ZAP-2019-24
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Fach 22 R, Seite 1150<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
s. auch OLG Hamm NJW 2003, 3286, 3287; OLG Frankfurt a.M. StV 1984, 370). Bei der Beurteilung<br />
dieser Frage ist die Einschätzung des Betreuungsgerichts von Bedeutung (LG Konstanz, a.a.O.). Der<br />
Umstand, dass der Angeklagte ggf. eine (berufsmäßige) Betreuerin hat, die zur Rechtsanwaltschaft<br />
zugelassen ist, macht die Pflichtverteidigerbestellung nicht entbehrlich, da sich die Aufgaben eines<br />
Betreuers und die eines Verteidigers grundlegend unterscheiden (LG Konstanz, a.a.O.; vgl. OLG<br />
Nürnberg StraFo 2007, 418). Ein Betreuer mit dem Aufgabenkreis der Vertretung in Strafsachen kann<br />
beispielsweise Strafantrag für den Betreuten stellen oder als Beistand auftreten, die Strafverteidigung<br />
als solche ist jedoch nicht Aufgabe eines Betreuers (LG Konstanz, a.a.O.). Es liegt ein Fall der<br />
notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO vor, wenn der Angeklagte unter Betreuung steht<br />
(Aufgabenkreis ist die Aufenthaltsbestimmung, die Vermögenssorge, die Vertretung vor Behörden<br />
und Institutionen, Wohnungsangelegenheiten sowie die Geltendmachung von Ansprüchen nach<br />
SGB I–XII; vgl. LG Berlin, Beschl. v. 19.9.2018 – 502 Qs 102/18). Allein Analphabetismus soll aber nicht<br />
die Beiordnung gebieten (LG Hamburg, Beschl. v. 9.10.<strong>2019</strong> – 628 Qs 31/19).<br />
Für die Beurteilung der Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung im JGG-Verfahren gelten<br />
zunächst die Grundsätze, wie sie auch bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafverfahren<br />
gegen Erwachsene gelten (LG Aachen, Beschl. v. 26.3.<strong>2019</strong> – 100 Qs-703 Js 2131/18-12/19; LG Leipzig,<br />
Beschl. v. 9.5.2018 – 2 Qs 13/18). Jedoch bedarf § 140 Abs. 2 StPO einer jugendspezifischen<br />
Auslegung, die zu berücksichtigen hat, dass der Jugendliche oder Heranwachsende insb. i.d.R.<br />
unerfahren ist im Umgang mit staatlichen Instanzen, eingeschränkte sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten<br />
hat und dadurch in seiner Interessenwahrnehmung vor Gericht gehandicapt sein<br />
könnte (LG Leipzig, Beschl. v. 9.5.2018 – 2 Qs 13/18; OLG Schleswig StV 2009, 86). Das kann der Fall<br />
sein, wenn zum einen für eine effektive Rechtsverteidigung eine Akteneinsicht geboten ist, um sich<br />
mit dem von der Staatsanwaltschaft eingeholten schriftlichen Sachverständigengutachten auseinanderzusetzen,<br />
dessen Inhalt dem Angeklagten nicht bekannt ist (LG Leipzig, a.a.O., für Verfahren<br />
mit dem Vorwurf des Verstoßes gegen § 176 Abs. 4 Nr. 3 und Nr. 4 StGB n.F.). Kommt bei einem<br />
Jugendlichen die Anwendung des § 21 StGB in Betracht, wird ein Pflichtverteidiger beizuordnen sein<br />
(LG Aachen, Beschl. v. 26.3.<strong>2019</strong> – 100 Qs-703 Js 2131/18-12/19). Die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers<br />
soll entbehrlich sein, wenn sich eine 15-jährige Angeklagte in der Hauptverhandlung<br />
von ihrer Mutter unterstützen lassen kann (LG Koblenz, Beschl. v. 2.1.<strong>2019</strong> – 2 Qs 120/18,<br />
StRR 8/<strong>2019</strong>, 19). Einem Jugendlichen ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn zu erwarten ist,<br />
dass er sich aufgrund seines Stands im Klassenverband subjektiv in der Hauptverhandlung, in der<br />
seine Mitschüler als Zeugen zu hören sind, einer Vielzahl von Gegnern gegenüber sieht (LG Potsdam,<br />
Beschl. v. 18.9.<strong>2019</strong> – 22 Qs 21/19).<br />
• Bestellung: Nebenklage, Waffengleichheit u.a.<br />
Werden in einem Verfahren mit dem Vorwurf der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung<br />
Mitangeklagte und auch Nebenkläger anwaltlich vertreten, wird die Beiordnung eines Pflichtverteidigers<br />
zur Herstellung sog. Waffengleichheit geboten sein (LG Itzehoe, Beschl. v. 4.12.<strong>2019</strong> –<br />
2 Qs 130/18). Hat sich der Verletzte auf eigene Kosten oder im Wege von Prozesskostenhilfe eines<br />
anwaltlichen Beistands versichert, folgt aus diesem möglichen strukturellen Verteidigungsdefizit<br />
noch keine zwingende Beiordnungsnotwendigkeit. Notwendig, aber auch hinreichend ist eine an<br />
den Umständen des Einzelfalls orientierte gerichtliche Prüfung der Fähigkeit des Angeklagten zur<br />
Selbstverteidigung, wobei namentlich die rechtlichen Befugnisse des Verletzten einerseits und das<br />
Verteidigungsverhalten des Angeklagten sowie die Komplexität von Anklagevorwurf und Beweislage<br />
andererseits einzustellen sind (LG München I, Beschl. v. 29.1.<strong>2019</strong> – 28 Qs 5/19). Der bloße Umstand,<br />
dass ein Mitangeklagter einen Verteidiger hat, begründet die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO<br />
für sich allein nicht. In besonderen Konstellationen kann aber aus Gründen der Waffengleichheit die<br />
Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten sein, wenn der Mitangeklagte anwaltlich verteidigt<br />
wird (LG Duisburg, Beschl. v. 15.1.<strong>2019</strong> – 31 Qs 96/18).<br />
• Bestellung: Strafvollstreckungsverfahren<br />
Das Gebot fairer Verfahrensführung gebietet ggf. auch für das Vollstreckungsverfahren, einem Beschuldigten,<br />
der die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufbringen kann, in schwerwiegenden<br />
1308 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>