das Schönheitsideal der Zeit.<br />
PRENC HAT SEINE LIEBE ZUR ZAHNTECH<br />
NIK bereits früh entdeckt: „Ich bin mit zwölf<br />
Jahren immer nach der Schule in das Dentallabor<br />
gegangen, das seinen Sitz in meinem Elternhaus<br />
hatte. Da durfte ich zuschauen und<br />
auch manchmal mithelfen“, erinnert sich der<br />
gebürtige Göttinger an die für ihn prägende<br />
Zeit. Mit 16 begann er – quasi von Haus aus<br />
bestens ausgestattet mit Fachwissen – dann<br />
seine Lehre zum Dentaltechniker.<br />
Es folgten verschiedene Anstellungen in<br />
Dentallaboren. „Danach war ich im Praxislabor<br />
einer Zahnarztpraxis angestellt und hatte<br />
direkten Kontakt zu den Kunden, dabei konnte<br />
ich mein Können noch einmal nachhaltig<br />
verfeinern.“ Es folgten zwei Jahre Ausbildung<br />
zum Zahntechnikermeister. „Ich habe neben<br />
der Arbeit die Schule besucht und die Prüfung<br />
abgelegt“, die Schule lag in Frankfurt am Main.<br />
Vollkeramische Versorgungen, Non-Prep<br />
und Minimal-Prep-Veneers, Kombi- und Teleskoptechnik,<br />
Ästhetische Implantologie sind<br />
nur einige Produkte, die seine Labore anbieten.<br />
„Wir dokumentieren alle Besprechungsund<br />
Behandlungsergebnisse mit State-ofthe-Art-Technik.“<br />
Auch das Equipment und<br />
Ambiente seiner beiden Standorte ist modern<br />
und exklusiv. „Es soll den Erwartungen unserer<br />
ambitionierten Kundschaft entsprechen.“<br />
Kunden seien in beiden Laboren nach Anmeldung<br />
herzlich willkommen.<br />
DER UMGANG MIT DEN KUNDEN ist für<br />
Prenc ein wichtiger Faktor. Denn nur durch<br />
den persönlichen Kontakt und die persönliche<br />
Beratung kann am Ende die Qualität herauskommen,<br />
für die sein Labor bekannt ist: bestmögliche<br />
Ergebnisse, wenn es um Zahnersatz<br />
und Zahnästhetik geht. „Jeder Patient hat eine<br />
andere Vorstellung von dem, was er sich von<br />
unserer Arbeit wünscht. Und erst durch den<br />
persönlichen Austausch kann ich darauf dann<br />
auch entsprechend eingehen.“ Zu seinem Service<br />
zählen so selbstverständlich auch Hausbesuche.<br />
Der 42-Jährige hat sein Labor so aufgebaut,<br />
dass es sich für alles zuständig fühlt, was<br />
die Produktion von erstklassigen Resultaten<br />
möglich macht: eine individuell auf den Kunden<br />
abgestimmte Beratung, auftragsgemäße<br />
Ausführung und termingerechte Lieferung,<br />
gepaart mit Respekt, Charme und dem Anspruch<br />
auf Premiumarbeit.<br />
Prenc gründete sein erstes eigenes Labor<br />
in einer Doppelgarage in seiner Heimatstadt.<br />
„Das war in einer Zeit, in der sich viele große<br />
Labore verkleinern mussten, ich hingegen<br />
habe expandiert.“ Heute sitzt sein Labor in einem<br />
historischen Gebäude in der Bühlstraße,<br />
am Eingangsbereich ein dezentes Schild, pas-
PROFIL<br />
FOTO: ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
Bei Tageslicht bestimmt Zahntechnikermeister Blaz Prenc (l.) bei der persönlichen Farbauswahl am Patienten Kurt R. Stratemann<br />
send zu seiner Kundschaft. Sowohl in Göttingen<br />
als auch in Frankfurt am Main zählen zahlreiche<br />
Prominente aus Politik, Adel und High<br />
Society zu seinen Kunden. „Wir zeichnen uns<br />
dadurch aus, dass wir keine Massenware produzieren,<br />
sondern uns auf unser Handwerk<br />
verlassen.“ Und das überzeuge Kunden und<br />
Zahnärzte. „Wir arbeiten nachhaltig mit unseren<br />
Partnerinnen und Partnern zusammen,<br />
um das optimale Ergebnis für Zahnersatz zu<br />
bekommen.“<br />
BEI IHM HABE DAS PRÄDIKAT Made in<br />
Germany einen besonders hohen Stellenwert,<br />
denn – und da ist sich Prenc sicher – ähnliche<br />
Erzeugnisse aus Fertigungen außerhalb der<br />
EU würden sicher nicht die bei ihm erwarteten<br />
oder geforderten Qualitätskriterien erfüllen.<br />
Das Feedback, das er für seine Arbeit bekommt,<br />
spricht dafür: „Wir haben eine unglaubliche<br />
Resonanz von unseren Kunden.<br />
Sie sind über die Maßen zufrieden.“<br />
Seine Mitarbeiter sind handverlesen. „Ich<br />
habe ein Team aus Spezialisten, die sehr<br />
viel Erfahrung in unserem Premium sektor<br />
mitbringen.“ Prenc legt größten Wert darauf,<br />
dass sie sich kontinuierlich weiter bilden<br />
und auch die dafür notwendige Motivation<br />
mitbringen. Nur so könnten die Vorstellungen<br />
seiner anspruchsvollen Klientel in<br />
Form von feinster Zahnästhetik umgesetzt<br />
werden.<br />
DEN SCHWERPUNKT SEINER ARBEIT<br />
legt der Zahntechnikmeister auf funktionelle<br />
Ästhetik, sein Steckenpferd: „Ich schätze es, WWW.prenc-dental.de<br />
meine Kunden zu beraten, ihnen aufzuzeigen,<br />
was möglich ist und was eventuell auch zu<br />
weit gehen könnte.“<br />
KONTAKT<br />
PRENC DENTAL in Göttingen<br />
Dass er mit der Leitung seines Unternehmens<br />
erfolgreich ist, zeigt die beeindruckende 37073<br />
prenc dental Bühlstraße GmbH 19· Bühlstraße 19 · 37073 Göttingen<br />
t +49 (0)551<br />
Göttingen<br />
900 46 50 · info@prenc-dental.de<br />
Liste seiner Patienten, auf die Prenc mit Stolz Tel. 0551 900 46 50<br />
blickt.<br />
info@prenc-dental.de<br />
www.prenc-dental.de<br />
TEXT: CAROLIN SCHÄUFELE<br />
4 |<strong>2019</strong> 49
PROFIL<br />
FOTO: ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
TOPENTSCHEIDER<br />
Handel im Wandel<br />
Technische Innovationen und ein großes Sortiment – Thorsten Metz leitet seit 17 Jahren<br />
Saturn Göttingen.<br />
Thorsten Metz ist bei Saturn Göttingen<br />
ein echtes Urgestein. Seit 2002 ist er<br />
Geschäftsführer, bereits davor war er<br />
als Trainee bei dem Elektronikgroßhändler beschäftigt.<br />
„Als ich hier anfing, gab es bei uns<br />
noch Videokassetten und Röhrenfernseher,“<br />
erinnert sich der Familienvater. Heute habe<br />
sich das Sortiment grundlegend geändert, im<br />
Angebot sind Smartphones, sprachgesteuerte<br />
Bluetooth-Boxen oder Tablets. „Ich denke,<br />
dass in Zukunft dann vermehrt E-Roller, Drohnen,<br />
3D-Drucker, faltbare Smartphones oder<br />
auch Streamingdienste das Angebot bestimmen<br />
werden.“<br />
NICHT NUR DAS WARENANGEBOT hat<br />
sich massiv verändert, auch das Geschäftsmodell<br />
ist ein anderes. „Früher waren wir ein<br />
komplett dezentraler Markt mit alleinigen<br />
Kompetenzen über Preise, Sortiment, Lieferanten<br />
und Werbestrategien.“ Metz erinnert<br />
sich noch daran, dass er und seine Kollegen<br />
damals einmal pro Woche bei den Wettbewerbern<br />
in Göttingen, Northeim und Duderstadt<br />
vorbeischauten, um Sortiment und<br />
Preise zu vergleichen. „Heute gibt es Algorithmen,<br />
die Preise berechnen und Angebote<br />
vergleichen.“<br />
50 4 |<strong>2019</strong><br />
DURCH DIE DIGITALISIERUNG sei der<br />
Markt vollkommen transparent. Saturn habe<br />
bei der Symbiose von On- und Offline eine<br />
echte Marktführerposition, betont Metz. Der<br />
entscheidende Vorteil gegenüber dem reinen<br />
Internetversandhandel: Die begehrtesten Waren<br />
hat der Markt vor Ort vorrätig, alle anderen<br />
Warengruppen sind im Onlineshop verfügbar.<br />
„Reserviert der Kunde online ein vorrätiges<br />
Produkt, kann er es nach 15 Minuten bei uns<br />
im Markt abholen.“ Metz will den Service, den<br />
sein Haus bietet, sogar noch weiter aus- und<br />
aufbauen. „Die angebotenen Dienste werden<br />
bei den Kunden immer wichtiger, wir wollen<br />
den bestmöglichen Service bieten.“ Dabei<br />
geht es nicht nur um Dinge wie die klassische<br />
Lieferung und die Installation von Großgeräten,<br />
Saturn in Göttingen bietet individuelle<br />
Beratungen zum Beispiel zu Handyverträgen<br />
oder Finanzierungsmöglichkeiten, zu Garantieverträgen,<br />
Stromanbietern und Streamingdiensten.<br />
„Wir vermitteln auch Techniker, die<br />
beispielsweise zu unseren Kunden nach Hause<br />
fahren, um einen Router anzuschließen,<br />
oder wir bereiten beispielsweise Notebooks,<br />
Spielekonsolen und Navigationsgeräte in unserem<br />
Markt so vor, dass der Kunde ohne lästiges<br />
Einrichten sofort loslegen kann.“<br />
THORSTEN METZ IST HÄNDLER durch<br />
und durch, sein Motto: „Handel ist Wandel.“<br />
Etwas, das ihn schon früh begeistert hat. „Ich<br />
stehe jeden Tag auf und weiß nicht, was heute<br />
passieren wird, wen ich treffe und mit welchen<br />
Fragestellungen ich mich befassen darf.“<br />
Dazu gehören neben dem ständigen Blick<br />
auf die Wirtschaftlichkeit auch ein gutes<br />
Arbeitsklima und eine wertschätzende Menschenführung.<br />
KONTAKT<br />
Saturn Göttingen<br />
Einkaufszentrum Carré<br />
Weender Straße 75<br />
37073 Göttingen<br />
Tel. 0551 49950<br />
www.saturn.de<br />
TEXT: CAROLIN SCHÄUFELE
PROFIL<br />
Intelligent Schließen<br />
Die Stadie GmbH sorgt mit hohem Anspruch für Sicherheit.<br />
Nach verschiedenen leitenden Tätigkeiten,<br />
zuletzt bis 2013 als Prokurist<br />
eines Göttinger Traditionsunternehmens,<br />
entschied sich Andreas Stadie (Foto),<br />
sein eigenes Unternehmen für die Projektierung<br />
und Betreuung von Schließanlagen zu<br />
gründen: die Stadie GmbH.<br />
DIE AUSWAHL DER RICHTIGEN PRODUKTE,<br />
auch in Bezug auf Funktion und Budget, die<br />
Planung der Schließfunktionen, das Aufmaß<br />
und die fachgerechte Montage der Komponenten<br />
sind für das Unternehmen dabei die<br />
Grunddisziplinen. Darüber hinaus gibt es<br />
immer wieder Situationen, die es zu berücksichtigen<br />
gilt: Werden zum Beispiel Vorgaben<br />
in Bezug auf die Rettungswegsituation übersehen,<br />
kann dies zu Ärger, Zeitverlust und in<br />
der Regel zu zusätzlichen Kosten führen. Zusätzlich<br />
gewinnt die Integration von Fremdsystemen<br />
in elektronische Schließsysteme<br />
immer mehr an Bedeutung.<br />
ÄUSSERST WICHTIG IST DER STADIE<br />
GMBH zudem die Betreuung nach der<br />
eigentlichen Projektierung. Eine ordentliche<br />
Archivierung von Planungsunterlagen,<br />
Schließplänen und Sicherungskarten sowie<br />
schnelle Beschaffungswege sind ein Garant<br />
für eine reibungslose Abwicklung im Nachgang.<br />
Aber auch die Betreuung und Erweiterung<br />
von bereits bestehenden Anlagen<br />
wird hier mit dem gleichen hohen Anspruch<br />
behandelt.<br />
KONTAKT<br />
Stadie GmbH<br />
Raseweg 4<br />
37124 Rosdorf<br />
Tel. 0551 78951355<br />
mail@stadie.de<br />
www.stadie.de
wissen<br />
Die Gemeinwohl-Ökonomie ist:<br />
… auf wirtschaftlicher Ebene eine lebbare, konkret<br />
umsetzbare Alternative für Unternehmen<br />
verschiedener Größen und Rechtsformen.<br />
Der Zweck des Wirtschaftens und die Bewertung<br />
von Unternehmenserfolg werden anhand<br />
gemeinwohlorientierter Werte definiert.<br />
… auf politischer Ebene ein Motor für<br />
rechtliche Veränderung. Ziel des Engagements<br />
ist ein gutes Leben für alle Lebewesen und den<br />
Planeten, unterstützt durch ein gemeinwohlorientiertes<br />
Wirtschaftssystem.<br />
Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit,<br />
soziale Gerechtigkeit und demokratische Mitbestimmung<br />
sind dabei die zentralen Werte.<br />
… auf gesellschaftlicher Ebene eine Initiative der<br />
Bewusstseinsbildung für Systemwandel, die auf dem<br />
gemeinsamen, wertschätzenden Tun möglichst vieler<br />
Menschen beruht. Die Bewegung gibt Hoffnung und Mut<br />
und sucht die Vernetzung mit anderen Initiativen.<br />
Sie versteht sich als ergebnisoffener, partizipativer,<br />
lokal wachsender Prozess mit globaler Ausstrahlung –<br />
symbolisch dargestellt durch die Löwenzahn-Sämchen<br />
im Logo. (Quelle: www.ecogood.org/de/idee-vision)<br />
52 4 |<strong>2019</strong>
wissen<br />
Ethik statt Egoismus<br />
Gemeinwohl-Ökonomen und Anhänger des Bedingungslosen Grundeinkommens in Südniedersachsen<br />
treiben gemeinsam den Wertewandel in unserer Gesellschaft voran.<br />
TEXT STEFAN LIEBIG ILLUSTRATIONEN STOCK.ADOBE.COM<br />
LESEZEIT: 7 MINUTEN<br />
Während die einen die Klimakatastrophe<br />
auf uns einstürzen sehen, prophezeien<br />
die anderen die weltweite<br />
Wirtschaftskrise. Manche sehen zwischen<br />
den beiden Horrorszenarien<br />
keinen Zusammenhang, manche machen die ressourcenverbrauchende<br />
und profitorientierte Wirtschaft und Finanzwelt<br />
für alle Probleme verantwortlich. Die Lösungsvorschläge,<br />
um dieser gigantischen Probleme Herr zu<br />
werden, sind höchst unterschiedlich und reichen vom<br />
einfachen ,Weiter so‘ über viel kritisierte Klimakonferenzen<br />
und -pakete bis hin zu kaum greifbaren Maßnahmenkatalogen<br />
und Rettungsschirmen für Banken. Die<br />
nächste Generation scheint mit dieser Herangehensweise<br />
nicht einverstanden und geht freitags demonstrieren.<br />
Stellt sich die Frage, worauf dies alles hinauslaufen soll<br />
– besser, man stellt es sich nicht allzu genau vor …<br />
Dies behaupten zumindest sowohl die Anhänger der<br />
Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) als auch die des Bedingungslosen<br />
Grundeinkommens. Beide vereint das Ziel<br />
einer fairen Gesellschaft, die Platz für Entfaltung bietet<br />
und Rücksicht auf die endlichen Ressourcen unseres Planeten<br />
nimmt.<br />
AKTIV IN ERSCHEINUNG GETRETEN ist in den vergangenen<br />
Monaten im südniedersächsischen Raum insbesondere<br />
die Göttinger Regionalgruppe der in Österreich<br />
gegründeten und inzwischen weltweit tätigen Gemeinwohl-Ökonomie.<br />
Mitglieder und Interessierte treffen<br />
sich regelmäßig zu Arbeitskreisen, die zunächst anhand<br />
des GWÖ-Buchs von Christian Felber die von ihm erarbeiteten<br />
Grund gedanken ausarbeiten. Mit öffentlichkeitswirksamen<br />
Veranstaltungen konnten die Mitglieder<br />
unter der Koordination von Erwin Wobbe die Idee einer<br />
faireren Wirtschaftsordnung verbreiten. Neben einer Neuordnung<br />
der Ökonomie, die auf Kooperation statt Konkurrenz,<br />
Mitarbeiterzufriedenheit und auf Nachhaltigkeit<br />
statt Ressourcenerschöpfung setzt, geht es der Gruppe<br />
besonders um die Stärkung demokratischer Prozesse.<br />
Im Neuen Rathaus berichtete beispielsweise der ehemalige<br />
Bürgermeister Michael Pelzer der bayerischen<br />
Gemeinde Weyarn über ein preisgekröntes Konzept für<br />
aktive Bürgerbeteiligung in seiner Heimat (eine weitere<br />
Veranstaltung dieser Art ist am 8. Februar geplant). „Wir<br />
haben uns so sehr an die aktuelle Wirtschaftsweise gewöhnt,<br />
dass wir glauben, Wirtschaft muss auf Egoismus<br />
aufbauen. Stattdessen will die GWÖ den Gedanken<br />
4 |<strong>2019</strong> 53
wissen<br />
WERT<br />
Menschenwürde<br />
Solidarität und<br />
Gerechtigkeit<br />
Ökologische<br />
Nachhaltigkeit<br />
Transparenz und<br />
Mitentscheidung<br />
BERÜHRUNGSGRUPPE<br />
A: Lieferanten<br />
B: Eigentümer &<br />
Finanzpartner<br />
C: Mitarbeitende<br />
D: Kunden &<br />
Mitunternehmen<br />
E: Gesellschaftliches<br />
Umfeld<br />
A1 Menschenwürde in<br />
der Zulieferkette<br />
B1 Ethische Haltung<br />
im Umgang mit<br />
Geldmitteln<br />
C1 Menschenwürde am<br />
Arbeitsplatz<br />
D1 Ethische Kundenbeziehungen<br />
E1 Sinn und gesellschaftliche<br />
Wirkung<br />
der Produkte und<br />
Dienstleistungen<br />
A2 Solidarität und<br />
Gerechtigkeit in der<br />
Zulieferkette<br />
B2 Soziale Haltung<br />
im Umgang mit<br />
Geldmitteln<br />
C2 Ausgestaltung der<br />
Arbeitsverträge<br />
D2 Kooperation und<br />
Solidarität mit<br />
Mitunternehmen<br />
E2 Beitrag zum<br />
Gemeinwesen<br />
A3 Ökologische<br />
Nachhaltigkeit in<br />
der Zulieferkette<br />
B3 Sozialökonomische<br />
Investitionen und<br />
Mittelverwendung<br />
C3 Förderung des ökologischen<br />
Verhaltens<br />
der Mitarbeitenden<br />
D3 Ökologische Auswirkung<br />
durch Nutzung<br />
und Entsorgung von<br />
Produkten und<br />
Dienstleistungen<br />
E3 Reduktion ökologischer<br />
Auswirkung<br />
A4 Transparenz und<br />
Mitentscheidung in<br />
der Zulieferkette<br />
B4 Eigentum und<br />
Mitentscheidung<br />
C4 Innerbetriebliche<br />
Mitentscheidung<br />
und Transparenz<br />
D4 Kunden-<br />
Mitwirkung und<br />
Produkttransparenz<br />
E4 Transparenz und<br />
gesellschaftliche<br />
Mitentscheidung<br />
Die Gemeinwohl-Matrix ist ein Modell zur Organisationsentwicklung und Bewertung von unternehmerischen wie auch gemeinnützigen<br />
Tätigkeiten. Sie beschreibt 20 Gemeinwohl-Themen inhaltlich und gibt Anleitungen zur Bewertung nach Gemeinwohl-Maßstäben.<br />
Quelle: www.ecogood.org/de/unsere-arbeit/gemeinwohl-bilanz/gemeinwohl-matrix/<br />
des Gemeinwohls in den Vordergrund stellen“, sagt<br />
GWÖ-Mitglied Johannes Willms. Er will dieses Thema<br />
aktiv in die Öffentlichkeit bringen und die Aufmerksamkeit<br />
auf die Schnittmenge von verantwortungsvoller Unternehmensführung<br />
und gelebter Demokratie lenken.<br />
ASPEKTE, DIE BEI DEN GÖTTINGER ENTSCHEIDERN<br />
durchaus auf Interesse stoßen. Beim Logistikunternehmen<br />
Zufall beispielsweise leitet Gunnar Heunisch seit fünf<br />
Jahren den damals neu gegründeten Zentralen Bereich<br />
Qualität, Umwelt und Arbeitsschutzsysteme. Er verzichtete<br />
für diesen Job auf die Abschlussprüfung seiner fast<br />
beendeten Weiterbildung zum GWÖ-Berater und arbeitet<br />
seither daran, Teile der Matrix (siehe Abbildung), die zur<br />
Bilanzierung von GWÖ-Mitgliedern dient, in das international<br />
tätige Unternehmen einzubringen. „Wenn ethische<br />
Rahmenbedingungen angepasst werden, müssen<br />
solche Änderungen natürlich mehrere Hierarchiestufen<br />
passieren“, sagt Heunisch. Doch er stieß mit seinen Ideen<br />
zu Work-Life-Balance-Projekten und zur Energieeinsparung<br />
bereits auf viel Interesse. Ihm sei aber auch klar,<br />
„dass es eine große Herausforderung für ein Logistikunternehmen<br />
ist, sich in Richtung einer GWÖ-Bilanzierung<br />
zu bewegen“.<br />
EIN SCHRITT, DER FÜR JOHANNES LOXEN, Geschäftsführer<br />
des IT-Dienstleisters Sernet, eher nicht infrage<br />
kommt. Für die Ziele der GWÖ kann er sich zwar durchaus<br />
erwärmen, allerdings setzt er auf eine individuelle<br />
Umsetzung von Gemeinwohlaspekten. „Wir tun viel, um<br />
unseren ökologischen Fußabdruck möglichst gering zu<br />
halten: Wir verzichten auf große Firmenwagen zugunsten<br />
öffentlicher Verkehrsmittel, veranstalten Umweltwochen<br />
für unsere Auszubildenden, Ernährungsworkshops<br />
für alle Mitarbeiter und setzen auf LED-Beleuchtung.<br />
Und vor allem dient schon unser Geschäftszweck<br />
der Ressourceneinsparung“, sagt der Sernet-Chef, der<br />
sich selbst schmunzelnd als „Altgrüner“ bezeichnet. Er<br />
54 4 |<strong>2019</strong>
wissen<br />
führt aus, dass die Open-Source-Lösungen seines IT-<br />
Unternehmens im Internet frei verfügbar sind und somit<br />
verhindert wird, dass ganze Teams dieselben Probleme<br />
noch einmal in langer Entwicklungsarbeit lösen müssen.<br />
Während bei den beiden genannten Unternehmen aufgrund<br />
ihrer Branchenzugehörigkeit vielleicht nicht jeder<br />
davon ausgeht, dass die GWÖ eine große Rolle spielt,<br />
liegt dies beim Bio-Lieferservice Lotta Karotta quasi auf<br />
der Hand. „Es bewegt sich im Moment sehr viel im Bewusstsein<br />
der Menschen. Wir merken dies auch an unserer<br />
Auftragslage“, sagt Inhaberin Katrin Schlick. Seit<br />
Jahren ist der Gleichener Betrieb im Verband Ökokiste<br />
und im Energieeffizienznetzwerk der Energieagentur<br />
Göttingen, und selbst der Schritt zur Zertifizierung per<br />
GWÖ-Matrix ist für die Inhaber Katrin Schlick und<br />
Andreas Backfisch gedanklich schon vorbereitet. „Im<br />
Moment fehlt etwas die Zeit. Aber bei einem Anstoß von<br />
außen wären wir wohl dabei“, sagt Schlick überzeugt.<br />
Da unbedingt etwas passieren müsse in der Gesellschaft,<br />
will sich Lotta Karotta als Vorreiter in Richtung ökologischer<br />
Gesellschaft bewegen.<br />
EINE ÜBERZEUGUNG, DIE AUCH RALPH WÜSTEFELD<br />
TEILT. Der Geschäftsführer des Göttinger Handelsunternehmens<br />
Contigo ist sogar schon den Schritt zur Bilanzierung<br />
gegangen. Das Ergebnis steht zwar noch aus, er<br />
ist aber dennoch zu einem durchaus zwiegespaltenen<br />
Zwischenfazit bereit. Nachdem er intensiv, aber vergeblich<br />
versuchte, ihm bekannte hiesige Unternehmen von<br />
der Teilnahme an einer sogenannten Bilanzierungs-Peer-<br />
Group zu überzeugen, nahm er schließlich gemeinsam<br />
mit zwei hannoverschen Unternehmen an der GWÖ-<br />
Beurteilung teil. „Das Erschütterndste ist eigentlich, dass<br />
unser Unternehmenszweck, nämlich der Fairtrade-<br />
Handel, wegen der damit verbundenen Transportwege<br />
negativ beurteilt wurde“, so Wüstefeld. Auch die Zusammensetzung<br />
seiner Peer-Group – ein Physiotherapeut<br />
und ein Bio-Lieferdienst – erscheint ihm im Rückblick<br />
seltsam. „Wie sollen so unterschiedliche Unternehmen<br />
ein so komplexes Verfahren gemeinsam bewältigen?“,<br />
fragt er und beschreibt, dass die Matrix- Punkte nicht<br />
etwa vom GWÖ-Berater vergeben wurden, sondern die<br />
Teilnehmer sich gegenseitig bewerteten. Dies gilt nun als<br />
Grundlage für die Bilanzierung durch die GWÖ-Vertreter.<br />
Weder die Unterstützung vieler Betriebe in Entwicklungsländern<br />
noch die positiven Arbeitsbedingungen<br />
BUCHTIPP<br />
Die ,Bibel‘ der Gemeinwohl-Ökonomie<br />
Christian Felber beschreibt in diesem<br />
Buch auch für Nicht-Ökonomen, was seines<br />
Erachtens in unserem Wirtschaftssystem<br />
falsch läuft. Er prangert das Wirtschaften zum Selbstzweck<br />
an und fordert eine Umorientierung in Richtung<br />
des Allgemeinwohls mit Verweis auf den Art. 151 Abs. 2<br />
der Bayerischen Verfassung: „Die gesamte wirtschaftliche<br />
Tätigkeit dient dem Gemeinwohl […].“ Sein Buch ist inzwischen<br />
quasi zur Bibel der Gemeinwohl-Ökonomie-<br />
Bewegung geworden und dient auch der Göttinger<br />
Regionalgruppe als Diskussionsgrundlage.<br />
Piper Verlag<br />
11 Euro<br />
Die GWÖ in Zahlen<br />
Die Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung wurde 2010 nach zweijähriger<br />
Vorlaufzeit in Österreich auf Basis des gleichnamigen Buches<br />
des österreichischen Publizisten Christian Felber gegründet und<br />
wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Seit Ende 2018 gibt es<br />
den Internationalen GWÖ-Verband, in dem sich die neun nationalen<br />
Vereine abstimmen und ihre Ressourcen bündeln. Aktuell umfasst<br />
die Bewegung weltweit 11.000 Unterstützer, mehr als etwa 4.000 Aktive<br />
in über 150 Regionalgruppen, 31 GWÖ-Vereine und andere<br />
Organisationen, knapp 60 Gemeinden und Städte sowie 200 Hochschulen<br />
weltweit. Mehr als 2.000 Unternehmen unterstützen die<br />
GWÖ. Rund 500 davon sind Mitglied oder haben bereits eine<br />
Gemeinwohl-Bilanz erstellt, z.B. Sparda Bank München, Stadtmobil<br />
Rhein-Neckar AG, Sonnentor und Vaude.<br />
Links zum Thema:<br />
www.ecogood.org<br />
www.utopia.de/ratgeber/gemeinwohl-oekonomie<br />
4 |<strong>2019</strong> 55
wissen<br />
in den Contigo-Filialen und der Göttinger Zentrale seien<br />
berücksichtigt worden, so Wüstefeld. Doch seine Motivation<br />
ließ er sich nicht nehmen. Wenn er auch unzufrieden<br />
mit dem bestehenden Prozess ist, blickt er dennoch<br />
ambitioniert in die Zukunft: „Die GWÖ ist eine junge<br />
Bewegung. Man muss ihr Zeit geben. Ich wurde in die<br />
Matrix-Entwicklungsgruppe eingeladen und möchte<br />
nun selbst daran mitwirken, die Kriterien zu überarbeiten.“<br />
Neben der Weiterentwicklung auf dieser Ebene<br />
wünscht er sich auch eine Intensivierung der Zusammenarbeit<br />
der GWÖ-Gruppe Göttingen mit den hiesigen<br />
Unternehmen. Aufgrund der noch geringen Mitgliederzahl<br />
ist man für diesbezügliche Verstärkung offen. Bisher<br />
setzte man vorwiegend an der theoretischen Basis an<br />
und veranstaltete Diskussionsforen, die auch anderen<br />
Bewegungen ein Forum boten.<br />
NEBEN DER PLATTFORM START-UP GÖTTINGEN, die<br />
im vergangenen Februar eine gemeinsame Veranstaltung<br />
mit der GWÖ machte, nutzte auch Joachim <strong>Winter</strong>s die<br />
Gelegenheit, den Mitgliedern seine Aktivitäten zu präsentieren.<br />
Der regionale Ansprechpartner für das BGE (Bedingungsloses<br />
Grundeinkommen) setzt sich für die Einführung<br />
eines Grundeinkommens ohne Gegenleistung<br />
ein. Im Sinne der GWÖ erwartet er, dass viele Menschen<br />
dadurch neue Kapazitäten bekommen, um sich weiterzubilden<br />
oder im Sinne des Gemeinwohls zu arbeiten. „Wir<br />
werden in dieses System hineingeboren: Als Baby bekommen<br />
wir quasi ein BGE von unseren Eltern, um diesem<br />
dann Schritt für Schritt immer weiter entfremdet zu werden.<br />
Bereits in der Schule herrscht dann totaler Konkurrenzkampf“,<br />
sagt <strong>Winter</strong>s beklagend. Er ist überzeugt,<br />
dass die Menschen mit BGE kreativer und effektiver beschäftigt<br />
wären und Millionen überflüssige Jobs einfach<br />
wegfallen und durch sinnvollere ersetzt würden. Natürlich<br />
könnten mit dem BGE nicht alle Bedürfnisse abgedeckt<br />
werden, doch ähnlich wie bei der GWÖ sieht <strong>Winter</strong>s<br />
auch mit dem BGE eine Reduzierung der menschlichen<br />
Gier, die jedoch im Unterschied auf freiwilligerer<br />
Basis erreicht würde. Er hofft auf weitere Gesprächsbereitschaft<br />
seitens der Gemeinwohlbewegung, denn<br />
man solle Gemeinsamkeiten weiterentwickeln.<br />
Ein Anspruch, der eigentlich beiden Philosophien entgegenkommt.<br />
Denn nur im demokratischen Austausch<br />
scheint es möglich, solche neuen Ideen in der Praxis<br />
weiterzuent wickeln. Ein Prozess, der für GWÖ und BGE<br />
sicher noch viele Anstrengungen erfordert. Der Gegenwind<br />
scheint gewiss. Doch ebenso sicher scheint, dass<br />
die Gesellschaft auf innovative Zukunftsmodelle angewiesen<br />
ist. ƒ<br />
Das Bedingungslose Grundeinkommen<br />
Experimente sowie weltweite Feldversuche (u. a. in Kanada,<br />
Kenia, Finnland) zum Bedingungslosen Grundeinkommen<br />
– oder auch Bündnis Grundeinkommen –, die zunehmende<br />
Medienberichterstattung und die Gespräche auf den<br />
Straßen machen deutlich: Das Grundeinkommen wird<br />
zwar überall diskutiert – nur nicht dort, wo es entschieden<br />
wird. Das 2016 gegründete Bündnis Grundeinkommen<br />
(BGE) tritt daher als Ein-Themen-Partei zu Wahlen an,<br />
um das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) in die<br />
Parlamente zu bringen. O-Ton BGE: „Bei der Bundestagswahl<br />
sowie bei Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen,<br />
Niedersachsen, dem Saarland und Hessen schenkten<br />
bereits über 100.000 Menschen ihre Stimme dem BGE.<br />
Ein Zeichen für alle, die sich vornehmen,<br />
unsere Zukunft zu gestalten.“<br />
www.buendnis-grundeinkommen.de<br />
KONTAKT<br />
Regionalgruppe Göttingen der<br />
Gemeinwohl-Ökonomie<br />
goettingen@ecogood.org<br />
www.facebook.com/pg/gwoegoe<br />
56 4 |<strong>2019</strong>
NEU<br />
Wirtschaftsinformatik (dual)<br />
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Die PFH bietet Studienprogramme mit Bachelorund<br />
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58 4 |<strong>2019</strong>
wissen<br />
Big in der<br />
Bio-Branche<br />
Mit der ‚Fair-Bio-Genossenschaft‘ setzt sich<br />
die Naturkostbranche dafür ein, die regionalen<br />
Strukturen zu erhalten und auszubauen.<br />
Vorreiter Hermann Heldberg, Geschäftsführer<br />
von Naturkost Elkershausen, über die Frage,<br />
wann Bio wirklich Bio ist, und über die<br />
zunehmende Konkurrenz durch Discounter<br />
TEXT CLAUDIA KLAFT<br />
FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
LESEZEIT: 7 MINUTEN<br />
Wundern Sie sich auch darüber, dass<br />
Bio-Ware immer mehr Platz bei<br />
den Lebensmitteleinzelhändlern und<br />
Dis countern findet? Es stimmt, die<br />
Branche ist in Bewegung, denn die<br />
Nachfrage steigt, und die Big Player<br />
wittern ein großes Geschäft. Immerhin umfasst das<br />
Marktvolumen einen jährlichen Absatz von zehn Milliarden<br />
Euro alleine in Deutschland. Vegan, Fridays for future,<br />
unverpackt! Der gesellschaftliche Diskurs rückt die gesunde<br />
Ernährung in den Fokus und natürliche Bio- Ware vom<br />
Acker auf den Teller. Umso mehr freuen sich die Verbraucher,<br />
dass die großen Handelskonzerne mit ihren Sortimenten<br />
– deren gut geölte Marketingmaschinerie Überzeugungsarbeit<br />
leistet – immer grüner werden.<br />
Plötzlich schmückt sich vieles im Wachstumsmarkt<br />
mit dem Label Bio, ist reichlich im Angebot und vor allem<br />
günstig. Warum mehr bezahlen und Umwege machen,<br />
wenn der Einkauf beim Discounter bequemer ist? Inhabergeführte<br />
Naturkostläden der Region müssen sich im<br />
immer stärker werdenden Wettbewerb behaupten. Aber:<br />
Ist Bio auch gleich Bio? Und wo kommen die Unmengen<br />
an Bio- Waren überhaupt her? Die Erzeugerbetriebe können<br />
ja nicht von heute auf morgen auf Bio umgestellt<br />
werden – das bedarf schließlich Zeit und Geld.<br />
4 |<strong>2019</strong> 59
wissen<br />
»Wir wollen den Schritt in die nächste Generation mit<br />
den Naturkostladenbesitzern meistern und werden die<br />
Unterstützung geben, die notwendig ist.«<br />
„Seit 40 Jahren betreiben und verteidigen wir den Biolandbau.<br />
Aber jetzt sehen wir uns Problemen gegenüber,<br />
die die gewachsenen regionalen Strukturen in Gefahr<br />
bringen“, sagt Hermann Heldberg, Inhaber von Naturkost<br />
Elkershausen in Göttingen. Deshalb hat er gemeinsam<br />
mit sieben weiteren Partnern (siehe Kasten rechte<br />
Seite) Anfang November <strong>2019</strong> die Gründung der ‚Fair-<br />
Bio- Genossenschaft‘ beschlossen. Die Satzung nimmt<br />
Form an, eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit ist in Planung<br />
– um die Verbraucher für Bio und Regionalität zu sensibilisieren<br />
und für eine gesündere Ernährung zu werben.<br />
Selbst verständlich hat das auch was mit dem Erhalt regionaler<br />
Erzeuger, Produzenten und dem Handel zu tun.<br />
DREI HANDLUNGSFELDER STEHEN bei der Fair-Bio-<br />
Genossenschaft im Fokus: Vorrangig die Einbindung der<br />
Endkunden in die Genossenschaft. „Sie sind es, die künftig<br />
mit ihrem Kaufverhalten entscheiden, ob Regionalität<br />
und Bio-Qualität zu fairen Bedingungen gekauft<br />
werden“, erklärt Heldberg. Hierfür ist viel Aufklärungsarbeit<br />
zu leisten: Was ist überhaupt Bio? Und wo unterscheidet<br />
sich Bio von Bio? Geplant sind Veranstaltungen<br />
mit den Endkunden bei den Erzeugern und Herstellern,<br />
eine ‚Fair-Bio-App‘ für Aktuelles und die Sonder angebote<br />
für die Mitglieder der Genossenschaft. „Fast wichtiger<br />
jedoch ist“, so Heldberg, „dass<br />
‚Genosse Kunde‘ seinen direkten<br />
Lebensraum, den<br />
persönlichen Bezug zu<br />
Ware und Händler bewahren<br />
und sich weiterhin<br />
der sehr guten<br />
Lebens mittelqualität<br />
aus regionaler Herkunft<br />
sicher sein kann.“<br />
Apropos Qualität.<br />
Regional ist nicht unbedingt<br />
Bio. Und Bio<br />
nicht gleich Bio. Deshalb<br />
ein kleiner Diskurs: „Die Naturkost-Fachgeschäfte<br />
bekommen Obst und Gemüse oft<br />
erntefrisch am gleichen Tag geliefert. ,Bioland‘-zertifizierte<br />
Landwirte arbeiten mit der Natur, ziehen Gemüse<br />
und Obst aus samenfesten Sorten und arbeiten gänzlich<br />
ohne Pestizide und künstliche Düngemittel“, erklärt<br />
Heldberg. Das EU-Bio-Siegel dagegen erlaubt diese,<br />
wenn auch in beschränktem Maße, und fordert nur eine<br />
95-prozentig ökologische Produktion. Um den Bedarf an<br />
günstiger Bio-Ware zu decken, wird EU-Bio-zertifizierte<br />
Ware mittlerweile aus Indien und China importiert. Die<br />
Kontrollen müssen also weit greifen, und der deutsche<br />
Mindestlohn ist sicherlich kein Prüfkriterium. Heldberg<br />
punktet: „Bei uns können sich Verbraucher auf die strengeren<br />
Kontrollen verlassen, darauf, dass wir keine<br />
Mischware anbieten, faire Preise handeln und diese angemessen<br />
an unsere regionalen Lieferanten weitergeben.“<br />
Zweitens die praktische Unterstützung der inhabergeführten<br />
Naturkostläden, sowohl beratend als auch<br />
finanziell, um sich noch moderner aufzustellen – aber<br />
auch, um für Nachfolger gerüstet zu sein. „Die meisten<br />
von uns sind in der Generation, die demnächst in den<br />
Ruhestand geht“, sagt der Geschäftsinhaber aus Göttingen.<br />
„Wir wollen den Schritt in die nächste Generation<br />
mit den Naturkostladenbesitzern meistern und werden<br />
die Unter stützung geben, die notwendig ist.“<br />
Wenn diese Unterstützung nicht durch die Fair-Bio-<br />
Genossenschaft erfolgen würde, würde das zum Verschwinden<br />
von Kleinbauern, die ihr eigenes Land mit viel<br />
Liebe bewirtschaften, von Handwerksbetrieben wie<br />
Metz gereien, Bäckereien und Käsereien und von inhabergeführten<br />
Naturkosthändlern um die Ecke führen. Das ist<br />
und kann nicht im Sinne der Endverbraucher sein.<br />
Drittens die Förderung von neuen Ideen – wie die folgenden<br />
drei Beispiele von Naturkost Elkershausen.<br />
TRANSPARENZ Von welchem Hof stammt das Produkt?<br />
Was ist drin? Die VON-Eigenmarke vereinheitlicht den<br />
Marktauftritt für unterschiedliche Produkte, u. a. mit<br />
auffälligen Etiketten, die über Region, Betrieb und Inhalt<br />
informieren.<br />
ILLUSTRATIONEN: STOCK.ADOBE.COM<br />
60 4 |<strong>2019</strong>
wissen<br />
VERPACKUNG Aktuell hat Naturkost Elkershausen das<br />
Pfandsystem erweitert und damit beim Innovationspreis<br />
des Landkreises Göttingen teilgenommen. Seit 2018 füllen<br />
die Lieferanten Feinkostsalate und ein Kilogramm<br />
Frischkäse in WECK-Gläser ab. Heldberg verweist darauf,<br />
dass große Produzenten die händische Abfüllung<br />
gar nicht leisten können. Und die Kunden können ihrerseits<br />
in den Naturkostläden Pfandgläser für Antipasti<br />
und Käse erwerben. „Diese Nachhaltigkeit wird immer<br />
beliebter, genauso wie die immer größere Auswahl an<br />
unverpackter Ware wie Getreide und Nudeln.“<br />
UMWELT Auch beim Thema Transport tut sich einiges.<br />
Durch die Regionalität hat Naturkost Elkershausen<br />
schon immer von kurzen Wegen profitiert. Neu ist, dass<br />
ein Teil der Lkw-Flotte auf Erdgas umgestellt wurde.<br />
„Selbst bei unseren Importen aus dem Ausland – schließlich<br />
verlangen unsere Kunden auch nach Bio-Bananen,<br />
-Orangen usw. – achten wir neben strengen Kontrollen<br />
auf umweltverträgliche Lieferung“, erklärt Heldberg.<br />
gehört über Alpro zu Danone und so weiter. Deshalb sei<br />
es so wichtig, genossenschaftlich die regionalen Kräfte<br />
zu bündeln, den Partnern Unterstützung zu bieten und<br />
Aufklärungsarbeit bei den Endverbrauchern zu leisten.<br />
„Wir werden uns durch die Fair-Bio-Genossenschaft künftig<br />
argumentativ stärker und sichtbarer am Markt positionieren.“<br />
WIE WICHTIG SIND UNS ALLEN also die Werte Fairness,<br />
Respekt, gesunde Ernährung, Wertschätzung, regionales<br />
Umfeld und verantwortlicher Umgang mit der Natur?<br />
Das kann jeder für sich entscheiden. Wir sollten jedoch<br />
bedenken, dass jeder ein gleich wichtiger Teil der Wertschöpfungskette<br />
ist: Erzeuger, Produzenten, Händler<br />
und Endkunden. „Deshalb haben wir uns für die Form<br />
der Genossenschaft entschieden“, so Heldberg, „bei der<br />
alle Anteilseigner, unabhängig von der Anzahl ihrer<br />
Anteile, mit einer Stimme zum Gelingen der Fair-Bio-<br />
Genossenschaft beitragen kann.“ Sind Sie dabei? ƒ<br />
Diese drei Handlungsfelder treffen auf drei Herausforderungen,<br />
denen sich die Fair-Bio Genossenschaft stellen<br />
will und muss.<br />
HERAUSFORDERUNG 1: Der Preisverfall. Lebensmitteleinzelhandel<br />
und Discounter geben oft – wie schon bei<br />
der konventionellen Ware – den Preisdruck an die Lieferanten<br />
weiter. „Es ist ein ganz großes Problem, dass nur<br />
der günstigste Anbieter den Zuschlag erhält“, betont<br />
Heldberg. Masse zu den günstigsten Preisen ist gefragt.<br />
„Das können kleinere Betriebe in unserer ländlichen<br />
Struktur gar nicht leisten. Es ist uns eine Herzensangelegenheit,<br />
dass sie von ihrem Ertrag leben können, weil sie<br />
sonst vom Markt, aus unserer Nachbarschaft und damit<br />
unserem Leben verschwinden.“<br />
HERAUSFORDERUNG 2: Bio als Massenware. Die immense<br />
Nachfrage der Big Player (Aldi, Lidl, Rewe, Edeka)<br />
veranlasst viele konventionelle Landwirtschaftsbetriebe<br />
dazu, partiell auf Bio umzustellen. Diesen Teil können<br />
sie bereits nach einem Jahr EU-zertifizieren lassen – ob<br />
ein Boden allerdings tatsächlich so schnell von Düngung<br />
und Spritzmitteln regeneriert, darf bezweifelt werden.<br />
Ein weiterer Absatzvorteil: Bei Ernteausfällen können<br />
sie die fix vereinbarten Liefermengen durch eine größere<br />
Anbaufläche ausgleichen. „Kleine Bio-Betriebe haben<br />
dagegen keine Chance, weil sie weder flächenmäßig<br />
noch personell so flexibel sind“, sagt Heldberg.<br />
HERAUSFORDERUNG 3: Die Machtkonzentration. „Das<br />
Wirtschaftssystem konzentriert sich auf immer weniger<br />
Unternehmen, der konventionelle Handel ist sozusagen<br />
auf Shoppingtour“, erklärt Heldberg warnend. Barnhouse<br />
ist an Hipp verkauft, Davert an den börsennotierten<br />
schwedischen Bio-Marktführer Midsona, Provamel<br />
Sind Sie dabei ?<br />
Der echte Startschuss für die Fair-Bio-Genossenschaft in<br />
Südniedersachsen fällt erst im Frühjahr 2020. Mitmachen<br />
können Interessierte also erst, wenn die Satzung komplett<br />
ist. Wer aber bereits heute sein Interesse bekunden<br />
möchte oder weitere Infos sucht, kann sich melden bei:<br />
Hermann Heldberg<br />
Genossenschaft@naturkost-elkershausen.de<br />
Genossenschaftsgründer sind:<br />
• Naturkost Elkershausen GmbH<br />
• Bauck GmbH<br />
• Bohlsener Mühle GmbH & Co. KG<br />
• Ökoland GmbH<br />
• Bioland Müller-Oelbke GbR Voelkel GmbH<br />
• Bio-Obst Augustin GmbH & Co. KG<br />
• Naturkost Erfurt<br />
• Voelkel GmbH<br />
4 |<strong>2019</strong> 61
wissen<br />
VISUALISIERUNG: DIETRICH | UNTERTRIFALLER ARCHITEKTEN<br />
Stadt der Quartiere –<br />
Stadt der Zukunft<br />
Junge Menschen, die freitags auf die Straße gehen, machen das Problem sichtbar: So, wie wir<br />
derzeit leben, können wir nicht weitermachen. Doch es geht nicht nur um Flugmeilen und<br />
CO 2 -Ausstoß auf den Straßen. Die Projektentwickler der EBR haben eine Vision der Stadt von<br />
morgen – in einem öffentlichen Workshop ergaben sich spannende Einblicke.<br />
TEXT ANJA DANISEWITSCH FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
62 4 |<strong>2019</strong>
wissen<br />
LESEZEIT: 8 MINUTEN<br />
Sichtweisen ändern, Neues denken und Innovationen<br />
leben – das klingt nach Aufbruch<br />
und Abenteuer. Ist es auch. Aber gleichermaßen<br />
ist es eine städteplanerische Vision.<br />
„55 Prozent der Menschen verbrauchen in<br />
Städten 75 Prozent der weltweit eingesetzten<br />
Energie und verursachen 80 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen.<br />
Als Immobilienentwickler müssen<br />
wir uns die Frage stellen: Wie können wir dazu beitragen,<br />
dies zu verändern?“, erklärte Borzou Rafie Elizei, Geschäftsführer<br />
der EBR Projektentwicklung aus Göttingen<br />
am 6. November <strong>2019</strong> in seiner Begrüßungsrede zum<br />
Themenabend ,Stadt der Zukunft – Stadt der Quartiere‘.<br />
Göttingen von oben Die Teilnehmer auf der Suche nach Fußwegen<br />
DER ABEND IM SPARKASSEN-FORUM wird für die Gäste<br />
und den Veranstalter zu einer Zeitreise in die Zukunft,<br />
zu einer Vision, die jeder selbst mitgestaltet. „Unsere<br />
Initiative ,Stadt der Zukunft‘ beschäftigt sich unter anderem<br />
mit der Fragestellung: Wie wollen wir in Zukunft<br />
leben? Unsere plakative Antwort lautet: in einer lebendigen,<br />
urbanen und nachhaltigen Stadt!“, so Rafie. Doch<br />
was bedeutet das?<br />
Städte sind hochkomplexe Gebilde. Fußend auf diversen<br />
Ebenen und vielfältigen Strukturen, die miteinander<br />
verknüpft sind und sich gegenseitig bedingen. Die ,Hardware‘<br />
– Infrastruktur und Gebäudebestand – ist vorgegeben<br />
und wartet darauf, optimiert und erweitert zu werden.<br />
Wie gestaltet also eine Stadt Wohnraum und Arbeitsräume<br />
oder ein vielfältiges Einkaufs-, Kultur-, Freizeitund<br />
Naherholungsangebot, um den Anforderungen der<br />
Zukunft zu entsprechen? Wie realisiert sie es, nachhaltig<br />
zu werden und weiterhin durch eine hohe Lebensqualität<br />
attraktiv für ihre Bewohner zu bleiben?<br />
„Die Zukunft der Städte liegt in ihrer Erneuerung von<br />
innen heraus, in einer sukzessiven Optimierung der bestehenden<br />
Strukturen – dem permanenten Update der Stadt“,<br />
sagt Rafie. Die Stadt der Zukunft wächst nicht weiter<br />
nach außen, sondern wird innerhalb der bestehenden<br />
Strukturen verdichtet. Mehr Gemeinschaft und weniger<br />
Vereinzelung. Das Leben außerhalb der eigenen vier<br />
Wände soll attraktiver werden – belebte Straßen und<br />
Mehrgenerationenprojekte. Eine deutlich frequentiertere<br />
Mischung von Menschen, initiiert durch neue Orte der<br />
Begegnungen. Das können einladende öffentliche Begegnungszonen<br />
sein, aber auch Cafés, Co-Working- und Co-<br />
Living-Spaces, Ateliers und Büros innerhalb von Wohngebäuden.<br />
Aus einer derartigen Verdichtung der Städte<br />
würde letztendlich eine Verdichtung von Beziehungen<br />
resultieren.<br />
Quartiere spielen in der zukunfts- und nachhaltigkeitsorientierten<br />
Stadtentwicklung eine besondere Rolle.<br />
Vielmehr als auf einem einzelnen Grundstück kommen<br />
im Quartier eine Vielzahl von Themen zusammen, die<br />
die Menschen in der Zukunft bewegen werden. Im<br />
Quartier bildet sich das Spannungsfeld zwischen globalen<br />
Herausforderungen – Klimawandel, Migration, Mobilität,<br />
sozialer Gerechtigkeit, Ernährung, nachhaltiger<br />
Wertschöpfung – und dem Mikrokosmos der individuellen<br />
Lebensweisen ab. In Zukunft kommt es darauf an,<br />
dass alle Akteure, die in den Quartieren leben und sich<br />
dort bewegen, gemeinschaftlich an einer gemeinsam getragenen<br />
Vision arbeiten.<br />
Und: Die Stadt der Zukunft wird die Stadt der kurzen<br />
Wege. Die Stadt wird zu Fuß erobert. Man stelle sich vor,<br />
wie die Emissionswerte sänken, wenn Autos durch kluge<br />
Mobilitätskonzepte für Alltägliches gar nicht erst notwendig<br />
wären. Zudem versorgen sich private Haushalte<br />
dann weitestgehend selbst mit Energie. Dachflächen<br />
würden für Energiegewinnung genutzt, aber auch für<br />
,Urban Gardening‘. Gebäudebegrünungen und vertikale<br />
Wälder sorgen für ein angenehmes Wohlfühlklima.<br />
KÖNNTE GÖTTINGEN DIESE VISIONÄRE STADT DER<br />
QUARTIERE WERDEN?<br />
Die EBR Projektentwicklung lud innerhalb ihrer Initiative<br />
,Stadt der Zukunft‘ Vertreter und Experten aus Wirtschaft,<br />
Wissenschaft, Politik und Verwaltung in das Sparkassen-<br />
Forum ein, um Impulse zu geben und zu zeigen, wie jeder<br />
Einzelne diese Zukunft mitgestalten kann. Das Sparkassen-<br />
Forum ist für eine solche Veranstaltung ein gut ge-<br />
4 |<strong>2019</strong> 63
wissen<br />
Anregender Input Zukunftsdenker in der<br />
Podiumsdiskussion zur Quartiersentwicklung<br />
Inspirationen sammeln Borzou Rafie Elizei im Austausch mit den Teilnehmern.<br />
Ideenschmiede für lebendige Quartiere der Zukunft<br />
wählter Ort. 2018 durch die EBR fertiggestellt, ist es das<br />
erste Bauprojekt Göttingens, das eine Zertifizierung der<br />
Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen (DGNB)<br />
in Gold erhielt. Und so war es auch naheliegend, dass<br />
einer der drei Impulsvorträge an diesem Abend von einem<br />
Vertreter der DGNB gehalten wurde. Stephan Anders forderte<br />
die Zuhörer auf, doch einmal in einem kleinen<br />
Online-Selbsttest zu schauen, wie ihre CO 2 -Bilanz aussähe.<br />
Der Durchschnittswert für Deutschland liegt bei<br />
elf Tonnen pro Jahr. Um die Klimaziele zu erfüllen,<br />
müsste dieser Wert auf drei Tonnen pro Jahr sinken.<br />
„Um das zu erreichen, werden wir unsere Lebensgewohnheiten<br />
in den nächsten Jahren radikal ändern<br />
müssen“, sagt Anders. Carsharing statt eigenem Auto,<br />
regionale, saisonale Ernährung, kleinere Wohneinheiten,<br />
um nur einiges zu nennen. „Die Stadt der Zukunft baut<br />
zudem klimapositive Häuser, die mehr CO 2 binden, als<br />
sie verursachen“, erklärt Anders in seinem Vortrag.<br />
INSGESAMT BOTEN SICH DEN TEILNEHMERN drei<br />
einleitende Impulsvorträge, die anschließend im<br />
Workshop- Charakter an den jeweiligen Themenstationen<br />
mit einem Diskurs zwischen Teilnehmern und Experten<br />
vertieft wurden:<br />
1. Lebendige Quartiere – hohe Dichte Dieses Thema wurde<br />
von dem Architekten Jürgen Patzak-Poor, Geschäftsführer<br />
von BAR-Architekten aus Berlin, begleitet.<br />
2. Stadt zu Fuß Dieser Part wurde von dem gebürtigen<br />
Göttinger Roland Stimpel von FUSS e. V. betreut.<br />
3. Ökologisch nachhaltiges Bauen Diesen Schwerpunkt<br />
übernahm der bereits erwähnte Stephan Anders.<br />
Moderierend durch den Abend führte Klaus Overmeyer,<br />
Geschäftsführer von Urban Catalyst aus Berlin. Er warf<br />
spannende Fragen für den Abend und für die Zukunft des<br />
Städtebaus auf, die auch für Göttingen eine steigende<br />
Relevanz haben werden, denn in einem Quartier kommt<br />
vieles zusammen: Wie bewege ich mich fort? Wie kommen<br />
die Kinder zur Schule? Welche Bildungsangebote gibt<br />
es vor Ort? Wie sollen verschiedene Menschen zusammenleben?<br />
Welchen Einfluss haben die Arbeitswelten? Was<br />
passiert im Quartier? Wo fühle ich mich in der Stadt zu<br />
Hause – und dies nicht nur in meiner Wohnung? Und speziell<br />
auf Göttingen ausgerichtet, stellte der Workshop die<br />
Frage: Wo finden sich Plätze innerhalb der Stadt, die durch<br />
Verdichtung einen Quartierscharakter erlangen können?<br />
64 4 |<strong>2019</strong>
wissen<br />
Jürgen Patzak-Poor vermittelte mit seinem Blick durch<br />
die Architektenbrille einen ersten Eindruck, was es heißen<br />
kann, die Architektur auf neue Bedürfnisse auszurichten.<br />
„Häuser werden nicht mehr von oben nach unten geplant<br />
– also nicht vom teuren Penthouse aus gedacht, sondern<br />
von unten nach oben“, erläutert Patzak-Poor. Ein lebendiges<br />
Erdgeschoss, wobei die Außenflächen vor dem<br />
Haus Teil des Wohnkonzepts sind.<br />
ABER FUNKTIONIERT DAS IN GÖTTINGEN? Im Workshop<br />
standen zur Diskussion: das Quartier Holtenser<br />
Berg, das Quartier Ebertal und das Quartier Siekhöhe.<br />
Während der Holtenser Berg erhebliche Ressourcen benötigen<br />
würde, um ein gemischtes Quartier mit städtischen<br />
Angeboten und kurzen Wegen zu werden, bietet<br />
das Projekt Ebertal bessere Voraussetzungen. Als Vorteil<br />
wurde die unmittelbare Nähe zur Innenstadt gesehen –<br />
und dass dieser Standort sich bereits in einem Veränderungsdiskurs<br />
befindet. Was es braucht, ist eine planende<br />
Koordinierungsstelle und einen runden Tisch, an dem<br />
alle Beteiligten ihre gemeinsamen Interessen und mögliche<br />
Zielkonflikte diskutieren. Eindeutiger zeigten sich<br />
die Entwicklungschancen für die Siekhöhe. Da das Gewerbegebiet<br />
in der ,zweiten Reihe‘ schlechter zu vermarkten<br />
sei, bieten sich hier alternative Nutzungscluster<br />
an. Etwa als innovatives Gewerbequartier, in dem universitäre<br />
Institute mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen<br />
und Wirtschaftsunternehmen zusammenkommen?<br />
Ein großes Luftbild von Göttingen war die Grundlage<br />
für die Arbeitsgruppe ,Stadt zu Fuß‘ mit Roland Stimpel.<br />
Hier warfen sich Fragen auf wie: Ist die autofreie Innenstadt<br />
für Göttingen eine Option? Lässt sich Göttingen<br />
besser vernetzen, sodass die Quartiere miteinander verbunden<br />
werden? Und welche Verbindungen braucht<br />
Göttingen in die Region?<br />
Trotz vieler guter Ansätze und breiter Fahrradwege ist<br />
das Auto in Göttingen aktuell weiterhin Fortbewegungsmittel<br />
Nummer eins. Was fehlt, ist ein innovatives Mobilitätssystem,<br />
das Autos im Citybereich ersetzt! „Wenn<br />
wir an die Senioren denken, so benötigen wir für komfortable<br />
Fußwege in regelmäßigen Abständen Bänke<br />
zum Verweilen“, sagt Stimpel – denn der Fußmarsch ist<br />
und bleibt die klimaneutralste Fortbewegung. Aktuelle<br />
Trends zeigen zudem auf, dass Einkaufen immer mehr<br />
mit Erlebnis verbunden wird und die Aufenthaltsqualität<br />
im Zuge dessen weit mehr Bedeutung erhalten wird.<br />
Breite, attraktive Bewegungsräume, mehr gemeinsame<br />
Treffpunkte und Kommunikationsräume könnten das<br />
Resultat einer autofreien Innenstadt sein.<br />
AM DRITTEN THEMENSTAND wurde hingegen globaler<br />
gedacht: Was gehört zu einem klimaneutralen Lebensstil?<br />
Was sind Ansätze für eine klimaneutrale Quartiersund<br />
Stadtentwicklung? Viele Ansätze sind nicht neu und<br />
Bunt wie die Bauklötze So soll das Leben in Quartieren sein.<br />
»Die Zukunft liegt in ihrer Erneuerung<br />
von innen heraus – einem permanenten<br />
Update der Stadt. «<br />
BORZOU RAFIE ELIZEI<br />
werden in der Städteplanung bereits berücksichtigt, jedoch<br />
– so das Fazit der Teilnehmer – liegen oft zu viele<br />
Hürden zwischen der Idee und der Umsetzung. „Zielführend<br />
wäre ein Baurecht, das Umsetzungen erleichtert.<br />
Darüber hinaus sind gute Akteursstrukturen und starke<br />
Zukunftsvisionen als Kompass für die Entwicklung förderlich“,<br />
sagt Stephan Anders bestimmt.<br />
AM ENDE DES MEHR ALS ZWEIEINHALBSTÜNDIGEN<br />
Formats waren sich alle Teilnehmer, die Experten und<br />
die Initiatoren der EBR in einem Grundsatz einig:<br />
Bleiben wir im Gespräch!<br />
Für die EBR war der Abend die Bestätigung ihrer<br />
Grundsatzidee, die Rafie mit den Worten von Perikles<br />
zusammenfasste: „Es kommt nicht darauf an, die Zukunft<br />
vorauszusagen, sondern darauf, auf die Zukunft<br />
vorbereitet zu sein.“ Die EBR wird sich immer stärker<br />
als Vorreiterin und Impulsgeberin für eine zukunftsorientierte<br />
und nachhaltige Stadtentwicklung in der Region<br />
einsetzen. ƒ<br />
Mehr auf: www.ebr-immobilien.com/zukunft<br />
4 |<strong>2019</strong> 65
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Die Göttinger Volksheimstätte eG setzt auf zufriedene Mitarbeiter und Mieter.<br />
Das Kerngeschäft der Volksheimstätte<br />
ist es, ihren Mietern modernen und<br />
günstigen Wohnraum in einem angenehmen<br />
Umfeld zur Verfügung zu stellen.<br />
„Wir setzen darauf, dass gesunde Mitarbeiter<br />
bessere Leistungen bringen und unser<br />
Unternehmen optimal repräsentieren“, sagt<br />
die Vorstandsvorsitzende Heike Klankwarth.<br />
Ein umfangreiches Gesundheitsprogramm<br />
gehört seit 2012 zum Angebot für das 30-köpfige<br />
Team. Hier kann aus einem breiten Spektrum<br />
gewählt werden: Bewegungs- und Entspannungskurse<br />
sowie Teilnahmen an den<br />
Göttinger Laufgroßveranstaltungen Altstadtund<br />
Lichterlauf, die auch von der Volksheimstätte<br />
gesponsert werden, gehören dazu.<br />
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bereits etablierten kostenlosen ,Obstkorb für<br />
alle‘, wird dieser Aspekt durch einen kombinierten<br />
Ernährungs- und Kochkurs in die Tat<br />
umgesetzt. Gemeinsam mit Experten vom<br />
Göttinger Kooperationspartner Reha-Zentrum<br />
Rainer Junge lernen die Angestellten<br />
zunächst viel über gesunde (und teilweise<br />
über raschend günstige) Lebensmittel. Anschließend<br />
kochen und essen die Teilnehmer<br />
gemeinsam. „Das ist ein Konzept, das sehr<br />
gut ankommt“, erklärt Vorstand Thorsten May<br />
zufrieden und freut sich über das begeisterte<br />
Feedback seiner Mitarbeiter: Bei einer von<br />
einem externen Dienstleister durchgeführten<br />
Umfrage zur Mitarbeiterzufriedenheit gab es<br />
durchweg positive Beurteilungen. „Wir freuen<br />
uns über die Rückmeldungen zu unseren<br />
Gesundheits- und Teambuildingmaßnahmen.<br />
Das bestätigt unseren eingeschlagenen Weg“,<br />
sagt Heike Klankwarth. Ein niedriger Krankenstand<br />
und eine geringe Fluktuation untermauern<br />
diese These.<br />
DOCH NICHT NUR VORSTAND und Mitarbeiter<br />
erkennen den Mehrwert dieser<br />
Investitionen in das Betriebliche Gesundheitsmanagement,<br />
auch über die Unternehmensgrenzen<br />
hinaus erhält die Volksheimstätte<br />
Anerkennung: So dürfen sich die Mitarbeiter<br />
auf einen Crashkurs im Drachenbootfahren<br />
– den Preis für den dritten Platz bei der ,Göttinger<br />
Tageblatt/Kauf Park Gesundheitswoche‘<br />
im vergangenen Jahr – freuen.<br />
Mit motivierten und gesunden Mitarbeitern<br />
ist die Volksheimstätte nun auch für die nächste<br />
große Herausforderung bestens gerüstet.<br />
Die Planungen für den Neubau der Unternehmenszentrale<br />
in der Kasseler Landstraße laufen.<br />
„Verwaltung und Bewohner von 18 Wohneinheiten<br />
sollen bis voraussichtlich 2022 am neuen<br />
Standort einziehen“, sagt Thorsten May und<br />
blickt zufrieden in die Zukunft.<br />
KONTAKT<br />
Volksheimstätte eG<br />
Wohnungsbaugenossenschaft<br />
Godehardstraße 26<br />
37081 Göttingen<br />
Tel. 0551 50674-14<br />
vh@volksheimstaette.de<br />
www.volksheimstaette.de<br />
TEXT STEFAN LIEBIG
wissen<br />
Vielfältig Der Ort, wo die Weser einen großen Bogen macht, hat reichlich Vorzüge – für Bürger, Touristen, aber auch die Wirtschaft.<br />
Da liegt was<br />
in der Luft…<br />
Holzminden gehört zwar zu den kleinsten Landkreisen Deutschlands und ist sicherlich nicht<br />
der Nabel der Welt, hat aber mit seiner wunderschönen Landschaft und nicht zuletzt<br />
seiner guten Wirtschaftsstruktur so einiges zu bieten.<br />
TEXT STEFAN LIEBIG FOTOGRAFIE BJÖRN SCHRADER<br />
68 4 |<strong>2019</strong>
wissen<br />
LESEZEIT: 9 MINUTEN<br />
Der Geruch der Walderde des<br />
Naturparks Solling-Vogler, Duftund<br />
Aromenseminare im Torhaus<br />
am Katzensprung und ein Global<br />
Player, der ol<strong>faktor</strong>ische Maßstäbe<br />
setzt. Richtig – hier kann es sich<br />
nur um Holzminden handeln. Mit<br />
rund 20.000 Einwohnern in der Kreisstadt und etwa<br />
71.000 im Kreisgebiet ist es nach Einwohnern der drittkleinste<br />
Kreis Niedersachsens sowie der elftkleinste<br />
Deutschlands. Doch vor allem in den Bereichen Chemieund<br />
Glasindustrie sowie in der Elektrotechnik beweist<br />
der landschaftlich so reizvolle Landkreis, dass er viel<br />
mehr als nur touristische Höhepunkte zu bieten hat.<br />
Natürlich haben international tätige Betriebe wie<br />
Symrise oder Stiebel Eltron eine enorme Strahlkraft und<br />
locken Fachkräfte aus weit entfernten Gegenden an,<br />
doch auch viele kleinere Betriebe und Einzelunternehmer<br />
sorgen für eine abwechslungsreiche und starke<br />
Wirtschaft in der Region. Besonders augenfällig auch,<br />
dass hier nicht nur die Wirtschaft ausbildet, sondern mit<br />
der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst<br />
Hildesheim/Holzminden/Göttingen (HAWK) auch eine<br />
staatliche Fachhochschule ansässig ist. Nach mehreren<br />
schwierigen Jahren steigen die Zahlen am Standort<br />
Holzminden wieder an und nähern sich mit großen<br />
Schritten dem Ziel von 1.500 Studierenden. Ein Grund,<br />
warum HAWK- Präsident Marc Hudy Baubedarf sieht<br />
und für den Bereich ,Soziale Arbeit‘ Neubaupläne vorantreibt.<br />
Da es aber auch alternative Vorschläge gibt, zum Beispiel<br />
die Sanierung von Altbauten, dürften sich die<br />
Diskussionen und Planungen noch ein wenig hinziehen.<br />
Durch diese Erweiterung möchte die Hochschule mit<br />
ihrer Holzmindener Fakultät Management, Soziale Arbeit<br />
und Bauen weiterhin sicherstellen, dass die großen<br />
Firmen des Landkreises auf vor Ort ausgebildetes<br />
Fach personal zurückgreifen können.<br />
4 |<strong>2019</strong> 69
wissen<br />
Die Unternehmen wiederum sorgen dafür, dass die<br />
Jungakademiker attraktive Arbeitsplätze vorfinden.<br />
EINES DIESER GROSSEN UNTERNEHMEN ist Stiebel<br />
Eltron. Die internationale Marke fußt auf dem Pioniergeist<br />
und unternehmerischen Mut von Theodor Stiebel.<br />
Seine Idee, in allen Produkten Sicherheit, Komfort und<br />
einen geringen Energieverbrauch zu vereinen, war 1924<br />
die Initialzündung für Stiebel Eltron – und erscheint<br />
heute moderner denn je. In Holzminden liegen neben<br />
dem Hauptsitz mit rund 1.700 Mitarbeitern auch die<br />
größten Produktionsstätten. Den niedersächsischen<br />
Standort sichert das Unternehmen durch eine zeitgemäße<br />
und globalisierte Positionierung: „Durch internationale<br />
Strukturen können wir auf einzelne Marktschwankungen<br />
flexibel reagieren. Durch Digitalisierung und<br />
Automatisierung vereinfachen und beschleunigen wir<br />
Produktionsprozesse und können qualifizierte Fachkräfte<br />
immer an optimalen Positionen einsetzen“, sagt Unternehmenssprecher<br />
Henning Schulz und beschreibt damit<br />
die Ausrichtung von Stiebel Eltron in der modernen<br />
Wirtschaftswelt. Den Standort Holzminden würde keiner<br />
im Familienunternehmen je infrage stellen. Denn trotz<br />
der verbesserungsfähigen Infrastruktur hätten einige Bewerber<br />
den Vorteil bereits erkannt: ,Arbeiten, wo andere<br />
Urlaub machen.‘<br />
»Wir haben gute Perspektiven für die<br />
nächsten Jahre: Ich erwarte eine<br />
Zuwachsrate zwischen fünf und zehn<br />
Prozent im Tourismusbereich. «<br />
RALF SCHWAGER<br />
ZU EINEM SOLCHEN URLAUB GEHÖRT AUCH ein attraktives<br />
Freizeitprogramm. Da Holzminden dank Symrise<br />
zur Stadt der Düfte geworden ist, befindet sich zurzeit ein<br />
Museum der Düfte in Planung. Die Stadtverwaltung erhält<br />
hierbei durch die Symrise AG beratende Unterstützung.<br />
Eine Expertise, auf die man bauen kann. Denn das<br />
Duft- und Geschmackstoffunternehmen am Holzmindener<br />
Stammsitz gehört zu den weltweit kreativsten und<br />
erfolgreichsten seiner Branche. „Unsere innovativen<br />
Produkte sind sehr erfolgreich und sorgen für eine<br />
Top-Positionierung am internationalen Markt“, sagt<br />
Pressesprecherin Christina Witter. Die 3.000 Symrise-<br />
Beschäftigten in Deutschland beziehungsweise 10.000<br />
weltweit können sich auf die Treue zum Standort Holzminden<br />
verlassen. Die historische Verwurzelung wird<br />
auch hier nicht infrage gestellt. 2018 wurde Sym rise als<br />
Deutschlands nachhaltigstes Unternehmen ausgezeichnet<br />
– eine Belohnung für die Verwendung nachhaltiger<br />
Rohstoffe. Mit Einsatz modernster Methoden, wie etwa<br />
zunehmend auch von Künstlicher Intelligenz, verfolgt<br />
man nicht nur die aktuellen Trends, sondern setzt selbst<br />
weltweit beachtete Duftmarken.<br />
WÄHREND ALSO SYMRISE die Stadt bei der Planung<br />
des Museumsprojekts unterstützt, geht der Unternehmer<br />
Ralf Schwager selbst in die Vollen und plant sein eigenes<br />
,Erlebnishaus‘ (siehe auch Artikel ab Seite 80). Der Inhaber<br />
vom Weserhotel Schwager und von insgesamt acht<br />
Kaufhäusern, auch außerhalb der Stadt, bekräftigt damit<br />
sein Bekenntnis zum Standort Holzminden. Jährlich<br />
etwa eine Viertelmillion Übernachtungen im Landkreis<br />
sorgen für Gäste im Hotel und Käufer im Kaufhaus.<br />
Geschäftsreisende, Radfahrer und Campingurlauber auf<br />
dem modernen Reisemobilhafen bilden den größten<br />
Teil der Besucher. Sie alle schätzen das breit<br />
gefächerte Angebot der Region. Wander- und Radwege<br />
entlang des Weserberg land-Wegs sowie historische<br />
Burgen, Schlösser, Ruinen und abwechslungsreiche<br />
Museen bieten Alternativen für jedes Wetter. Wer sich<br />
verwöhnen lassen will, hat die Auswahl aus einem umfassenden<br />
Wellness- und Gesundheitsangebot, und Aktivurlauber<br />
können sich im Solling- Kletterpark auspowern.<br />
„Wir haben gute Perspektiven für die nächsten Jahre: Ich<br />
erwarte eine Zuwachsrate zwischen fünf und zehn<br />
Prozent im Tourismusbereich“, sagt Schwager und blickt<br />
optimistisch in die Zukunft.<br />
KRITISCH STEHT ER ALLERDINGS einem von der Weserbergland<br />
AG ins Spiel gebrachten Projekt gegenüber. Der<br />
in den vergangenen Jahren hart gebeutelte Einzelhandel<br />
Holzmindens soll durch neue Geschäftsfelder im Internet<br />
gestärkt und vor weiteren Schließungen bewahrt<br />
werden. Die 2004 gegründete Weserbergland AG organisiert<br />
hierfür in den Landkreisen Holzminden, Hameln-<br />
Pyrmont und Schaumburg Weiterbildungen, die durch<br />
das Land Niedersachsen und die EU finanziell gefördert<br />
werden und den Handel für das Onlinegeschäft schulen.<br />
Die Aktiengesellschaft ist zu 30 Prozent im Besitz der<br />
drei Landkreise und zu 70 Prozent in Händen von zurzeit<br />
23 Wirtschaftsunternehmen. Die Weserbergland AG<br />
muss Gewinne erzielen, welche dann zum Teil wiederum<br />
zur Förderung der Wirtschaft genutzt werden. „In diesem<br />
Sinne nehmen wir an einem eBay-Pilotprojekt teil.<br />
Händler sollen bei eBay anbieten können und vor allem<br />
auch gefunden werden“, sagt Vorstand Thomas Kexel.<br />
Für einen geringen Beitrag können Händler ihre Produkte<br />
einstellen. Sucht ein Interessent aus der Region auf<br />
70 4 |<strong>2019</strong>
wissen<br />
Auch Wissen wird hier groß geschrieben Die staatliche Fachhochschule HAWK beherbergt schon bald 1.500 Studierende.<br />
der Plattform nach Artikeln, werden ihm dank Ortungsdienst<br />
zuerst Anbieter aus der Region angezeigt. „Ein<br />
organisatorisches Mammutprojekt für uns“, erklärt<br />
Kexel, denn seine eBay-Kontakte führten den jahrelang<br />
in der IT-Branche Tätigen bis zur Vertragsunterzeichnung<br />
über Berlin und die Schweiz bis nach Kalifornien.<br />
Stolz ist er, Holzminden zu den Vorreitern dieses Projektes<br />
zählen zu können. Dem Handel erspare die Integration<br />
auf eBay eine (oft) sinnlose Investition in eigene Onlineshops.<br />
Zudem setzt sich die in Hameln ansässige<br />
Gesellschaft intensiv für die Gewinnung von Auszubildenden<br />
ein: Zurzeit entsteht eine Virtuelle Berufsmesse,<br />
die Jugendlichen einen besseren Überblick über Angebote<br />
in der Region ermöglicht und einfach einen direkten<br />
Kontakt zu Unternehmen ermöglicht. „Wir setzen hierfür<br />
unsere 3.500 Einträge umfassende Unternehmensdatenbank<br />
ein und schaffen ein Instrument für Unternehmen<br />
und Auszubildende, um zusammenzufinden“,<br />
so Kexel.<br />
FACHKRÄFTE BRAUCHEN ABER natürlich auch die<br />
mittleren und kleinen Unternehmen der Region. Wie beispielsweise<br />
das stark wachsende Unternehmen Güldenmoor<br />
im nahegelegenen Bevern. Mit der Produktion von<br />
Kosmetika als Eigenmarken für Kosmetikstudioketten<br />
oder Handelsunternehmen ist das Bevernser Unternehmen<br />
zu einem Betrieb mit 70 Mitarbeitern gewachsen.<br />
Das sogenannte ,Private Label‘-Geschäft kooperiert<br />
auch erfolgreich mit Göttinger Start-ups der Kosmetikbranche.<br />
„Wir stellen uns in vielen Bereichen gerade neu<br />
auf. Klar ist aber, dass wir zum hiesigen Standort stehen“,<br />
sagt Geschäftsführer Detlef Heitmüller bestimmt.<br />
Er schätzt die Bemühungen der regionalen Wirtschaft<br />
und Politik im Standortmarketing hoch ein und erkennt<br />
inzwischen wieder eine größere Bereitschaft bei Bewerbern,<br />
aufs Land zu ziehen.<br />
Fast 70 Mitarbeiter beschäftigte einst auch die Firma<br />
Bebek, die ebenfalls in Bevern ansässig ist. Ute und Klaus<br />
Otte produzierten zu besten Zeiten ihres Unternehmens<br />
bis zu 15.000 Röcke monatlich. „Dann ging die deutsche<br />
Bekleidungsindustrie aber leider vor die Hunde“,<br />
sagt Inhaber Klaus Otte. Doch die Ottes wollten nicht<br />
aufgeben. Und sie fanden eine profitable Nische: Seit inzwischen<br />
30 Jahren produzieren sie feuerfeste Rennbekleidung<br />
für den Motorsport. Viele namhafte Teams<br />
und Fahrer gehören zu den Kunden. Statt Massenware<br />
produziert das heute noch sechs Mitarbeiter zählende<br />
Kleinunternehmen jetzt individuelle Einzelstücke mit<br />
Lieferzeiten von mehreren Monaten. Rückschläge, wie<br />
der Ausstieg eines Großkunden mit 200.000 Euro Jahresumsatz,<br />
setzen dem inzwischen 74-jährigen Klaus Otte<br />
zwar hörbar zu, doch die Leidenschaft an der Entwicklung<br />
neuer Modelle hält ihn ebenso hörbar bei der Stange.<br />
ZURÜCK ZU DEN DÜFTEN DER STADT. Während der<br />
Rennsport diesbezüglich nicht ganz so verzückt, sorgen<br />
die Produkte von Mareille Willmann nicht nur für Geruchserlebnisse,<br />
sondern vor allem für Gaumenfreuden.<br />
4 |<strong>2019</strong> 71
wissen<br />
Ein duftender Weg<br />
Holzminden ist von seinen Düften<br />
nicht zu trennen. Da liegt es nahe,<br />
dass sich diese Tradition auch in der<br />
Innenstadt – rund um den wunderschönen<br />
Marktplatz und den<br />
Weserkai (Foto) – wiederfindet.<br />
Auf dem ,Duftenden Stadtrundgang‘<br />
lassen sich die schönen Orte der<br />
Stadt quasi erschnüffeln. Dabei entdecken<br />
die Besucher auf 17 Stationen<br />
Düfte vom Patchouliöl am<br />
Marktplatz über Pfefferminz am<br />
Rathaus bis zur Bratzwiebel am Alten<br />
Pfarrhaus an der Weserbrücke.<br />
Warum welcher Geruch wo zu<br />
riechen ist? Finden Sie es heraus …<br />
Freundliche Wahrzeichen der Stadt: die Figuren der Künstlerin Christel Lechner am Weserkai<br />
Als Einzelunternehmerin produziert sie unter dem<br />
Motto ,Gutes von Hier‘ hochwertige Zwiebelchutneys<br />
in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Wie das in<br />
einem so ländlichen Gebiet Erfolg bringen kann? „Man<br />
kennt sich hier. Es kamen so viele Bekannte, schauten<br />
sich meine neuen Produkte an und empfahlen mich<br />
weiter“, berichtet Willmann von ihren ersten Geschäftsmonaten.<br />
Inzwischen ist sie in der gesamten Region<br />
bekannt und durch ihre aktive (Vorstands-)Mitarbeit bei<br />
den Holzmindener Wirtschaftsjunioren auch bestens<br />
vernetzt. „Networking ist das A und O, um ein erfolgreiches<br />
Geschäft zu etablieren“, sagt die Jungunternehmerin.<br />
Sie mag die Anonymität der größeren Städte<br />
nicht und weiß vor allem auch die günstigen Geschäftsund<br />
Lagerräume zu schätzen.<br />
DER LANDKREIS HOLZMINDEN ist also gut aufgestellt.<br />
Etwaige Infrastrukturprobleme und Nachwuchskräftemangel<br />
werden mit effektiven Konzepten angegangen.<br />
Netzwerke sorgen für Kommunikation und Zusammenhalt<br />
in der Region. Und die großen international aktiven<br />
Unternehmen stehen zu ihrem Standort. Dank des erfolgreichen<br />
überregionalen Marketings und moderner<br />
Angebote lebt der Tourismus auf, und Fachkräfte schätzen<br />
die günstigen Lebenshaltungskosten und Hauspreise<br />
in der Region zunehmend. Die optimistische Grundstimmung<br />
der regionalen Akteure verspricht eine erfolgreiche<br />
Zukunft für den kleinen Landkreis, den viele einfach<br />
dufte finden. ƒ<br />
Holzminden – Stadt und Landkreis<br />
Der Name der Stadt stammt vermutlich von<br />
einer alten germanischen Bezeichnung für einen<br />
Bach (,menni‘). Daraus wurde der Name<br />
Holzminde. Die schlängelt sich vom Solling<br />
bis in die Weser.<br />
Am 12. Oktober 1832 wurde der Landkreis<br />
Holzminden per Gesetz des Herzogs Wilhelm<br />
von Braunschweig begründet. Zu dem damaligen<br />
Kreisgebiet gehörten die Ämter Holzminden,<br />
Eschershausen, Stadtoldendorf und Ottenstein.<br />
1941 kamen die Gemeinden Bodenwerder und<br />
Pegestorf dazu. Die größte Umstrukturierung<br />
erfolgte 1973, damals wurden die Gemeinden<br />
Brevörde, Heinsen, Meiborssen, Polle, Lauenförde<br />
und Vahlbruch dem Landkreis Holzminden<br />
zugeordnet. 1974 folgten der Flecken Delligsen<br />
und die Gemeinden Ammensen, Kaierde und<br />
Varrigsen. Seit 1977 gehört der Landkreis<br />
Holzminden zum Regierungsbezirk Hannover.<br />
72 4 |<strong>2019</strong>
wissen<br />
„Vom ländlichen Idyll<br />
wird niemand satt!“<br />
Holzmindens Bürgermeister Jürgen Daul und der neue Landrat Michael Schünemann im Gespräch über<br />
die Perspektiven des Landkreises und der Stadt, an der die Weser einen großen Bogen macht<br />
INTERVIEW STEFAN LIEBIG FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
LESEZEIT: 6 MINUTEN<br />
Am 1. November trat Michael Schünemann als neuer<br />
Landrat in Holzminden die Nachfolge von Angela<br />
Schürzeberg an. Gemeinsam mit Bürgermeister<br />
Jürgen Daul hinterfragt er die Perspektiven ihrer<br />
Heimat. Die beiden parteilosen Amtsträger sind sich<br />
einig und unterstreichen, wie sehr ihnen die gemeinsame,<br />
aktive Gestaltung der Zukunftspolitik des<br />
Landkreises und der Kreisstadt am Herzen liegen.<br />
Herr Schünemann, Herr Daul, welche Rolle spielen Stadt<br />
und Landkreis bei der Zukunftsplanung der Wirtschaft im<br />
bevölkerungsarmen Landkreis Holzminden?<br />
Jürgen Daul: Wir sollten – durchaus selbstbewusst – unsere<br />
Vorzüge stärker kommunizieren. Weltweit agierende<br />
Arbeitgeber mit fantastischen Karrierechancen, eine<br />
attraktive Daseinsvorsorge, verbunden mit akzeptablen<br />
Immobilienpreisen, einer sehr niedrige Kriminalitätsrate<br />
sowie der Lage inmitten des herrlichen Naturparks<br />
Solling-Vogler.<br />
Michael Schünemann: Dennoch sind wir gefordert, gemeinsam<br />
die Infrastruktur zu schaffen, damit Unternehmen<br />
hierbleiben, sich neu ansiedeln und die nötigen Fachkräfte<br />
hier ausgebildet werden oder herziehen. Deshalb müssen<br />
wir für eine gute medizinische Versorgung, moderne<br />
Bildungs- und Betreuungsangebote sowie eine schnelle<br />
digitale und verkehrstechnische Vernetzung sorgen.<br />
Da ist was dran. Denn es gibt ja durchaus Problembereiche<br />
wie beispielsweise die Internetversorgung oder die<br />
Verkehrsplanung ...<br />
Daul: In der Tat gilt es dort noch vieles zu verbessern.<br />
Dies gilt aber weniger für die Kreisstadt Holzminden,<br />
sondern eher für die kleineren Mitgliedsgemeinden im<br />
Landkreis.<br />
Schünemann: Auf uns als Landkreis kommt da eine Menge<br />
zu. Allein bei der Breitbandversorgung müssen wir bis<br />
2029 jährlich rund zweieinhalb Millionen Euro in die<br />
Hand nehmen. Das dauert alles noch viel zu lange. Wie<br />
wichtig das ist, merken wir an diesbezüglichen Anfragen<br />
potenzieller Investoren. Wir sind da zwar schon auf einem<br />
guten Weg, aber wir brauchen in diesem Bereich<br />
noch mehr Unterstützung von Land und Bund.<br />
Daul: Und zur örtlichen Verkehrsplanung kann ich aus<br />
städtischer Sicht nur auf unsere extrem günstigen Bustickets<br />
mit Einheitspreisen unabhängig von der Fahrtstrecke<br />
verweisen.<br />
Schünemann: Eine schnellere Anbindung nach Kreiensen<br />
auf der Schiene, um Oberzentren wie Hannover und Göttingen<br />
zu erreichen, ist extrem wichtig. Ansonsten haben<br />
wir mit dem Beitritt zum Zweckverband Verkehrsverbund<br />
Süd-Niedersachsen ab 2020 einen wichtigen Schritt<br />
getan. Das hilft uns für ein einheitliches Tarifsystem in<br />
ganz Südniedersachsen, aber auch, wenn es um weitere<br />
Unterstützung durch das Land geht. Bei den Straßen<br />
steht die möglichst schnelle Öffnung der B83 natürlich<br />
74 4 |<strong>2019</strong>
wissen<br />
Jürgen Daul<br />
geboren 1958, ist verheiratet und Vater eines<br />
22-jährigen Sohnes. Nach Besuch des Gymnasiums<br />
in Holzminden studierte er Forstwirtschaft<br />
in Göttingen. Anschließend folgte eine langjährige<br />
Tätigkeit in Ministerium, Bezirksregierung und<br />
Forstämtern der Niedersächsischen Landesforstverwaltung.<br />
Seit 2006 ist Daul hauptamtlicher<br />
Bürgermeister der Stadt Holzminden.<br />
Michael Schünemann<br />
Jahrgang 1967, ist seit November Landrat des<br />
Landkreises Holzminden. Der gebürtige Holzmindener<br />
hat eine Ausbildung als Stahlbetonbauer<br />
gemacht, war längere Zeit bei der Bundeswehr<br />
und hat dann Architektur studiert. Berufliche<br />
Erfahrungen sammelte er in unterschiedlichen<br />
Unternehmen und Verwaltungen, bevor er 2012 in<br />
die Holzmindener Kreisverwaltung wechselte.<br />
Zuletzt war er dort Bereichsleiter des Gebäudemanagements.<br />
4 |<strong>2019</strong> 75
wissen<br />
»Alle haben erkannt, dass wir mit<br />
Kirchturmdenken in der sich immer schneller<br />
drehenden Welt nicht weiterkommen.«<br />
Michael Schünemann<br />
im Vordergrund. Was die Anbindung an Hannover über<br />
die B64 bzw. B240 angeht, ist da schon viel in Bewegung.<br />
Das wäre sicher auch für die Wirtschaft von enormem Vorteil,<br />
die ja in Holzminden durchaus vielfältig ist. Wo liegen hier<br />
ihre Stärken?<br />
Daul: Wir besitzen bei etwas über 20.000 Einwohnern<br />
15.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze – das<br />
ist im Verhältnis deutschlandweit ein Spitzenwert! Die<br />
gesunde Mischung vom Weltkonzern bis zum Einmannbetrieb<br />
macht den Reiz unserer Wirtschaft aus. Neben<br />
den bereits genannten positiven Standort<strong>faktor</strong>en sind<br />
wir in der Pflicht, alles zu tun, um als Wirtschaftsstandort<br />
attraktiv zu sein. Ein Beispiel: Die effektiven Abläufe in<br />
der Verwaltung von Landkreis und Stadt führen zu<br />
schnelleren Bewilligungen als anderswo.<br />
Schünemann: Zudem haben wir auch außerhalb des<br />
Holzmindener Stadtgebietes in Bodenwerder, Stadtoldendorf,<br />
Lauenförde oder Delligsen attraktive Gewerbegebiete.<br />
Da können sich Unternehmen verschiedener<br />
Branchen ansiedeln. Unsere Wirtschaftsförderung hilft<br />
bei der schnellen Umsetzung von Bauvorhaben.<br />
Umwelt- und Klimaschutz nehmen in der öffentlichen Diskussion<br />
eine zunehmend wichtige Rolle ein. Welchen Stellenwert<br />
messen Sie diesem Themenkomplex bei?<br />
Schünemann: Wir haben mit der landkreisübergreifend<br />
agierenden Klimaschutzagentur und der Klimaschutzmanagerin<br />
des Landkreises schon eine Menge zukunftsorientierter<br />
Projekte umgesetzt. Sei es durch umfassende<br />
Energieberatungen für Haushalte und Betriebe, die eine<br />
hohe Anzahl von Investitionen ausgelöst haben, oder<br />
durch die Umstellung unserer Fuhrparks auf Elektrobeziehungsweise<br />
CNG-Antrieb. Bei allen landkreiseigenen<br />
Gebäuden haben wir immer auch die Möglichkeit<br />
von mitzuplanenden Fotovoltaikanlagen im Blick.<br />
Wir als Landkreis nehmen beim Klimaschutz bundesweit<br />
eine Vorreiterrolle ein. Das soll auch künftig so<br />
bleiben.<br />
Daul: Auch der Stadt ist dieses Thema sehr wichtig. Ziel<br />
ist die klimaneutrale Verwaltung im Jahr 2030. Dafür<br />
sind, wie auch in der Wirtschaft, massive Einschnitte und<br />
verantwortungsvolles Handeln nötig. Wir müssen dabei<br />
aber immer die Verhältnismäßigkeit berücksichtigen und<br />
dürfen niemanden überlasten. Klima schonende Alternativen<br />
wie Elektroantriebe und Windkraft müssen von der<br />
Produktion über den Betrieb bis zum Recycling gedacht<br />
und beurteilt werden. Ansonsten gefährden wir unnötigerweise<br />
wichtige Arbeitsplätze in der Region.<br />
Und welche Rolle spielt die Kommunikation für einen kleinen<br />
Landkreis wie Holzminden?<br />
Daul: Wir setzen auf kurze Kommunikationswege.<br />
Herr Schünemann und ich hatten gleich nach seinem<br />
Amtsantritt intensive Gespräche. Wir möchten die<br />
Zusammenarbeit von Stadt und Landkreis noch weiter<br />
vorantreiben. Nur so können wir uns erfolgreich für die<br />
Zukunft aufstellen.<br />
Schünemann: Neben dieser Kommunikation auf Verwaltungsebene<br />
setzen wir auch auf die gut funktionierenden<br />
Netzwerke der Region: Zwischen der Wirtschaftsförderung<br />
und Weserpulsar, mit den Wirtschaftsjunioren sowie<br />
der REK Weserbergland plus und nicht zuletzt auch dem<br />
Südniedersachsenprogramm gibt es hier auf allen Ebenen<br />
regen Austausch und gemeinsame Projekte. Wir arbeiten<br />
eng mit Nachbarlandkreisen und -bundesländern zusammen,<br />
damit decken wir eine riesige Fläche ab und schaffen<br />
viele Synergien. Alle haben erkannt, dass wir mit<br />
Kirchturmdenken in der sich immer schneller drehenden<br />
Welt nicht weiterkommen.<br />
Zu guter Letzt: Was wünschen Sie sich für Ihren Standort<br />
Holzminden im kommenden Jahrzehnt?<br />
Schünemann: Wir müssen zum Wohle des Landkreises<br />
alle in Bewegung bleiben und uns den Herausforderungen<br />
stellen. Der Landkreis ist gefordert, den wirtschaftlichen<br />
Rahmen dafür zu schaffen. Dabei können wir auf<br />
unsere Vorteile setzen: Mit unserer gut aufgestellten<br />
Wirtschaft und einer herausragenden Hochschule wie<br />
der HAWK sowie unserer lebenswerten Region verfügen<br />
wir über viele wertvolle Pluspunkte.<br />
Daul: Wir sollten in erster Linie weiterhin auf Koopera tion<br />
setzen. Künftigen Herausforderungen im Bereich der Digitalisierung,<br />
des Fachkräftemangels und des Klimaschutzes<br />
können wir nur gemeinsam gegenübertreten. So werden<br />
wir unsere innovative, zukunftsorientierte und liebenswerte<br />
Kreisstadt weiterentwickeln und Menschen vom Hierbleiben<br />
beziehungsweise Hierherziehen überzeugen.<br />
Herr Daul, Herr Schünemann, vielen Dank für das Gespräch.<br />
76 4 |<strong>2019</strong>
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STIEBEL ELTRON ist moderner<br />
Arbeitgeber und Innovationsführer<br />
95 Jahre Technik zum Wohlfühlen<br />
Im Energy Campus<br />
Dr. Ulrich Stiebel spricht beim Festakt zum<br />
125. Geburtstag des Firmengründers, seines<br />
Vaters Dr. Theodor Stiebel.<br />
125, 95, 70 UND 20: Vier runde Zahlen rund um<br />
STIEBEL ELTRON im Jahr <strong>2019</strong>. Das Holzmindener<br />
Haustechnikunternehmen wurde 1924<br />
von Dr. Theodor Stiebel in Berlin gegründet<br />
und feiert somit in diesem Jahr seinen 95. Geburtstag.<br />
Theodor Stiebel selbst war gerade mal<br />
30 Jahre alt, als er diesen Schritt wagte – was<br />
bedeutet, dass er <strong>2019</strong> seinen 125. Geburtstag<br />
gefeiert hätte. Heute ist das Unternehmen zu<br />
gleichen Teilen im Besitz von Frank Stiebel,<br />
einem der beiden Söhne von Theodor Stiebel,<br />
und der Stiebel Familienstiftung, gegründet<br />
von Dr. Ulrich Stiebel, dem zweiten Sohn<br />
des Firmengründers. Er ist auch Vorsitzender<br />
der Familienstiftung – und feierte jüngst, am<br />
10. September <strong>2019</strong>, seinen 70. Geburtstag.<br />
Bleibt noch die 20: 1999, also vor genau<br />
20 Jahren, brachte STIEBEL ELTRON das<br />
erste Integralgerät LWZ auf den Markt, eine<br />
Kombination aus kontrollierter Wohnungslüftungsanlage<br />
mit Wärmerückgewinnung<br />
und Wärmepumpe. Ein Gerät also, das die<br />
elementaren haustechnischen Funktionen<br />
im Einfamilienhausneubau – Be- und Entlüftung,<br />
Heizung und Warmwasserbereitung –<br />
abdeckt. Die LWZ-Serie, die in den folgenden<br />
20 Jahren stetig weiterentwickelt und ergänzt<br />
wurde, ist im Bereich der Systemtechnik, der<br />
die Bereiche Wärmepumpe und Lüftung umfasst,<br />
ein wichtiges Standbein.<br />
Elektrische Warmwasserbereitung sorgt vor<br />
fast 100 Jahren für den Erfolg<br />
Die Wurzeln des Unternehmens liegen in<br />
der elektrischen Warmwasserbereitung, basierend<br />
auf einer revolutionären Erfindung<br />
von Dr. Theodor Stiebel: der Ringtauchsieder<br />
machte ein effizientes und damit schnelles<br />
Erhitzen von Wasser mit elektrischer Energie<br />
möglich – und das nicht nur komfortabel,<br />
sondern auch noch deutlich gefahrloser<br />
als alle bis dahin gebräuchlichen Methoden.<br />
Der Erfolg kam schnell und nachhaltig, ließ<br />
sich auch von Krieg und zwischenzeitlicher<br />
Zerstörung der Produktionsstätten mit anschließendem<br />
Umzug des Hauptsitzes von<br />
Berlin nach Holzminden nicht aufhalten.<br />
In den Jahren nach 1950 folgten zahlreiche<br />
Produktbereiche, die alle mit Wärme und<br />
der „sauberen“ Energie Strom zu tun hatten<br />
– selbst Bügelmaschinen, Flugzeugküchenblöcke<br />
oder Heizmatten beispielsweise. Im<br />
Vergleich zur erfolgreichen Warmwassersparte<br />
fristeten diese Produkte allerdings stets<br />
ein Nischendasein.<br />
Das änderte sich Anfang der 1970er-Jahre,<br />
als sich neben den Durchlauferhitzern<br />
und Klein- und Standspeichern ein weiteres<br />
wichtiges Standbein etablierte: Systeme<br />
zur Nutzung erneuerbarer Energien in der<br />
Haustechnik, insbesondere Wärmepumpen.
Reallabor für die Energiewende Der Energy Campus, das neue Schulungs- und Kommunikationszentrum von Stiebel Eltron, ist Leuchtturm und Beispiel zugleich.<br />
Mittlerweile hat sich Stiebel Eltron in diesem<br />
Bereich zu einem ,Hidden Champion‘<br />
ent wickelt – und blickt zuversichtlich nach<br />
vorne: Themen rund um den Klimaschutz<br />
bestimmen derzeit politische und wirtschaftliche<br />
Diskussionen.<br />
STIEBEL ELTRON hat die Technik zur Energiewende<br />
in Gebäuden<br />
Auf das Heizen von Häusern und Wohnungen<br />
entfällt der größte Anteil der CO2-Emmissionen<br />
privater Haushalte. „Im Heizungskeller<br />
können die Bürger längst mit der privaten<br />
Energiewende starten", so Geschäftsführer<br />
Dr. Nicholas Matten. „Wer in seinem Zuhause<br />
auf eine Wärmepumpe als Heizungsanlage<br />
setzt, spart jährlich mindestens drei Tonnen<br />
CO2 ein." Wärmepumpen sind mittlerweile<br />
in nahezu jedem Haus eine Heizungsalternative<br />
und zwar auch, wenn das Gebäude mit<br />
traditionellen Heizkörpern ausgestattet ist.<br />
„Dank großer Effizienzsprünge in den letzten<br />
Jahren sind heute selbst Wärmepumpen, die<br />
Umwelt wärme ganz einfach aus der Umgebungsluft<br />
gewinnen, in der Lage, effizient bis<br />
zu 50 oder sogar 55 Grad Vorlauftemperatur<br />
zur Verfügung zu stellen.“ Darüber hinaus<br />
sind solche Systeme die einzigen Heizungsanlagen,<br />
die im Sommer auch die Kühlung der<br />
Räume übernehmen können.<br />
Der Hauptsitz des Weltunternehmens am<br />
Standort Holzminden<br />
Standortsicherung und Mitarbeiterbindung<br />
sind neben der Internationalisierung wichtige<br />
Aspekte des Unternehmensleitbildes.<br />
„Um den Standort Holzminden langfristig zu<br />
sichern, ist es nötig, international breit aufgestellt<br />
zu sein. Die erfolgreiche Positionierung<br />
in verschiedensten Märkten weltweit<br />
macht uns weniger anfällig gegen wirtschaftliche<br />
und konjunkturelle Schwankungen einzelner<br />
Länder“, erklärt Matten. STIEBEL ELTRON<br />
hat eigene Vertriebsgesellschaften in 26 Ländern<br />
und ist in über 120 Ländern vertreten.<br />
Die Mitarbeiter am Holzmindener Stammsitz<br />
profitieren unter anderem von Angeboten<br />
aus dem Bereich Gesundheitsmanagement –<br />
darunter sind auch Schulungen zum Thema<br />
Stress management oder Betriebssportgruppen.<br />
Auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie<br />
wird seitens des Unternehmens unterstützt.<br />
„Zudem können Mitarbeiter einerseits<br />
die Option nutzen, von Zuhause zu arbeiten,<br />
andererseits ermöglicht die Gleitzeitregelung<br />
flexible Arbeitszeiten“, erklärt Christiane Schäfers,<br />
Personalleiterin bei STIEBEL ELTRON.<br />
Auch das Leasen eines Fahrrades ist seit gut<br />
einem Jahr möglich. Über 300 Mitarbeiter haben<br />
deutschlandweit dieses Angebot bereits<br />
genutzt.<br />
KONTAKT<br />
STIEBEL ELTRON GmbH & Co. KG<br />
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mensch<br />
80 4 |<strong>2019</strong>
mensch<br />
Weltbürger<br />
von der<br />
Weser<br />
Er ist ein engagierter und streitbarer Bürger<br />
der Stadt Holzminden: Ralf Schwager.<br />
Der Hotelier und Inhaber von mehreren<br />
Kaufhäusern bestimmt wie kein Zweiter die<br />
Geschicke seiner Heimat – und der 78-Jährige<br />
denkt noch lange nicht an Ruhestand.<br />
<strong>faktor</strong> sprach mit ihm über sein rastloses<br />
Leben und sein Erfolgsrezept, die großen<br />
Pläne für die Zukunft immer sonntags nach<br />
dem Tee zu schmieden.<br />
TEXT ANJA DANISEWITSCH<br />
FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
4 |<strong>2019</strong> 81
mensch<br />
Zur Person<br />
1941 in Eisenach geboren, verlebte Ralf Schwager dort eine glückliche<br />
Kindheit, bis die Familie 1949 floh und ihre Lebensgrund lage, ein Kaufhaus,<br />
zurückließ. Er kam nach Holzminden, machte Abitur und arbeitete als<br />
Einkäufer weltweit für den Kaufhaus-Konzern Hertie. Seit 1974 ist er in<br />
Holzminden endgültig ansässig und engagiert sich für die Belange der<br />
Stadt. Er erhielt unter anderem 2008 das Bundes verdienstkreuz und 2017<br />
den HAWK-Preis, die höchste Ehren auszeichnung der Hochschule. Sein<br />
Markenzeichen: ein weißes Hemd – bei allen Wetterlagen und Gelegenheiten.<br />
82 4 |<strong>2019</strong>
mensch<br />
»Ich habe schon immer den Finger in die Wunde gelegt<br />
– manche mögen das und andere eben nicht.«<br />
LESEZEIT: 10 MINUTEN<br />
Holzminden. Eine Kleinstadt an der<br />
Weser. Ein wenig verschlafen, ein<br />
wenig wenig los. Wie so oft auch<br />
andernorts stehen viele Geschäfte<br />
in der Innenstadt leer. Touristen<br />
kommen zwar – aber vor allem<br />
wegen des bekannten Weser-Radwegs<br />
und der traumhaften Umgebung. Und in eben diesem<br />
beschaulichen Städtchen agiert schon seit Jahren ein<br />
Mann, dem nichts mehr am Herzen zu liegen scheint, als<br />
Holzminden zu einem wahren Erlebnisort zu machen:<br />
Ralf Schwager. Mit seinem jahrzehntelangen Engagement<br />
hat sich der 78-Jährige im Laufe seines Lebens allerdings<br />
nicht nur Freunde gemacht. Weil er nicht nur gibt, sondern<br />
auch fordert: von der Politik, von der Wirtschaft und von<br />
der Bevölkerung. Ein Kampf gegen Windmühlen?<br />
HEUTE SITZT DER UNTERNEHMER GELASSEN im Besprechungszimmer<br />
im dritten Stock seines ,Erlebnishauses<br />
Schwager‘ in Holzminden und erzählt von den Reaktionen<br />
einiger Bürger der Stadt, die auf den jüngst erschienenen<br />
Zeitungsartikel des Täglichen Anzeiger Holzminden<br />
(TAH) reagierten. „Ich habe heute deswegen schon<br />
einige böse Mails bekommen“, erzählt Schwager unbeeindruckt<br />
und trinkt genussvoll einen Schluck Kaffee.<br />
„Meine Frau erlaubt mir sonst nur Tee“, sagt er, liebevoll<br />
von ihr als „meine gute Seele“ sprechend. Eine ganze<br />
Seite hat man ihm und seinen Plänen für den Erhalt der<br />
Innenstadt gewidmet. Denn der Leerstand der Geschäfte<br />
und die Abwanderung der Bevölkerung aus dem Zentrum<br />
werde die Stadt Holzminden irgendwann zu einer<br />
„toten Innenstadt“ werden lassen, so sein Fazit. Ein altbekanntes<br />
und schwerwiegendes Problem vieler Kleinstädte.<br />
Die Lösung hingegen sei einfach: „Nicht lange<br />
diskutieren, sondern ausprobieren“ so sein Lebensmotto.<br />
Allein während des Interviews zu besagtem Artikel<br />
seien ihm 20 realistische und schnell umsetzbare Ideen<br />
gekommen. Aber es brauche eben auch die „Macher“,<br />
die es tatsächlich angehen. „Ich habe schon immer den<br />
Finger in die Wunde gelegt – manche mögen das und<br />
andere eben nicht“, kommentiert Schwager lakonisch.<br />
Er ist es gewohnt, Gegenwind zu bekommen, damit<br />
kann er inzwischen umgehen. Hingegen nichts zu tun<br />
und nichts zu sagen – sprich die berühmten Affen zu mimen<br />
– das kann und will er nicht.<br />
„Wenn ich etwas mache, stehe ich nicht in der letzten<br />
Reihe, sondern versuche in die erste Reihe zu kommen“,<br />
so der Unternehmer. Mit seinen acht Häusern in fünf<br />
Städten leitet er bereits in der dritten Generation ein<br />
inhaber geführtes Familienunternehmen. Bei ,Schwager‘<br />
bekommt man alles zu kaufen – von Mode über Lederwaren<br />
bis hin zu Haushaltswaren und Heimtextilien.<br />
„Am liebsten bin ich aber im Untergeschoss bei den<br />
Spielwaren“, sagt der Unternehmer lachend. Seine Augen<br />
blitzen dabei, als wäre er noch der fünfjährige Junge,<br />
der sich nichts sehnlicher wünscht, als selbst noch einmal<br />
die Rutsche vom Erdgeschoss hinuntersausen zu<br />
dürfen.<br />
Dabei ist der lokale Einzelhandel in Zeiten von Zalando<br />
und Amazon alles andere als ein Kinderspiel. „Man<br />
muss Ideen haben und Innovationen, um die Leute vor<br />
Ort zu begeistern“ sagt Schwager. Er wird es nicht mit<br />
den Riesen des Online-Handels aufnehmen, seine Pläne<br />
sehen anders aus. Zunächst möchte er nicht darüber<br />
sprechen, verrät nur, dass er sich die nächsten zehn Jahre<br />
noch selbst um die Geschäfte kümmern wird. Aber dann<br />
platzt es doch aus ihm heraus, zu stolz ist er wohl auf<br />
diese Idee: „Ich werde vier Rikschas in Hongkong kaufen,<br />
mit Elektromotor ausstatten und damit einen eigenen<br />
,Online-Handel‘ im Umkreis von 20 Kilometern<br />
aufbauen – und eine Rikscha ohne Motor werde ich<br />
selbst fahren.“ Er hat sichtlich Spaß bei dem Gedanken.<br />
„Das bringt natürlich kein Geld, ist aber gutes Marketing.“<br />
4 |<strong>2019</strong> 83
mensch<br />
IDEEN UND KONTAKTE hat der gebürtige Eisenacher<br />
mehr, als er benötigt. Bevor er in Neuhaus, einem Ort<br />
ganz in der Nähe von Holzminden, mit seiner Frau sesshaft<br />
wurde, zog es ihn erst einmal hinaus in die Welt.<br />
„Ich wollte nie Einzelhändler werden“, erzählt er rückblickend.<br />
Da habe es nach dem Abitur und der Bundeswehrzeit<br />
heftige Diskussionen mit seinem Vater gegeben,<br />
der sich letztlich aber durchsetzte und eine Lehrstelle für<br />
„den Jungen“ aussuchte. „So war das damals. Da hatten<br />
die Eltern noch mehr zu sagen als heute“, sagt Schwager.<br />
Er fügte sich und begann im Alsterhaus in Hamburg<br />
bei Hertie seine Ausbildung. Bereits mit Mitte Zwanzig<br />
wurde er für ein Jahr nach Hongkong geschickt und weitere<br />
fünf Jahre nach Japan, um von dort aus den Import<br />
aus dem Fernen Osten zu organisieren. Insgesamt war er<br />
neun Jahre bei Hertie für den Import zuständig – von<br />
Spanien und Portugal bis hin nach Brasilien und Marokko.<br />
Erst Mitte der 1970er-Jahre kam er zurück nach<br />
Holzminden und stieg pflichtbewusst bei seinem Vater<br />
ein. „Ich verlangte allerdings von Beginn an einen ordentlichen<br />
Arbeitsvertrag, damit ich ihm nicht nur die<br />
Papiere hinterhertrage“, erklärt er. Noch aus jener Zeit<br />
im Ausland und auch aus den Jahren danach in Deutschland<br />
hat Schwager sich ein weites Netzwerk an Kontakten<br />
aufgebaut. Immer noch ist er 30 Mal im Jahr<br />
gemeinsam mit seinen Mitarbeitern auf Messen und entscheidet<br />
und verhandelt mit. „In irgendwas mische ich<br />
mich jeden Tag ein“, gesteht er.<br />
JEDEN SAMSTAGABEND SITZT RALF SCHWAGER bei<br />
sich zu Hause, der Fernseher läuft leise, maximal als Nebengeräuschkulisse:<br />
„Was da heute so läuft, da braucht<br />
es wirklich wenig Ton.“ Ein gutes Glas Rotwein auf dem<br />
Tisch, und dann kontrolliert er sämtliche Ausgaben und<br />
Kostenrechnungen der Woche. „Einfach alles, was ausgegeben<br />
wird, überprüfe ich auf Heller und Pfennig: ob<br />
es passt, ob Skonto gezogen wurde, ob es Rabatte gab<br />
und ob die Preise stimmen“, so der Unternehmer.<br />
Arbeit am Wochenende? Keine Frage für den positiven<br />
Workaholic, wie er sich selbst bezeichnet. Und man mag<br />
es ihm glauben. „Burnout – der Begriff sagt mir nichts!“,<br />
erklärt er voller Elan und Lebensfreude. Er ist ein Macher,<br />
ein Umsetzer und ein Kümmerer – auch wenn es um seine<br />
Mitarbeiter geht. Er kann im Team arbeiten, aber nur,<br />
wenn es schnell geht. Von Montag bis Samstag sind seine<br />
Tage von morgens bis abends bei nahe minutiös durchstrukturiert.<br />
Nach Feierabend steht zweimal ein kurzer<br />
Joggingausflug durch den schönen Solling auf dem Programm.<br />
Und am heiligen Sonntag? Da gibt es nachmittags<br />
„ausnahmsweise und zur Belohnung“ pünktlich<br />
um 17 Uhr Tee und Kuchen zusammen mit seiner Frau<br />
Roswitha. Und davor erneut eine halbe Stunde Joggen –<br />
das hält jung. Einen Arzt hat der Endsiebziger im Übrigen<br />
seit 20 Jahren nur noch wegen Verletzungen beim Joggen<br />
und Skifahren aufgesucht.<br />
84 4 |<strong>2019</strong>
mensch<br />
Er kann's nicht lassen Mittendrin im Geschäft fühlt Ralf Schwager sich am wohlsten und strahlt diese Freude auch auf seine Mitarbeiter ab.<br />
4 |<strong>2019</strong> 85
mensch<br />
»Ich habe nur drei wahre Leidenschaften:<br />
meine Familie, meinen Beruf und Holzminden.«<br />
Der Sonntag unterscheidet sich zudem darin, dass<br />
Schwager an diesem Tag keine tagesaktuellen Dinge erledigt<br />
– Sonntag ist Strategietag, denn irgendetwas gibt es<br />
immer zu planen. So entstand an einem dieser Nachmittage<br />
auch die Idee, die alte Holzmindener Jugendherberge aus<br />
den 1950er-Jahren direkt an der Weser zu einem 3-Sterne-<br />
Superior-Hotel umzubauen. Zwischen dem Gedanken<br />
und dem Tag der finalen Eröffnung im Juli 2014 lagen<br />
lediglich 18 Monate – ein typisches Schwager-Tempo.<br />
DAFÜR, DASS BEI RALF SCHWAGER einfach alles gut<br />
durchgetaktet und schnell gehen muss, nimmt er sich<br />
viel Zeit für das Gespräch und sein Gegenüber. Nach einer<br />
kurzen Hausführung inklusive Plausch mit einigen<br />
Mitarbeitern – der Chef will schließlich wissen, ob alles<br />
läuft – fahren wir hinüber ins Weserhotel und werden<br />
von der Hotelleiterin freundlich empfangen. Eine gute<br />
Gelegenheit nachzufragen, was Ralf Schwagers größte<br />
Schwäche ist. „Er kann nicht loben“, verrät uns Heike<br />
Sander-Nisius, während ihr Chef lächelnd neben ihr<br />
steht. Man weiß sich nach so vielen Jahren der Zusammenarbeit<br />
anscheinend zu nehmen und zu schätzen –<br />
und wie die Mitarbeiter ihn um den Finger wickeln<br />
können, das wissen sie auch, bleibt aber ihr Geheimnis.<br />
„Ich habe die Jugendherberge gekauft, obwohl ich nicht<br />
einmal wusste, wie Hotel geschrieben wird“, sagt Schwager.<br />
„Ich habe Hotel mit Doppel-T und Doppel-L geschrieben.“<br />
Er lacht. Zusammen mit acht Mitarbeitern bildete er ein<br />
Team, das für die Gestaltung des Hotels verantwortlich<br />
war – ein Architekt und eine Farbberaterin halfen, der<br />
Rest war selfmade. „Einfach machen und ausprobieren“,<br />
so auch hier sein stets wiederkehrendes Lebensmotto.<br />
Heute ist das Hotel so gut ausgebucht, dass Schwager bereits<br />
Pläne für weitere 30 Wohlfühlzimmer mit Blick zum<br />
Hafen sowie einen Medien- und Konferenzraum für 120<br />
Gäste plant. Der Eröffnungstermin stehe selbstverständlich<br />
auch schon fest: April 2021.<br />
HAT ER BEI SO VIEL SCHAFFENSDRANG nicht irgendwann<br />
alles erreicht? Es macht fast schwindelig, dabei<br />
zuzuhören, was ein Mensch allein alles bewegen kann.<br />
Bescheiden – und nur auf direkte Nachfrage hin –<br />
berichtet er von den Auszeichnungen, die er im Laufe<br />
seines Lebens erhielt, wie zum Beispiel den HAWK-Preis.<br />
Die höchste Ehrenauszeichnung der Hochschule wird an<br />
Personen verliehen, die durch herausragende Initiativen<br />
oder durch besonderen Einsatz die Ziele der HAWK unterstützt<br />
und sich dadurch in besonderer Weise verdient<br />
gemacht haben. Ralf Schwager wurde diese Ehre vor<br />
zwei Jahren zuteil, da er sich in hohem Maße für den<br />
Standort in Holzminden eingesetzt hat. 2008 erhielt der<br />
gebürtige Eisenacher bereits das Bundesverdienstkreuz<br />
für sein Engagement zum einen in seiner Geburtsstadt<br />
nach der Grenzöffnung und zum anderen in Holzminden.<br />
Im Jahr 2011 erhielt er die Haarmannplakette der Stadt<br />
Holzminden und wurde 2014 zum Senator im Senat der<br />
Wirtschaft berufen.<br />
Zehn Jahre war Schwager Manager des Stadtmarketings.<br />
Er hat sich dafür stark gemacht, dass der Weihnachtsmarkt<br />
nicht nur ein Weihnachtsmarkt ist, sondern<br />
eine Attraktion mit einer 500 Quadratmeter großen Eisbahn.<br />
Er hat das Kino für die Stadt mitinitiiert, und nun<br />
hofft er, für die jungen Menschen in seiner Stadt auch<br />
noch jemanden zu finden, der eine Diskothek eröffnet.<br />
All dies ist nur eine Auswahl des bislang Erreichten –<br />
und ein Ende ist noch lange nicht in Sicht. Dafür ist der<br />
Antrieb in Schwagers Lebens einfach zu stark. „Ich habe<br />
nur drei wahre Leidenschaften: meine Familie, meinen<br />
Beruf und Holzminden“, sagt er, und auch hier fällt es<br />
leicht, ihm Glauben zu schenken.<br />
FÜR SICH PERSÖNLICH HAT ER NATÜRLICH auch<br />
noch das eine oder andere vor. In zwei Jahren, wenn er<br />
80 Jahre alt ist, will er sich wieder unter die Langläufer<br />
mischen und Wettkämpfe über zehn Kilometer bestreiten.<br />
Der seit seiner Jugend sportbegeisterte Schwager lief<br />
bereits einige der berühmten Marathon-Strecken: New<br />
York, Berlin und Rotterdam. Und auch die Nachfolge<br />
bleibt für die kinderlose Familie Schwager noch zu klären.<br />
„Da habe ich tatsächlich einen Klopapier-Zettel“,<br />
erzählt der Einzelhändler und Hotelier fröhlich, „auf<br />
dem stehen sechs Namen, die für die Nachfolge infrage<br />
kommen.“ Ein Beirat wird im Fall des Falles diese Entscheidung<br />
treffen. „Aber bis dahin wird noch viel Wasser<br />
die Weser herunterlaufen. Wenn ich jetzt schon jemanden<br />
bestimme, läuft er nur mit dem Aktenkoffer hinter<br />
mir her. Das kann ich niemandem zumuten.“ Das passt<br />
zu einem Mann, der auch abgeben kann – aber nur,<br />
wenn es ihm zu langweilig wird. Seinen Mitarbeitern<br />
bringt Schwager jedenfalls große Wertschätzung ent-<br />
86 4 |<strong>2019</strong>
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mensch<br />
Unvollendet Ralf Schwager ist stolz auf sein neuestes Puzzelteil im Lebenswerk – das Weserhotel soll aber nicht das letzte sein.<br />
gegen, da er weiß, dass ein Chef nur so gut ist wie sein<br />
Personal. Und dass viele seiner Angestellten in Holzminden<br />
bereits seit 20 Jahren bei ihm arbeiten, spricht für ihn<br />
als Mensch. Auf die Frage, ob er für seine Mitarbeiter<br />
denn fast wie ein Vater wäre, der sich sorgt und sie nach<br />
der Ausbildung erst einmal hinaus schickt in die Welt, um<br />
dann gestärkt zurückkommen, antwortet Schwager:<br />
„Das ,fast‘ können Sie streichen.“<br />
WAS JEDOCH DER WAHRE SCHLÜSSEL seines Erfolgs<br />
ist, verrät er bei einer letzten Tasse Tee im Hotel. Mit<br />
Blick auf den Hafen der Weser und über das hügelige<br />
Land dahinter kommt er ein wenig ins Schwärmen. „Ich<br />
bin jetzt 78 Jahre alt und habe in meinem Leben fast<br />
nichts falsch gemacht. Ich hatte viel Glück. Das größte<br />
Glück aber ist, dass ich die richtige Frau an meiner Seite<br />
habe, mit der ich seit 42 Jahren verheiratet bin.“ Doch<br />
dann ist es Zeit, aufzubrechen. Der rastlose Schwager<br />
posiert noch schnell auf der Weserbrücke für ein letztes<br />
Foto. Dann eilt er zum nächsten Termin – wo er sich erneut<br />
in die Geschehnisse in seinem Holzminden einmischt.<br />
Pünktlichkeit muss sein. ƒ<br />
Zur Historie<br />
Das erste kleine Kaufhaus Schwager wurde 1923 vom<br />
Großvater August Schwager in Stadtilm in Thüringen<br />
gegründet. 1936 eröffnet ein weiteres Haus in Eisenach,<br />
das von Ralf Schwagers Vater geführt wurde und nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg in der DDR enteignet wurde.<br />
Der 1941 in Eisenach geborene Schwager übernahm<br />
nach der Wende das marode Gebäude und baute es neu<br />
auf. Nach ihrer Flucht aus Thüringen 1949 eröffnete die<br />
Familie in Holzminden ein neues Textilhaus – und<br />
noch heute ist das Erlebnishaus Schwager hier mit<br />
seinem im vorigen Jahr entstandenen ,Marktplatz‘,<br />
einem gemütlichen, modernen Restaurant, eine<br />
Institution in der Stadt.<br />
88 4 |<strong>2019</strong>
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FOTOS: ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
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Jeder Euro erzählt eine Geschichte – Steuerberater Böttcher & Partner.<br />
Die Partner Marc Böttcher, Sabine Kottwitz<br />
und Tanja Bierwirth sind ein perfekt<br />
eingespieltes Team, das die Belange<br />
von Mitarbeitern und Mandanten sehr<br />
ernst nimmt. Vor diesem Hintergrund hat die<br />
Gesellschaft in diesem Jahr entschieden, ihre<br />
beiden Standorte zusammenzu legen: „Dadurch<br />
ermöglichen wir einen noch besseren<br />
Wissenstransfer zwischen unseren Mitarbeitern.<br />
Auch viele Prozesse werden aufgrund der<br />
gemeinsamen Räumlichkeiten verschlankt und<br />
unkomplizierter“, erklärt Marc Böttcher, der in<br />
der Zusammenlegung der beiden Kanzleisitze<br />
große Vorteile für die Mandanten und die qualitative<br />
Aufstellung der Kanzlei sieht.<br />
Mit der Zusammenlegung der beiden Sitze<br />
ändert sich der Unternehmenssitz in Osterode<br />
auch optisch. Bis Januar 2020 wird an das alte<br />
Gebäude ein großzügiger Arbeitsbereich für<br />
die Mitarbeiter angebaut. „Wir haben Zweierbüros<br />
für unsere Angestellten geplant, damit<br />
ein störungsfreieres Arbeiten möglich ist“,<br />
erklärt Böttcher die neue Aufteilung. Helle<br />
Räume, höhenverstellbare Schreibtische, ein<br />
hoher technischer Standard – der Ausbau<br />
folgt modernsten Anforderungen.<br />
SOBALD DER BAU ABGESCHLOSSEN IST,<br />
erfolgt die Sanierung des alten Gebäudekomplexes.<br />
„Unsere Mandanten bekommen durch<br />
den Umbau neu angeordnete Besprechungsund<br />
Veranstaltungsräume, die alle technischen<br />
Möglichkeiten für effizientes Arbeiten<br />
bereitstellen.“<br />
Böttcher, Kottwitz und Bierwirth wollen mit<br />
der Investition und der Neuaufstellung ein<br />
Zeichen setzen, dass sie als Arbeitgeber als<br />
auch als Dienstleister fest in der Region verankert<br />
sind.<br />
„UNSER DIENSTLEISTUNGSPORTFOLIO<br />
GEHT mittlerweile weit über die Erstellung<br />
von Jahresabschlüssen, Finanz- und Lohnbuchhaltung<br />
sowie Steuererklärungen hinaus.<br />
Neben Wirtschaftsprüfung mit unserem<br />
Kooperationspartner, der HARZER-WP GmbH<br />
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, können wir<br />
auch als Partner mit Fachberaterexpertisen<br />
punkten.“ Böttcher hat sich auf die Bereiche<br />
Controlling und Finanzwirtschaft spezialisiert,<br />
Bierwirth auf Unternehmensnachfolge und<br />
Kottwitz auf den Bereich Gesundheitswesen.<br />
„Außerdem unterstützen wir unsere Mandanten<br />
bei der Optimierung von Prozessen, insbesondere<br />
im Zusammenhang mit der Digitalisierung<br />
und der Einbindung von Vorsystemen<br />
in die Finanz- und Lohnbuchhaltung.“<br />
KONTAKT<br />
TEXT: CAROLIN SCHÄUFELE<br />
Böttcher & Partner<br />
Steuerberatungsgesellschaft mbB<br />
Büro Osterode am Harz<br />
An der Bahn 69, 37520 Osterode<br />
Tel. 05522 9084-0<br />
Büro Bad Lauterberg<br />
Heikenbergstraße 8, 37431 Bad Lauterberg<br />
Tel. 05524 9209-0<br />
info@boettcherundpartner.de<br />
www.boettcherundpartner.de
mensch<br />
Der Routinier<br />
Mit Wolfgang Brück hat die Universitätsmedizin Göttingen in diesem Jahr einen erfahrenen<br />
neuen Sprecher des Vorstandes bekommen. Der gebürtige Mainzer kümmert sich ab sofort nicht<br />
nur intensiv um die Kommunikation nach innen, sondern macht sich auch für die Vertretung<br />
der UMG-Interessen bei der Landesregierung in Hannover stark.<br />
TEXT SVEN GRÜNEWALD FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
LESEZEIT: 6 MINUTEN<br />
Ende Juli <strong>2019</strong> ging in Göttingen eine kleine<br />
Ära zu Ende: sieben Jahre Heyo K. Kroemer<br />
– der langjährige Chefsprecher der Universitätsmedizin<br />
Göttingen (UMG) verabschiedete<br />
sich, um sich einer neuen Herausforderung<br />
zu widmen. Er leitet heute den Vorstandsvorsitz der<br />
Charité-Universitätsmedizin Berlin. Als Medizinmanager<br />
mit deutschlandweitem und internationalem Renommee<br />
hat Kroemer in den vergangenen Jahren überzeugend demonstriert,<br />
dass er komplexe Prozesse erfolgreich führen<br />
kann, er engagierte sich an wichtigen Projekten von Stadt<br />
und Region und hinterließ große Fußstapfen. Dennoch<br />
war sich die Findungskommission, die über seine Nachfolge<br />
entscheiden musste, recht schnell einig, wer der geeignete<br />
Mann ist, um diese Stapfen auszufüllen: Wolfgang<br />
Brück, Facharzt und langjähriger Direktor des Instituts<br />
für Neuropathologie an der UMG, leitet nun seit einigen<br />
Monaten die Amtsgeschäfte im Ressort Forschung<br />
und Lehre und spricht für den dreiköpfigen Vorstand.<br />
„ICH DENKE, ICH HABE DEN VORTEIL, dass ich die Prozesse<br />
und Personen der UMG ganz gut kenne und daher<br />
relativ schnell das Amt ausfüllen kann“, erklärt der gebürtige<br />
Mainzer – bereits ein Routinier in den Führungsund<br />
Leitungsämtern der UMG, weshalb auch der Wechsel<br />
aus der Forschung in das Management für ihn kein<br />
Neuland war. So leitete Brück in den vergangenen zwei<br />
Jahrzenten bereits zweimal kommissarisch das Vorstandsressort<br />
Krankenversorgung und einmal kommissarisch<br />
das Vorstandsressort Forschung und Lehre. Er war<br />
Forschungsdekan der Medizinischen Fakultät, amtierte<br />
als Stellvertreter des Vorstands Ressort Krankenversorgung,<br />
und seit April 2011 war Brück Dekan für Infrastruktur<br />
und Entwicklung und auch Stellvertreter des<br />
Vorstands Forschung und Lehre der UMG.<br />
Aber hat eine Hausberufung nicht immer ein Geschmäckle?<br />
„Natürlich hat ein von extern neu Berufener<br />
auch seine Vorteile“, sagt Brück dazu. Allerdings sei es<br />
bei Vorstandspositionen durchaus üblich, sie aus dem eigenen<br />
Haus zu besetzen. Sebastian Freytag, Vorstand des<br />
Ressorts Wirtschaftsführung und Administration der<br />
UMG, war bereits eine interne Besetzung – ebenso, wie<br />
es aktuell der Präsident der Medizinischen Hochschule<br />
Hannover ist.<br />
Doch der endgültige Weg raus aus der Wissenschaft,<br />
rein in das Management eines Großklinikums – auch für<br />
Brück ein großer Schritt. „Früher hätte ich mir das niemals<br />
vorstellen können“, sagt Brück. Zu sehr lag ihm die<br />
Praxis in der Forschung am Herzen. Aber das sei eine<br />
Frage des Lebensabschnitts. „Ich bin jetzt 58 Jahre alt,<br />
und da kann man noch einmal wechseln. Das ist ein guter<br />
Höhepunkt für die Karriere. Ich hätte allerdings keine<br />
Ambitionen gehabt, in ein vergleichbares Amt an einer<br />
anderen Universität zu wechseln. Der Standort Göttingen<br />
ist für mich am reizvollsten.“ Auch der Abschied aus<br />
seinem Institut und von der Arbeit in der Multiple-<br />
Sklerose-Forschung ging schnell und für Wolfgang Brück<br />
deutlich einfacher als gedacht. „Das Gebiet ist an der<br />
UMG inzwischen so etabliert, dass es durch meinen<br />
Wechsel nicht mehr zur Disposition stand.“<br />
92 4 |<strong>2019</strong>
mensch<br />
4 |<strong>2019</strong> 93
mensch<br />
Seine wissenschaftlichen Meriten hat sich Wolfgang Brück<br />
mit der Erforschung der Multiplen Sklerose (MS), einer<br />
Erkrankung des Zentralnervensystems, erworben. Unter<br />
seiner Leitung hat sich das Institut für Neuropathologie<br />
der UMG zu einer der weltweit führenden Einrichtungen<br />
im Bereich der MS-Forschung entwickelt – mit Kooperationen<br />
mit zahlreichen führenden, internationalen Forschungszentren.<br />
Zudem leitete er bereits zwei Jahre als<br />
Direktor das Institut für Multiple-Sklerose-Forschung,<br />
eine gemeinsame Einrichtung der UMG und der Gemeinnützige<br />
Hertie-Stiftung, war vier Jahre Geschäftsführer<br />
der Deutschen Gesellschaft für Neuropathologie und<br />
Neuroanatomie und ist seit 2009 Vorstandsmitglied des<br />
bundesweiten Kompetenznetzwerks Multiple Sklerose.<br />
Für seinen engagierten Einsatz wurde er in der Vergangenheit<br />
auch schon mehrfach ausgezeichnet: mit dem Hans-<br />
Heinrich-Georg-Queckenstedt-Preis, dem Hans-Georg-<br />
Mertens-Preis für innovative Forschung in der Neuro logie<br />
sowie mit dem Kohn Award der British Society of Toxicological<br />
Pathologists.<br />
DIE FORSCHUNG IN DER NEUROPATHOLOGIE – ein<br />
Job, der für Brück mehr Berufung als Beruf war. „Das<br />
war schon mein Lebensinhalt. Mir hat die Arbeit unheimlich<br />
Spaß gemacht – viel Diagnostik und vielfältige<br />
internationale Kontakte. Überhaupt hat das mein vorheriges<br />
Berufsleben gekennzeichnet: Ich war sehr viel unterwegs.“<br />
Jedes zweite Wochenende, so Brück, war er<br />
auf Kongressen und hat Vorträge gehalten. Zuletzt in<br />
Stockholm. „Das war wohl einer meiner letzten Vorträge,<br />
und vielleicht werde ich das etwas vermissen.“ Ein<br />
ganz anderes Leben, das eines globalen Wissenschaftsreisenden,<br />
sei das gewesen. „Doch jetzt habe ich eine<br />
neue Aufgabe, in die ich mich voll reinstürzen kann.<br />
Jetzt stehen Göttingen und Hannover beziehungsweise<br />
Südniedersachsen klar im Vordergrund.“<br />
Aus dem Wissenschaftler wird ein Manager, aber auch<br />
ein politischer Akteur. Statt eines kleinen Institutsbudgets<br />
geht es jetzt um dreistellige Millionenbeträge, die verantwortungsvoll<br />
geplant und eingesetzt werden wollen. Hinzu<br />
kommt die strategische Ausrichtung der UMG. „Es ist<br />
ein sehr spannendes Feld, die Entwicklung der UMG mit<br />
zu steuern“, so Brück. „Vor allem macht es Spaß, mit den<br />
unterschiedlichsten Berufsgruppen zusammenzuarbeiten.“<br />
IN SEINER NEUEN ROLLE SIEHT BRÜCK für sich ganz<br />
wesentlich zwei Adressaten: jene innen in der UMG, also<br />
das gesamte Personal in seiner ganzen Breite und Vielfalt,<br />
und die außen, die Landesregierung sowie regionale Akteure.<br />
„Heyo Kroemer hat seine Rolle nach außen sehr<br />
stark wahrgenommen, vor allem auch bundespolitisch –<br />
und das war auch von großer Bedeutung für die UMG“,<br />
sagt Brück. „Für meine Tätigkeit sehe ich beides in einem<br />
Gleichgewicht.“ Für ihn steht die UMG an erster<br />
Stelle – „und das ist eine klar regionale Sache, da wir uns<br />
in Südniedersachsen gut vernetzen müssen.“ Auch der<br />
Gesundheitscampus Göttingen, der zusammen mit der<br />
HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und<br />
Kunst aufgebaut wurde, muss ebenso vorangebracht<br />
werden wie die Krankenversorgung an sich.<br />
EINER DER WICHTIGEN PUNKTE REGIONAL ist dabei<br />
die zunehmende Vernetzung. „Die UMG ist in dieser Region<br />
der einzige Maximalversorger, aber auch der kann<br />
nicht alle Versorgungsleistungen abdecken“, so Brück.<br />
„Wir brauchen ein Basisangebot der medizinischen Versorgung<br />
in zum Beispiel Duderstadt, Northeim, Einbeck<br />
und Hann. Münden. Aber dafür müssen wir uns untereinander<br />
absprechen, wer was macht, damit wir uns<br />
nicht gegenseitig schaden. Das hilft niemandem, am wenigsten<br />
den Menschen in dieser Region.“ Über entsprechende<br />
Abstimmungen ließen sich Verantwortlichkeiten<br />
regeln. Mit der Gesundheitsregion Südniedersachsen<br />
bestehe bereits eine gute Grundlage dafür.<br />
Aber während es in der Region gut zu regeln sei, seien<br />
die Voraussetzungen in Göttingen selbst schwieriger. „In<br />
unmittelbarer Nähe befinden sich vier Krankenhäuser,<br />
zwischen denen es logischerweise auch einen Wettbewerb<br />
um die Versorgung von Patienten gibt“, so Brück<br />
realistisch und doch zuversichtlich, auch wenn das sicher<br />
schwieriger zu lösen sei, als die regionale südniedersächsische<br />
Problematik.<br />
Wolfgang Brück ist angekommen, an der richtigen Position<br />
als UMGler durch und durch, und in Göttingen.<br />
Seiner alten Heimat Mainz ist er aber zumindest noch in<br />
einer Hinsicht verbunden geblieben: „Mein Lieblingsverein<br />
ist und bleibt der Mainz 05.“ ƒ<br />
ZUR PERSON<br />
Wolfgang Brück kommt in Mainz zur Welt und absolviert<br />
hier sein Medizinstudium. Anschließend geht er für seine<br />
Facharztweiterbildung zum Neuropathologen nach<br />
Göttingen. Nach einem Aufenthalt in Wien wird er als<br />
Professor an die Charité-Universitäts medizin nach Berlin<br />
gerufen, wo er von 1997 bis 2002 tätig ist. 2002 zieht es<br />
ihn erneut nach Göttingen, wo er die Leitung des Instituts<br />
für Neuropathologie an der UMG übernimmt und den<br />
Forschungsschwerpunkt Multiple Sklerose etabliert.<br />
Seitdem ist er in vielen weiteren Leitungsfunktionen tätig,<br />
unter anderem als Vertreter seines Vorgängers Heyo K.<br />
Kroemer, den er im August <strong>2019</strong> ablöst. Nun ist der<br />
58-Jährige selbst als neuer Sprecher des Vorstandes im<br />
Einsatz, ist Vorstand Forschung und Lehre sowie Dekan<br />
der Medizinischen Fakultät.<br />
ÜBRIGENS<br />
Mehr zu Wolfgang Brück und seinen beruflichen Zielen<br />
gibt es im exklusiven Interview im UMG-Sonderteil in<br />
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Mit Licht<br />
zum Hören<br />
Der Göttinger Neurowissenschaftler und Top-Hörforscher<br />
Tobias Moser lässt mit bahnbrechenden Erkenntnissen die Fachwelt<br />
und Betroffene aufhorchen.<br />
TEXT CLAUDIA KLAFT<br />
FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
96 4 |<strong>2019</strong>
mensch<br />
4 |<strong>2019</strong> 97
wissen<br />
LESEZEIT: 6 MINUTEN<br />
Die doppelte Sensation: Mit seinem<br />
Forschungsprojekt ,Multiscale Bioimaging:<br />
von molekularen Maschinen<br />
zu Netzwerken erregbarer Zellen‘ ist<br />
dem Göttinger Neuro wissenschaftler<br />
Tobias Moser die Auszeichnung als<br />
Exzellenzcluster für die Georg-August-Universität 2018<br />
gelungen. Nur ein Jahr später, im September <strong>2019</strong>, nahm<br />
der Mediziner der Universitätsmedizin Göttingen den<br />
Guyot- Preis für herausragende Leistungen in den Bereichen<br />
Hörforschung und Otologie entgegen – mit der Zugabe,<br />
dass die Verleihung mit einem Symposium ‚Fortschritte<br />
in der biologischen Otologie‘ gefeiert wurde.<br />
Denn mit der Entwicklung eines sogenannten optogenetischen<br />
Cochlea-Implantats ist ihm ein wahrer wissenschaftlicher<br />
Paukenschlag gelungen.<br />
PROFESSOR TOBIAS MOSER IST EIN PIONIER der<br />
Grund lagenforschung, die entscheidende Erkenntnisse<br />
über die Funktionen des Innenohrs lieferte. Und die nun<br />
zu einer spektakulären Methode führte, die – wenn sie in<br />
ein paar Jahren durch klinische Studien bestätigt und zugelassen<br />
wird – das Leben von Hunderttausenden<br />
Schwerhörigen erleichtert. Das Besondere: Bisher streuten<br />
Cochlea-Implantate elektronisch den Schallreiz so<br />
breit, dass einzelne Tonhöhen nicht unterscheidbar waren<br />
und das Hören damit intensiv trainiert werden<br />
musste. Nun haben er und sein Team an Mäusen mittels<br />
eines ,Lichtschalters‘ die Hörsignale räumlich so exakt<br />
steuern können, dass die Tonhöhen fast wie beim normalen<br />
akustischen Hören aufgelöst werden.<br />
Viele weitere Versuchsreihen, auch an Primaten, sind<br />
vonnöten, der Finanzbedarf ist trotz der bisherigen Förderung<br />
noch enorm. „Doch der Grundstein für die fundamentale<br />
Verbesserung des Cochlea-Implantats ist gelegt<br />
und“, so Moser, „dies ist ein wichtiger Durchbruch.“<br />
Ein Durchbruch, der auch wirtschaftliche Erfolge verspricht:<br />
Im Jahr <strong>2019</strong> gründeten Moser und Kollegen in<br />
Göttingen das Start-up OptoGenTech, das aus der von<br />
Bund, DFG und EZ geförderten Forschungsarbeit an<br />
den Universitäten Göttingen, Freiburg und Chemnitz<br />
sowie dem Deutschen Primatenzentrum in Göttingen<br />
entstanden ist. Hier sollen optogenetische Mehrkanalstimulatoren<br />
entwickelt, realisiert und vermarktet<br />
werden. Als ehrenamtlicher Geschäftsführer sucht Moser<br />
noch finanzkräftige Investoren: „Es wäre gut, wenn sie<br />
tatsächlich Erfahrung mit Medizinprodukten oder mit<br />
der Zulassung von Medikamenten mitbringen. Aber<br />
wirklich wichtig für uns ist zu vermitteln, dass es Zeit<br />
braucht.“ Lange Zeit mit profitabler Perspektive: „Der<br />
jetzt schon große Markt ist weiter wachsend.“<br />
DAS ALLES ERZÄHLT ER, während er entspannt in seinem<br />
kleinen Büro im Gebäudekomplex der Universitätsmedizin<br />
Göttingen sitzt: Ein voller Schreibtisch, darauf<br />
ein Becher mit dem Aufdruck ‚Love what you do‘. Ein<br />
Ohrenmodell und der Mann, der liebt, was er tut. Worte<br />
wie ,faszinierend‘, ,total verrückt‘, ,fantastisch‘ fallen<br />
immer wieder im Gespräch. Moser schwärmt von seiner<br />
Arbeit, erklärt in einfachen Worten, lacht zwischendurch.<br />
Und nimmt sich Zeit, obwohl jeder seiner Arbeitstage so<br />
vollgepackt ist, dass er mehr Stunden bräuchte, und er<br />
mehr als einen Arbeitsplatz in Anspruch nimmt.<br />
Auf die gezielte Frage danach lacht er herzlich auf.<br />
„Sehen sie mich an, wie zerrissen bin ich? Ganz klar, ich<br />
habe aktuell eigentlich vier Arbeitsplätze: Als da wären<br />
das Institut für Auditorische Neurowissenschaften an<br />
der UMG und Labore an den Max-Planck-Instituten für<br />
Experimentelle Wissenschaft sowie für Biophysikalische<br />
Chemie und am Deutschen Primatenzentrum“, erzählt<br />
Moser zufrieden. „Es ist toll, dass wir auf diese Weise<br />
mit Wissenschaftlern am Campus verbunden sind.“<br />
Ein so großer Einsatz für seine ziemlich kleine Liebe:<br />
das Innenohr. Genauer gesagt, die „total verrückte<br />
Kontaktstelle“ zwischen Haarsinneszelle und Hör nervenzelle,<br />
die ihn „völlig fasziniert“.<br />
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wissen<br />
»Ich hatte immer mal wieder drüber nachgedacht, mir<br />
Angebote von außen anzuschauen, aber für die Synapsen<br />
und die Neurowissenschaften und auch einiges andere<br />
war Göttingen immer ein sehr guter Standort.«<br />
Als der studierte Humanmediziner vor 20 Jahren bei<br />
Professor Erwin Neher am MPI für Biophysik seine erste<br />
Arbeitsgruppe gründete, wollte er verstehen, wie dieser<br />
Übergang zwischen der Sinneszelle und der Nervenzelle<br />
funktioniert. Bei den Untersuchungen spielt auch das<br />
„wabbelnde Fließband“, wie Moser die Wendeltreppe im<br />
Innenohr beschreibt, eine wichtige Rolle. Diese besteht<br />
aus ca. 3.000 Stufen und ist – je nachdem, wo sie durch<br />
den eintreffenden Schall am meisten in Schwingung versetzt<br />
wird – für das Erkennen der gesendeten Frequenz<br />
verantwortlich. Diese Mechanik trifft auf die Haarsinneszelle<br />
und regt sie durch Auslenkung ihrer Härchen an.<br />
Die erregte Haarsinneszelle gibt die Information über den<br />
Schall unermüdlich und mit höchster zeitlicher Präzision<br />
an einer Synapse an eine Nervenzelle weiter – „und das ist<br />
eigentlich das, was mich zum Innenohr gebracht hat“.<br />
DAFÜR HAT MOSER NACH seiner Weiterqualifizierung<br />
als HNO-Arzt 2001 das Göttinger ,InnerEarLab‘ aufgebaut,<br />
in dem unterschiedliche Fachbereiche gebündelt<br />
sind. Denn es ist ein komplexer Prozess, der uns zum<br />
Hören bringt: Die Kontaktstelle besteht aus einer Synapse<br />
mit ganz speziellen Eiweißproteinen, die den mechanisch<br />
eintreffenden Schall in einen elektrischen Nervenimpuls<br />
codiert. Bei einer Störung der Synapse bleibt das Gehirn<br />
quasi stumm. Um die verschiedenen Betrachtungsebenen<br />
durch interdisziplinäre Zusammenarbeit zu fördern, gründet<br />
sich 2015 das Institut für Auditorische Neurowissenschaften<br />
an der UMG. „Hier können wir zusammen einzelne<br />
Moleküle sowie Zellen verändern und studieren“, erklärt<br />
Moser zufrieden. „Und wir können das Hörsystem<br />
als Ganzes einerseits an Tiermodellen untersuchen und<br />
andererseits an Betroffenen in der Klinik messen.“<br />
ERKANNT WURDE DURCH SEINE ERGEBNISSE die Auditorische<br />
Synaptopathie, also die Schwerhörigkeit aufgrund<br />
einer Synapsenerkrankung. Ihre Erkennung erfordert<br />
den Einsatz moderner Audiologie etwa mit der<br />
Messung der Gehirnströme und – für vererbte Formen –<br />
die humangenetische Diagnostik. Die Göttinger Forschung<br />
hat auch Hoffnung geweckt, den von einer speziellen<br />
Form der erblichen Auditorischen Synaptopathie<br />
Betroffenen durch das Einführen eines intakten Gens<br />
das Hören zu ermöglichen. Eine Riesenaufregung in der<br />
,Hörwelt‘ hat die Erkenntnis einer lärmbedingten Schädigung<br />
dieser Synapsen versuchsacht. Weil sie im normalen<br />
Hörtest nicht auffällt, spricht man vom ,verborgenen<br />
Hörverlust‘, wobei diese Schäden vermutlich dann zu<br />
der sehr häufigen Lärmschwerhörigkeit beitragen.<br />
Hier und bei der Altersschwerhörigkeit werden Hörgeräte<br />
und bei hochgradiger Schwerhörigkeit schließlich<br />
Cochlea-Implantate eingesetzt. Die Herausforderung dabei:<br />
„Sie brauchen viele Informationskanäle zum Gehirn,<br />
um Störgeräusche und Nutzsignale zu trennen und zu<br />
verarbeiten.“ Mit dem oben beschriebenen optischen<br />
Cochlea-Implantat wollen Moser und Kollegen die aktuell<br />
verwendete elektrische Version ersetzen, weil die optische<br />
Variante mehr Informationskanäle erlaubt.<br />
DER GEBÜRTIGE GÖRLITZER, der in Leipzig, Erfurt und<br />
Jena studierte, lebt gern in Göttingen. Hierhin hat ihn<br />
die Chance geführt, seine Doktorarbeit bei Erwin Neher<br />
zu schreiben. „Das hat mich wohl endgültig für diese<br />
Stadt gewonnen. Ich hatte immer mal wieder drüber<br />
nachgedacht, mir Angebote von außen anzuschauen,<br />
aber für die Synapsen und die Neurowissenschaften und<br />
auch einiges andere war Göttingen immer ein sehr guter<br />
Standort. Deswegen bin ich auch geblieben.“ Seine Familie<br />
– Frau und drei Kinder – sei ebenfalls gern in „dieser<br />
sehr lebenswerten Stadt.“ Und wenn er Zeit findet, treibt<br />
er Sport: Skifahren, Laufen und Fahrradfahren, „am<br />
liebsten schnell“ – dennoch unter der Schallgrenze.<br />
Aber auch privat will Moser für das Hören sensibilisieren,<br />
denn die Synapsenschwerhörigkeit nehme durch<br />
stete Beschallung, zum Beispiel durch Kopfhörer und<br />
das laute Telefonieren in der Öffentlichkeit zu. „Deshalb<br />
bekommt bei mir jeder ein Lärmschutzmittel“, sagt er<br />
und schiebt Ohrstöpsel über den Tisch. „Ich nutze sie<br />
auch, weil ich viel unterwegs bin und arbeiten muss.<br />
Denn worüber ich mich ärgere, ist, dass die Privatsphäre<br />
des anderen wenig respektiert wird. Ich finde es oft in<br />
der Öffentlichkeit viel zu laut, und man wird unzumutbar<br />
eingeweiht in das, was andere Leute gerade austauschen<br />
wollen. Ich denke, da braucht es jetzt einen<br />
Schwung, dass wir uns zusammenreißen.“<br />
Doch trotz aller störenden Geräusche gibt es etwas,<br />
das sogar der Hobbymusiker erlaubt: „Bässe können Sie<br />
ruhig laut aufdrehen. Die schaden nicht.“ ƒ<br />
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TEXT ANJA DANISEWITSCH FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
104 4 |<strong>2019</strong>
leben<br />
4 |<strong>2019</strong> 105
leben<br />
106 4 |<strong>2019</strong>
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Kloster Walkenried<br />
In der kalten Jahreszeit zeigt sich der Harz häufig von seiner schönsten<br />
Seite: Kleine Ortschaften und Tannenwälder verschmelzen zu einer rauen,<br />
winter lichen Pracht. Und an einer Stelle ragt eine ganz besondere Ruine<br />
meterhoch hervor – eindrücklich und der Zeit enthoben: die ehemalige<br />
Kloster kirche Walkenried. Sie war im gotischen Stil erbaut worden, ebenso<br />
wie das gesamte Kloster, das 1129 von Zisterziensermönchen gegründet<br />
wurde. Gestiftet wurde dies zwei Jahre zuvor von Adelheid von Walkenried<br />
als das dritte Zisterzienserkloster überhaupt im deutschsprachigen Raum. Bis<br />
Anfang des 16. Jahrhunderts lebten, beteten und arbeiteten die Mönche hier,<br />
und so blieb Walkenried über einen langen Zeitraum eines der reichsten und<br />
politisch bedeutendsten Klöster in der Region.<br />
DOCH 1546 ENDETE DAS MÖNCHISCHE LEBEN in den Klostermauern.<br />
Eine Lateinschule, die dort untergebracht war, schloss im Jahr 1668 ebenfalls<br />
ihre Pforte. Fast 150 Jahre lang wurde die Klosterkirche nun als Steinbruch<br />
genutzt und somit zu einer Ruine – bis schließlich durch ein Verbot 1817<br />
dem vollständigen Verfall doch noch Einhalt geboten wurde. Knapp 60 Jahre<br />
später begannen die Renovierungen des gotischen Kreuzganges und der<br />
Klausur. Eine gute Entscheidung: Seit 2010 zählt die Klosteranlage Walkenried<br />
als ältester Teil zu dem UNESCO-Welterbe-Ensemble Bergwerk Rammelsberg,<br />
Altstadt von Goslar und Oberharzer Wasserwirtschaft.<br />
WER NOCH NIE ZUVOR das Kloster im Harz besucht hat, dem sei geraten,<br />
die folgenden Monate dafür zu nutzen, denn nur jetzt erstrahlt dieser Ort in<br />
einem ganz außergewöhnlichen Licht: Die Kerzenscheinführungen, die hier<br />
bis in den Februar hinein stattfinden, offenbaren großen und kleinen Gästen,<br />
was es im Mittelalter bedeutete, im bloßen Schein einer Kerze durch den<br />
Kreuzgang zu wandeln. Stille und das Eintauchen in die Dunkelheit machen<br />
Geschichte sinnlich erlebbar.<br />
Auszeit-Tipps<br />
Das ZisterzienserMuseum Kloster Walkenried ist ein<br />
Erlebnisort, der eine faszinierende Reise für Erwachsene,<br />
aber speziell auch für Kinder bereithält.<br />
Führungen im Kerzenschein<br />
Der stimmungsvolle Rundgang beginnt nach Einbruch<br />
der Dunkelheit und führt durch den einzigartigen Kreuzgang<br />
und die angrenzenden Räume, die einst nur den<br />
Mönchen vorbehalten waren. Ausgewählte Termine bis<br />
Februar 2020 auf der Webseite. Ohne Voranmeldung.<br />
Führung ,Mit Kreuz und Spaten‘<br />
Diese Führung gibt einen Einblick in das Leben und<br />
Arbeiten der Zisterzienser in diesem Kloster.<br />
Öffentliche Führung ohne Voranmeldung.<br />
Sa., So. und feiertags um 14 Uhr<br />
Museumscafé<br />
Mit hausgebackenen Kuchen und klösterlichen<br />
Köstlichkeiten können Gruppen mit bis zu 80 Personen<br />
bewirtet werden.<br />
Öffnungszeiten: Di. bis So. und feiertags<br />
von 11.30 bis 17 Uhr<br />
ZisterzienserMuseum Kloster Walkenried<br />
Steinweg 4a<br />
37445 Walkenried<br />
www.kloster-walkenried.de<br />
4 |<strong>2019</strong> 107
leben<br />
108 4 |<strong>2019</strong>
leben<br />
Welterbe Corvey<br />
Die Weser schlängelt sich in weiten Bögen durchs Land und fließt gemächlich,<br />
fast meditativ dahin, vorbei an der schönen Stadt Höxter. Ganz in der<br />
Nähe, nur einen Katzensprung vom Ufer entfernt, gründeten hier im 9. Jahrhundert<br />
Benediktinermönche eines der bedeutendsten Klöster des Mittelalters<br />
– nicht nur bedeutend für die Region, sondern weit darüber hinaus. Es<br />
entwickelte sich zu einem kulturellen, geistigen und wirtschaftlichen Zentrum.<br />
In seiner Blütezeit zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert, so bezeugen es<br />
überlieferte Schriften, kann das Kloster Corvey auf zahlreiche Königs besuche<br />
zurückblicken. Die alten Mauern der ehemaligen Abtei tragen die Geschichte<br />
eines fast 1.000- jährigen klösterlichen Lebens in sich. Erst im Jahre 1802<br />
endete dies im Zuge der Säkularisierung. Ebenfalls im 19. Jahrhundert vollzog<br />
sich der Wandel vom Fürstbistum Corvey zum Sitz des herzoglichen<br />
Hauses Ratibor und Corvey – der Nachfahre Viktor Herzog von Ratibor<br />
und Fürst von Corvey ist bis heute Hausherr des Schlosses.<br />
WER IN DIE ZEIT DES MITTELALTERS eintauchen will und erfahren möchte,<br />
wie die Mönche einst im Kloster an der Weser lebten, braucht heute allerdings<br />
Fantasie. Denn zahlreiche Spuren sind längst nicht mehr da. Sie hat der<br />
Dreißigjährige Krieg getilgt, einen Großteil der bedeutsamen Klosterbibliothek<br />
in alle Winde zerstreut und die heiligen Reliquien der Abteikirche<br />
auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen. Das Gesicht Corveys wandelte<br />
sich zum heutigen Antlitz: Von der karolingischen Abteikirche, der dreischiffigen<br />
Basilika mit quadratischem Chor und einem Kapellenanbau blieb nur<br />
das frühmittelalterliche Westwerk stehen. Die Fürstäbte bauten eine neue<br />
Kirche an, eine große Abtei mit Toranlage, Remise und Teehaus. So sieht<br />
Corvey im Wesentlichen noch heute aus.<br />
NEBEN DER ,NEUEN‘ FÜRSTLICHEN BIBLIOTHEK, die mit über 75.000<br />
Bänden heute nicht nur Buchliebhaber in ihren Bann zieht, interessiert die<br />
Besucher seit 2014 aber vor allem das alte Westwerk. Dies wurde nämlich<br />
unter anderem auch dank seiner orginalen Wandmalereien des Johannischors<br />
unter dem Titel ‚Das karolingische Westwerk und die Civitas Corvey‘<br />
in die Liste des UNESCO-Weltkultur erbe aufgenommen.<br />
4 |<strong>2019</strong> 109
leben<br />
Auszeit-Tipps<br />
Das 822 gegründete Benediktinerkloster Corvey ist weit<br />
über die Grenzen Niedersachsens bekannt und bis heute<br />
ein kulturelles Zentrum.<br />
Das Museum Corvey<br />
Die Dauerausstellung zeigt 1.200 Jahre Kulturgeschichte<br />
– von der karolingischen Glaubensbastion zur barocken<br />
Residenz.<br />
Die Bibliotheken von Corvey<br />
Insgesamt drei Bibliotheken wurden über die Zeit in<br />
Corvey aufgebaut. Der Dichter und Germanist August<br />
Hoffmann von Fallersleben war Bibliothekar der<br />
fürstlichen Bibliothek. Er liegt hier begraben.<br />
Bis zum 4. April 2020 sind Besichtigungen nur mit<br />
Voranmeldung im Rahmen einer Führung möglich.<br />
Corveyer Sommerkonzerte<br />
Die Konzertreihe hat sich zur Aufgabe gemacht, junge<br />
aufstrebende Musiker aus der Welt der klassischen Musik<br />
vorzustellen. Karten unter:<br />
www.klassik-in-owl.de oder Tel. 05231 56 99 999.<br />
Via Nova – Kunstfest Corvey<br />
Ende August bis Ende September 2020 wird es unter dem<br />
Motto ,Wild.Wald.Welt‘ ein Kunstfest geben: inszenierte<br />
Lesungen, musikalische Darbietungen, Gespräche und<br />
Performances, die das Bild der Deutschen und ihres<br />
Waldes in den Mittelpunkt stellen. Tickets unter:<br />
vianova@corvey.de oder Tel. 05231 570150.<br />
Schloss Corvey<br />
Corvey 1<br />
37671 Höxter<br />
110 4 |<strong>2019</strong>
Anwaltskanzlei „Arkaden am Gericht“<br />
Guter Rat<br />
ist die Wurzel<br />
Ihres Erfolges<br />
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Zilian<br />
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Rechtsanwalts- und Notariatskanzlei in Göttingen<br />
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Rechtsgebiete<br />
Arbeitsrecht<br />
Bank-, Kapital-, Gesellschaftsrecht<br />
Erbrecht<br />
Versicherungsrecht<br />
Compliance<br />
Medizinrecht<br />
Energierecht<br />
Immobilien-, Bau-, Mietrecht<br />
Familienrecht<br />
Straf- & Verkehrsrecht<br />
Notariat<br />
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Vertrags- & Zivilrecht<br />
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Tel. (0551) 49707-0 • Fax (0551) 4970777<br />
www.sbzw.de<br />
info@sbzw.de • www.sbzw.de
leben<br />
Ursulinenkloster Duderstadt<br />
Mitten im Herzen von Duderstadt – und nicht in der Abgeschiedenheit, fern<br />
jeglicher Ablenkungen – befindet sich das Ursulinenkloster Duderstadt. Ein<br />
kleiner Bummel über den Marktplatz und durch die mittelalterlichen Gassen<br />
der Kleinstadt lässt sich ganz leicht mit einer Einkehr in klösterliche Mauern<br />
verbinden. Geistliches und weltliches Leben liegen selten so nah beieinander.<br />
MENSCHEN, DIE VOM ALLTAGSTRUBEL mal eine kleine Auszeit in der Stille<br />
suchen, ohne sich in völlige Askese begeben zu wollen, sind an diesem Ort<br />
gut aufgehoben. Im Jahr 1700 von den Ursulinen als Kloster mit Internat<br />
gegründet, beherbergten die Räume bis in die 1970er-Jahre den Ursulinenkonvent<br />
selbst mit seiner dazugehörigen Klosterschule. Der Orden der Ursulinen<br />
blieb auch nach der Schulschließung 1973 erhalten und wird noch heute<br />
von vier Frauen gelebt, die ihrem Tagesrhythmus mit drei Stundengebeten<br />
– morgens, mittags, abends – folgen. Ein kleiner Innenhof, der zum Besinnen<br />
einlädt, lässt schnell vergessen, dass man sich nur drei Gehminuten von der<br />
Innenstadt entfernt befindet.<br />
WER SICH NICHT ZURÜCKZIEHEN, sondern kulturellen Genüssen hingeben<br />
möchte, dem sei die angrenzende Liebfrauenkirche wärmstens ans Herz gelegt.<br />
1424 wurde an diesem Platz die Kapelle Ad Beatam Mariam Virginem<br />
erbaut und 1700 zu einem größeren Gotteshaus erweitert. Nach ihrem Abriss<br />
entstand dort die heutige neuromanische Ursulinenkirche Liebfrauen,<br />
deren Grundstein 1889 gelegt wurde. Seit 2007 zeigt sich das Innere der<br />
Kirche im modernen Gewand.<br />
Auszeit-Tipps<br />
Auszeit im Kloster<br />
Modernisierte Gästezimmer mit Bad für einen<br />
Rückzug aus dem Alltag<br />
Ganzjähriges Kursprogramm<br />
Meditation, Yoga- und Fastenkurse, Kurzurlaub für<br />
Frauen, Bildungs- und Freizeitangebote –<br />
es gibt ein vielseitiges Angebot unter:<br />
www.kirche-untereichsfeld.de/ursulinen/events-view<br />
Klosterfrühstück für Frauen<br />
Unter dem Jahresthema ,30 Jahre friedliche Revolution<br />
und deutsche Einheit – ein Rückblick‘ werden auch 2020<br />
regelmäßige Frühstücke angeboten, bei denen sich<br />
Frauen jeden Alters und jeder Religion begegnen können.<br />
Termine gibt es im Jahresprogramm 2020.<br />
Zimmer- und Kursbuchung:<br />
Tel. 05527 9145-12<br />
gaestebereich@ursulinen-duderstadt.de<br />
www.ursulinen-duderstadt.de<br />
Ursulinenkloster Duderstadt<br />
Neutorstr. 9<br />
37115 Duderstadt<br />
112 4 |<strong>2019</strong>
leben<br />
4 |<strong>2019</strong> 113
leben<br />
Auszeit-Tipps<br />
„Ich werde hier menschenfreundlich und<br />
liebenswürdig behandelt“,<br />
schrieb der Mönch Martin von Senging aus Österreich im Jahr 1457.<br />
Geistliches Zentrum Kloster Bursfelde<br />
Der Weg zum Kloster Bursfelde kann auf zweierlei Weisen zurückgelegt<br />
werden: mit dem Auto auf Landstraßen ohne Netzempfang und schmalen<br />
Straßen durch Wald und Flur – oder zu Fuß als Pilger bei einem Halt zwischen<br />
Loccum und Volkenroda. So oder so: Es ist diese Stille und Abgeschiedenheit,<br />
die den Besucher sofort die Hektik des Alltags vergessen lässt.<br />
Zunächst als Haus- und Familienkloster der Grafen von Northeim 1093<br />
gegründet, wurde es wenig später von Benediktinermönchen des Klosters<br />
Corvey besetzt. Die lutherische Reformation führte dann auch in Bursfelde<br />
nach und nach dazu, dass das Klosterleben erlosch und im Jahr 1672 ganz<br />
endete. Was folgte, war eine fast 300 Jahre währende Nutzung der Klosteranlagen<br />
als landwirtschaftlicher Gutsbetrieb.<br />
ES SCHEINT WIE EIN WUNDER, dass es im Jahr 1978 fünf jungen Ehepaaren<br />
gelang, diesen Ort wiederzubeleben – und auch wenn diese Gemeinschaft<br />
zerbrach, ein Ehepaar blieb und half, dem einstigen Kloster seine geistliche<br />
Bestimmung wieder zuzuführen. Der Satz, der Werner und Martha Anisch<br />
leitete, gilt bis heute: „Hören, was am Ort klingt.“ Ein Motto, welches sich<br />
das seit nunmehr 41 Jahren bestehende Geistliche Zentrum Kloster Bursfelde<br />
zu eigen gemacht hat. Die Glocke der Klosterkirche der ehemaligen Benediktinerabtei<br />
läutet täglich zum Abendgebet und lädt ein, im Kerzenschein der<br />
Stille und dem Gesang zu lauschen (mehr dazu ab Seite 120).<br />
Ein modernes Tagungshaus mit ganzjährigen Angeboten und ein Pilgerhaus<br />
mit großer Gemeinschaftsküche machen diesen Ort zu einem Raum für<br />
Begegnung – mit anderen und mit sich selbst.<br />
Oase<br />
Wer stille Einkehr und Naturnähe sucht, findet in<br />
Bursfelde einen Ort zum Ankommen.<br />
Ganzjähriges Seminarangebot<br />
Als geistliches Zentrum bietet Bursfelde jeden Monat<br />
Seminare und Weiterbildungen zu christlichen Themen.<br />
Das aktuelle Seminarprogramm gibt es online (s.u.).<br />
Tägliches Abendgebet um 18 Uhr<br />
Um einen Tag im Kloster angemessen abzuschließen,<br />
empfiehlt es sich, dem Abendgebet beizuwohnen.<br />
Gottesdienst mit Abendmahl<br />
An jedem 1. Sonntag im Monat und an großen<br />
kirchlichen Feiertagen findet in der Klosterkirche<br />
um 11 Uhr ein Gottesdienst mit Abendmahl statt.<br />
Entdecken durch Verhüllen<br />
Vom 26. Februar bis zum 5. April 2020 wird ein modernes<br />
Fastentuch mit 27 Holzschnitten zu Motiven aus dem<br />
Alten und Neuen Testament die Kreuzigungsgruppe in<br />
der Ostkirche verhüllen.<br />
Pilgerherberge<br />
Die Pilgerherberge befindet sich in einer ehemaligen<br />
Scheune auf dem Klostergelände und ist bewusst<br />
klösterlich einfach eingerichtet.<br />
www.kloster-bursfelde.de/kloster/pilgerherberge<br />
Geistliches Zentrum Kloster Bursfelde<br />
Klosterhof 5<br />
34346 Hann. Münden<br />
Tel. 05544 1688<br />
info@kloster-bursfelde.de<br />
www.kloster-bursfelde.de<br />
114 4 |<strong>2019</strong>
VERTRAUEN · KOMPETENZ · QUALITÄT<br />
Sicherheitsdienst<br />
Eine Aufgabe für Spezialisten<br />
• Streifendienst<br />
und Objektschutz<br />
• Aufschaltung<br />
• Notruf- und<br />
Serviceleitstelle<br />
Am Leinekanal 4 · 37073 Göttingen<br />
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E-Mail: info@ruhstrat-fm.de · www.ruhstrat-fm.de
leben<br />
Kloster Brunshausen<br />
Wenn der <strong>Winter</strong> seine Kälte durchs Land schickt und frostige klare Luft zu<br />
einem Spaziergang einlädt, gibt es nichts Schöneres, als danach in einem gemütlichen<br />
Café einzukehren.<br />
NUR 20 MINUTEN FUSSMARSCH liegen zwischen Bad Gandersheim und dem<br />
Kloster Brunshausen. Der Klosterhügel ist mit seiner über 1.000-jährigen Geschichte<br />
die Keimzelle des Ortes: Liudolf und Oda, die ottonischen Stammeltern,<br />
legten hier 852 den Grundstein für eine bewegte Zeit. Gut 500 Jahre<br />
lang, bis die Reformation im 16. Jahrhundert durchs Land zog, lebten hier<br />
hinter den Klostermauern Benediktiner-Nonnen. Nach vielen unruhigen Jahren<br />
leitete Anfang des 18. Jahrhunderts die Äbtissin Elisabeth Ernestine<br />
Antonie von Sachsen-Meiningen eine neue Blütezeit ein. Sie ließ von 1713<br />
bis 1726 Teile des Klosters in ein Sommerschloss umbauen, in welchem sie<br />
ganz im barocken Zeitgeist einzigartigen Kunst- und Naturaliensammlungen<br />
einen Raum gab. Die bis heute erhaltenen Wandgemälde – mit den ägyptischen<br />
Pyramiden, Isfahan und Rom – sind in der Region einmalig. Nach dem Tod<br />
der Äbtissin wurden die Gemäuer zunächst als Arbeiterwohnhaus und später<br />
als Scheune und Stall zweckentfremdet. Den Tiefpunkt der Geschichte bildeten<br />
die Jahre 1944/45: Das Kloster wurde zur Außenstelle des KZ Buchenwald.<br />
Erst 1989 wird diesem Ort endlich wieder kulturelles und gesellschaftliches<br />
Leben eingehaucht. Und auch in der Umgebung ist man nicht allein: Entlang<br />
des Skulpturen-Wegs, der hinüber zum Kloster Lamspringe führt, begegnen<br />
dem Suchenden viele steinerne Zeitgenossen.<br />
116 4 |<strong>2019</strong>
leben<br />
Auszeit-Tipps<br />
Die mittelalterliche Klosteranlage ist noch heute lebendige<br />
Stätte für Zusammenkunft, Kunst und Kultur.<br />
Sommerschloss:<br />
Dauerausstellung ,Barocke Sammelleidenschaft‘ des<br />
Museums Portal zur Geschichte. Ganzjährig bietet die<br />
Ausstellung – neben den Wandgemälden – herrschaftliche<br />
Gemälde und kostbare Bücher.<br />
Öffnungszeiten: Nov bis Feb: Di. bis So. von 12 bis 16 Uhr,<br />
März bis Okt: Di. bis So. von 11 bis 17 Uhr<br />
Klosterkirche Brunshausen:<br />
Dauerausstellung ,Starke Frauen – Feine Stiche‘ des Museums<br />
Portal zur Geschichte<br />
Die Ausstellung führt durch die wechselvolle Geschichte<br />
des Klosters und präsentiert kostbare Textilien vom frühen<br />
Mittelalter bis zur Barockzeit.<br />
Öffnungszeiten: Nov bis Feb: Di. bis So. von 12 bis 16 Uhr,<br />
März bis Okt: von 11 bis 17 Uhr<br />
Handwerkskurse auf dem Klosterhof<br />
Wer gerne mit den Händen arbeitet, kann auf dem<br />
Klosterhof vieles ausprobieren: japanisches Handwerk,<br />
Restaurierung Bildhauerei und Grundtechniken der<br />
Holzverarbeitung.<br />
www.klosterhof-brunshausen.de/handwerk<br />
Hofladen mit regionalen Spezialitäten und Werkzeugen<br />
Der Hofladen in einer großen Fachwerkscheune ist wie<br />
ein kleiner Tante-Emma-Laden, in dem es alles vom<br />
japanischen Messer über Seifen und Gewürze bis zu<br />
italienischer Feinkost und Papierwaren gibt.<br />
Öffnungszeiten: Di. bis Fr. von 14 bis 18 Uhr,<br />
Sa bis So von 12 bis 18 Uhr<br />
Café im Klosterhof und Rosencafé<br />
Gleich zwei Cafés laden zu Kaffee und Kuchen ein.<br />
Öffnungszeiten variieren je nach Jahreszeit:<br />
www.klosterhof-brunshausen.de/cafe<br />
www.rosencafe-brunshausen.de<br />
Klosterhof Brunshausen<br />
Brunshausen 6/7, 37581 Bad Gandersheim<br />
Tel. 05382 3141<br />
info@klosterhof-brunshausen.de<br />
www.portal-zur-geschichte.de<br />
4 |<strong>2019</strong> 117
leben<br />
Weitere Klöster in der Region<br />
FOTO: KLOSTER GERMERODE<br />
Kloster Germerode<br />
Das Kloster Germerode ist ein ehemaliges Prämonstratenser-Chorfrauenstift<br />
am Fuße des Hohen Meißners in Nordhessen und heute ein geistliches Zentrum.<br />
Menschen aus nah und fern kommen an diesen Ort, um innezuhalten.<br />
Auszeit-Tipp<br />
Die Klosterkirche (romanische Basilika) bietet Führungen an und<br />
hält die Kirche tagsüber für Besucher offen.<br />
Führungen<br />
können im Pfarramt unter Tel. 05657 278 oder<br />
pfarramt.germerode@ekkw.de angefragt werden.<br />
Der Verein Kloster Germerode e. V. hat sich zur Aufgabe<br />
gemacht, die Klosteranlage zu erhalten und weiter auszubauen.<br />
Das ehemaligen Domänenpächterhaus ist heute Tagungsstätte<br />
und kann angemietet werden.<br />
Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck unterhält eine<br />
Pfarrstelle für ‚Meditation und geistliches Leben‘ im Kloster<br />
Germerode. Dort werden Seminare, Zeiten der Einkehr und Stille<br />
sowie ökumenische Pilgerwege angeboten.<br />
Kloster Germerode e. V., Klosterfreiheit 34, Tel. 05657 423<br />
tagungshaus@klostergermerode.de<br />
Kloster Germerode<br />
Goldbergstr. 3<br />
37293 Herleshausen<br />
Tel. 05654 923888<br />
www.kloster-germerode.de<br />
FOTO: WEG DER MITTE<br />
Kloster Gerode<br />
Das Kloster Gerode, um 1100 gestiftet, ist eine ehemalige Benediktinerabtei im<br />
Eichsfeld in Thüringen. Als Gesundheits- und Ausbildungszentrum ,Weg der<br />
Mitte‘ ist es heute ein Treffpunkt westlicher und östlicher Heiltraditionen –<br />
innovativ, interkulturell, sozial orientiert und gesellschaftlich engagiert.<br />
118 4 |<strong>2019</strong><br />
Auszeit-Tipp<br />
Kloster auf Zeit<br />
Wer die heilende Kraft der Natur für sich nutzen möchte, der<br />
kann zum nachhaltigen Stressabbau in die Ruheoase Gerode<br />
eintauchen. Mit Yoga, Meditation, vegetarischer Ernährung,<br />
Gesprächsrunden und geführten Wanderungen.<br />
Benefit Yoga ® -Sommerwoche<br />
Bei diesem Angebot kommen sogar Kinder ab sechs Jahren<br />
auf ihre Kosten. Aber auch die Erwachsenen erfahren über<br />
die Yoga-Stunden hinaus viel über gesundheitliche und<br />
yogaphilosophische Aspekte.<br />
Rühren und Berühren – Einführung in vegetarisches<br />
Kochen und Klassische Massage<br />
Der nächste Termin vom 31. Januar bis zum 2. Februar 2020<br />
widmet sich den Geheimnissen der Geroder Klosterküche und<br />
führt in wirkungsvolle Massagegriffe ein – und wird gerne von<br />
Paaren genutzt.<br />
Silvester im Kloster Gerode<br />
Innere Einkehr – ein Jahreswechsel als Impulsgeber für das<br />
neue Jahr 2020<br />
WEG DER MITTE Kloster Gerode<br />
37345 Gerode, Sonnenstein<br />
Tel. 036072-8200<br />
www.wegdermitte.de
leben<br />
FOTO: FRANZISKANER HÜLFENSBERG<br />
Franziskanerkloster auf dem Hülfensberg<br />
Im 14. Jahrhundert gründeten Zisterzienserinnen ein Kloster auf dem Wallfahrtsort<br />
Hülfensberg. Im Jahre 1860 ließen sich Franziskanermönche an<br />
diesem Ort nieder. Noch heute folgt das Franziskanerkloster den Worten des<br />
Heiligen Franziskus: „Wenn es dir guttut, dann komm.“<br />
Auszeit-Tipp<br />
Wallfahrtsort mit Wallfahrtskirche und romanischem Kreuz<br />
Das romanische Hülfenskreuz aus dem 12. Jahrhundert ist eines<br />
der bedeutendsten sakralen Kunstwerke im Bistum Erfurt.<br />
Kloster zum Mitleben<br />
Das Franziskanerkloster ist für katholische und evangelische<br />
Christen ebenso offen wie für Menschen ohne Konfession.<br />
Wer durchatmen und neue Kraft schöpfen möchte, kann eine<br />
Woche am klösterlichen Leben teilhaben.<br />
Pilgerwege<br />
Eingebettet in einer wunderschönen Umgebung laden vier<br />
Pilgerrundwege zu einem kurzen Rückzug aus dem Alltag ein.<br />
Weiterhin bieten die Franziskanermönche Wallfahrten mit<br />
ökumenischen Pilgerwanderungen und ,Unterwegs mit<br />
Franziskus‘ an.<br />
Konzerte in der Wallfahrtskirche<br />
An Sonntagen finden regelmäßig Konzerte statt.<br />
(Termine auf der Webseite)<br />
Franziskanerkloster Hülfensberg<br />
Hülfensberg 1<br />
37308 Geismar OT Bebendorf<br />
Tel. 036082 4550-0<br />
info@huelfensberg.de<br />
www.huelfensberg.de<br />
FOTO: KLOSTER VOLKENRODA<br />
Kloster Volkenroda<br />
Das Kloster Volkenroda in Thüringen besticht unter anderem durch seine<br />
zwei Kirchen: Zum einen befindet sich hier die älteste Zisterzienserkirche<br />
Deutschlands aus dem 12. Jahrhundert, die noch für Gottesdienste genutzt<br />
wird. Zum anderen kam 2001 der moderne Christus-Pavillon von der Expo<br />
2000 nach Volkenroda – und so verbindet sich auch in diesem Kloster Glaube<br />
mit modernem Leben.<br />
Auszeit-Tipp<br />
Kunst und Kultur<br />
Das Kloster Volkenroda und bietet mit Kino, Gospel oder dem<br />
Sommermusikfestival eine bunte Vielfalt.<br />
Seminare und Workshops<br />
Die angebotenen Workshops und Seminare reichen von<br />
Persönlichkeitsbildung über Kommunikationsseminare bis<br />
hin zu Selbstmanagement.<br />
Kloster auf Zeit<br />
Nicht nur, wer sich auf den Pilgerweg begibt, findet im Kloster<br />
Volkenroda eine Herberge, auch Menschen, die eine Auszeit<br />
suchen, um in Entscheidungs- oder Krisensituationen die nötige<br />
Stille zu finden. Auszeit-Suchende können im Kloster von einer<br />
Woche bis zu drei Monaten einkehren.<br />
Zu Gast im Kloster<br />
Auch für Tagesgäste lohnt sich der Besuch. Es gibt Gottesdienste<br />
und Kindergottesdienste, ein Café, einen Spielplatz und einen<br />
Bauernhof mit Tieren. Führungen in der Klosterkirche und dem<br />
Christus-Pavillon finden nur in Gruppen und nach Anmeldung<br />
statt.<br />
Kloster Volkenroda<br />
Amtshof 3<br />
99998 Volkenroda<br />
Tel. 036025.559-0<br />
www.kloster-volkenroda.de<br />
4 |<strong>2019</strong> 119
leben<br />
Geistliches Leben<br />
meets Wirtschaft<br />
Eine ungewöhnliche Auszeit im Kloster Bursfelde<br />
TEXT ANJA DANISEWITSCH FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
120 4 |<strong>2019</strong>
leben<br />
Klöster erfüllen in der heutigen Zeit viele Funktionen, wenn<br />
man es so nennen möchte. Längst sind sie nicht mehr allein ein<br />
Rückzugsort für stille Einkehr, obwohl dies in vielfältiger Weise<br />
ein bestimmendes Element ist und bleibt. So findet im Kloster<br />
Bursfelde beispielsweise seit einigen Jahren ein regelmäßiges<br />
Event statt, bei dem Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen auf<br />
eindrückliche Weise Stille, Gebet, aber auch den wirtschaftlichen Diskurs<br />
erleben.<br />
Unter der Leitung von Stephan Eimterbäumer, Pastor und Referent für den<br />
Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt, trafen sich im November <strong>2019</strong> wieder<br />
rund 20 Unternehmer und Führungskräfte aus Südniedersachsen zu einem<br />
gemeinsamen Rückzug aus der geschäftigen Welt der Wirtschaft. Hier gab<br />
Nicholas Matten, Geschäftsführer von Stiebel Eltron, mit seinem Impuls-<br />
Vortrag ,Anständig Geld verdienen‘ kontroverse Thesen vor, die anschließend<br />
in Kleingruppen zu anregenden Diskussionen und zum Nachdenken<br />
anregten.<br />
Den Teilnehmenden wird jedoch nicht nur dies in Erinnerung bleiben: Der<br />
Weg über knirschende Schotterwege zum Abendgebet in der angrenzenden<br />
Kirche führte durch eine mondhelle und winterlich kühle Nacht, und allein<br />
der Anblick des Vollmonds ließ Demut und Andacht verspüren. Zu fortgeschrittener<br />
Stunde klang der Abend dann am warmen Ofen des Backhauses<br />
bei angeregten Gesprächen und einem Glas Rotwein aus. <strong>faktor</strong> war dabei<br />
und hat einige der Teilnehmer gefragt:<br />
Passen Unternehmertum<br />
und christliche Werte<br />
überhaupt zusammen?<br />
„ Unternehmertum und christliche Werte sind die Voraussetzung<br />
für Nachhaltigkeit! Und Nachhaltigkeit steht<br />
heute in allen Belangen ganz vorne – deshalb sehe ich<br />
darin überhaupt keinen Widerspruch. Christliche Werte<br />
beinhalten, dass man anständig mit anderen Menschen<br />
umgeht und dass man anständig mit der Natur umgeht.<br />
,Andere Menschen‘ sind im wirtschaftlichen Sinne unsere<br />
Mitarbeiter, aber auch unsere Partner und Kunden.<br />
Anstand, das ist meine Meinung, zahlt sich auf Dauer<br />
einfach aus – und das bedeutet Nachhaltigkeit. Wobei ich<br />
in meinem Vortrag ja auch die These aufgestellt habe,<br />
dass anständige Unternehmen selten anständig Geld<br />
verdienen. Eine andere provokante These lautete, dass,<br />
wenn wir nicht umdenken und den Wechsel von der<br />
fossilen Industriegesellschaft hin zur nachhaltigen<br />
Industriegesellschaft schaffen, der Planet ganz sicher<br />
überleben wird – die Menschheit aber vielleicht nicht.<br />
Mir war klar, dass diese Aussagen vielleicht etwas<br />
überzogen sind. Aber als Denkanstoß und Diskussionsgrundlage<br />
eigneten sie sich ganz hervorragend. “<br />
Dr. Nicholas Matten, Geschäftsführer Stiebel Eltron<br />
4 |<strong>2019</strong> 121
leben<br />
„ Christliche Werte und Unternehmertum passen sehr<br />
gut zusammen. Sie stärken unternehmerischen Erfolg bei<br />
Mitarbeitern, Kunden und das Handeln für die Gesellschaft.<br />
Global operierende Konzerne werden immer<br />
stärker von deren Geldgebern und nicht von der eigenen<br />
Unternehmenskultur geprägt. Sie verlieren dadurch ihre<br />
Identität, mit der sich sowohl Mitarbeiter als auch<br />
Kunden identifizieren können.<br />
Als Gesellschaft werden wir durch gezieltes Marketing<br />
dieser globalen Player unkontrolliert beeinflusst. Wie und<br />
mit welchen Inhalten dies geschieht, liegt in der Verantwortung<br />
des jeweiligen Unternehmens. Ich sehe hier die<br />
Chance, durch die Neuinterpretation und die richtige Anwendung<br />
christlicher Werte wie Nächsten liebe oder auch<br />
Offenheit, Neugier, Fairness und Vertrauen den Mitarbeitern<br />
gegenüber, eine viel stärkere Bindung an das Unternehmen<br />
zu schaffen, dessen Kultur zu prägen und langfristig<br />
das Vertrauen des Kunden zu verdienen. “<br />
Christoph Anders, Head of Consulting, Aspera GmbH<br />
„ In der Arineo arbeiten über 200 Menschen in einem<br />
kollegial geführten Unternehmen zusammen, das<br />
keine klassischen Führungskräfte mehr kennt und<br />
zukünftig vollständig den Angestellten gehören wird.<br />
Das Unternehmen agiert natürlich im Wettbewerb und<br />
muss Geld verdienen. Gleichzeitig wurde es aber<br />
gegründet, um den Menschen, die bei uns arbeiten,<br />
einen sicheren und möglichst sinnstiftenden Arbeitsplatz<br />
zu bieten und diesen auf Dauer zu erhalten.<br />
In dieser – wie wir finden – zeitgemäßen Organisationsform<br />
werden Regeln und Kontrollmechanismen durch<br />
gemeinsame Werte und Prinzipien zur Zusammenarbeit<br />
ersetzt. Wir sehen diese als Grundpfeiler, die dafür sorgen,<br />
dass wir menschlich zusammen arbeiten und leben können.<br />
Das christliche Wertesystem war für uns zwar nicht maßgeblich,<br />
deckt sich aber offenkundig in vielem mit den<br />
Überzeugungen unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.<br />
Ich glaube, dass gegenseitiges Vertrauen am Arbeitsplatz<br />
zu engen Verbindungen führt, die von Loyalität, Verlässlichkeit,<br />
Fairness und gegenseitiger Rücksichtnahme<br />
geprägt sind. Gemeinsame Werte machen uns erst zu<br />
einer starken Gemeinschaft – ohne geht es nicht. “<br />
Ruven Heybowitz, Chief Transformation Officer, Arineo GmbH<br />
122 4 |<strong>2019</strong>
leben<br />
„ Für mich definieren sich christliche Werte aus den<br />
Gesetzen, der Moral und der Wertschätzung. Um<br />
entsprechend nach christlichen Wertvorstellungen<br />
zu handeln, ist die Einhaltung von Gesetzen unabdingbar.<br />
Bei der Moral und der Wertschätzung gibt es Grau zonen.<br />
Kann ein der Waffenindustrie nahe stehendes Unternehmen<br />
noch von Moral sprechen, oder ist das<br />
Management nicht den Stakeholdern verpflichtet,<br />
hier eigene Maßstäbe zu setzen?<br />
Bei der Wertschätzung geht es nicht mehr wie in den<br />
1980er-Jahren top down. Heute gibt es Wertemaßstäbe,<br />
die bilateral zu verstehen sind. Bleibt dies aus, sinkt die<br />
Arbeits einstellung, die Kreativität und vor allem die<br />
Freude an der Arbeit. Die guten Mitarbeiter werden im<br />
Extremfall das Unternehmen verlassen. Insofern<br />
beantworte ich die Frage, ob ein Unternehmen nach<br />
christlichen Werten handeln kann, mit einem klaren Ja.<br />
Es muss es sogar. “<br />
Hannes Stechmann, privat vor Ort<br />
Passen Unternehmertum<br />
und christliche Werte<br />
überhaupt zusammen ?<br />
„ Ich frage mich, was heißt christliche Werte? Ich denke,<br />
menschliche Werte trifft es wohl eher. Alles, was wir tun,<br />
ob in unserer Firma oder privat, hinterlässt einen Abdruck.<br />
Einen Abdruck bei anderen Menschen. Deshalb sollte<br />
man sich gut überlegen: Mache ich etwas nur für das<br />
schnelle Geschäft, oder mache ich es auf lange Sicht?<br />
Es geht um nachhaltiges Handeln, bei dem man auch<br />
im Nachgang immer wieder mit den Menschen übereinkommt,<br />
und nicht um ,aus den Augen – aus dem Sinn‘,<br />
also um ‚Handeln‘ im Sinne der Gemeinschaft.<br />
Dafür steht auch unsere Bürokultur: Wie gehen wir mit<br />
Partnern um? Wie gehen wir mit Lieferanten um? Wie gehen<br />
wir mit Kunden um? Wie gehen wir aber auch mit uns um?<br />
Und wir leben ja in dieser Region, das heißt, meine<br />
Tochter wächst in dieser Region auf. Sie kriegt zwar nicht<br />
unmittelbar mit, was ich tue – aber doch um Ecken.<br />
Und ich bin der festen Überzeugung:<br />
So, wie es in den Wald hineinruft, so schallt es zurück.<br />
Danach lebe ich wirklich. “<br />
Chris Asmuth, Geschäftsführer Pro Office<br />
4 |<strong>2019</strong> 123
leben<br />
Na, dann zeigen<br />
Sie mal!<br />
Der Filmstar Göttingen will wieder eine Hauptrolle spielen! Nach dem<br />
offiziellen Startschuss im August <strong>2019</strong> nimmt die Initiative, die die Stadt<br />
wieder als Drehort etablieren möchte, richtig Fahrt auf. Initiator und<br />
Regisseur Sven Schreivogel gewährt einen besonderen Blick hinter die Kulissen.<br />
TEXT CLAUDIA KLAFT FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
124 4 |<strong>2019</strong>
leben<br />
LESEZEIT: 6 MINUTEN<br />
ERSTE SZENE: BEIM CASTING<br />
„Okay, kommen Sie mal näher“, sagt der Produzent und<br />
winkt Göttingen heran. „Und nun zeigen Sie mal, was Sie<br />
drauf haben! Was ich sehen will, ist Ihr ganz eigenes<br />
Profil!“<br />
Göttingen legt los. Gekleidet in einen Hosenanzug gestikuliert<br />
sie dozierend an einer Tafel, streift sich dann<br />
einen Arztkittel über und gibt sich mit hochgezogener<br />
Augenbraue voll intellektuell. Schreitet geraden Schrittes<br />
durch den Raum, schlüpft ruckzuck in Jeans und T-Shirt,<br />
lehnt sich lässig an eine Kneipentür, fingert eine Praline<br />
aus ihrem Rucksack. „Na, wie war ich?“ fragt sie<br />
schüchtern.<br />
„Hm, nicht schlecht“, kontert der Produzent. „Aber<br />
ganz ehrlich: etwas wissenschaftlich. Außerdem haben<br />
Sie weder Berge noch Meer, sondern Sie liegen – wie viele<br />
andere Städte auch – zwischen grünen Hügeln. Räkeln<br />
sich zwischen Harz, Solling und Weserbergland rum und<br />
meinen, das genügt? Da muss schon mehr kommen.“<br />
„Naja“, Göttingen streckt sich. „Ich bringe auch jede<br />
Menge Berufserfahrung mit. In der Nachkriegszeit war<br />
ich viele Jahre ein großer Filmstar. Für den Film ‚Harder<br />
und die Göre‘ wurde vor einiger Zeit aus meinem kleinen<br />
Kiessee schon ein großes Auto geborgen. Ich bin<br />
Spielplatz für die ‚Göttinger Sieben‘-Kinderkrimis und<br />
habe sogar im Tatort meine mörderische Seite gezeigt“,<br />
zählt Göttingen auf und setzt mit einem vielversprechenden<br />
Blick nach, „bei dem sich eine Kommissarin aus<br />
Hannover in mich verliebt.“<br />
„Lassen Sie doch die Gefühlsduselei!“ Der Produzent<br />
schüttelt den Kopf. „Überzeugen Sie mich lieber mit<br />
Ihren Talenten. Also, wie sieht’s aus?“ Göttingen tippt<br />
dem Produzenten auf die Brust und sagt selbstbewusst:<br />
„Ach wissen Sie, Eigenlob ist meine Sache nicht. Aber<br />
mein Agent Sven Schreivogel erzählt Ihnen gerne von<br />
meinen besonderen Vorzügen.“<br />
ZWEITE SZENE: IN DER LOBBY<br />
Tief im Sessel versunken sitzt der Produzent dem Regisseur,<br />
Autor und Journalist Sven Schreivogel gegenüber,<br />
der auf einem Stuhl Platz genommen hat. „Sie sind also<br />
derjenige, der die Filmstadt Göttingen recherchiert hat<br />
und sie federführend wieder ins Gespräch bringt“, sagt<br />
der Produzent und nickt auffordernd. „Also schießen Sie<br />
mal los, wie war das mit der Berufserfahrung? Aber lassen<br />
Sie mal Heinz Erhardt beiseite, die Story kenne ich“,<br />
sagt der Produzent und gähnt. Enttäuscht holt Schreivogel<br />
Luft: „Okay, trotzdem nur kurz zum Verständnis.<br />
1946 haben Rolf Thiele und Hans Abich die ehemaligen<br />
Versuchshangar der heutigen DLR gekauft, daraus den<br />
damals modernsten Studiokomplex gebaut und die<br />
‚Göttinger Filmaufbau‘ gegründet. In den 1950er-Jahren<br />
sind hier über 100 Spielfilme gedreht worden. Tja, und<br />
ab den 1960er-Jahren wechselten die Filmleute in Großstädte<br />
wie Hamburg und München.“<br />
„Und kaum einer kennt mehr die Filmstadt Göttingen“,<br />
sagt der Produzent und zieht die Augenbrauen hoch.<br />
Schreivogel zuckt mit den Schultern: „Ich weiß. Selbst<br />
hier wissen nur wenige, dass das ehemalige Atelier noch<br />
auf dem Sartorius Campus existiert.“ Er lächelt.<br />
Gegen das Vergessen plant er gemeinsam mit anderen Akteuren,<br />
am 23. August 2023 – zum 75. Gründungsjahr –<br />
eine Dauerausstellung zu eröffnen. Wo diese ihren Platz<br />
findet, wissen wir noch nicht, doch die Gespräche mit<br />
Ernst Böhme, dem Leiter des Stadtarchivs Göttingen, und<br />
der Stadt verlaufen sehr positiv.“ Der Produzent nickt anerkennend.<br />
Schreivogel raunt: „Wussten Sie, dass das ZDF Anfang<br />
der 1960er-Jahre kurz überlegt hatte, seine Sendezentrale<br />
hier aufzubauen, aber die Zonenrandlage<br />
scheute?“ – „Verstehe, Feind hört mit“, flüstert der Produzent<br />
augenzwinkernd. Schreivogel beugt sich vor:<br />
„Genau. Aber mittlerweile ist dieser Nachteil dem Vorteil<br />
gewichen, dass wir hier nun in der Mitte Deutschlands<br />
sind.“ – „Gut erreichbar“, nickt der Produzent, „trotzdem<br />
kennt man Göttingen nur vom Durchfahren.“ –<br />
„Das stimmt“, seufzt Schreivogel. „Deshalb hier die Sedcards<br />
für einen genaueren Blick.“ Er fächert sie nebeneinander<br />
auf dem Beistelltisch auf. „Gründerzeitvillen, großstädtisches<br />
Flair, länd liche Idylle, urbaner Chic. Historischer<br />
Charme und zeitgemäßer Look bieten für jeden<br />
Kulissenwunsch das Passende!“ Schreivogel richtet<br />
4 |<strong>2019</strong> 125
leben<br />
Herzensangelegenheit Mit Leib und Seele setzt sich der Regisseur Sven Schreivogel für die Wieder belebung Göttingens als Filmstadt ein.<br />
sich auf: „Wissen Sie was? Wir gehen jetzt einfach mal<br />
zum Deutschen Theater.“<br />
DRITTE SZENE: PLATZ VOR DEM DEUTSCHEN THEATER<br />
„Ach, hier ist ja auch der Kreisel aus dem Erhardt-Film!<br />
Na, das war ja mal wirklich ein kurzer Weg“, sagt der<br />
Produzent feststellend. Er und Schreivogel sehen sich um.<br />
„Das ist ja das Tolle an dieser Stadt. Alles dicht beieinander<br />
und selbst Angelika Daamen, Geschäftsführerin des Göttingen<br />
Tourismus e. V., und Stadträtin Petra Broistedt,<br />
Dezernentin für Soziales und Kultur, sind leicht erreichbar.“<br />
Schreivogel zeigt in die entsprechenden Richtungen.<br />
„Übrigens sehr kompetente Ansprechpartnerinnen, die die<br />
Initiative Filmstadt wohlwollend unterstützen.“ Der Produzent<br />
lächelt: „Gut zu wissen.“ Sein Blick fällt auf die<br />
Fassade des Theaters: „Ah hier, auch ein geschichtsträchtiger<br />
Ort voll interessanter Begebenheiten und Persönlichkeiten“.<br />
Schreivogel kontert: „Richtig. Und mit der hiesigen<br />
Theaterwelt ergäben sich tolle Synergieeffekte. Bühnenbauer,<br />
Kulissenmaler könnten gemeinsam ausgebildet<br />
und beschäftigt werden.“<br />
Der Produzent klopft ihm auf die Schulter. „Jetzt kommen<br />
wir zum wirtschaftlichen Vorteil für Ihre Stadt. Gut<br />
so. Sie sprachen schon das Handwerk an. Es profitieren<br />
die lokalen Händler, denn wir brauchen Requisiten und<br />
eigenen Bedarf, der belebende Tourismus kommt der<br />
Gastronomie und Hotellerie zugute. Wir bringen also<br />
Geld in die Stadt, zeigen, dass es noch anderes Schönes<br />
hier gibt außer Wissenschaft und Medizin und polieren<br />
das Image der Stadt auf – was ganz nebenbei der Wirtschaft<br />
hilft, Fachkräfte zu gewinnen. Und Sie sorgen für<br />
die Infrastruktur. Das nenne ich Win-win!“ Er blickt<br />
Schreivogel an, der versonnen neben ihm in den Himmel<br />
blickt. „Ach“, fährt er fort: „Und am Ende – lassen Sie<br />
mich raten – denken Sie sogar an ein großes Filmstudio,<br />
so wie bei Abich und Thiele.“ Langsam senkt Schreivogel<br />
seinen Kopf, seine Augen glänzen. „Ja, das wäre natürlich<br />
ein Traum!“<br />
126 4 |<strong>2019</strong>
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leben<br />
VIERTE SZENE: AUF DEM WEG ZUR BESETZUNGS<br />
COUCH<br />
Im Juni 2020 treffen sie sich vor dem neu errichteten<br />
Programmkino des Lumière in der Bürgerstraße wieder.<br />
Der Produzent schüttelt Schreivogels Hand. „Ich muss<br />
schon sagen, Göttingen gefällt mir immer besser“, sagt<br />
er. „Aber nun kommen wir mal zum Wesentlichen. Warum<br />
bin ich dieses Mal hier?“ Er steckt sich eine Zigarette<br />
an, bläst Rauchwolken direkt in Schreivogels Gesicht.<br />
Dieser zuckt kurz, kneift seine Augen zusammen und<br />
raunt: „Sie wollen doch Stoff. Den können wir liefern.<br />
Beste Qualität!“ Wie auf ein Stichwort nähern sich Regisseur<br />
Patrick Caputo, die Schauspielerinnen Katja<br />
Frenzel (beide ‚Rote Rosen‘) und Natalie O’Hara (‚Der<br />
Bergdoktor‘), eine TV-Produzentin aus Berlin und Jan<br />
Reinartz vom Jungen Theater. Schreivogel erklärt: „Wir<br />
haben verschiedene Inhaltsstoffe filtriert und mit unterschiedlichen<br />
Geschmacksrichtungen experimentiert. Jetzt<br />
haben wir den Stoff, den Sie sonst nirgends finden. Lassen<br />
Sie sich überraschen!“ – „Na, dann zeigen Sie mal<br />
her“, antwortet der Produzent.<br />
„STOP! So geht das nicht,“ Schreivogel stolpert ins<br />
Skript. „Die Szene ist doch noch gar nicht fertig. Das ist<br />
doch noch Zukunftsmusik!“ Oh, sorry, da ist die Fantasie<br />
schon mit mir durchgegangen. Da müssen Sie auf die<br />
Fortsetzung warten. Aber versprochen: Es bleibt spannend!<br />
Übrigens: Der Produzent ist vielleicht eine Frau, Göttingen<br />
ein Mann oder ganz anders. Hauptsache, die beiden<br />
finden sich, machen zusammen ganz viele Filmchen,<br />
„am besten in Serie“, ruft Schreivogel dazwischen. Und<br />
alle sind am Ende happy – auch Sie. ƒ<br />
Auf Location-Tour<br />
Mitte November ,erfuhr‘ das Team<br />
der Filminitiative eine Vielzahl inspirierender<br />
Plätze in Göttingen.<br />
Sie haben Potenzial geschnüffelt,<br />
angefangen ,rumzuspinnen‘ und<br />
kreative Ansätze für mögliche<br />
Drehbücher gefunden. Top secret!<br />
Ehrenamtlich, engagiert und mit<br />
viel Teamspirit geht die Ideenschmiede,<br />
organisiert von Sven<br />
Schreivogel, im Januar 2020 in die<br />
nächste Runde.<br />
www.filmstadt-goettingen.de<br />
Team on Tour: (v.l.) Patrick Caputo (Regisseur, u. a. ‚Rote Rosen‘), Natalie O'Hara (Schauspielerin,<br />
u. a. ‚Der Bergdoktor‘), Eki Sieker (Medienautor, u. a. ‚Die Anstalt‘), Silke <strong>Winter</strong> (Producerin, Talpa<br />
Germany), Sven Schreivogel (Filmbüro Göttingen), Stefan Zimmermann (Medienwissenschaftler),<br />
Florian Hilleberg (Roman- und Hörspielautor, u. a. ‚John Sinclair‘), Alexander Siebrecht (Filmbüro<br />
Göttingen), Angelika Daamen (Geschäftsführerin Göttingen Tourismus), Markus Riese (Journalist)<br />
Nicht im Bild: Stephan Beuermann (Fotograf, Trapezfilm)<br />
128 4 |<strong>2019</strong>
leben<br />
Unter Strom<br />
Die Elektromobilität ist auf der Überholspur. Inzwischen gibt es einige vorzeigbare<br />
Modelle auf dem Markt, aber um wirklich zukunftsweisend zu sein, müssen Technologie<br />
und Infrastruktur noch weiter verbessert werden.<br />
TEXT RUPERT FABIG<br />
LESEZEIT: 4 MINUTEN<br />
Saubere Technik der Zukunft? Oder doch nur<br />
teuer und nicht ausgereift? Vor- und Nachteile<br />
der Elektromobilität scheinen sich derzeit noch<br />
die Waage zu halten. Die Verkaufszahlen sprechen<br />
allerdings dafür, dass der Antrieb im deutschen<br />
Verkehrsnetz schon bald zu einem gewichtigen Anteil<br />
aus der Steckdose kommen könnte.<br />
Der Rekordwert bei der Anzahl in Deutschland zugelassener<br />
Elektroautos wird jedenfalls häufiger gebrochen,<br />
als der Hamburger SV seine Trainer austauscht.<br />
Am 1. Januar <strong>2019</strong> betrug der Bestand an strombetriebenen<br />
Fahrzeugen über 141.000 – und somit 13.000<br />
mehr als im Vorjahr, was einer Zunahme von rund zehn<br />
Prozent entspricht. Weltweit ist der Anteil auf 5,6 Millionen<br />
gestiegen, ein sattes Plus von 64 Prozent. Das Wachstum<br />
beschleunigt sich weiterhin. Den besten Absatz haben<br />
E-Autos in China (2,6 Millionen), gefolgt von den<br />
USA (1,1 Millionen). Platz drei belegt erstaun licherweise<br />
Norwegen, wo jeder Zweite inzwischen elektrisch fährt.<br />
Deutschland folgt erst auf Rang acht. Dafür halten die<br />
inländischen Autohersteller im internationalen Wettbewerb<br />
mit. Zwar stammen die meisten Neuzulassungen<br />
wenig überraschend vom US-amerikanischen Elektro -<br />
Vorreiter Tesla sowie den chinesischen Marken BYD und<br />
BAIC – BMW ist allerdings immerhin der sechsterfolgreichste<br />
Hersteller, vor allem dank der 5er-Reihe, VW<br />
liegt drei Plätze dahinter. Das weltweit meistverkaufte<br />
Modell ist der Nissan Leaf, noch vor dem Tesla Model S.<br />
Audi e-tron quattro<br />
Leistung: 408 PS<br />
Beschleunigung 0 auf 100 km/h: 6,6 s<br />
Verbrauch: 23,7 kWh / 100 km<br />
Reichweite: 409 km<br />
Preis: ab 80.900 Euro<br />
geeignet für: Hobby-Raser, Geschäftsleute<br />
130 4 |<strong>2019</strong><br />
BMW i3<br />
Leistung: 170 PS<br />
Beschleunigung 0 auf 100 km/h: 7,3 s<br />
Verbrauch: 13,1 kWh / 100 km<br />
Reichweite: 308 km<br />
Preis: ab 38.000 Euro<br />
geeignet für: Stadtfahrer<br />
Smart forfour EQ<br />
Leistung: 82 PS<br />
Beschleunigung 0 auf 100 km/h: 12,7 s<br />
Verbrauch: 12,9 kWh / 100 km<br />
Reichweite: 139 km<br />
Preis: ab 22.600 Euro<br />
geeignet für: Familien
leben<br />
Renault Zoe<br />
Leistung: 108 PS<br />
Beschleunigung 0 auf 100 km/h: 11,4 s<br />
Verbrauch: 17,5 kWh / 100 km<br />
Reichweite: 300 km<br />
Preis: ab 24.776 Euro<br />
geeignet für: Geschäftsleute<br />
Tesla Model 3<br />
Leistung: 306 PS<br />
Beschleunigung 0 auf 100 km/h: 5,6 s<br />
Verbrauch: 14,3 kWh / 100 km<br />
Reichweite: 409 km<br />
Preis: ab 46.390 Euro<br />
geeignet für: Hobby-Raser, Geschäftsleute<br />
DOCH WO LIEGEN DIE ANREIZE für den Kauf eines<br />
Stromers? In erster Linie vermeintlich im Umweltschutz,<br />
laut einer Umfrage eines der zentralen Themen für die<br />
Käufer. Warum nur vermeintlich? Sicher, im Gegensatz<br />
zu Verbrennungsmotoren emittieren Elektromotoren<br />
kein umweltschädigendes CO 2 in die Luft – und sie benötigen<br />
kein Erdöl. Allerdings wird der Strom an den<br />
Lade stationen größtenteils noch aus Kohle- und Gaskraftwerken<br />
gewonnen. Dazu konterkariert die Lithiumgewinnung<br />
für die Batterien geradezu die klimafreundlichen<br />
Emissionswerte. Beispielsweise verseucht sie Böden<br />
in der südamerikanischen Atacama-Wüste und lässt<br />
die indigene Bevölkerung dort arm und ohne Grundwasser<br />
zurück. Und um kobalthaltiges Erz zu gewinnen –<br />
ein wichtiges Anodenmaterial für Batterien –, arbeiten<br />
Jugendliche in Afrika häufig für einen Hungerlohn in<br />
einsturzgefährdeten Bergwerken.<br />
ABER WIR WAREN BEI DEN VORTEILEN, also zurück<br />
dorthin. Den hohen Kaufpreisen stehen sehr viel günstigere<br />
Unterhaltskosten gegenüber. 100 Kilometer Strom<br />
kosten nur gut halb so viel wie die gleiche Strecke mit<br />
einem herkömmlichen Auto. Die ersten zehn Jahre sind<br />
Elektrofahrzeuge von der Kfz-Steuer befreit, wenn sie<br />
bis zum 31. Dezember 2020 gekauft werden. Reparaturkosten<br />
fallen in der Regel weniger an. Hauptgrund für<br />
Zweit genanntes ist der geringere Verschleiß des Elektromotors,<br />
der deutlich energieeffizienter arbeitet als ein<br />
Verbrenner. Der Wirkungsgrad von eingeschleuster zu<br />
genutzter Energie liegt bei bis zu 90 Prozent. Der angenehm<br />
leise Fahrgenuss ist ein Komfortvorteil – zumindest<br />
so lange, wie Fußgänger das Fahrzeug nicht überhören.<br />
In anderen Aspekten können i3, EQC und Co. jedoch<br />
noch nicht mithalten. Beginnend beim Preis, denn der<br />
132 4 |<strong>2019</strong>
leben<br />
Mercedes EQC<br />
Leistung: 408 PS<br />
Beschleunigung 0 auf 100 km/h: 5,1 s<br />
Verbrauch: 20,8–19,7 kWh / 100 km<br />
Reichweite: 471 km<br />
Preis: ab 71.000<br />
geeignet für: Hobby-Raser, Geschäftsleute<br />
Jaguar I-Pace<br />
Leistung: 400 PS<br />
Beschleunigung 0 auf 100 km/h: 4,8 s<br />
Verbrauch: 22,0 kWh / 100 km<br />
Reichweite: 470 km<br />
Preis: ab 79.450 Euro<br />
geeignet für: Hobby-Raser, Geschäftsleute<br />
fällt happig aus. Schon für Kleinwagen sind mühelos<br />
20.000 Euro fällig, die Luxusmarken gibt es häufig erst<br />
für sechsstellige Beträge. Zweiter und wahrscheinlich<br />
bekanntester Nachteil: die begrenzte Reichweite. Selbst<br />
den effizientesten und modernsten Modellen geht spätestens<br />
nach 500 Kilometern (und das ist ein Ausnahmewert)<br />
der Strom aus. Für mehr Kapazität müsste die Batterietechnologie<br />
verfeinert werden – was zu einem höheren<br />
Gewicht und steigenden Preisen führen dürfte.<br />
IST DER SAFT EINMAL ALLE, muss die Ladestation aufgesucht<br />
werden. Und die Suche ist dabei durchaus das<br />
Stichwort. Wer nicht stundenlang an der heimischen<br />
Steckdose laden möchte, muss zu einem der lediglich<br />
18.000 öffentlichen Ladepunkte – die meisten davon befinden<br />
sich in Großstädten. Auf dem Land ist die Abdeckung<br />
enorm dünn, und wenn in Kleinstädten mehrere<br />
E-Autos gleichzeitig laden, droht das Stromnetz zusammenzubrechen.<br />
Immerhin: Das Klimaschutz-Paket der<br />
Bundesregierung sieht bis 2030 eine Million Ladepunkte<br />
vor. Um eine flächendeckende Versorgung zu garantieren,<br />
sollen Tank stellen dazu verpflichtet werden, auch Zapfsäulen<br />
für E-Autos anzubieten. Bislang ist der Betrieb<br />
von Ladesäulen allerdings meist ein Verlustgeschäft.<br />
Ebenfalls im Paket vorgesehen: höhere Kaufprämien für<br />
Fahrzeuge, die bis zu 40.000 Euro kosten.<br />
DIES SIND NICHT DIE EINZIGEN WEGE, über die der<br />
Bund elektromobile Fahrer subventioniert. Neben den<br />
Kaufprämien gibt es auch steuerliche Vorteile. Wie<br />
bereits erwähnt, sind batteriebetriebene Wagen unter<br />
bestimmten Bedingungen von der Kfz-Steuer ausgenommen.<br />
Die Steuerbefreiung bleibt auch nach einem Halterwechsel<br />
innerhalb der zehn Jahre für den dann noch<br />
verbleibenden Zeitraum gewährt. Hybridfahrzeuge profitieren<br />
hingegen nicht von diesem Privileg. Ein solches<br />
gilt dafür seit <strong>2019</strong> für Dienstwagen: Elektro- und<br />
Plug-in-Hybridautos werden pauschal mit 0,5 Prozent<br />
des Listenpreises versteuert.<br />
Fahrzeuge, die mit fossilen Brennstoffen angetrieben<br />
werden, müssen dagegen mit einem Prozent beim<br />
Finanzamt angesetzt werden. Auch das Laden des E-Autos<br />
beim Arbeitgeber muss nicht als geldwerter Vorteil<br />
versteuert werden. ƒ<br />
134 4 |<strong>2019</strong>
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Antrieb:<br />
2 Asynchronmotoren, vollvariabler Allradantrieb<br />
Leistung: 408 PS<br />
Maximales Drehmoment: 760 Nm<br />
Beschleunigung 0–100 km/h: 5,1 s<br />
Höchstgeschwindigkeit: 180 km/h<br />
Stromverbrauch: 20,8–19,7 kWh/100 km<br />
CO2-Emissionen: 0 g/km<br />
Batteriegesamtkapazität: 80 kWh<br />
Batteriegewicht: 650 kg<br />
Reichweite: 445–471 km<br />
Länge: 4,76 m<br />
Breite: 2,09 m<br />
Höhe: 1,62 m<br />
Leergewicht: 2420 kg<br />
Gepäckraum: 500 l<br />
Wer ein Elektroauto fährt, sollte vor<br />
allem auf eines eingestellt sein:<br />
das Unerwartete erwarten. Überraschungen<br />
sind vorprogrammiert. Beim<br />
brandneuen Mercedes EQC 400 4MATIC warten<br />
diese an jeder Kurve. Das Gute daran: Es<br />
sind nahezu ausnahmslos positive.<br />
DOCH VON VORNE. WÖRTLICH GEMEINT.<br />
Denn aus dieser Perspektive sieht der erst im<br />
September <strong>2019</strong> auf den Markt gekommene<br />
Wagen besonders attraktiv aus. Akkurater Grill,<br />
futuristische Lampen und ein derart scharfes<br />
LED-Leuchtband, für das es sich lohnt, auf<br />
die Dunkelheit zu warten. Zwar besitzt das<br />
Premium-Gefährt die gleichen Maße wie der<br />
GLC, er ist jedoch keiner der herkömmlichen<br />
Mercedes-Klassen zuzuordnen. Und das wird<br />
spätestens beim Fahren deutlich – dem zweifellos<br />
eindrucksvollsten Argument pro EQC. Er ist<br />
einzigartig.<br />
Auf den ersten Blick wirkt das Interieur für<br />
Mercedes-Fahrer vertraut, schlimmstenfalls<br />
minimal mit Elementen überladen. Motor<br />
an – nicht aufs aufheulende Geräusch warten,<br />
es wird nicht kommen – und runter vom<br />
Hof des Göttinger Emil-Frey-Autocenters an<br />
der Willi-Eichler-Straße. Fährt sich für ein<br />
E-Auto wie gewohnt … Kurz den rechten Fuß<br />
betätigt, und schon kommt das Hinterhaupt<br />
zum unfreiwilligen Kontakt mit der eleganten<br />
Lederkopfstütze. Die 408 PS starke Maschine<br />
hat enorme Power. Selbst mit dem Vorwissen<br />
um das extrem leicht reizbare Gaspedal fällt<br />
es satte drei Versuche lang schwer, eine spaßige,<br />
zugleich aber komfortable Beschleunigung<br />
hinzulegen. Komfortabel ist ansonsten<br />
allerdings das Stichwort. Der nicht vorhandene<br />
Motorensound ist vielleicht nicht jedermanns<br />
Sache, entspannt die Ohren auf Dauer<br />
aber enorm. Dazu liegen die gut 2,5 Tonnen<br />
angenehm weich auf der Piste, die Lenkung<br />
ist ziemlich sensibel. Sicher, jedoch fast etwas<br />
schade, dass dieses Geschoss schon bei<br />
180 Stundenkilometern abriegelt.<br />
DER NEUE EQC ist aber ohnehin weniger für<br />
Rennfahrer als für jene geeignet, die es behaglich<br />
mögen. Käufer sind bislang zumeist<br />
Geschäftsführer und leitende Angestellte bei<br />
Unternehmen. Sofern es deren Ziel ist, bei<br />
ihren Mitarbeitern Eindruck zu machen, dürfte<br />
dies gelingen. Bei der Testfahrt bekommen<br />
die entgegenkommenden Fahrer in der Regel<br />
eine Nackenstarre durch den dauerhaft nach<br />
links gerichteten Blick. Selbst hinter dem
FOTOS: LUKA GORJUP<br />
Vertrauter Genuss für die Augen Auch das Interieur des neuen Mercedes EQC 400 4MATIC punktet mit seinem klassisch-eleganten Stil.<br />
Lenkrad sitzend besteht die Chance, ihnen in<br />
die Augen zu blicken. Das halbautonome Fahren<br />
macht es dank Spurhalteassistent und Geschwindigkeitsbeschränkungen<br />
erkennendem<br />
Tempomat möglich. Diese Option sorgt allerdings<br />
für ein mulmiges Gefühl. Am meisten<br />
Freude bei der Fahrt kommt auf, wenn Eigeninitiative<br />
gezeigt wird.<br />
Selbstbestimmt werden kann auch die Rekuperationsstufe,<br />
die für die Rückgewinnung<br />
von Energie sorgt. Gleich vier davon bietet<br />
Mercedes beim EQC an. „Mehr als bei jedem<br />
anderen Elektrofahrzeug“, sagt Produktexpertin<br />
Jennifer Kramer. Von D-- über D-, 0 bis D+<br />
bremst das Auto ohne Pedalbedienung entweder<br />
stark ab oder rollt aus. Von Sparsamkeit<br />
bis Spaß – „Es fehlt an nichts. Das sorgt<br />
für die perfekte Mischung aus ökologischem,<br />
effizientem, dynamischem und sportlichem<br />
Fahren“, betont Kramer. Das neue Premium-<br />
Produkt empfiehlt sie vor allem Käufern, die<br />
sich „für Zukunft und Umwelt interessieren“.<br />
Weil im Fond passable Beinfreiheit herrscht<br />
und der Kofferraum für ein E-Auto mit rund<br />
500 Litern verhältnismäßig viel Platz bietet,<br />
bleibt die Liste der Kritikpunkte kurz. Denn<br />
ebenso wie das halbautonome Fahren dürfte<br />
auch die Bedienung des nicht immer auf Anhieb<br />
funktionierenden Touchpads, das etwas umständlicher<br />
als das althergebrachte Bedienungsrädchen<br />
erscheint, nur Gewohnheitssache sein.<br />
WER DARÜBER HINWEGSEHEN KANN,<br />
umweltbewusst lebt (die Batterie wird nach<br />
Ablauf der achtjährigen Garantie beispielsweise<br />
komplett recycelt) und mindestens<br />
71.000 Euro übrig hat, kann im Elektro-<br />
Segment definitiv nichts verkehrt machen.<br />
So macht Elektromobilität richtig Spaß.<br />
TEXT: RUPERT FABIG<br />
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leben<br />
TEXT ANJA DANISEWITSCH FOTOGRAFIE ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
Er ist wohl der berühmteste lebende<br />
Künstlersohn Göttingens. THE<br />
Christian Jankowski wohnt zwar<br />
inzwischen in Berlin, aber seine<br />
künstlerischen TRAVELLING Wege<br />
führen ihn neben internationalen<br />
Projekten auch immer wieder zurück<br />
zu seinen Wurzeln. ARTIST<br />
<strong>faktor</strong> traf ihn in der Hauptstadt<br />
und sprach mit ihm über Kunst,<br />
Unfug – und das Leben.<br />
138 4 |<strong>2019</strong>
leben<br />
© CHRISTIAN JANKOWSKI / COURTESY THE ARTIST<br />
4 |<strong>2019</strong> 139
leben<br />
© CHRISTIAN JANKOWSKI / COURTESY THE ARTIST<br />
Der Durchbruch 1992 machte Jankowski das erste Mal auf sich<br />
aufmerksam, als er bewaffnet mit Pfeil und Bogen in Supermärkte<br />
ging, um sich seine Nahrung aus den Regalen und Tiefkühltruhen<br />
zu schießen. Er hinterfragte unser Verhältnis zu Lebensmitteln<br />
und inwieweit wir selbst in der Verantwortung stehen.<br />
Die Jagd, 1992, Video, 1:11 min.<br />
Gesammelte Werke<br />
Jankowski kann heute auf fast 100 Einzelausstellungen<br />
überall auf der Welt zurückblicken. Er gilt als einer der<br />
erfolgreichsten bildenden Künstler Deutschlands.<br />
2016 war sein Jahr: Als erster Künstler überhaupt durfte er<br />
die 11. Manifesta in Zürich kuratieren. Im selben Jahr<br />
kuratierte die deutsche Schauspielerin Nina Hoss eine<br />
Retrospektive mit Jankowskis Arbeiten bei CFA Berlin,<br />
eine der bekanntesten Galerien der Stadt für<br />
moderne Werke von internationalen Künstlern.<br />
Die Jagd / Beute, 1992 / 2016, Inkjetprint, 100 x 80 cm<br />
140 4 |<strong>2019</strong>
leben<br />
LESEZEIT: 11 MINUTEN<br />
Berlin, November <strong>2019</strong>. Dieser<br />
Tag beginnt in zweierlei Hinsicht<br />
wie ein Klischee: Der Novemberhimmel<br />
ist wolkenverhangen, ab<br />
und an Nieselregen – zu wenig,<br />
um den Regenschirm aufzuspannen,<br />
und zu viel, um nicht nass<br />
zu werden. Berlin ist trist und<br />
grau. Und der Künstler, den wir<br />
heute besuchen, arbeitet dort, wo man es sich vorstellt:<br />
in einem hippen Loft im Hinterhof vom Hinterhof.<br />
Christian Jankowski öffnet gut gelaunt die Tür seines<br />
Ateliers in Alt-Treptow, das zugleich seine Wohnung ist<br />
– unverputzte Backsteinwände, hohe Decken, eine große<br />
Fensterfront zum begrünten Innenhof, zwei Schreibtische<br />
mit unzähligen Papierstapeln und eine fellbezogene<br />
Hängematte. „Und ihr seid jetzt extra aus Göttingen<br />
angereist?“ Jankowski scheint aufrichtig erfreut über<br />
das Interesse aus seiner Geburtsstadt. In der offenen<br />
Küche kocht er Kaffee. An einer Wand lehnen einige<br />
Gitarren. „Ja, ich spiele immer noch ab und an. Mein<br />
achtjähriger Sohn lernt gerade Schlagzeug – nun ,jammen‘<br />
wir hin und wieder zusammen“, ruft er quer durch<br />
den großen Raum herüber. Früher, als Jugendlicher, habe<br />
er einige Jahre in der „weltberühmten“ Göttinger Band<br />
Fonzo's Delight gespielt, erzählt er mit einem Augenzwinkern.<br />
Da das Wasser auf dem Herd noch nicht<br />
kocht, bleibt etwas Zeit, sich ein wenig umzusehen. Eine<br />
breite Schiebetür trennt den privaten Wohnraum ab. Die<br />
Grenze zwischen Kunst und Privatem ist dünn und oft<br />
fließend. Und überhaupt, Grenzen zu überwinden, zeigt<br />
sich als zentrales Thema in Jankowskis Werken.<br />
DOCH WIE LÄSST SICH SEINE KUNST BESCHREIBEN?<br />
„Meine Werke sind häufig Performances und mit anderen<br />
Menschen zusammen gestaltete Situationen, die sich<br />
dann in verschiedenen Medien wie zum Beispiel Video,<br />
Fotografie oder Skulptur einschreiben. Es gibt innerhalb<br />
dieser Aktion immer einen Handlungsspielraum für<br />
Gäste, der nicht genau festgelegt ist“, erklärt der Künstler.<br />
Nur ein ungefährer Rahmen, ein Konzept, sei am Anfang<br />
vorhanden, der Ausgang seiner Kunst bleibe bis<br />
zum Ende auch für Jankowski ungewiss. Ein beliebtes<br />
Internet- Lexikon beschreibt Performance-Kunst als eine<br />
situationsbezogene, handlungsbetonte und vergängliche<br />
künstlerische Darbietung eines Performers oder einer<br />
Performancegruppe. Die Kunstform hinterfragt die<br />
Trenn barkeit von Künstler und Werk sowie die Warenform<br />
traditioneller Kunstwerke. Jankowski sagt: „Performance-Kunst<br />
ist die rahmenloseste Kunst, die es gibt, weil<br />
sie sich überall und zu jeder Zeit ereignen kann. Sie trifft<br />
Zeitgenossen und Zustände im Hier und Jetzt.“<br />
Aufmerksam wurden die Kunstszene und die Öffentlichkeit<br />
auf den gebürtigen Göttinger mit seiner Performance<br />
,Die Jagd‘ im Jahr 1992, als er bewaffnet mit Pfeil<br />
und Bogen in Supermärkte geht, um sich seine Nahrung<br />
aus den Regalen und Tiefkühltruhen zu schießen. Jankowski<br />
erlegte Joghurtbecher, Brot, ein tiefgefrorenes<br />
Hähnchen und Margarine und ernährte sich eine Woche<br />
lang ausschließlich von Konsumgütern, die er auf diese<br />
Weise erbeutet hatte. ,Die Jagd‘ hinterfragt unser Verhältnis<br />
zu Lebensmitteln und inwieweit wir selbst in der<br />
Verantwortung stehen – ein Thema, das bis heute, nach<br />
fast dreißig Jahren, unverändert aktuell ist. In Jankowskis<br />
Leben hingegen ist in dieser Zeit viel passiert.<br />
4 |<strong>2019</strong> 141
leben<br />
Nichts ist erledigt Christian Jankowski lebt und wohnt in seinem Atelier – umgeben von Kunst und Büchern, die ihn täglich aufs Neue inspirieren.<br />
142 4 |<strong>2019</strong>
leben<br />
4 |<strong>2019</strong> 143
leben<br />
Film ab!<br />
Unter dem Titel ,Gott ist auch nur ein Mensch‘ spielte<br />
Christian Jankowski an der Seite der berühmten Münsteraner<br />
Tatort-Lieblinge Thiel und Börne im November 2017<br />
in der 1.037. Folge mit. Er schlüpfte in die Rolle des Künstlers<br />
Jan Christowski. Dieses Werk richtete sich sowohl an<br />
15 Millionen Fernsehzuschauer als auch als Kunst im<br />
öffentlichen Raum an Kunstexperten. Man brauche zwar<br />
Nerven, um zwischen Massenmedien und der freien<br />
Kunst zu vermitteln, so Jankowski zu seinem Ausflug in<br />
die Fernsehwelt, doch: „Brücken zwischen Unmöglichem<br />
zu bauen, erschafft neue Bilder.“<br />
MIT 22 JAHREN ZOG JANKOWSKI von Göttingen<br />
nach Hamburg. Bevor er den Weg<br />
des Künstlers tatsächlich ging, war für<br />
ihn lange nicht klar, was er mit sich anfangen<br />
sollte. Während seiner letzten<br />
Jahre in Göttingen war er ein<br />
Suchender. Mit seiner Band gab er<br />
Konzerte auf dem Altstadtfest, er war<br />
Zivi im Klinikum und gestaltete<br />
Pla kate für Ärztekongresse, woraus<br />
der Wunsch nach einem Grafikdesign<br />
studium erwuchs. Sein Vater arbeitete<br />
bei einer Krankenkasse, die<br />
Mut t er bei der Sparkasse Göttingen,<br />
und beide hätten eine Banklehre<br />
mit sicherer Zukunft befürwortet.<br />
Oder vielleicht Architektur?<br />
Jankowski hatte gehört, dass man<br />
auch damit ganz gut Geld verdienen<br />
kann. Die Aufnahme prüfungen<br />
für die gewünschten Stu dien gänge<br />
schaffte er nicht. Eben so wenig<br />
wie die an der Hochschule für<br />
Bildende Künste in Hamburg.<br />
Aber da wollte er hin.<br />
Hamburg. Die Malerei. Und<br />
der große Kunststar Sigmar<br />
Polke, der dort als Professor<br />
lehrte. „Ich wollte<br />
mich damals irgendwie<br />
in der Malerei selbst erfinden“,<br />
sagt er und erinnert sich<br />
an seine Anfangszeit als Künstler.<br />
„Ich habe das von Anfang<br />
,Reiter mit Pferd‘ Auch die alljährlich<br />
verliehene Skulptur (2002) des Inno vationspreises<br />
des Landkreises Göttingen<br />
stammt von Christian Jankowski.<br />
an sehr ernst genommen und sogar durch das Malen angefangen<br />
zu rauchen: ein wichtiges Ritual, vier Meter<br />
von der Leinwand zurücktreten, Zigarette an und gucken,<br />
was man überhaupt gemacht hat.“ Er lacht. „Dann<br />
hat sich viel verändert. Ich glaubte plötzlich nicht mehr<br />
an diese isolierte, kontrollierte Ateliersituation. Für mich<br />
war das Atelier ab diesem Zeitpunkt überall: gleich vor<br />
der Haustür oder in der Großen Freiheit. Selbst ausdrücken<br />
kann ich mich am besten im Zusammenspiel mit den<br />
anderen.“ Tagelang vor einer Leinwand sitzen und auf<br />
Inspiration warten, dafür fehlte ihm die Geduld. „Ich bin<br />
heute viel mehr ein Manager, der versucht, neue Bilder in<br />
massenmedialen Zusammenhängen zu erzeugen.“<br />
IN HAMBURG STUDIERTE ER ANFANG der 1990er-Jahre<br />
zunächst als Schwarzhörer an der Hochschule für bildende<br />
Künste. Nach dem dort abgeschlossenen Studium<br />
zog es ihn von Hamburg nach Berlin, dann lebte er fünf<br />
Jahre in New York und kam 2008 zurück in die Hauptstadt.<br />
An der Hamburger Kunstschule kam er im Übrigen<br />
neben der Performance-Kunst auch das erste Mal<br />
mit Konzeptkunst in Berührung, eine Kunstrichtung, die<br />
sein künstlerisches Denken und Handeln bis heute stark<br />
geprägt hat – das Aufbrechen und Hinterfragen der gewohnten<br />
Gestaltungsmuster, das gefiel ihm. „Aber ich<br />
habe auch viel Glück gehabt im Leben.“ Es sei wichtig,<br />
die richtigen Leute kennenzulernen, an gute Künstler,<br />
Galeristen und Kuratoren zu gelangen und sich mit ihnen<br />
bekanntzumachen.<br />
Auch seine Professur an der Staatlichen Akademie der<br />
bildenden Künste Stuttgart war für Jankowski ein<br />
Glücksfall. Als Professor für Bildhauerei (Installation,<br />
Performance, Video) ist er im ständigen künstlerischen<br />
Austausch mit jungen Menschen. Glück, ein gutes Ausstellungskonzept<br />
und seine Reputation als internationaler<br />
Künstler führten auch zu seiner Berufung zum Kurator<br />
der 11. Manifesta 2016 in Zürich. Die europäische<br />
Biennale für zeitgenössische Kunst lud mit ihm – zum<br />
ersten Mal überhaupt – einen Künstler ein, ein solches<br />
Großprojekt zu gestalten.<br />
FOTO: ALCIRO THEODORO DA SILVA<br />
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» Jede Obsession ist gleichzeitig ein<br />
befreiender und ein beschränkender Akt. «<br />
146 4 |<strong>2019</strong><br />
Er scheint überall auf der Welt zu Hause zu sein. Seine<br />
Kunst brachte ihn nach Mexiko, nach Australien, nach<br />
Japan, nach Russland – vielleicht wäre es leichter, aufzuzählen,<br />
wo für ihn noch blinde Flecken auf der Landkarte<br />
sind, an denen er nicht ausgestellt hat. Dennoch: Jedes<br />
Jahr im November erlangt eine Skulptur Jankowskis in<br />
Göttingen besondere Aufmerksamkeit. 2002 gewann er<br />
die Ausschreibung für die Gestaltung einer Pokal-Skulptur<br />
des Innovationspreises Göttingen. In Bronze gegossen<br />
trägt ein Reiter sein Pferd auf den Schultern. Der Reiter<br />
wird zum Gerittenen. Die Umkehrung des Gewohnten.<br />
Ein Perspektivwechsel – das ist es, worum es in Jankowskis<br />
Werken häufig geht. „In der Kunst stellt sich häufig<br />
die Frage: Wer oder was wird gesockelt?“, erklärt er.<br />
„Aber in dem Moment, in dem man etwas vom Sockel<br />
nimmt, ist man auf Augenhöhe mit der Kunst. Das ist die<br />
Kunst, die mich interessiert.“<br />
SEIN NEUESTES WERK, die Installation ,Travelling Artist‘<br />
von 2018 thematisiert die Gedanken, die Jankowski<br />
mit dem Reisen und permanenten Unterwegssein verbindet.<br />
Das Video entstand in Kyoto in Zusammenarbeit<br />
mit einem Bondage-Studio. „Jede gelebte Obsession ist<br />
gleichzeitig ein befreiender und ein beschränkender<br />
Akt.“ Diese beiden Seiten führt er in seinem Werk zusammen,<br />
als er sich dort von einer japanischen Fesslungskünstlerin<br />
zusammen mit seinem gesamten Reisegepäck<br />
gekonnt verknoten und an Seilen unter die Decke<br />
hängen ließ: Wenn man frei ist, ist man auf der anderen<br />
Seite eben auch unfrei. Gegensätze, Dualitäten informieren<br />
oft meine Kunst: Es gibt immer viele Antworten, und<br />
der Betrachter ist eingeladen, sich selbst zu orientieren<br />
und seinen eigenen Standpunkt zu finden. Etwas bubenhaft<br />
Verschmitztes umgibt seine Augen.<br />
Er lächelt viel und ist überraschend offen im Gespräch.<br />
Mit Christian Jankowski ist man schnell im Du – dass er<br />
mit den Menschen auf Augenhöhe arbeitet, steht außer<br />
Frage. „Doch bei allem Spaß an und mit der Kunst<br />
schwingt immer auch ein wenig die Befürchtung mit,<br />
nicht für das Richtige erkannt zu werden. „Ich hoffe,<br />
dass die Menschen auf lange Sicht hin wahrnehmen,<br />
dass Humor in meiner Arbeit nicht das Ziel, sondern<br />
eine Begleiterscheinung ist“, gesteht er. Es scheint aber<br />
gerade dieser Balanceakt zu sein, der ihn antreibt: Zum<br />
einen sind da die scheinbar unantastbaren Übereinkünfte<br />
– und dann ist da der Witz, wie man ihnen begegnet.<br />
Beides ist essenziell für seine Kunst. Es geht um Kunst<br />
zwischen Menschen, um das Verhandeln gemeinsamer<br />
Werte und Bilder. Es sind ernste zeitgenössische Fragen,<br />
die der Wahlberliner mit seinen Werken aufwirft.<br />
UND WIE SIEHT DAS IN DER PRAXIS AUS? Ein gutes<br />
Beispiel gibt ,Casting Jesus‘, eine Performance und<br />
Video arbeit aus dem Jahr 2011. In monatelanger Vorarbeit<br />
und mit viel Überredungskunst schaffte es Jankowski,<br />
drei Vertreter des Vatikans für sein Kunstprojekt<br />
zu gewinnen. In ,Casting Jesus‘ wird kein Geringerer als<br />
ein neuer Jesus von der katholischen Kirche gesucht. Der<br />
neue Erlöser wird also nicht von Gott gesandt, sondern<br />
die Kirche selbst entscheidet, wer für diese Rolle geeignet<br />
ist. Dabei bedienen sich die römischen Kirchenvertreter<br />
eines bereits tausendfach bewährten Fernsehformats:<br />
der Casting-Show. 13 Schauspieler wurden zuvor<br />
von einer Casting-Agentur ausgewählt, sich für den<br />
neuen Jesus-Job vor den Augen des Vatikans zu bewähren.<br />
Statt Dieter Bohlen sitzen die Geistlichen als Jury<br />
am Tisch, orchestrieren und kommentieren das Geschehen<br />
– die neuen ‚Jesuse‘ müssen zeigen, wie sie Brot brechen<br />
und ihr Kreuz zur Schau tragen. Man mag es fast<br />
nicht glauben, dass sich die katholische Kirche so weit<br />
Sein neuestes Werk Die Installation ,Travelling Artist‘ von<br />
2018 thematisiert die Gedanken, die Jankowski mit dem<br />
Reisen und permanenten Unterwegssein verbindet.<br />
Traveling Artist, 2018, Inkjetprint, je 208 x 150 cm<br />
© CHRISTIAN JANKOWSKI / COURTESY THE ARTIST
leben<br />
THE TRAVELLING ARTIST - NORTH<br />
THE TRAVELLING ARTIST - EAST<br />
THE TRAVELLING ARTIST - SOUTH<br />
THE TRAVELLING ARTIST - WEST<br />
4 |<strong>2019</strong> 147
leben<br />
Kunst im DSDS-Format Für seine Performance und Video arbeit aus dem Jahr 2011 hat Jankowski niemanden Geringeren als einen neuen<br />
Jesus für die katholischen Kirche gesucht. Installationsansicht von Casting Jesus, 2011, 2-Kanal Video, 60 min.<br />
© CHRISTIAN JANKOWSKI / COURTESY THE ARTIST AND LISSON GALLERY<br />
für die Kunst geöffnet hat. Und er geht sogar noch einen<br />
Schritt weiter: Jankowski gewinnt die Kirche für sein<br />
Kunstvorhaben und schafft so einen Rollentausch und<br />
Perspektivwechsel. Denn über Jahrhunderte war es an<br />
der Kirche, Gottesbilder bei Künstlern in Auftrag zu geben.<br />
In Casting Jesus ist es ein Künstler, der die Kirche<br />
mit der Findung eines Gottesbildes beauftragt.<br />
„ICH WEHRE MICH GEGEN EINE KUNST, die einem<br />
vorschreibt, wie man sie zu verstehen hat“, erklärt Jankowski.<br />
Gerade in Performances, in denen er den Beteiligten<br />
nur den Rahmen vorgibt und dann der Kunst ihren<br />
Lauf lässt – so wie bei ‚Casting Jesus‘ – passiert nicht<br />
nur etwas in der Kunst. Es passiert auch etwas mit den<br />
beteiligten Menschen. Jankowski sagt: „Mich interessiert<br />
es, Kollaborationen zwischen Menschen aus unterschiedlichsten<br />
Professionen zu initiieren. Die neuen Bilder,<br />
Sichtweisen, Regeln, Sprachen, Perspektiven, die<br />
sich aus solchen Begegnungen ergeben, werden in meinen<br />
Kunstwerken sichtbar gemacht. Oft entsteht dabei<br />
ein Gesamtbild aus zwei Welten, das ist das Spannende.“<br />
Und so sitzt er an dem fünf Meter langen Tisch in seinem<br />
Atelier und erinnert sich an die vielen Begegnungen,<br />
nennt Namen von Menschen, Projekten, Ländern. Passenderweise<br />
bekommt er noch während des Interviews<br />
eine WhatsApp von Pastor Peter Spencer aus Texas, einem<br />
TV-Prediger, mit dem er vor über 15 Jahren zusammengearbeitet<br />
hat, was zeigt: Jankowski ist ein wahrer<br />
Vernetzer in seiner Kunst, und Menschen, mit denen er<br />
gearbeitet hat, bleiben über Jahrzehnte mit ihm in Kontakt.<br />
„Meine Kunst entsteht in sozialen Systemen“, sagt<br />
er. Beispielhaft dafür auch seine Performance ,Dienstbesprechung‘<br />
im Kunstmuseum Stuttgart aus dem Jahr<br />
2008. Im Rahmen seiner Ausstellungsvorbereitungen<br />
ließ er alle Angestellten des Museums per Losverfahren<br />
ihre Rollen tauschen, sodass die Direktorin zur Veranstaltungstechnikerin<br />
und der Angestellte des Sicherheitsdienstes<br />
zum Kurator ernannt wurden. „Noch<br />
heute sprechen mich diese Mitarbeiter an, wenn ich in<br />
das Museum gehe, weil sie diese Erfahrung nachhaltig<br />
berührt hat“, erzählt Jankowski mit sichtbarer Freude.<br />
EIN PROJEKT ÄHNLICHEN KALIBERS KÖNNTE sich<br />
Jankowski auch in Göttingen vorstellen. Noch ist es<br />
nicht spruchreif – aber so viel sei verraten: Aktuell steht<br />
er im regen Austausch mit der Sparkasse Göttingen über<br />
ein neues Kunstprojekt. Es wird Teil der Förderung<br />
‚Kunst am Bau‘ für das Sparkassen-Forum, das im Mai<br />
<strong>2019</strong> seine Eröffnung feierte. Zur damaligen Pressekonferenz<br />
waren neben den Künstlern Tobias Rehberger<br />
und der Lichtkünstlerin Claudia Wissmann auch<br />
Jankowski mit seiner Mutter geladen. Hat Göttingen<br />
demnächst vielleicht ein Performance-Museum in der<br />
Stadt? Ein Knaller wäre es allemal ...<br />
148 4 |<strong>2019</strong>
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150 4 |<strong>2019</strong>
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Kunst in sozialen Systemen Im Rahmen seiner Ausstellungsvorbereitungen im Kunstmuseum Stuttgart ließ Jankowski 2008 alle<br />
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Auf dem Schreibtisch in Berlin jedenfalls stapeln sich<br />
bereits Zettel mit neuen Anfragen für Ausstellungen,<br />
Projekte, Kataloge – lauter DIN-A4-Blätter, sorgfältig<br />
aneinandergetackert. „Ich kann einfach nicht digital“,<br />
ist das Statement dazu. Auch im Leben des Christian<br />
Jankowski zeigen sich die Extreme: Er lebt analog, und<br />
seine Kunst ist multimedial. Videoperformance vs.<br />
Zettelwirtschaft. Widersprüche, die zum Leben gehören.<br />
Und obwohl er wahrscheinlich mehr als erträumt erreicht<br />
hat – einen lang gehegten Wunsch habe er da<br />
noch, wie er uns verrät: „Bisher kam es noch nie zu einer<br />
Begegnung mit Gerhard Steidl – ihn möchte ich gern einmal<br />
kennenlernen!“ Neben seiner Familie, die noch in<br />
Göttingen lebt, gibt es also immer wieder Gründe für<br />
den berühmten Sohn der Stadt, zurückzukehren. ƒ<br />
Zur Person<br />
Christian Jankowski wurde 1968 in Göttingen geboren<br />
und studierte an der Hochschule für bildende Künste in<br />
Hamburg. In seinen konzeptuellen und medialen<br />
Kunstwerken bedient er sich der Medien Film, Video,<br />
Fotografie und Performance, aber auch der Malerei,<br />
Skulptur und Installation. Im Laufe der Zeit hat er<br />
mit Magiern, Politikern, Nachrichtensprechern und<br />
Mitgliedern des Vatikans zusammen gearbeitet, um nur<br />
einige zu nennen. Jankowskis Werk kann als Reflexion,<br />
Dekonstruktion und Kritik sowohl einer Gesellschaft<br />
des Spektakels als auch der Kunst gesehen werden, die<br />
sich dem Spektakel hingegeben und dadurch ihr<br />
kritisches Potenzial gefährdet hat.<br />
www.christianjankowski.com<br />
4 |<strong>2019</strong> 151
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Autoren<br />
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Anja Danisewitsch, Rupert Fabig,<br />
Sven Grünewald, Claudia Klaft,<br />
Stefan Liebig, Carolin Schäufele<br />
Art-Direktion & Layout<br />
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Fotografie<br />
Alciro Theodoro da Silva<br />
Lektorat<br />
CoLibris - Lektoratsbüro<br />
Dr. Barbara Welzel<br />
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Horst Wolf (Leitung)<br />
Geschäftsführender Gesellschafter<br />
Marco Böhme<br />
Auflage<br />
11.500<br />
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15. Februar 2020.<br />
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Fritz Güntzler, Rainer Hald, Dr. Klaus Heinemann, Jürgen<br />
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154 4 |<strong>2019</strong>
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Liebe<br />
Göttinger,<br />
es gibt etwas, das uns von<br />
anderen Energieversorgern in<br />
Deutschland unterscheidet:<br />
Wir unterstützen unsere Stadt in vielfältiger<br />
Weise, indem wir viele kulturelle, soziale<br />
und sportliche Projekte in Göttingen<br />
fördern. Dazu gehört auch das Sponsoring<br />
größerer und kleinerer Vereine.<br />
Und: Wir haben uns dem Klimaschutz,<br />
der Nachhaltigkeit und dem Ausbau<br />
regenerativer Energien verschrieben.<br />
Das alles ermöglichen Sie uns, liebe<br />
Göttinger, weil Sie „Ja“ sagen zu Ihren<br />
Stadtwerken – und zu Ihrer Stadt. Danke!<br />
Hier eine kleine Auswahl unseres<br />
Engagements:<br />
© Sabine Klar<br />
BG Göttingen I flippo Baskets<br />
Weihnachtsbeleuchtung Pro-City<br />
Gänselieselfest<br />
Göttinger Entenrennen<br />
UMG „Kleine Rücken“<br />
Nacht der Kultur<br />
BG-Ostercamp<br />
SenVital Luisenhof<br />
Stadtwerke-Volkstriathlon<br />
Tour d‘Energie<br />
Göttinger Tafel<br />
© Peter Heller<br />
Elternhaus krebskrankes Kind<br />
KUNST-Gala<br />
Bürgerfrühstück<br />
Kinder- und Jugendbuchwoche<br />
Altstadtlauf<br />
Vielen Dank für Ihr Vertrauen<br />
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Göttinger Knabenchor<br />
pos-kresin.de