ZAP-2019-24
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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
<strong>24</strong> <strong>2019</strong><br />
18. Dezember<br />
31. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />
BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />
Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />
Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />
Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
Der Rechtsmarkt verändert sich – BGH öffnet die Tür für Rechtsdienstleistungen (S. 1275)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Neuregelungen im Dezember (S. 1277) • Bundesrat billigt zahlreiche Gesetze (S. 1278) • Empfehlungen<br />
zur Ausbildungsvergütung (S. 1281)<br />
Aufsätze<br />
Sartorius, Sanktionen im SGB II überwiegend verfassungswidrig (S. 1293)<br />
Burhoff, Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger (S. 1301)<br />
Ecker, Legal Tech – Grundlegendes, Tools und Arbeitshilfen (S. 1317)<br />
Eilnachrichten<br />
BGH: Verjährung der Notarhaftung (S. 1283)<br />
BGH: Einsichtnahme in Geschäftsverteilungsplan (S. 1287)<br />
BGH: Zur Untergrenze des Anteils syndikusanwaltlicher Tätigkeit (S. 1291)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 1275–1277<br />
Anwaltsmagazin – – 1277–1282<br />
Eilnachrichten 1 181–190 1283–1292<br />
Sartorius, Sanktionen im SGB II überwiegend verfassungswidrig<br />
18 1699–1706 1293–1300<br />
Burhoff, Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger<br />
(III/<strong>2019</strong>) 22 R 1143–1158 1301–1316<br />
Ecker, Legal Tech – Grundlegendes, Tools und Arbeitshilfen<br />
23 1185–1190 1317–1322<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F <strong>24</strong>) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />
Gelsenkirchen • RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert,<br />
Düsseldorf • Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald,<br />
Vallendar • RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA<br />
Dr. Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst,<br />
Hannover/Solingen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund<br />
• RA Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn •<br />
RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />
Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RiOLG a.D. Heinrich Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr.<br />
Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt, Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />
PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />
RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />
Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />
(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />
dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />
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Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich <strong>24</strong>5,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />
ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />
Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />
service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Peggy von Schoenebeck –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
Der Rechtsmarkt wird sich verändern – BGH öffnet die Tür für Rechtsdienstleistungen<br />
außerhalb der Anwaltschaft<br />
Am 27.11.<strong>2019</strong> hat der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs<br />
(VIII ZR 285/18) sein Urteil im<br />
Fall „wenigermiete.de“ verkündet. Zwar lagen zum<br />
Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags die schriftlichen<br />
Entscheidungsgründe noch nicht vor, doch<br />
die ausführliche Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs<br />
(BGH) erläutert schon jetzt sehr dezidiert,<br />
wie der BGH sein Urteil begründet.<br />
Es ist sicherlich nicht vermessen zu sagen, dass<br />
diese Entscheidung des BGH den Rechtsmarkt<br />
ganz erheblich verändern wird. Wieder einmal hat<br />
die Rechtsprechung der Anwaltschaft Grenzen<br />
aufgezeigt. Das Urteil steht m.E. in einer Reihe<br />
mit der wegweisenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />
(BVerfG) zu den Bastille-<br />
Beschlüssen sowie hinsichtlich der Aufhebung der<br />
Singularzulassung bei den Land- und Oberlandesgerichten,<br />
aber auch mit der Rechtsprechung des<br />
BGH zur Frage der Zusammenarbeit des Anwalts<br />
mit Ärzten und Apothekern. Diesmal betrifft die<br />
Änderung zwar „nur“ die Frage, was erlaubte<br />
Rechtsdienstleistungen sind, doch die Bedeutung<br />
des Urteils darf nicht unterschätzt werden.<br />
Der Hintergrund ist schnell erzählt: Die Lexfox<br />
GmbH, gegründet insb. von Rechtsanwälten, die<br />
über eine Inkassoerlaubnis gem. § 10 RDG verfügt,<br />
betreibt das Internetportal „wenigermiete.de“.<br />
Dort wird kostenlos ein „Online-Rechner“ („Mietpreisrechner“)<br />
zur Verfügung gestellt. Lexfox<br />
wirbt u.a. damit, Rechte von Wohnraummietern<br />
aus der Mietpreisbremse „ohne Kostenrisiko“<br />
durchzusetzen; eine Vergütung in Höhe eines<br />
Drittels „der ersparten Jahresmiete“ verlange sie<br />
nur im Falle des Erfolgs. Ein Wohnungsmieter<br />
beauftragte Lexfox mit der Geltendmachung und<br />
Durchsetzung seiner Forderungen und trat diese<br />
an Lexfox ab. Anschließend machte Lexfox als<br />
Klägerin – nach vorherigem Auskunftsverlangen<br />
und Rüge gem. § 556g Abs. 2 BGB – gegen die<br />
beklagte Wohnungsgesellschaft Ansprüche auf<br />
Rückzahlung überhöhter Miete geltend. Das LG<br />
Berlin hatte die Klage abgewiesen, die Revision<br />
hatte beim BGH jetzt Erfolg. Lexfox durfte die ihr<br />
abgetretene Forderung in Bezug auf die überhöhte<br />
Miete aufgrund der vorhandenen Inkassoerlaubnis<br />
geltend machen.<br />
Der BGH erklärt, dass die Tätigkeit von Lexfox von<br />
der Befugnis gedeckt ist, Inkassodienstleistungen<br />
gem. § 2 Abs. 2 S. 1 RDG – nämlich Forderungen<br />
einzuziehen – zu erbringen. Dies folgt in erster<br />
Linie bereits aus dem weiten Verständnis des<br />
Begriffs der Inkassodienstleistung, von dem der<br />
Gesetzgeber i.R.d. RDG – in Übereinstimmung<br />
mit der Rechtsprechung des BVerfG (NJW 2002,<br />
1190 und NJW-RR 2004, 1570) – ausgegangen ist.<br />
Der BGH öffnet damit – ganz bewusst und<br />
gewollt – den Markt für Rechtsdienstleistungen<br />
außerhalb der Anwaltschaft und sieht die Begründung<br />
noch geltend zu machender Forderungen<br />
als Inkassodienstleistung an.<br />
Der BGH begründet dies schon in der Pressemitteilung<br />
sehr ausführlich: Das RDG diene dazu,<br />
die Rechtsuchenden, den Rechtsverkehr und die<br />
Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen<br />
zu schützen (§ 1 Abs. 1 S. 2 RDG).<br />
Demgemäß bestimme § 3 RDG, dass die selbstständige<br />
Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen<br />
nur in dem Umfang zulässig sei,<br />
in dem sie durch das RDG oder andere Gesetze<br />
erlaubt werde. Eine solche Erlaubnis habe Lexfox.<br />
Der Gesetzgeber habe, so der Senat weiter, mit<br />
dem im Jahr 2008 in Kraft getretenen RDG, wie sich<br />
aus den Materialien des Gesetzgebungsverfahrens<br />
eindeutig ergebe, das Ziel einer grundlegenden,<br />
an den Gesichtspunkten der Deregulierung und<br />
Liberalisierung ausgerichteten Neugestaltung des<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1275
Kolumne<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Rechts der außergerichtlichen Rechtsdienstleistungen<br />
verfolgt. Dabei habe dem Gesetzgeber<br />
auch vor Augen gestanden, dass das Rechtsdienstleistungsgesetz<br />
die Entwicklung neuer Berufsbilder<br />
erlauben und damit, insb. mit Blick auf die nach der<br />
Einschätzung des Gesetzgebers zu erwartenden<br />
weiteren Entwicklungen des Rechtsberatungsmarkts,<br />
zukunftsfest ausgestaltet sein solle.<br />
Das BVerfG habe hervorgehoben, dass mit der<br />
Rechtsberatung insb. durch ein Inkassounternehmen<br />
grds. die umfassende und vollwertige substanzielle<br />
Beratung der Rechtsuchenden, wenn<br />
auch nur in einem bestimmten, im Gesetz genannten<br />
Sachbereich (wie der außergerichtlichen<br />
Einziehung von Forderungen durch Inkassounternehmen)<br />
gemeint sei. Setze das Inkassounternehmen<br />
die von ihm verlangte, überprüfte und für<br />
genügend befundene Sachkunde bei der Einziehung<br />
fremder oder zu Einziehungszwecken abgetretener<br />
Forderungen ein, so sei nicht erkennbar,<br />
dass damit eine Gefahr für den Rechtsuchenden<br />
oder den Rechtsverkehr verbunden sein könnte.<br />
Damit sei, so der BGH, eine eher großzügige<br />
Betrachtung geboten. Die auf der Grundlage dieser<br />
Maßstäbe vorgenommene Prüfung und Abwägung<br />
ergebe, dass hier die für den Mieter erbrachten<br />
Tätigkeiten der Klägerin – auch bei einer Gesamtwürdigung<br />
– (noch) als Inkassodienstleistung gem.<br />
§ 2 Abs. 2 S. 1 RDG anzusehen und deshalb von der<br />
erteilten Erlaubnis gedeckt seien.<br />
Dies gelte sowohl für den Einsatz des schon vor<br />
der eigentlichen Beauftragung durch den Kunden<br />
eingesetzten „Mietpreisrechners“ als auch für die<br />
Erhebung der Rüge gem. § 556g Abs. 2 BGB sowie<br />
das Feststellungsbegehren bezüglich der höchstzulässigen<br />
Miete. Sämtliche Maßnahmen hingen<br />
mit der Einziehung der Forderung, die den<br />
Gegenstand des „Inkassoauftrags“ bilde (nämlich<br />
der Rückforderung überzahlter Mieten), eng zusammen<br />
und dienten der Verwirklichung dieser<br />
Forderung. Sie seien deshalb insgesamt (noch) als<br />
Inkassodienstleistung und nicht als Rechtsdienstleistung<br />
bei der Abwehr von Ansprüchen oder<br />
bei der Vertragsgestaltung oder als allgemeine<br />
Rechtsberatung anzusehen, zu der eine Registrierung<br />
als Inkassodienstleister nicht berechtige.<br />
Dabei spiele es keine Rolle, dass die getroffene<br />
Vereinbarung, insb. das Erfolgshonorar und die<br />
Übernahme der Rechtsverfolgungskosten, Rechtsanwälten<br />
verboten wäre. Die gegenteilige Auffassung<br />
verkenne, dass es sich bei den registrierten<br />
Inkassodienstleistern – im Gegensatz zu Rechtsanwälten<br />
– nicht um Organe der Rechtspflege<br />
handele und der Gesetzgeber davon abgesehen hat,<br />
die registrierten Personen als einen rechtsanwaltsähnlichen<br />
Rechtsdienstleistungsberuf unterhalb der<br />
Rechtsanwaltschaft einzurichten und/oder die für<br />
Rechtsanwälte geltenden strengen berufsrechtlichen<br />
Pflichten und Aufsichtsmaßnahmen uneingeschränkt<br />
auf diese Personen zu übertragen.<br />
Auch führe die zwischen dem Mieter und der<br />
Klägerin getroffene Vereinbarung eines Erfolgshonorars<br />
und einer Kostenübernahme nicht zu<br />
einer Interessenkollision i.S.d. § 4 RDG und einer<br />
daraus folgenden Unzulässigkeit der von der Klägerin<br />
für den Mieter erbrachten Inkassodienstleistungen.<br />
Bei der vereinbarten Kostenübernahme<br />
handele es sich schon nicht um eine „andere<br />
Leistungspflicht“ der Klägerin i.S.d. § 4 RDG, sondern<br />
vielmehr um einen Bestandteil der von ihr für den<br />
Mieter zu erbringenden Inkassodienstleistung. Im<br />
Übrigen bewirke das vorliegend vereinbarte Erfolgshonorar,<br />
das sich nach der Höhe der durch ihre<br />
Tätigkeit ersparten Miete richtet, ein beträchtliches<br />
eigenes Interesse der Klägerin an einer möglichst<br />
erfolgreichen Durchsetzung der Ansprüche des Mieters.<br />
Der damit – jedenfalls weitgehend – vorhandene<br />
(prinzipielle) Gleichlauf der Interessen der<br />
Klägerin und des Mieters stehe der Annahme einer<br />
Interessenkollision i.S.d. § 4 RDG entgegen.<br />
Was bedeutet diese Entscheidung für die Anwaltschaft?<br />
1. Die Stellung des Anwalts als Organ der Rechtspflege<br />
legt ihm ein weiteres Sonderopfer auf. Er<br />
muss nicht nur günstig Verfahrens- und Prozesskostenhilfe<br />
anbieten, sondern er darf auch<br />
weiterhin kein Erfolgshonorar vereinbaren. Die<br />
Begründung des BGH an dieser Stelle ist von<br />
einer großen Skepsis gegenüber der Anwaltschaft<br />
geprägt. Ist der Anwalt nicht an der<br />
erfolgreichen Durchsetzung der Ansprüche seiner<br />
Mandanten interessiert?<br />
2. Der Begriff der Inkassodienstleistung wird sehr<br />
weit gefasst. Rechtsanwälte müssen jetzt sehr<br />
genau überlegen, ob sie nicht eigene, nichtanwaltliche<br />
Gesellschaften gründen, um bestimmte<br />
Massenverfahren wirtschaftlich sinnvoll<br />
durchführen zu können.<br />
3. Dies betrifft auch andere Angebote, wie etwa<br />
den Vertragsgenerator smartlaw.de, den zwar<br />
das LG Köln (Urt. v. 8.10.<strong>2019</strong> – 33 O 35/19,<br />
1276 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Berufung OLG Köln – 6 U 263/19) noch<br />
untersagt hatte, weil er u.a. verbotene Rechtsdienstleistungen<br />
anbiete, was aber nach dem<br />
Urteil des BGH vom 27.11.<strong>2019</strong> kaum mehr<br />
haltbar sein dürfte.<br />
4. Die Anwaltschaft muss jetzt ihre Hausaufgaben<br />
machen: Es muss dringend überlegt<br />
werden, ob nicht in bestimmten Grenzen ein<br />
Erfolgshonorar vereinbart werden darf, denn<br />
die Anwaltschaft muss auch bei rechtlich<br />
schwierigen Alltagsfällen konkurrenzfähig bleiben.<br />
Der Verbraucher/Mandant ist bereit, für<br />
einen Erfolg mehr als das übliche Anwaltshonorar<br />
zu bezahlen.<br />
5. Der Widerstand vieler Vertreter der Anwaltschaft<br />
gegen die Öffnung der Anwaltsgesellschaften<br />
für Sachverständige, IT-Experten etc.<br />
muss kommen, sonst wird in andere Gesellschaftsformen<br />
ausgewichen werden.<br />
6. Und auch die Frage der Beteiligung fremden<br />
Kapitals an Anwaltsgesellschaften darf nicht<br />
mehr so verteufelt werden wie bisher geschehen.<br />
Die Lexfox-Entscheidung zeigt, wie Umgehungen,<br />
geschickt gestaltet, möglich sind.<br />
Die Anwaltschaft muss sich also dringend an die<br />
Arbeit machen!<br />
Rechtsanwalt MARTIN W. HUFF, Köln<br />
Anwaltsmagazin<br />
Neuregelungen im Dezember<br />
In den vergangenen Tagen ist wieder eine Reihe<br />
von Neuregelungen in Kraft getreten. Sie betreffen<br />
vorwiegend die Bereiche Verbraucherschutz<br />
und Arbeitsrecht. Im Einzelnen:<br />
• Verschärfungen bei Lebensmittelkontrollen<br />
Seit dem 14. Dezember ist die neue EU-Kontroll-<br />
Verordnung (VO [EU] 2017/625) anzuwenden, die<br />
die grundsätzlichen Anforderungen an den Aufbau<br />
und die Durchführung der amtlichen Lebensmittelund<br />
Futtermittelkontrollen innerhalb der EU für alle<br />
Mitgliedstaaten verbindlich festlegt und die bisherige<br />
Verordnung (EG) Nr. 882/2004 ablöst. Die<br />
neuen Regeln schaffen ein umfassendes und einheitliches<br />
Kontrollsystem für die gesamte Lebensmittelversorgungskette.<br />
In allen Bereichen werden<br />
unangekündigte und risikoorientierte Kontrollen<br />
durchgeführt, die sich neben der Lebensmittelsicherheit<br />
künftig auch auf betrügerische Praktiken<br />
konzentrieren. Hinweisgeber (Whistleblower), die<br />
auf Missstände hinweisen, sind künftig besser vor<br />
Diskriminierung geschützt.<br />
• Ausweitung der Schlichtung auf die Reisebranche<br />
Die vom Bundesministerium der Justiz und für<br />
Verbraucherschutz (BMJV) geförderte Schlichtungsstelle<br />
für den öffentlichen Personenverkehr<br />
(söp) weitet ihr Schlichtungsangebot auf die<br />
Reisebranche aus. Seit dem 1. Dezember können<br />
erstmalig private Kunden der Online-Buchungsplattformen<br />
Evaneos, ebookers.com, expedia.de, HolidayCheck,<br />
journaway und weg.de bei nicht gelösten<br />
Streitigkeiten bei der söp einen (kostenlosen)<br />
Schlichtungsantrag stellen.<br />
• Nachunternehmerhaftung im Paketgeschäft<br />
Bereits am 23. November ist das Paketboten-<br />
Schutz-Gesetz in Kraft getreten, das die Arbeit<br />
der Paketboten sozial besser absichern soll. Künftig<br />
sind Generalunternehmer, insb. die großen Paketdienstleister,<br />
verpflichtet, Sozialabgaben für säumige<br />
Subunternehmer nachzuzahlen. Damit gilt die<br />
Nachunternehmerhaftung, die es bereits in der<br />
Bau- und in der Fleischbranche gibt, nun auch im<br />
Paketgeschäft. Das neue Gesetz sieht vor, dass<br />
Generalunternehmer sich von der Haftung befreien<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1277
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
können, indem sie von ihren Nachunternehmern<br />
Unbedenklichkeitsbescheinigungen einfordern.<br />
• Bessere Entlohnung in der Pflege<br />
Bereits am 29. November ist das Gesetz für bessere<br />
Löhne in der Pflege in Kraft getreten, das zu<br />
einer besseren Bezahlung von Pflegekräften führen<br />
soll. Dazu sieht das Gesetz zwei Möglichkeiten<br />
vor: Entweder einen flächendeckenden Tarifvertrag,<br />
der sich auf alle Beschäftigten und Arbeitgeber<br />
in der Pflege erstreckt, oder die Anhebung<br />
der Bezahlung in der Pflege über höhere Lohnuntergrenzen.<br />
• Online-Ausweisfunktion<br />
Seit dem 1. November ist eine weitere Stufe bei der<br />
Nutzung der Online-Funktion von Personalausweisen<br />
in Kraft. Schon bisher bot die europaweit<br />
anerkannte Online-Ausweisfunktion (eID-Funktion;<br />
eID = elektronische Identität) des Personalausweises<br />
eine sichere Online-Identifizierung bei<br />
Internetdienstleistungen. Allerdings waren bislang<br />
noch Unionsbürger und im Ausland lebende Deutsche<br />
davon ausgenommen. Auch sie können diese<br />
Funktion nun nutzen, u.a. für Bürgerdienste der<br />
Verwaltung.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Bundesrat billigt zahlreiche Gesetze<br />
In seiner vorletzten Sitzung vor dem Jahreswechsel<br />
hat der Bundesrat am 29.11.<strong>2019</strong> noch<br />
zahlreiche Gesetzesvorhaben gebilligt, einige aber<br />
auch an den Vermittlungsausschuss überwiesen.<br />
Insgesamt 30 Gesetze aus dem Bundestag erhielten<br />
die Zustimmung der Länder, angehalten<br />
wurde allerdings der gesamte steuerrechtliche Teil<br />
des sog. Klimapakets. Ohne Beanstandung passierten<br />
hingegen das Bundes-Klimaschutzgesetz,<br />
das Brennstoffemissionshandelsgesetz und das<br />
Luftverkehrsteuergesetz den Bundesrat. Ebenso<br />
gebilligt wurden weitere wichtige Vorhaben der<br />
Regierungskoalition: die Angehörigen-Entlastung<br />
vom Elternunterhalt, die Reform des Sozialen<br />
Entschädigungsrechts im neuen SGB XIV, die<br />
Förderung der Elektromobilität im Jahressteuergesetz<br />
und die weitgehende Abschaffung des<br />
Solidaritätszuschlags.<br />
In Kraft treten können zudem die Vorhaben zur<br />
Reform der beruflichen Bildung, zur – besonders<br />
von der Anwaltschaft kritisierten – Modernisierung<br />
des Strafverfahrens, zur Digitalen Versorgung,<br />
zur Beteiligung des Bundes an den Integrationskosten<br />
für Flüchtlinge, zur Umsetzung<br />
der EU-Geldwäscherichtlinie und der EU-Aktionärsrechterichtlinie<br />
sowie die Änderungen im<br />
Straßenverkehrsrecht.<br />
Keine Einwendungen hat der Bundesrat auch<br />
gegen Regierungspläne zur Entlastung für Betriebsrenten<br />
von der sog. Doppelverbeitragung, zu<br />
Nachbesserungen an der Mietpreisbremse und<br />
zur Wiedereinführung des Meistertitels für bestimmte<br />
Handwerksberufe. Ausführlich nahmen<br />
die Länder Stellung zu noch laufenden Vorhaben<br />
für einen fairen Wettbewerb in der gesetzlichen<br />
Krankenversicherung und zur Verteilung der Maklerkosten<br />
bei Immobilienverkäufen.<br />
Zusätzlich beschloss der Bundesrat in dieser Sitzung,<br />
vier eigene Initiativen beim Bundestag einzubringen:<br />
Vorschläge zum besseren Schutz von<br />
Politikern vor Bedrohungen im Internet, zur<br />
gezielteren Ahndung antisemitischer Straftaten,<br />
zur Bekämpfung von Mietwucher und zum beschleunigten<br />
Bau von Flüchtlingsunterkünften.<br />
Handlungsbedarf sieht die Ländervertretung<br />
auch bei der Umsetzung der europäischen Datenschutzgrundverordnung<br />
(EU-DGSVO), dem<br />
Schutz von Gesundheitsdaten, der Stärkung der<br />
medizinischen Rehabilitation und hochwertigen<br />
flächendeckenden Krankenhausversorgung sowie<br />
bei der Geburtshilfe. Hierzu beschloss er jeweils<br />
Entschließungen, die sich an die Bundesregierung<br />
richten.<br />
Neu vorgestellt wurden einzelne Landesanträge<br />
zum Kinderschutz, zum Online-Register im Gesellschaftsrecht,<br />
zum vereinfachten Bauen im<br />
Außenbereich, zum Verbot von Silvester-Feuerwerk<br />
sowie zu Verbesserungen für Windkraftprojekte.<br />
[Quelle: Bundesrat]<br />
BGH beziffert erstmals den Anteil<br />
anwaltlicher Tätigkeit bei Syndizi<br />
Wann genau das Arbeitsverhältnis eines Unternehmensjuristen<br />
durch seine anwaltliche Tätigkeit<br />
geprägt ist, war bisher umstritten. Der Anwaltssenat<br />
des BGH hat jetzt eine konkrete Zahl<br />
genannt: Nach Auffassung der Richter liegt ein<br />
Anteil von 65 % anwaltlicher Tätigkeit am unteren<br />
Rand des für eine Zulassung als Syndikusrechts-<br />
1278 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
anwalt Notwendigen (Urt. v. 30.9.<strong>2019</strong> – AnwZ<br />
[Brfg] 63/17; s. dazu <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 744/<strong>2019</strong> [in dieser<br />
Ausgabe]).<br />
Der BGH hatte über den Fall eines Personalleiters<br />
bei einer GmbH & Co. KG zu befinden. Der<br />
leitende Angestellte war auf Antrag hin zunächst<br />
als Syndikusrechtsanwalt zugelassen worden.<br />
Hiergegen hatte die Deutsche Rentenversicherung<br />
Bund geklagt: Es fehle an der Befugnis, für<br />
seinen Arbeitgeber nach außen verantwortlich<br />
aufzutreten und an einer anwaltlichen Prägung<br />
des Arbeitsverhältnisses. Dieser Argumentation<br />
folgte auch der AGH Stuttgart und hob den<br />
Zulassungsbescheid wieder auf.<br />
Vor dem Anwaltssenat des BGH hatte die AGH-<br />
Entscheidung allerdings keinen Bestand. Der Senat<br />
billigte die seinerzeitige Zulassung des Syndikusanwalts,<br />
machte zugleich aber auch klare Aussagen<br />
zu den Voraussetzungen einer solchen<br />
Zulassung. Bislang hatte er es immer offengelassen,<br />
wie hoch der Anteil der anwaltlichen Tätigkeiten<br />
im Beschäftigungsverhältnis sein muss, um<br />
es i.S.d. § 46 BRAO zu „prägen“. Dementsprechend<br />
sind bisher in Rspr. und Literatur unterschiedliche<br />
Angaben, wie etwa 50 %, 60 % oder auch 70 % zu<br />
finden. Nun hat der BGH sich festgelegt: Ein Anteil<br />
von 65 % anwaltlicher Tätigkeit liegt am unteren<br />
Rand des für eine anwaltliche Prägung des<br />
Arbeitsverhältnisses Erforderlichen. Sie muss den<br />
Kern oder Schwerpunkt der Tätigkeit darstellen,<br />
mithin das Arbeitsverhältnis beherrschen.<br />
Noch eine weitere bisher umstrittene Frage hat<br />
der BGH in diesem Zuge geklärt. Es geht dabei um<br />
die in § 46 Abs. 3 BRAO genannte Befugnis, für den<br />
Arbeitgeber „nach außen hin verantwortlich aufzutreten“.<br />
Hier war bislang streitig, ob damit eine<br />
Gesamtvertretungsbefugnis gemeint ist. Das hat<br />
der Anwaltssenat jetzt verneint. Für dieses Tatbestandsmerkmal<br />
– so interpretiert der Senat die<br />
Vorschrift – sei weder Alleinvertretungs- noch<br />
Gesamtvertretungsbefugnis erforderlich. Die Befugnis,<br />
nach außen verantwortlich aufzutreten,<br />
könne sich im Einzelfall auch aus der selbstständigen<br />
Führung von Verhandlungen oder der<br />
Wahrnehmung vergleichbarer Tätigkeiten ergeben.<br />
Dies zeige sich an einem Vergleich des im<br />
Einzelfall ohne förmliche Vertretungsbefugnis tätigen<br />
Syndikusrechtsanwalts mit einem externen<br />
Rechtsanwalt, der mit der Führung außergerichtlicher<br />
Verhandlungen beauftragt werde. Auch letzterer<br />
werde regelmäßig seine Verhandlungsergebnisse<br />
vor Abschluss verbindlicher Vereinbarungen<br />
dem Auftraggeber vorstellen und sich dessen Zustimmung<br />
versichern. Es liege bei ihm im Ergebnis<br />
also nicht anders als bei einem angestellten<br />
Syndikusrechtsanwalt.<br />
[Quelle: BGH]<br />
Kritik an Mieterschutz-Urteil<br />
des BGH<br />
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat kürzlich in<br />
einem auch in der allgemeinen Presse stark<br />
beachteten Urteil entschieden, dass ein Berliner<br />
Legal-Tech-Anbieter Dienstleistungen für Mieter<br />
erbringen darf, ohne gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz<br />
(RDG) zu verstoßen („wenigermiete“,<br />
Urt. v. 27.11.<strong>2019</strong> – VIII ZR 285/18, s. dazu<br />
auch HUFF, Kolumne in <strong>ZAP</strong> <strong>24</strong>/<strong>2019</strong>, S. 1275 ff. [in<br />
dieser Ausgabe]).<br />
Der Fall betraf eine GmbH mit Sitz in Berlin<br />
(„Lexfox“), die beim KG Berlin als Rechtsdienstleisterin<br />
für Inkassodienstleistungen registriert<br />
ist (§ 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG). Auf der von<br />
ihr betriebenen Internetseite www.wenigermiete.de<br />
stellt sie einen für Besucher kostenlos nutzbaren<br />
Online-Rechner („Mietpreisrechner“) zur Verfügung.<br />
Unter anderem wirbt sie damit, Rechte<br />
von Wohnraummietern aus der sog. Mietpreisbremse<br />
ohne Kostenrisiko durchzusetzen; eine<br />
Vergütung in Höhe eines Drittels der ersparten<br />
Jahresmiete verlange sie nur im Falle des Erfolgs.<br />
Im vorliegenden Fall beauftragte ein Wohnungsmieter<br />
aus Berlin die GmbH mit der Geltendmachung<br />
und Durchsetzung seiner Forderungen und<br />
etwaiger Feststellungsbegehren im Zusammenhang<br />
mit der Mietpreisbremse (§ 556d BGB) und<br />
trat seine diesbezüglichen Forderungen an das<br />
Unternehmen ab. Dieses machte anschließend –<br />
nach vorherigem Auskunftsverlangen und Rüge<br />
gem. § 556g Abs. 2 BGB – gegen die beklagte<br />
Wohnungsgesellschaft Ansprüche auf Rückzahlung<br />
überhöhter Miete sowie auf Zahlung von<br />
Rechtsverfolgungskosten geltend. Vor dem LG<br />
Berlin hatte das Legal-Tech-Unternehmen damit<br />
im Ergebnis keinen Erfolg, wohl aber jetzt vor<br />
dem BGH.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1279
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Der u.a. für das Wohnraummietrecht zuständige<br />
VIII. BGH-Zivilsenat entschied, dass die hier zu<br />
beurteilende Tätigkeit der als Inkassodienstleisterin<br />
nach dem RDG registrierten Klägerin (noch)<br />
von der Befugnis gedeckt ist, Inkassodienstleistungen<br />
gem. § 2 Abs. 2 S. 1 RDG – nämlich<br />
Forderungen einzuziehen – zu erbringen. Dies<br />
folge in erster Linie bereits aus dem – eher weiten<br />
– Verständnis des Begriffs der Inkassodienstleistung,<br />
von dem der Gesetzgeber seinerzeit ausgegangen<br />
sei.<br />
Die Tätigkeit des Legal-Tech-Unternehmens sei<br />
insgesamt noch als Inkassodienstleistung und nicht<br />
als eine Rechtsdienstleistung bei der Abwehr von<br />
Ansprüchen oder bei der Vertragsgestaltung und<br />
allgemeinen Rechtsberatung anzusehen, zu der<br />
eine Registrierung als Inkassodienstleister nicht<br />
berechtige. Deshalb spiele auch der dem Unternehmen<br />
gemachte Vorwurf, es erhebe ein unzulässiges<br />
„Erfolgshonorar“, keine Rolle. Letztere<br />
Auffassung verkenne nämlich, dass es sich bei den<br />
registrierten Inkassodienstleistern – im Gegensatz<br />
zu Rechtsanwälten – nicht um Organe der Rechtspflege<br />
handele und der Gesetzgeber des Rechtsdienstleistungsgesetzes<br />
davon abgesehen habe, die<br />
registrierten Personen i.S.d. § 10 Abs. 1 S. 1 RDG,<br />
insb. die Inkassodienstleister, als einen rechtsanwaltsähnlichen<br />
Rechtsdienstleistungsberuf unterhalb<br />
der Rechtsanwaltschaft einzurichten und/<br />
oder die für Rechtsanwälte geltenden strengen<br />
berufsrechtlichen Pflichten und Aufsichtsmaßnahmen<br />
uneingeschränkt auf diese Personen zu übertragen.<br />
In einer der ersten Stellungnahmen zu der<br />
höchstrichterlichen Entscheidung hat der Deutsche<br />
Anwaltverein kritisch Stellung genommen:<br />
Der Senat habe nicht erwogen, dass es gerade im<br />
Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher<br />
liege, kompetenten, unabhängigen und verschwiegenen<br />
Rechtsrat durch die Anwaltschaft<br />
zu erhalten. Nicht bedacht habe der BGH zudem,<br />
dass die Anwaltschaft besonderen Berufspflichten<br />
unterworfen sei. Sie leiste mit der Verpflichtung<br />
zur Übernahme von Beratungshilfemandaten<br />
ein „Sonderopfer“ für die Allgemeinheit. Das<br />
Beratungshilfesystem gerate durch die jetzige<br />
Entscheidung in eine „Schieflage“. Entweder müssten<br />
auch Legal-Tech-Anbieter verpflichtet werden,<br />
Beratungshilfe zu leisten oder die Anwaltschaft<br />
müsse von diesem „Sonderopfer“ künftig<br />
befreit werden.<br />
[Quellen: BGH/DAV]<br />
Experten geteilter Meinung über die<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
Die Bundesregierung hat kürzlich den Entwurf<br />
eines Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens<br />
vorgelegt, das vom Bundestag am<br />
15.11.<strong>2019</strong> beschlossen wurde und am 29.11.<strong>2019</strong><br />
nun auch vom Bundesrat (BR) bestätigt wurde<br />
(vgl. BR-Drucks 602/<strong>2019</strong> – https://www.bundes<br />
rat.de/bv.html?id=0602-19; zum Vorhaben zuletzt<br />
<strong>ZAP</strong>-Anwaltsmagazin 21/<strong>2019</strong>, S. 1092). Unter<br />
anderem sollen damit missbräuchlich gestellte<br />
Befangenheits- und Beweisanträge unter erleichterten<br />
Voraussetzungen abgelehnt und die Nebenklagevertretung<br />
gebündelt werden können. In<br />
Gerichtsverhandlungen soll das Verbot eingeführt<br />
werden, das Gesicht ganz oder teilweise zu<br />
verdecken. Zur Verfolgung des Wohnungseinbruchdiebstahls<br />
soll die Telekommunikationsüberwachung<br />
erweitert werden. Auch sollen die<br />
Möglichkeiten der DNA-Analyse im Strafverfahren<br />
noch weitreichender genutzt werden können.<br />
Der Opferschutz im Strafverfahren wird weiter<br />
gestärkt. Der Entwurf sieht dazu u.a. vor, die<br />
audiovisuelle Aufzeichnung von richterlichen Vernehmungen<br />
im Ermittlungsverfahren von zur<br />
Tatzeit erwachsenen Opfern von Sexualstraftaten<br />
verpflichtend vorzuschreiben. Zwischenzeitlich<br />
hat auch der Bundesrat seine Zustimmung erteilt.<br />
Zu dem Vorhaben fand am 11.11.<strong>2019</strong> zuvor noch<br />
eine Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestags<br />
statt. Hier wurde ein geteiltes Echo<br />
seitens der geladenen Experten deutlich. Während<br />
die eingeladenen Richter die Dringlichkeit<br />
der im Entwurf vorgesehenen Maßnahmen betonten,<br />
lehnten die Verteidiger die Pläne weitgehend<br />
ab.<br />
So begrüßte etwa der Vorsitzende des Deutschen<br />
Richterbunds, JENS GNISA, die geplante Reform. Die<br />
gerichtliche Praxis warte darauf seit Jahren, denn<br />
Strafverfahren dauerten immer länger. 86 % der<br />
Richter und Staatsanwälte sprächen sich für die<br />
geplanten Reformen aus. Mit dem Entwurf werde<br />
versucht, nur Auswüchse zu kappen, ohne Beschuldigtenrechte<br />
im Übermaß zu beschränken.<br />
Die vier zentralen Regelungen zu Befangenheitsanträgen,<br />
Besetzungsrügen, zum Beweisantragsrecht<br />
und zur Bündelung der Nebenklage seien<br />
ebenso wie die weiteren Regelungen im Grundsatz<br />
ausgesprochen sinnvolle Ergänzungen.<br />
1280 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Ein geladener BGH-Richter verwies in seiner<br />
Stellungnahme darauf, dass erstinstanzliche Strafverfahren<br />
vor den Landgerichten ungeachtet überschaubarer<br />
Tatvorwürfe und nicht überaus komplizierter<br />
Beweislage immer wieder unverständlich<br />
lange dauerten. Gesetzliche Änderungen wie die<br />
vorgeschlagenen reichten zur Behebung dieses<br />
Missstands allerdings nicht aus. So müsse dringend<br />
in die Fortbildung der Vorsitzenden Richterinnen<br />
und Richter an den Landgerichten zum Thema<br />
effektive Verhandlungsführung investiert werden.<br />
Demgegenüber erklärte der Vertreter der Vereinigung<br />
Berliner Strafverteidiger, der Entwurf wolle<br />
keine Reform und Modernisierung des Strafverfahrens.<br />
Es gehe stattdessen darum, Formen des<br />
Strafprozessrechts abzuschleifen, die vermeintlich<br />
einem schnellen Verfahrensabschluss hinderlich<br />
seien. Dadurch wachse die Gefahr von Fehlurteilen.<br />
Die verhängnisvollen Tendenzen des Entwurfs<br />
zeigten sich besonders an den Regelungen zum<br />
Beweisantragsrecht, zur Besetzungsrüge und zum<br />
Befangenheitsrecht.<br />
Ähnlich kritisch sah dies ein Professor von der<br />
Goethe-Universität Frankfurt a.M. Er verwies auf<br />
die von ihm mitverantwortete Stellungnahme des<br />
Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer.<br />
Darin heißt es, der eine Modernisierung<br />
des Strafverfahrens beanspruchende Gesetzentwurf<br />
enthalte ein Sammelsurium von Gesetzesänderungen,<br />
die einen übergreifenden rechtspolitischen<br />
Zweck vermissen ließen. Neben durchaus<br />
einsichtigen Regelungen, wie etwa der Einführung<br />
eines bundesweit geltenden Gerichtsdolmetschergesetzes,<br />
gebe es problematische Änderungen<br />
hinsichtlich der Besetzungsrüge, des Beweisantrags-<br />
und des Befangenheitsrechts. Sie enthielten<br />
gravierende Einschnitte in Verfahrensgrundrechte<br />
des Beschuldigten ohne Mehrwert für eine Beschleunigung<br />
von Strafverfahren. Auch kritisierte<br />
er die Erweiterung der Telekommunikationsüberwachung<br />
zur Verfolgung des Einbruchsdiebstahls<br />
und die Erweiterung der DNA-Analysemöglichkeiten.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
Empfehlungen zur Ausbildungsvergütung<br />
Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hat im<br />
November eine aktualisierte Übersicht über die<br />
von den regionalen Rechtsanwaltskammern<br />
(RAK) empfohlene Ausbildungsvergütung für angehende<br />
Rechtsanwalts- bzw. Rechtsanwaltsund<br />
Notarfachangestellte veröffentlicht. Die Tabelle<br />
enthält Empfehlungen für das erste, zweite<br />
und dritte Ausbildungsjahr.<br />
Die neue Übersicht zeigt, dass die empfohlene<br />
Vergütung in allen Kammerbezirken im Vergleich<br />
zum Vorjahr deutlich angehoben wurde; durchschnittlich<br />
betrug die Erhöhung 13,8 % für das<br />
erste, 10,7 % für das zweite und 9,8 % für das dritte<br />
Ausbildungsjahr. Die Empfehlungen der einzelnen<br />
Kammern sind aber weiterhin regional stark unterschiedlich.<br />
So werden in einigen Bezirken Empfehlungen<br />
von 800 € oder mehr für das erste<br />
Ausbildungsjahr ausgesprochen, wie etwa in Freiburg,<br />
Hamburg oder Karlsruhe, wohingegen andere<br />
Bezirke noch bei 450 € oder weniger liegen,<br />
wie etwa Bamberg und Saarbrücken. Im Schnitt<br />
liegen die Empfehlungen bundesweit bei 632,41 €<br />
(Vorjahr 555,74 €) für das erste, 726,73 € (Vorjahr<br />
656,20 €) für das zweite und 820,20 € (Vorjahr<br />
747 €) für das dritte Ausbildungsjahr.<br />
Die Empfehlungen der Kammern haben keine Gesetzeskraft.<br />
Sie haben jedoch insoweit verbindlichen<br />
Charakter, als dass die Arbeitgeber nach<br />
dem Berufsbildungsgesetz verpflichtet sind, die<br />
Azubis „angemessen“ zu vergüten. Und als unangemessen<br />
gilt es nach der Rechtsprechung, wenn<br />
die Vergütungsempfehlungen der Kammern, die<br />
nach § 71 BBiG für die Berufsbildung der Fachangestellten<br />
zuständig sind, um mehr als 20 %<br />
unterschritten werden. Ausbildungsverträge mit<br />
unangemessener Vergütung werden nicht in das<br />
Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse<br />
eingetragen, die Auszubildenden können dann<br />
nicht zur Abschlussprüfung zugelassen werden.<br />
Die jüngsten Empfehlungen geben den Stand von<br />
September <strong>2019</strong> wieder. Noch unklar ist, wie sich<br />
das vom Bundestag beschlossene Gesetz zu einer<br />
Mindestausbildungsvergütung, das im Januar<br />
nächsten Jahres in Kraft treten soll und dann für<br />
alle Ausbildungsverhältnisse gelten wird, die ab<br />
Beginn des neuen Jahres geschlossen werden, auf<br />
die Höhe künftiger Ausbildungsvergütungen auswirken<br />
wird. Der Gesetzentwurf, dem inzwischen<br />
auch der Bundesrat am 29. November zugestimmt<br />
hat, sieht u.a. eine Mindestvergütung<br />
von 515 € für das erste Ausbildungsjahr vor. Die<br />
im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens auch von<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1281
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
der BRAK vorgebrachte Anregung, der Gesetzgeber<br />
möge durch ein Verbot der Unterschreitung<br />
bisheriger Mindeststandards verhindern,<br />
dass die verhältnismäßig niedrige gesetzliche<br />
Mindestvergütung in den Kammerbezirken, in<br />
denen derzeit deutlich besser bezahlt wird, eine<br />
Entwicklung zu wieder niedrigeren Vergütungen<br />
auslöst, ist von den Parlamentariern nicht aufgegriffen<br />
worden.<br />
[Red.]<br />
„Anwalt <strong>2019</strong>“ –Diskussion zur<br />
digitalen Zukunft<br />
Am 11.11.<strong>2019</strong> fand die Konferenz „Anwalt <strong>2019</strong> –<br />
für die kleinere bis mittlere Kanzlei“ in München<br />
statt – veranstaltet vom Bayerischen Anwaltverband.<br />
Die Veranstaltung unter dem Thema<br />
„Begleitung der digitalen Transformation in den<br />
Kanzleialltag“ bot ein breites Spektrum an Themen<br />
unter der Moderation von RA MICHAEL DUDEK,<br />
Präsident des Bayerischen Anwaltverbands: vom<br />
gegenwärtigen Stand des elektronischen Rechtsverkehrs<br />
in Bayern über Einblicke in aktuelle<br />
Trends und Themen in Sachen Legal Tech bis hin<br />
zu neuen Formen des Denkens in der Anwaltschaft<br />
am Beispiel von Legal Design.<br />
Einig waren sich Teilnehmer und Referenten<br />
darüber, dass über kurz oder lang kein Weg<br />
mehr an der Digitalisierung in der Anwaltschaft<br />
vorbeiführen wird. Nach einem von Dr. CHRISTINA-<br />
MARIA LEEB – einer der „Woman of Legal Tech 2018“ –<br />
vorgestellten Ergebnis der JUVE Legal-Tech-Umfrage<br />
<strong>2019</strong>, sind 65 % der Befragten bereits jetzt<br />
der Meinung, dass sie ohne Investition in Legal<br />
Tech in Zukunft nicht mehr wettbewerbsfähig<br />
sein können. Die Entwicklungen des elektronischen<br />
Rechtsverkehrs sprechen ebenfalls für<br />
einen solchen Verlauf: Die Zahl der elektronischen<br />
Eingänge bei Gerichten in Bayern hat sich laut<br />
HEINZ-PETER MAIR, Abteilungsleiter des Bayrischen<br />
Justizministeriums, exemplarisch für eine Woche<br />
im Vergleich zum Vorjahr, um über 70 % gesteigert.<br />
Prof. Dr. THOMAS PETRI stellte als weiteres<br />
Thema Verhaltensstrategien bei behördlichen<br />
Datenerhebungen, insb. mit Blick auf die Bestimmungen<br />
der DSGVO vor.<br />
Ein Vorrücken des für das juristische Umfeld neuen<br />
Innovationsansatzes Legal Design, bei dem der<br />
Mandant bei der Lösung von Problemen und<br />
Entwicklung neuer Ideen im Fokus steht, zeigt<br />
weiteres Umdenken. Mithilfe von Legal Design<br />
können nach ZOË ANDREAE, ebenfalls „Woman of Legal<br />
Tech 2018“, z.B. juristische Prozesse und Dokumente<br />
vereinfacht und verständlicher für den<br />
Kunden gestaltet werden. Damit sollen neue<br />
Angebote geschaffen sowie die Mandantenbeziehung<br />
verbessert werden. Produktvorstellungen<br />
verschiedener Kanzleisoftware zeigten ganz praxisnahe<br />
„Wege der digitalen Transformation im Kanzleialltag“<br />
auf.<br />
[Red.]<br />
Personalia<br />
Anfang November ist der Vorsitzende Richter am<br />
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) Prof. Dr.<br />
RÜDIGER RUBEL nach mehr als 23-jähriger Tätigkeit<br />
am BVerwG in den Ruhestand getreten. Herr<br />
Prof. Dr. RUBEL kam 1996 zum BVerwG, wo er in<br />
verschiedenen Revisionssenaten mit einer Vielzahl<br />
von Rechtsgebieten befasst wurde. Dazu zählen<br />
insb. das Straßen- und Wegerecht, das Recht der<br />
Anlegung von Schienenwegen, des Baus von<br />
Wasserstraßen, der Anlegung und des Betriebs<br />
von Flugplätzen, das Eisenbahnkreuzungsrecht<br />
sowie das Erschließungsbeitrags- und Straßenbaubeitragsrecht.<br />
Im November 2008 übernahm<br />
Prof. Dr. RUBEL den Vorsitz des 4. Revisionssenats.<br />
Dieser ist u.a. für das Bau- und Bodenrecht, das<br />
Recht des Ausbaus von Energieleitungen, das<br />
Recht der Anlegung und des Betriebs von Flugplätzen,<br />
das Denkmalschutzrecht sowie das Natur-<br />
und Landschaftsschutzrecht zuständig. Neben<br />
seiner richterlichen Tätigkeit ist Prof. RUBEL<br />
seit 1997 Honorarprofessor an der Justus-Liebig-<br />
Universität Gießen. Der Fachöffentlichkeit ist er<br />
durch Vorträge sowie als Herausgeber und Autor<br />
zahlreicher Publikationen, insb. zum Bau- und<br />
Fachplanungsrecht, bekannt. Über viele Jahre hat<br />
er bei Aufbau und Fortentwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit<br />
in der Republik Armenien<br />
mitgewirkt.<br />
Nachrücker im 4. Revisionssenat ist Dr. ANDREAS<br />
HAMMER, der sein Amt am 1. November angetreten<br />
hat. Dr. HAMMER kommt vom OVG Rheinland-<br />
Pfalz; zugleich war er bisher mit hälftiger Arbeitskraft<br />
an den VGH Rheinland-Pfalz abgeordnet.<br />
[Quelle: BVerwG]<br />
1282 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 181<br />
Eilnachrichten<br />
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Allgemeines Zivilrecht<br />
Notarhaftung: Verjährung<br />
(BGH, Urt. v. 10.10.<strong>2019</strong> – III ZR 227/18) • Die Verjährung des notariellen Amtshaftungsanspruchs<br />
beginnt, wenn dem Geschädigten Tatsachen bekannt oder grob fahrlässig unbekannt sind, die auch<br />
aus der Perspektive eines Laien das Vorgehen des Notars als irregulär und daher möglicherweise<br />
pflichtwidrig erscheinen lassen (Fortführung von Senat, Urt. v. 7.3.<strong>2019</strong> – III ZR 117/18, NJW <strong>2019</strong>, 1953).<br />
Hinweis: Die erforderliche Kenntnis des Verletzten vom Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen<br />
setzt aus Gründen der Rechtssicherheit und Billigkeit grds. nicht voraus, dass der Geschädigte aus den<br />
ihm bekannten Tatsachen auch die richtigen rechtlichen Schlüsse zieht, diese also zutreffend rechtlich<br />
würdigt. Daher beeinflussen rechtlich fehlerhafte Vorstellungen seinerseits den Beginn der Verjährung<br />
i.d.R. nicht, zumal er sich jederzeit rechtlich beraten lassen kann. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 705/<strong>2019</strong><br />
Abtretung von Honoraransprüchen einer Kinderpflegekraft: Zustimmung<br />
(AG Bremen, Urt. v. 11.10.<strong>2019</strong> – 3 C 100/18) • Die Abtretung von Honoraransprüchen einer selbstständigen<br />
Kinderpflegekraft an eine private Abrechnungsstelle ist ohne vorherige Zustimmung der<br />
Patienten bzw. deren gesetzlicher Vertreter nichtig gem. § 134 BGB i.V.m. § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Ist die<br />
Abtretung nichtig, steht der vorausleistenden Abrechnungsstelle grds. ein Rückforderungsanspruch<br />
gegen die Pflegekraft nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen zu. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 706/<strong>2019</strong><br />
Kaufvertragsrecht<br />
Dieselskandal: Verzinsungsbeginn für einen Schadenersatzanspruch<br />
(OLG Karlsruhe, Urt. v. 6.11.<strong>2019</strong> – 13 U 37/19) • Der Käufer eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen<br />
Abschalteinrichtung versehen ist, hat gegen den Hersteller weder aus § 849 BGB noch nach §§ 286<br />
Abs. 1, 286 Abs. 2 Nr. 4, 288 Abs. 1 BGB einen Anspruch auf Verzinsung seines Schadenersatzbetrags<br />
bereits ab Zahlung des Kaufpreises. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 707/<strong>2019</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Mieterhöhungsverlangen: 20 Jahre alter Mietspiegel<br />
(BGH, Urt. v. 16.10.<strong>2019</strong> – VIII ZR 340/18) • Ein 20 Jahre alter Mietspiegel ist mangels eines Informationsgehalts<br />
für den Mieter zur Begründung eines Mieterhöhungsbegehrens ungeeignet. Ein auf<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1283
Fach 1, Seite 182 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />
diese Weise begründetes Mieterhöhungsverlangen ist deshalb aus formellen Gründen unwirksam.<br />
Hinweis: Ausgangspunkt war der Mietspiegel von Magdeburg. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 708/<strong>2019</strong><br />
Landpachtvertrag: Überschreitung der Maximalfristen durch Mehrfachverlängerung<br />
(OLG Stuttgart, Beschl. v. 11.7.<strong>2019</strong> – 101 W 4/19) • Die Fristen des § 595 Abs. 3 Nr. 3 BGB müssen nicht<br />
ausdrücklich als Vertragslaufzeit vereinbart worden sein, sondern können sich auch daraus ergeben,<br />
dass ein unbefristeter Landpachtvertrag bereits tatsächlich die Maximalfristen überschritten hat oder<br />
dass ein befristeter Vertrag so lange mehrfach verlängert worden ist, dass die Maximalfristen erreicht<br />
sind. Es kommt allein auf die tatsächliche Pachtdauer an, die (ursprünglich) vertraglich vereinbarte<br />
Pachtzeit ist unerheblich. Eine Pachterhöhung oder sonstige geringfügige inhaltliche Anpassung eines<br />
bestehenden Landpachtvertrags führen nicht automatisch dazu, dass ein neuer Pachtvertrag i.S.d.<br />
§ 595 Abs. 3 Nr. 3 BGB vorliegt und die vertragliche Vereinbarung nicht als Verlängerung und damit<br />
Fortführung des ursprünglichen Pachtverhältnisses angesehen werden könnte. Dies gilt auch, wenn<br />
der Pächter eine (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts mit wechselndem, aber im Kern gleichen<br />
Gesellschafterbestand ist. Hinweis: Den Gegenstandswert eines Verlängerungsverlangens gem. § 595<br />
Abs. 6 BGB bildet in entsprechender Anwendung von § 41 Abs. 1 GKG die Jahrespacht.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 709/<strong>2019</strong><br />
Bauvertragsrecht<br />
Bauvertrag: Auslegung unklarer Ausschreibungsunterlagen<br />
(OLG Celle, Urt. v. 2.10.<strong>2019</strong> – 14 U 171/18) • Beruht der Vertragsabschluss auf einem Vergabeverfahren<br />
der VOB/A, ist die Ausschreibung mit dem Inhalt der Auslegung zugrunde zu legen, wie ihn der<br />
Empfängerkreis verstehen muss. Ob die ausschreibende Stelle ein bestimmtes Problem möglicherweise<br />
nicht gesehen hat, kann die Auslegung des Vertrags nicht beeinflussen; maßgeblich ist die<br />
objektive Sicht der potenziellen Bieter und nicht das subjektive Verständnis des Auftraggebers von<br />
seiner Ausschreibung. Hinweis: Ein Bauvertrag ist nach Auffassung des OLG immer als sinnvolles<br />
Ganzes auszulegen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 710/<strong>2019</strong><br />
Sonstiges Vertragsrecht<br />
Kündigung eines Werkvertrags: Verjährung von Schadenersatzansprüchen<br />
(BGH, Urt. v. 10.10.<strong>2019</strong> – VII ZR 1/19) • Kündigt der Besteller einen als Dauerschuldverhältnis angelegten<br />
und als Werkvertrag einzustufenden Reinigungsvertrag außerordentlich u.a. wegen Mängeln<br />
der vom Unternehmer erbrachten Reinigungsleistungen und verlangt er sodann Ersatz des Schadens<br />
in Form der ihm aus der Beauftragung von Drittunternehmen entstandenen Mehrkosten aufgrund der<br />
drittseitigen Erbringung der ursprünglich vom Erstunternehmer übernommenen Reinigungsleistungen<br />
während der restlichen Vertragslaufzeit, so ist die Verjährungsregelung gem. § 634a BGB<br />
bezüglich dieses Schadenersatzanspruchs, auch soweit die Kündigung auf Mängel der erbrachten<br />
Reinigungsleistungen gestützt wird, nicht anwendbar; insoweit gilt vielmehr die Verjährungsregelung<br />
gem. §§ 195, 199 BGB. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 711/<strong>2019</strong><br />
Pferdepensionsvertrag: Kündigungsfrist<br />
(BGH, Urt. v. 2.10.<strong>2019</strong> – XII ZR 8/19) • In einem sog. Pferdepensionsvertrag hält eine vorformulierte<br />
Vertragsbestimmung, die eine beiderseitige Kündigungsfrist von acht Wochen zum Monatsende<br />
vorsieht, grds. der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 BGB stand.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 712/<strong>2019</strong><br />
1284 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 183<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Grundschuld: Verfügungsbefugnis bei Gesamtberechtigung<br />
(OLG München, Beschl. v. 2.10.<strong>2019</strong> – 34 Wx 316/19) • Im Falle der Gesamtberechtigung an einer<br />
Grundschuld ist jeder Gläubiger nur zusammen mit den anderen verfügungsbefugt nach § 875 Abs. 1 BGB<br />
und damit auch bewilligungsbefugt nach § 19 GBO. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 713/<strong>2019</strong><br />
Erbbaurecht: Auslegung<br />
(OLG Saarbrücken, Beschl. v. 22.7.<strong>2019</strong> – 5 W 32/19) • Die Auslegung der durch Eintragung im Grundbuch<br />
zum dinglichen Inhalt des Erbbaurechts gewordenen Vertragserklärungen hat nach den Grundsätzen<br />
für die Auslegung von Grundbucherklärungen zu erfolgen. Maßstab der Auslegung ist die Bedeutung, die<br />
sich nach Wortlaut und Sinn der Erklärung für einen unbefangenen Betrachter als nächstliegende ergibt;<br />
außerhalb der Erklärung liegende Umstände dürfen nur insoweit herangezogen werden, als sie für<br />
jedermann ohne Weiteres erkennbar sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 714/<strong>2019</strong><br />
Bank- und Kreditwesen<br />
Bepreisung von Barzahlungen am Bankschalter: Transaktionsbezogene Kosten<br />
(BGH, Urt. v. 18.6.<strong>2019</strong> – XI ZR 768/17) • Die Bepreisung von Bareinzahlungen und Barauszahlungen am<br />
Bankschalter ohne eine Freipostenregelung ist als solche nicht generell, d.h. unabhängig von der<br />
konkreten Ausgestaltung des Preis- und Leistungsverzeichnisses, unzulässig (Aufgabe der Senatsurteile<br />
v. 30.11.1993 – XIZR 80/93, BGHZ 1<strong>24</strong>, 254, 256 ff. und v. 7.5.1996 – XIZR 217/95, BGHZ 133, 10, 12 ff.). § 675f<br />
Abs. 5 S. 1 BGB enthält kein zahlungsdienstrechtliches Verbot einer Entgeltkontrolle. Vielmehr bleiben<br />
insoweit die allgemeinen Regeln anwendbar. Hierzu gehört betreffend die Bareinzahlungen auf ein<br />
debitorisches Girokonto im Verkehr mit Verbrauchern auch § 312a Abs. 4 Nr. 2 BGB. Gemäß § 312a Abs. 4<br />
Nr. 2 BGB sind nur solche Kosten umlagefähig, die unmittelbar durch die Nutzung des Zahlungsmittels<br />
entstehen (transaktionsbezogene Kosten). Gemeinkosten, deren Anfall und Höhe von dem konkreten<br />
Nutzungsakt losgelöst sind, sind nicht umlagefähig. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 715/<strong>2019</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Verkehrsunfall: Restwert<br />
(OLG Hamm, Urt. v. 16.8.<strong>2019</strong> – 9 U 143/18) • Der Geschädigte, der sein Fahrzeug alsbald unrepariert<br />
verkauft hat, darf nur dann fiktiv auf Reparaturkostenbasis abrechnen, wenn dabei der Wiederbeschaffungsaufwand<br />
(= Wiederbeschaffungswert abzgl. Restwert) nicht überschritten wird. Bestreitet<br />
der Beklagte das Nichtüberschreiten des Wiederbeschaffungsaufwands – insb. den anzunehmenden<br />
Restwert, der im Schadensgutachten nicht ausgewiesen war –, obliegt es dem Kläger, den<br />
Wiederbeschaffungsaufwand – und insb. den zu erzielenden Restwert – konkret und nachvollziehbar<br />
darzulegen und zu beweisen. Fehlt es an einer Darlegung des für die Bestimmung des Wiederbeschaffungsaufwands<br />
als Obergrenze jeglichen Anspruchs bedeutsamen Restwerts, ist damit der<br />
Fahrzeugschaden insgesamt bereits nicht hinreichend dargetan und damit die Klage unschlüssig.<br />
Hinweis: Der Anwalt sollte in einem solchen Fall zur Vermeidung einer eigenen Haftung den Gutachter<br />
immer zur Ergänzung des Restwerts auffordern. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 716/<strong>2019</strong><br />
Nachzügler bei einer durch Lichtzeichenanlage geregelten Kreuzung: Unechter Kreuzungsräumer<br />
(KG, Urt. v. 13.6.<strong>2019</strong> – 22 U 176/17) • Die Grundsätze, nach denen einem Nachzügler bei einer durch<br />
Lichtzeichenanlage geregelten Kreuzung durch den eigentlich nunmehr bevorrechtigten Querverkehr<br />
das Verlassen der Kreuzung ermöglicht werden soll, gelten dann nicht, wenn der Nachzügler beim<br />
Wechsel der Lichtzeichen noch nicht den inneren Bereich der Kreuzung erreicht hat (sog. unechter<br />
Kreuzungsräumer). Hinweis: Nach den Grundsätzen zu Kreuzungsräumerunfällen befreit das grüne<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1285
Fach 1, Seite 184 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />
Lichtzeichen den Vorfahrtberechtigten nicht von der Verpflichtung, auf der Kreuzung verbliebene<br />
Nachzügler des Querverkehrs diese vorrangig räumen zu lassen. Dies ist Ausfluss des allgemeinen<br />
Rücksichtnahmegebots. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 717/<strong>2019</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
Berufsunfähigkeitsversicherung: Befristetes Anerkenntnis<br />
(BGH, Urt. v. 9.10.<strong>2019</strong> – IV ZR 235/18) • Ein befristetes Anerkenntnis in der Berufsunfähigkeitsversicherung<br />
setzt sowohl das Vorliegen eines sachlichen Grundes als auch eine Begründung der<br />
Befristung durch den Versicherer gegenüber dem Versicherungsnehmer voraus. Hinweis: Das Erfordernis<br />
eines sachlichen Grundes ist notwendig, weil ein nur befristetes Anerkenntnis für den Versicherungsnehmer<br />
in erheblichem Maße nachteilig ist, wenn der Berufsunfähigkeitsversicherer seine<br />
Leistungspflicht nach der gegebenen Sachlage zeitlich uneingeschränkt anzuerkennen hat. Denn<br />
während der Versicherungsnehmer bei einem befristeten Anerkenntnis nach Ablauf der Frist die<br />
Voraussetzungen für eine fortbestehende Leistungsverpflichtung des Versicherers nach den Grundsätzen<br />
der Erstprüfung beweisen muss, ist es im Fall eines unbefristeten Anerkenntnisses Sache des<br />
Versicherers, im Nachprüfungsverfahren zu beweisen, dass die Voraussetzungen seiner Leistungspflicht<br />
nicht mehr gegeben sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 718/<strong>2019</strong><br />
Rückzahlung von Versicherungsprämien: Wirksamkeit einer Widerrufsbelehrung<br />
(OLG Dresden, Beschl. v. 14.8.<strong>2019</strong> – 4 U 1486/19) • Dass der Text einer fettgedruckten Widerrufsbelehrung<br />
in einem fünfseitigen Versicherungsschein enthalten ist, steht einer drucktechnisch deutlichen<br />
Hervorhebung selbst dann nicht im Wege, wenn auch andere Über- und Nebenschriften in<br />
Fettdruck aufgenommen sind. Ist die Widerrufsbelehrung wirksam, kann bereits die jahrelange<br />
Prämienzahlung ausreichen, um bei dem Versicherer ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand<br />
des Versicherungsvertrags zu begründen. Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof zur Vereinbarkeit<br />
des Policenmodells mit Europäischem Sekundärrecht kommt dann nicht in Betracht.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 719/<strong>2019</strong><br />
Familienrecht<br />
Betreuungsverfahren: Bekanntgabe an den Verfahrenspfleger<br />
(BGH, Beschl. v. 2.10.<strong>2019</strong> – XII ZB 118/19) • In einem Betreuungsverfahren ersetzt die Bekanntgabe des<br />
Sachverständigengutachtens an den Verfahrenspfleger oder an den Betreuer grds. nicht die notwendige<br />
Bekanntgabe an den Betroffenen persönlich (im Anschluss an Senatsbeschluss v. 8.8.2018 – XII ZB 139/18,<br />
FamRZ 2018, 1769). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 720/<strong>2019</strong><br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Widerruf von Verfügungen: Vernichtung der Testamentsurkunde<br />
(OLG München, Beschl. v. 31.10.<strong>2019</strong> – 31 Wx 398/17) • Der Widerruf wechselbezüglicher Verfügungen in<br />
einem Ehegattentestament durch Vernichtung der Urkunde setzt voraus, dass beide Ehegatten mit<br />
Testier- und Widerrufswillen an der Vernichtung der Urkunde mitgewirkt haben. An den diesbezüglichen<br />
Nachweis sind hohe Anforderungen zu stellen. Er setzt insb. voraus, dass die Möglichkeit, dass ein<br />
Ehegatte die Urkunde ohne Kenntnis und Mitwirkung des anderen vernichtet hat, ausgeschlossen<br />
werden kann. Hinweis: Das Gericht muss positiv davon überzeugt sein, dass das Testament in<br />
Widerrufsabsicht durch die Ehegatten vernichtet wurde. Für diesen Beweis genügt grds. ein für das<br />
praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 721/<strong>2019</strong><br />
1286 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 185<br />
Zivilprozessrecht<br />
Spruchkörperinterner Geschäftsverteilungsplan: Einsichtnahme<br />
(BGH, Beschl. v. 25.9.<strong>2019</strong> – IV AR [VZ] 2/18) • Über die Einsichtnahme in einen spruchkörperinternen<br />
Geschäftsverteilungsplan hat der Präsident oder aufsichtführende Richter des jeweiligen Gerichts zu<br />
entscheiden. Die Einsichtnahme setzt nicht die Darlegung eines besonderen Interesses voraus. Über das<br />
Ersuchen auf Übersendung eines Ausdrucks oder einer Kopie des Geschäftsverteilungsplans ist nach<br />
pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Hinweis: In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass<br />
Gerichte eine Einsichtnahme unter Hinweis auf ein fehlendes Interesse verweigern. Die Klarstellung<br />
durch den BGH ist deshalb zu begrüßen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 722/<strong>2019</strong><br />
Beweiswürdigung in Arzthaftungsverfahren: Einfaches Bestreiten<br />
(OLG Dresden, Beschl. v. 29.7.<strong>2019</strong> – 4 U 1078/19) • Beschränkt sich die Berufung darauf, die Ergebnisse<br />
eines erstinstanzlichen Gerichtsgutachtens und der darauf aufbauenden, in sich plausiblen Beweiswürdigung<br />
zu bestreiten, ohne ihre abweichende Bewertung durch ein Privatgutachten oder andere<br />
medizinische Belege zu untersetzen, ist auch in Arzthaftungsverfahren regelmäßig keine weitere<br />
Beweisaufnahme geboten. Kann ein Diagnoseirrtum eines Arztes nicht als fundamental bezeichnet<br />
werden, kommt eine Haftung nur dann in Betracht, wenn die von ihm erhobenen Befunde nicht<br />
zweifelhaft sind, sondern bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt lediglich den Schluss auf eine<br />
bestimmte Diagnose zulassen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 723/<strong>2019</strong><br />
Gehörsverletzung: Nichtberücksichtigung eines Beweisangebots<br />
(BGH, Beschl. v. 28.5.<strong>2019</strong> – VI ZR 328/18) • Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots<br />
verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet. Das ist u.a.<br />
dann der Fall, wenn die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots darauf beruht, dass das Gericht<br />
verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag einer Partei gestellt hat. Hinweis: Ein<br />
Kläger, der Schadenersatz wegen Verletzung seines Körpers oder seiner Gesundheit verlangt, ist nicht<br />
verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 7<strong>24</strong>/<strong>2019</strong><br />
Anhörung eines Sachverständigen: Schriftsatznachlass<br />
(OLG Dresden, Urt. v. 30.7.<strong>2019</strong> – 4 U 510/17) • Die durch eine ärztliche Dokumentation begründete<br />
Vermutung für ein behandlungsbedürftiges Krankheitsbild (hier: Arrythmia absoluta) kann auch durch<br />
die Behandlungsunterlagen selbst (hier: EKG-Diagramme) wieder entkräftet werden. Wird ein Sachverständiger<br />
im Anschluss an sein Gutachten mündlich angehört und das Ergebnis der Beweisaufnahme<br />
mit den Parteien erörtert, ohne dass anschließend ein Schriftsatznachlass beantragt wird,<br />
kommt eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung wegen neuen Vorbringens regelmäßig<br />
nicht in Betracht. Hinweis: Die Entscheidung verdeutlicht, wie wichtig die (auch vorsorgliche)<br />
Beantragung von Schriftsatznachlass ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 725/<strong>2019</strong><br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Einkünfte nach Pfändungsschutzvorschriften: Kaufpreisraten für den Verkauf einer GmbH<br />
(BGH, Beschl. v. 26.9.<strong>2019</strong> – IX ZB 21/19) • Kaufpreisraten stellen sonstige Einkünfte i.S.d. Pfändungsschutzvorschriften<br />
dar. Hinweis: Der Schuldner verkaufte einen Geschäftsanteil an einer GmbH für<br />
1.255.000 € in monatlichen Raten à 5.000 €. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 726/<strong>2019</strong><br />
Begleichung einer Steuerschuld: Keine Erhöhung des unpfändbaren Betrags<br />
(BGH, Beschl. v. 19.9.<strong>2019</strong> – IX ZB 2/18) • Die Entstehung einer Steuerschuld, welche der Schuldner<br />
begleichen möchte, ist i.d.R. kein ausreichender Grund für die Erhöhung des unpfändbaren Betrags.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 727/<strong>2019</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1287
Fach 1, Seite 186 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />
Vollstreckungsprivileg: Auszug aus der Insolvenztabelle<br />
(BGH, Beschl. v. 4.9.<strong>2019</strong> – VII ZB 91/17) • Durch die Vorlage eines vollstreckbaren Auszugs aus<br />
der Insolvenztabelle kann der Gläubiger den Nachweis einer Forderung aus vorsätzlich begangener<br />
unerlaubter Handlung für das Vollstreckungsprivileg des § 850f Abs. 2 ZPO führen, wenn sich daraus<br />
ergibt, dass eine solche Forderung zur Tabelle festgestellt und vom Schuldner nicht bestritten worden<br />
ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 728/<strong>2019</strong><br />
Kündigung einer Direktversicherung: Arbeitgeber im Insolvenzverfahren<br />
(OLG Braunschweig, Urt. v. 4.9.<strong>2019</strong> – 11 U 116/18) • Ist die Übertragung des Kündigungsrechts<br />
bezüglich eines Rentenversicherungsvertrags vom Versicherungsnehmer auf einen unwiderruflich<br />
bezugsberechtigten Dritten nicht feststellbar, so verbleibt das Kündigungsrecht beim Versicherungsnehmer;<br />
dem Insolvenzverwalter über das Vermögen des Dritten kann aber aus dem Grundsatz einer<br />
nach beiden Seiten hin interessengerechten Auslegung ein Anspruch auf Kündigung des Rentenversicherungsvertrags<br />
gegen den Versicherungsnehmer zustehen. Ist einem Dritten bezüglich eines<br />
Lebensversicherungsvertrags ein unwiderrufliches Bezugsrecht eingeräumt worden, so gehört der<br />
Rückkaufswert im Falle einer Insolvenz des Dritten zur Insolvenzmasse, soweit dem nicht die<br />
Pfändungsschutzvorschriften entgegenstehen. Ist der Dritte Allein- oder Mehrheitsgesellschafter des<br />
Versicherungsnehmers, so kann er sich nicht auf die Vorschriften des Gesetzes zur Verbesserung der<br />
betrieblichen Altersvorsorge (BetrAVG) berufen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 729/<strong>2019</strong><br />
Handels-/Gesellschaftsrecht<br />
Gesellschafter-Geschäftsführer: Arbeitnehmerähnliche Person<br />
(BGH, Urt. v. 1.10.<strong>2019</strong> – II ZR 386/17) • Ein Gesellschafter-Geschäftsführer einer Gesellschaft mit<br />
beschränkter Haftung, der mit einem oder mehreren anderen Gesellschafter-Geschäftsführern 50 %<br />
der Geschäftsanteile hält und selbst nicht mit einem nur unbedeutenden Geschäftsanteil an der<br />
Gesellschaft beteiligt ist, ist keine arbeitnehmerähnliche Person i.S.d. § 17 Abs. 1 S. 2 BetrAVG.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 730/<strong>2019</strong><br />
Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />
Bewerbung von Nahrungsmitteln: Nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben<br />
(OLG Celle, Urt. v. 6.9.<strong>2019</strong> – 13 U 69/18) • Die Werbung mit der Aussage „kein zugesetzter Zucker“ stellt<br />
eine nährwertbezogene Angabe dar, die gegen Art. 8 Abs. 1 HCVO i.V.m. deren Anhang verstößt, wenn<br />
dem Produkt Honig zum Süßen zugesetzt ist. Bei der Aussage „Honig lässt den Blutzuckerspiegel langsamer<br />
ansteigen als Industriezucker, ein deutlich niedrigerer glykämischer Index als bei raffiniertem Zucker ist die Folge“<br />
handelt es sich um eine spezifische gesundheitsbezogene Angabe i.S.v. Art. 10 Abs. 1 HCVO, die keinem<br />
zugelassenen Health Claim entspricht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 731/<strong>2019</strong><br />
Eilverfahren: Selbstwiderlegung der Dringlichkeitsvermutung<br />
(OLG Dresden, Beschl. v. 25.7.<strong>2019</strong> – 4 U 1087/19) • In einstweiligen Verfügungsverfahren über eine<br />
Äußerungssache kommt eine Selbstwiderlegung der Dringlichkeitsvermutung in Betracht, wenn der<br />
Betroffene sich die Frist zur Berufungsbegründung verlängern lässt und die Begründung erst im Verlauf<br />
dieser verlängerten Frist vorlegt. Die namentliche Erwähnung eines Angeklagten in einer Berichterstattung<br />
kommt grds. nur in Fällen schwerer Kriminalität oder bei die Öffentlichkeit besonders<br />
berührenden Straftaten in Betracht. Wird das Hauptverfahren eröffnet, ist einiger Beweis für eine<br />
Täterschaft erbracht und eine Verdachtsberichterstattung auch ohne Einholung einer Stellungnahme<br />
des Angeklagten zulässig. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 732/<strong>2019</strong><br />
1288 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 187<br />
Arbeitsrecht<br />
Betriebsratsfreistellung: Schichtzuschläge<br />
(LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 17.9.<strong>2019</strong> – 19 Sa 15/19) • Wird ein Betriebsrat, an den bis dahin<br />
Schichtzuschläge gezahlt wurden, von der Arbeitspflicht vollständig freigestellt und werden an ihn die<br />
Schichtzuschläge in Form von Pauschalzahlungen weiter gewährt, so stellt dies keine unzulässige<br />
Begünstigung des Betriebsrats dar, auch wenn er sein Amt ausschließlich in der Tagesschicht ausübt<br />
(Abgrenzung zu BAG, Urt. v. 18.5.2016 – 7 AZR 401/14). Gerät der Schichtbetrieb in Wegfall – vorliegend<br />
wegen Stilllegung der Fabrikation –, entfällt auch der Anspruch des Betriebsrats auf Weiterzahlung<br />
der Schichtpauschalen, weil der Verlust der Schichtzuschläge nicht ausschließlich auf der Freistellung<br />
beruht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 733/<strong>2019</strong><br />
Sozialrecht<br />
GmbH-Geschäftsführer: Sozialversicherungsbeitragspflicht<br />
(LSG Hessen, Urt. v. 31.10.<strong>2019</strong> – L 1 KR 502/18) • Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH mit einer<br />
Kapitalbeteiligung von jeweils 33,33 % sind abhängig beschäftigt. Scheidet ein Gesellschafter-Geschäftsführer<br />
aus und wird sein Kapitalanteil auf die GmbH übertragen, so entspricht dies faktisch einer<br />
Aufteilung von je 50 %, so dass die beiden verbliebenen Gesellschafter als Geschäftsführer selbstständig<br />
tätig sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 734/<strong>2019</strong><br />
Berichtigung einer gerichtlichen Entscheidung: Rechtsmittelfrist<br />
(LSG Bayern, Beschl. v. 15.10.<strong>2019</strong> – L 20 KR 122/19) • Ein späterer Berichtigungsbeschluss hindert den<br />
Lauf der Rechtsmittelfrist bzgl. der ursprünglichen Entscheidung nicht. Eine Ausnahme gilt nur dann,<br />
wenn die ursprüngliche Entscheidung insgesamt nicht klar genug gewesen wäre, um Grundlage für die<br />
Entschließungen und das weitere Handeln des Rechtsmittelführers zu sein. Eine weitere Ausnahme<br />
unabhängig von der Frage der Klarheit der zu berichtigenden Entscheidung auch für den Fall, dass das<br />
Gericht die Beteiligten innerhalb der laufenden Rechtmittelfrist auffordert, die übersandten Ausfertigungen<br />
zum Zwecke der Berichtigung zurückzusenden (so BSG, Beschl. v. 28.1.2004 – B 6 KA 95/03 B),<br />
verbietet sich. Hinweis: Das LSG erläutert genau, welche Anforderungen an die Klarheit einer<br />
Entscheidung zu stellen sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 735/<strong>2019</strong><br />
Überprüfungsantrag nach dem SGB X: Einstweiliger Rechtsschutz<br />
(LSG Bayern, Beschl. v. 8.10.<strong>2019</strong> – L 20 KR 479/19 B ER) • Wird im Rahmen eines laufenden<br />
Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X hinsichtlich eines bestandskräftigen Bescheids Antrag auf<br />
Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, sind an die Glaubhaftmachung von Anordnungsanspruch<br />
und Anordnungsgrund besonders hohe Anforderungen zu stellen. Werden im Verfahren der<br />
Verwaltungsvollstreckung ausschließlich materiell-rechtliche Einwendungen vorgebracht, erfolgt der<br />
Eilrechtsschutz gegenüber der Behörde, die die Vollstreckung angeordnet hat, über eine Regelungsanordnung<br />
nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG, mit der die Zwangsvollstreckung vorläufig eingestellt werden<br />
kann. Hinweis: Im Ausgangsverfahren begehrte der Antragsteller im Wege des einstweiligen<br />
Rechtsschutzes, von Krankenversicherungsbeiträgen auf Kapitalleistungen aus Direktversicherungen<br />
freigestellt zu werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 736/<strong>2019</strong><br />
Verfassungs-/Verwaltungsrecht<br />
Eilverfahren: Freihandelsabkommen der EU mit Singapur<br />
(BVerfG, Beschl. v. 7.11.<strong>2019</strong> – 2 BvR 882/19) • Wird im Hauptsacheverfahren das Zustimmungsgesetz zu<br />
einem völkerrechtlichen Vertrag zur Prüfung gestellt, kann es angezeigt sein, sich nicht auf eine reine<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1289
Fach 1, Seite 188 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />
Folgenabwägung zu beschränken, sondern bereits im eA-Verfahren (§ 32 Abs. 1 BVerfGG) eine<br />
summarische Prüfung anzustellen, ob die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Vertragsgesetzes<br />
vorgetragenen Gründe mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit erwarten lassen, dass<br />
das BVerfG das Vertragsgesetz für verfassungswidrig erklären wird (vgl. BVerfG, Urt. v. 13.10.2016 – 2 BvE<br />
3/16, BVerfGE 143, 65, 87 f. Rn 36). Dies gilt grds. auch mit Blick auf die abschließende Zustimmung<br />
der Bundesregierung zu einem Rechtsakt des Unionsrechts im Rat der Europäischen Union (hier:<br />
Zustimmung zum Abschluss des Freihandelsabkommens zwischen der EU und Singapur – EUSFTA). Ein<br />
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 Abs. 1 BVerfGG) ist allerdings unbegründet, wenn<br />
er auf Sicherungsmaßnahmen abzielt, die nicht geeignet sind, einen endgültigen Rechtsverlust zu<br />
verhindern. Gleiches gilt, wenn die beantragten Maßnahmen über das Rechtsschutzbegehren in der<br />
Hauptsache hinausgehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 737/<strong>2019</strong><br />
Steuerrecht<br />
Universalanbieter von Postdiensten: Umsatzsteuerbefreiung<br />
(EuGH, Urt. v. 16.10.<strong>2019</strong> – C-4/18 und C-5/18) • Art. 2 Nr. 13 und Art. 3 der RiLi 97/67/EG des<br />
Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.12.1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung<br />
des Binnenmarkts der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität<br />
in der durch die RiLi 2008/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.2.2008<br />
geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass Anbieter von Briefzustelldienstleistungen, die in ihrer<br />
Eigenschaft als Inhaber einer nationalen Lizenz, die ihnen die Erbringung dieser Dienstleistung gestattet,<br />
verpflichtet sind, förmliche Zustellungen von Schriftstücken von Gerichten oder Verwaltungsbehörden<br />
nach Vorschriften des nationalen Rechts durchzuführen, als „Universaldiensteanbieter“ i.S.<br />
dieser Bestimmungen anzusehen sind. Solche förmlichen Zustellungen sind als von „öffentlichen<br />
Posteinrichtungen“ erbrachte Dienstleistungen nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG<br />
des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem von der Umsatzsteuer zu<br />
befreien. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 738/<strong>2019</strong><br />
Verhängung von Dieselfahrverboten: Keine Minderung der Kfz-Steuer<br />
(BFH, Beschl. v. 13.8.<strong>2019</strong> – III B 2/19) • Die Verhängung von Dieselfahrverboten hat für davon<br />
betroffene Kfz keinen Einfluss auf die Höhe der Kfz-Steuer. Hinweis: In diesem Verfahren ging es um<br />
das Dieselfahrverbot in Hamburg. Der Kläger hat ein Fahrzeug der Emissionsklasse EURO 5.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 739/<strong>2019</strong><br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />
Hinweispflicht: Änderung der Motivlage<br />
(BGH, Beschl. v. <strong>24</strong>.7.<strong>2019</strong> – 1 StR 185/19) • Will das Tatgericht die Annahme des Mordmerkmals der<br />
niedrigen Beweggründe auf eine Motivlage stützen, die von der in der Anklageschrift angenommenen<br />
deutlich abweicht, muss gem. § 265 Abs. 2 Nr.3 i.V.m. Abs. 1 StPO ein rechtlicher Hinweis erteilt werden.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 740/<strong>2019</strong><br />
Trunkenheitsfahrt mit dem Fahrrad: MPU<br />
(VG Augsburg, Urt. 9.9.<strong>2019</strong> – Au 7 K 18.1<strong>24</strong>0) • Wer ein Fahrrad mit 1,6 Promille oder mehr im<br />
Straßenverkehr führt, kann aufgefordert werden, ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen.<br />
Kommt er dieser Aufforderung nicht nach, kann auf die mangelnde Eignung zur Teilnahme<br />
am Straßenverkehr geschlossen und ihm das Führen erlaubnisfreier Fahrzeuge (Fahrrad, Mofa) untersagt<br />
werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 741/<strong>2019</strong><br />
1290 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 189<br />
Strafverfahrensrecht<br />
Selbständige Einziehung: Antragsanforderungen<br />
(BGH, Beschl. v. 22.8.<strong>2019</strong> – 1 StR 352/19) • In dem Antrag, die Einziehung selbständig anzuordnen, sind<br />
nicht nur die betreffenden Gegenstände zu bezeichnen (§ 435 Abs. 2 S. 1 StPO); außerdem ist<br />
anzugeben, welche Tatsachen die Zulässigkeit der selbständigen Einziehung begründen; insoweit<br />
gelten die Vorschriften über den Inhalt der Anklageschrift nach § 200 StPO entsprechend (§ 435 Abs. 2<br />
S. 2 und 3 StPO). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 742/<strong>2019</strong><br />
Akteneinsicht: Akteneinsicht an Dritte<br />
(LG Aachen, Beschl. v. 11.10.<strong>2019</strong> – 60 KLs 12/19) • Die Gewährung von Akteneinsicht im Strafverfahren an<br />
Dritte erfordert regelmäßig die vorherige Anhörung des Beschuldigten, weil sie mit einem Eingriff in<br />
Grundrechtspositionen des Beschuldigten, namentlich in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung<br />
gem. Art. 2 Abs. 1 GG i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG, verbunden ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 743/<strong>2019</strong><br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Syndikusrechtsanwalt: Zur Untergrenze des Anteils anwaltlicher Tätigkeit<br />
(BGH, Urt. v. 30.9.<strong>2019</strong> – AnwZ [Brfg] 63/17) • Für die anwaltliche Prägung des Arbeitsverhältnisses ist<br />
entscheidend, dass die anwaltliche Tätigkeit den Kern oder Schwerpunkt der Tätigkeit darstellt, mithin<br />
das Arbeitsverhältnis durch die anwaltliche Tätigkeit beherrscht wird. Ein Anteil von 65 % anwaltlicher<br />
Tätigkeit liegt am unteren Rand des für eine anwaltliche Prägung des Arbeitsverhältnisses Erforderlichen<br />
Hinweis: S. dazu auch <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin in <strong>ZAP</strong> <strong>24</strong>/<strong>2019</strong>, S. 1278 f. [Anm der Red.]).<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 744/<strong>2019</strong><br />
Fremdgeld: Aufrechnung mit Gegenforderungen<br />
(LG Düsseldorf, Urt. v. 7.10.<strong>2019</strong> – 9 O 188/14) • Fremdgeld und sonstige Vermögenswerte sind<br />
unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern i.S.d. § 121 BGB an den Empfangsberechtigten weiterzuleiten,<br />
wobei maximal eine Haltefrist von bis zu zwei Wochen akzeptiert wird (BGH Anwaltsblatt<br />
2005, 716). Kommt es nicht zu einer unverzüglichen Auskehrung, sind Fremdgelder auf einem Anderkonto<br />
zu verwalten. Dabei darf der Anwalt nicht den Zeitpunkt abwarten, bis seine Honorarforderung<br />
fällig bzw. durchsetzbar und damit aufrechenbar wird. Ein fremdnütziger Treuhänder darf nach<br />
ständiger Rechtsprechung gegen den Herausgabeanspruch des Treugebers aus §§ 667, 675 BGB grds.<br />
nicht mit Gegenforderungen aufrechnen, die ihren Grund nicht in dem Treuhandvertrag haben (BGHZ<br />
95, 109; 113 = NJW 1985, 2820; BGH NJW 1993, 2041 f.; BGH NJW 1994, 2885 f.). Hinweis: Dies gilt auch<br />
für Rechtsanwälte hinsichtlich der von ihnen als Treuhänder empfangenen Fremdgelder (BGH, Urt. v.<br />
12.9.2002 – IX ZR 66/01). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 745/<strong>2019</strong><br />
Gebührenrecht<br />
Entziehung der Fahrerlaubnis und zur Fahrgastbeförderung: Streitwert<br />
(OVG Lüneburg, Beschl. v. 15.10.<strong>2019</strong> – 12 ME 162/19) • Ist mit der Entziehung der Fahrerlaubnis nach<br />
§§ 3, 4 StVG gem. § 48 Abs. 10 S. 2 FeV zugleich der Verlust der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung<br />
verbunden, so beträgt der Streitwert (im Klageverfahren) 10.000 €. Hinweis: In der Vergangenheit hat<br />
der Senat diese Rechtsfolge bei der Streitwertbemessung unterschiedlich bewertet (vgl. etwa Beschl.<br />
v. 7.6.2005 – 12 OA 81/05; v. 3.1.2013 – 12 ME 232/12 und v. 19.10.2016 – 12 ME 146/16, jeweils unveröffentlicht).<br />
Nunmehr nimmt er insgesamt einen Streitwert i.H.d. doppelten Auffangwerts an.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 746/<strong>2019</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1291
Fach 1, Seite 190 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />
EU-Recht/IPR<br />
Ruhestandsregelungen an polnischen Gerichten: Verstoß gegen Unionsrecht<br />
(EuGH, Urt. v. 5.11.<strong>2019</strong> – C-192/18) • Die polnischen Vorschriften über das Ruhestandsalter von<br />
Richtern und Staatsanwälten, die im Juli 2017 erlassen wurden, verstoßen gegen das Unionsrecht.<br />
Der Gerichtshof (Große Kammer) hat der Vertragsverletzungsklage der Kommission gegen Polen<br />
stattgegeben und festgestellt, dass Polen sowohl dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem<br />
Unionsrecht verstoßen hat, dass es ein für Frauen und Männer, die in Polen als Richter oder<br />
Staatsanwälte tätig sind, unterschiedliches Ruhestandsalter eingeführt hat, als auch dadurch, dass es<br />
das Ruhestandsalter für Richter an den ordentlichen Gerichten herabgesetzt und gleichzeitig dem<br />
Justizminister die Befugnis eingeräumt hat, die aktive Dienstzeit dieser Richter zu verlängern.<br />
Hinweis: Der Grundsatz der Unabsetzbarkeit erfordert insb., dass die Richter im Amt bleiben dürfen,<br />
bis sie das obligatorische Ruhestandsalter erreicht haben oder ihre Amtszeit, sofern sie befristet ist,<br />
abgelaufen ist. Dieser Grundsatz gilt zwar nicht völlig absolut, doch dürfen Ausnahmen von ihm nur<br />
unter der Voraussetzung gemacht werden, dass dies durch legitime und zwingende Gründe gerechtfertigt<br />
ist und dabei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet wird. Dies war vorliegend nicht<br />
der Fall. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 747/<strong>2019</strong><br />
<strong>ZAP</strong>-Service: Die <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können und sollen nur eine stark komprimierte Wiedergabe der Originaltexte sein.<br />
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1292 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1699<br />
Sanktionen im SGB II<br />
Sozialrecht<br />
Grundsicherung für Arbeitsuchende/Sozialhilfe<br />
Sanktionen im SGB II überwiegend verfassungswidrig<br />
Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht und für Arbeitsrecht, Dr. ULRICH SARTORIUS, Breisach<br />
Hinweis:<br />
Der Beitrag ist zugleich eine Besprechung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.<strong>2019</strong><br />
– 1 BvL 7/16 (s. auch <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 699/<strong>2019</strong>, F. 1, S. 179).<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
1. Bisherige Rechtslage<br />
2. Sanktionen in der Praxis<br />
3. Kritik<br />
II. Grundzüge des Urteils des BVerfG vom<br />
5.11.<strong>2019</strong><br />
1. Unvollständige Datenlage zu den Wirkungen<br />
von Mitwirkungspflichten und<br />
Sanktionen<br />
2. Rechtlicher Ausgangspunkt<br />
3. Umfang der Verfassungswidrigkeit<br />
III. Ausblick<br />
1. Folgen der Entscheidung für bereits abgeschlossene<br />
und noch laufende Verfahren<br />
(s. Rn 219 ff. des Urteils)<br />
2. Ungeklärte Rechtsfragen<br />
3. Vorschläge zur Reform des Sanktionsrechts<br />
I. Einleitung<br />
1. Bisherige Rechtslage<br />
Die Vorschriften der §§ 31 ff. SGB II konkretisieren den in § 2 des Gesetzes verankerten Grundsatz des<br />
Forderns, wonach erwerbsfähige Leistungsberechtigte und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft<br />
lebenden Personen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit<br />
ausschöpfen müssen (§ 2 Abs. 1 S. 1 SGB II). Ferner müssen erwerbsfähige leistungsberechtigte<br />
Personen aktiv an allen Maßnahmen zu ihrer Eingliederung in Arbeit mitwirken, insb. eine Eingliederungsvereinbarung<br />
abschließen und, wenn eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt<br />
in absehbarer Zeit nicht möglich ist, eine ihnen angebotene zumutbare Arbeitsgelegenheit<br />
übernehmen (§ 2 Abs. 1 S. 2 und 3 SGB II).<br />
Die Sanktionsvorschriften sind seit Inkrafttreten des SGB II zum 1.1.2005 wiederholt umgestaltet<br />
(zur Gesetzesentwicklung s. etwa BERLIT in MÜNDER, SGB II, 6. Aufl. § 31 Rn 5 ff.) und z.T. von der<br />
Sozialgerichtsbarkeit als unverhältnismäßig beanstandet worden (s. z.B. LSG Baden-Württemberg,<br />
Urt. v. 13.4.2011 – L 3 AS 332/10, juris Rn 30 – zur inzwischen abgeschafften Sanktionierung der<br />
Weigerung, eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, obwohl mit der Möglichkeit des Erlasses<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1293
Fach 18, Seite 1700<br />
Sanktionen im SGB II<br />
Sozialrecht<br />
eines die Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakts – heute § 15 Abs. 3 S. 3 SGB II –<br />
ein milderes Mittel zur Verfügung stand und steht, um verbindliche Pflichten für den erwerbsfähigen<br />
Leistungsberechtigten zu regeln).<br />
Eine Minderung der SGB II-Leistungen (bei mehrfacher Pflichtverletzung bis zu ihrem vollständigen<br />
Wegfall, einschließlich der Leistungen für Unterkunft und Heizung) erfolgt zwingend, wenn erwerbsfähige<br />
Leistungsberechtigte trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis<br />
gegen eine der in § 31 Abs. 1, S. 1, Abs. 2 SGB II genannten Pflichten verstoßen und für ihr Verhalten<br />
keinen wichtigen Grund darlegen und nachweisen können (§ 31 Abs. 1 S. 2 SGB II). Für erwerbsfähige<br />
Leistungsberechtigte, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, statuiert § 31a Abs. 2 S. 1 u. 2<br />
SGB II eine härtere Sanktionierung. Eine Härteregelung für Ausnahmefälle sieht das Gesetz nicht vor.<br />
Die nach ihrer Art und Zahl gestaffelten Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung (Minderung um 30 % bzw.<br />
60 % oder Wegfall der SGB II-Leistungen) ergeben sich hinsichtlich der Höhe aus § 31a SGB II, wegen<br />
Beginn und Dauer aus § 31b SGB II. Die Dauer der Minderung beträgt nach § 31b Abs. 1 S. 3 SGB II<br />
zwingend drei Monate, lediglich bei unter 25-Jährigen kann unter den Voraussetzungen von Abs. 1 S. 4<br />
der Vorschrift die Minderung auf sechs Wochen verkürzt werden. Für den Fall einer Minderung um mehr<br />
als 30 % sind in § 31a Abs. 3 SGB II gewisse Sicherungsmechanismen vorgesehen (ergänzende Sachoder<br />
geldwerte Leistungen und Direktüberweisung der Leistungen für Unterkunft und Heizung an die<br />
Vermieter).<br />
Für nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer<br />
Bedarfsgemeinschaft (s. § 7 Abs. 3 SGB II) leben und Sozialgeld beziehen (vgl. §§ 19 Abs. 1 S. 2 und 23<br />
SGB II), gilt § 31a Abs. 1 u. 3 SGB II entsprechend, wenn Pflichtverletzungen nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 u. 2<br />
SGB II vorliegen (§ 31a Abs. 4 SGB II).<br />
Eine Sanktion bei Meldeversäumnissen ordnet § 32 SGB II an, wobei die Vorschrift sich auch an nicht<br />
erwerbsfähige Leistungsberechtigte richtet. Die Umsetzung der Sanktionen (Beginn und Dauer der<br />
Minderung) erfolgt in entsprechender Anwendung des § 31b SGB II.<br />
2. Sanktionen in der Praxis<br />
Im Verlauf des Jahres 2018 (2017) wurden insgesamt 904.000 (953.000) Sanktionen gegenüber<br />
erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (ohne Sozialgeldempfänger) ausgesprochen. Die meisten<br />
Sanktionen entfielen auf Meldeversäumnisse (rd. 77 %; s. auch zum Folgenden: Bundesagentur für<br />
Arbeit, Sanktionen [Zeitreihe Monats- und Jahreszahlen ab 2007], Stand April <strong>2019</strong>).<br />
Bei den genannten Zahlen sind auch mehrere gegenüber einer Person im maßgeblichen Zeitraum<br />
ausgesprochene Sanktionen berücksichtigt. Im Vergleich zum Vorjahr sank somit die Zahl der<br />
Sanktionen um 49.000. Die bisher höchste Anzahl an Sanktionen wurde mit 1,02 Mio. im Jahr 2012<br />
festgestellt.<br />
Die Sanktionsquote drückt den Anteil der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einem Berichtsmonat<br />
mit mindestens einer Sanktion an allen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten aus. Im Dezember<br />
2018 lag die Sanktionsquote bei 3,2 %. Die Quote ist monatlich verfügbar und erlaubt die Beobachtung<br />
von unterjährigen Entwicklungen.<br />
Die jährliche Sanktionsverlaufsquote drückt dagegen den Anteil der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten<br />
aus, die in mindestens einem Berichtsmonat des Jahres SGB II-Leistungen bezogen haben<br />
und innerhalb dieses Jahres mindestens eine Sanktion hatten. Im Jahr 2018 waren das 8,5 % der<br />
Personen, die in mindestens einem Monat Leistungen erhalten haben.<br />
3. Kritik<br />
Vor dem Hintergrund der Grundrechte auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nach Art. 1 Abs. 1<br />
GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und auf<br />
1294 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1701<br />
Sanktionen im SGB II<br />
Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) wurde insb. seit dem Regelleistungsurteil des BVerfG (Urt. v. 9.2.2010 –<br />
1 BvL 1/09 u.a., s. hierzu SARTORIUS, <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1119) die Vereinbarkeit des Regelungskomplexes mit der<br />
Verfassung bestritten (Nachweise bei BERLIT in DERS./CONRADIS/PATTAR, Existenzsicherungsrecht, 3. Aufl.,<br />
Kap. 23 Rn 11 m.w.N.); s. ferner KNICKREHM/HAHN in EICHER/LUIK, SGB II, 4. Aufl. § 31a Rn 34), insb. wegen<br />
der Möglichkeit des vollständigen Entfallens des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II nach § 31a Abs. 1 S. 3<br />
SGB II (keine durchgreifenden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften sieht jedoch z.B.<br />
das LSG NRW, Beschl. v. 30.8.2018 – L 7 AS 1098/18 B ER) und wegen der härteren Sanktionierung<br />
der unter 25-jährigen nach § 31a Abs. 2 SGB II (insoweit bestehen zusätzliche Bedenken wegen der<br />
Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG; zum Meinungsstand s. etwa BERLIT in<br />
MÜNDER, SGB II, 6. Aufl. § 31a Rn 3 ff.). Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit Urteil vom 29.4.2015<br />
entschieden (B 14 AS 19/14 R, hierzu SCHWEIGLER, info also 2018, 205), dass gegen eine Minderung des Alg<br />
II-Anspruchs i.H.v. 30 % des maßgebenden Regelbedarfs wegen einer Pflichtverletzung keine durchgreifenden<br />
verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen.<br />
Der Deutsche Verein hat schon vor Jahren bisher nicht umgesetzte rechtspolitische Empfehlungen<br />
zur Reform der Sanktionen vorgelegt (NDV 2013, 289). Diese zeigten nicht nur den gesetzlichen Änderungsbedarf<br />
auf. Sie widmeten sich ebenfalls der Verwaltungspraxis und wiesen u.a. darauf hin, dass<br />
ein notwendiges individuelles Fördern und Fordern und die Auseinandersetzung mit den Ursachen von<br />
Pflichtverletzungen nur möglich sind, wenn eine ganzheitliche Betreuung – die eine entsprechende<br />
günstige Betreuungsrelation erfordert – durch die Integrationsfachkräfte gewährleistet ist. Wenn<br />
individuelle Probleme (psychosozialer Art, Lebenskrisen, häusliche Gewalt, Suchtproblematiken u.Ä.)<br />
Auslöser für Pflichtverletzungen sind, müsse entsprechend unterstützend interveniert werden,<br />
Sanktionen seien dann kein Mittel zur Verhaltenssteuerung.<br />
In die gleiche Richtung gehen etwa die sozialpolitischen Reformvorschläge des Deutschen Caritasverbands<br />
vom 28.2.2017.<br />
Bereits in der Entscheidung vom 6.5.2016 (BVerfG, Beschl. v. 6.5.2016 – 1 BvL 7/15, NZS 2016, 578 ff.) hat<br />
das BVerfG eine entsprechende Vorlage des SG Gotha zwar für unzulässig erklärt, da sie nicht den<br />
Darlegungsforderungen des Art. 80 Abs. 1 S. 1 BVerfGG genügte, es schätzte die mit der Vorlage<br />
aufgeworfenen Rechtsfragen jedoch als verfassungsrechtlich gewichtig ein.<br />
Nunmehr hatte sich das BVerfG mit einem erneuten Vorlagebeschluss des SG Gotha, das die<br />
Sanktionsnormen für verfassungswidrig ansieht (v. 2.8.2016 – S 15 AS 5157/14), zu befassen.<br />
Gegen den (über 25-jährigen) Kläger dieses sozialgerichtlichen Ausgangsverfahrens verhängte das<br />
Jobcenter zunächst als Sanktionen eine Minderung des maßgeblichen Regelbedarfs i.H.v. 30 %, da er als<br />
ausgebildeter Lagerist gegenüber einem ihm durch das Jobcenter vermittelten Arbeitgeber geäußert<br />
hatte, kein Interesse an der angebotenen Tätigkeit zu haben, sondern sich für den Verkaufsbereich<br />
bewerben zu wollen. Nachdem der Kläger einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein (§ 16 Abs. 1<br />
S. 2 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 45 SGB III) für eine praktische Erprobung im Verkaufsbereich nicht eingelöst<br />
hatte, minderte das Jobcenter den Regelbedarf um 60 %. Nach erfolglosem Widerspruch erfolgte Klage<br />
zum Sozialgericht.<br />
II. Grundzüge des Urteils des BVerfG vom 5.11.<strong>2019</strong><br />
Das BVerfG hält wesentliche Teile der Sanktionsregelungen für mit dem Grundgesetz unvereinbar<br />
(s. zu der Entscheidung auch WENNER, SozSich <strong>2019</strong>, 425).<br />
1. Unvollständige Datenlage zu den Wirkungen von Mitwirkungspflichten und Sanktionen<br />
Das Gericht resümiert in Rn 57 ff. des Urteils Untersuchungen und Stellungnahmen, die sich mit den<br />
Wirkungen der Mitwirkungspflichten und der Sanktionen befassen. Obwohl § 55 SGB II vorgibt, die<br />
Wirkungen der Leistungen zur Eingliederung und der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1295
Fach 18, Seite 1702<br />
Sanktionen im SGB II<br />
Sozialrecht<br />
regelmäßig und zeitnah zu untersuchen, ist dies hinsichtlich der sanktionierten Mitwirkungspflichten<br />
bisher nicht geschehen; es stehen nicht in ausreichendem Umfang tragfähige Daten zur Verfügung.<br />
Die Praxis der Sanktionierung erscheint insgesamt uneinheitlich. Die Gründe, auf die zurückgeführt<br />
wird, dass Mitwirkungsanforderungen nicht erfüllt werden, sind vielfältig. Eindeutige empirische und<br />
nach der Höhe der Leistungsminderung differenzierende Erkenntnisse zu den Wirkungen der Sanktionen<br />
liegen nicht vor. Die Forschungslage ist insb. Hinsichtlich der Methoden, der Repräsentativität und<br />
Aussagekraft und der Ergebnisse uneinheitlich. Besonders kritisch wird die Totalsanktion bei wiederholter<br />
Pflichtverletzung gesehen, insb. im Hinblick auf das damit verbundene Risiko, die Wohnung und<br />
den beitragsfreien Krankenversicherungsschutz zu verlieren.<br />
2. Rechtlicher Ausgangspunkt<br />
a) Wahrung der Menschenwürde<br />
Die zentralen Anforderungen für die Ausgestaltung der Grundsicherung für Arbeitsuchende ergeben<br />
sich aus der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1<br />
Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG). Allerdings verfügt der Gesetzgeber bei den Regeln zur Sicherung dieses<br />
Existenzminimums – hinsichtlich der Art und Höhe der Leistungen – über einen Gestaltungsspielraum.<br />
Gleichwohl muss seine Entscheidung an dem konkreten Bedarf der Hilfebedürftigen ausgerichtet und<br />
die Anforderungen, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, dürfen im Ergebnis<br />
nicht verfehlt werden. Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums<br />
entspricht eine zurückhaltende Kontrolle durch das BVerfG.<br />
Die Menschenwürde ist ohne Rücksicht auf Eigenschaften des sozialen Status, wie auch ohne Rücksicht<br />
auf Leistungen garantiert; sie muss nicht erarbeitet werden, sondern steht jedem Menschen von sich<br />
aus zu. Die eigenständige Existenzsicherung ist nicht Bedingung für die Gewähr von Menschenwürde;<br />
die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags<br />
des Staats aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG.<br />
b) Nachranggrundsatz: Auch hinsichtlich der Verpflichtung, an der Überwindung der Hilfebedürftigkeit<br />
aktiv mitzuwirken<br />
Das Grundgesetz verwehrt dem Gesetzgeber nach Auffassung des Gerichts jedoch nicht, die Inanspruchnahme<br />
sozialer Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz<br />
zu binden, solche Leistungen also nur dann zu gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht<br />
selbst sichern können. Der Nachranggrundsatz umfasst zunächst die Pflicht zum vorrangigen Einsatz<br />
aktuell verfügbarer Mittel aus Einkommen, Vermögen oder Zuwendungen Dritter (s. etwa § 9 Abs. 1<br />
SGB II). Mit dem Grundgesetz ist jedoch auch eine gesetzgeberische Entscheidung vereinbar, von<br />
denjenigen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch nehmen, zu verlangen, an der<br />
Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst<br />
eintreten zu lassen.<br />
Mitwirkungspflichten beschränken allerdings – ungeachtet eventuell damit verbundener Sanktionen –<br />
die Handlungsfreiheit der Betroffenen und bedürfen verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. Verfolgt<br />
der Gesetzgeber mit Mitwirkungspflichten das legitime Ziel, dass Menschen die eigene Hilfebedürftigkeit<br />
insb. durch Erwerbsarbeit vermeiden oder überwinden, müssen sie den an diesem Ziel ausgerichteten<br />
Anforderungen der Verhältnismäßigkeit genügen, also dafür geeignet, erforderlich und zumutbar<br />
sein.<br />
c) Spannungsverhältnis zwischen Sanktionen und Existenzsicherungspflicht<br />
Das Gericht beanstandet zwar grds. nicht die Entscheidung des Gesetzgebers, für den Fall, dass<br />
Menschen eine ihnen klar benannte und zumutbare Mitwirkungspflicht ohne wichtigen Grund nicht<br />
erfüllen, auch belastende Sanktionen vorzusehen, um so ihre Mitwirkung an der Überwindung der<br />
eigenen Hilfebedürftigkeit durchzusetzen.<br />
1296 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1703<br />
Sanktionen im SGB II<br />
Wird die Verletzung einer Mitwirkungspflicht durch eine Minderung existenzsichernder Leistungen<br />
sanktioniert, kann dies mit der verfassungsrechtlichen Gewährleistung einer menschenwürdigen<br />
Existenz vereinbar sein, wenn die Minderung nicht darauf ausgerichtet ist, repressiv Fehlverhalten<br />
zu ahnden, sondern darauf, dass Mitwirkungspflichten erfüllt werden, die gerade dazu dienen, die<br />
existenzielle Bedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden. Die Leistungsminderung wie auch die<br />
Pflicht, die mit ihr durchgesetzt werden soll, dienen dann dazu, so das BVerfG, den existenznotwendigen<br />
Bedarf auf längere Sicht nicht mehr durch staatliche Leistung, sondern durch Eigenleistung der<br />
Betroffenen zu decken.<br />
Allerdings hebt das Gericht hervor, dass strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit gelten<br />
müssen, da die Minderung existenzsichernder Leistungen in diesem Fall in einem unübersehbaren<br />
Spannungsverhältnis zur Existenzsicherungspflicht steht. Derartige Leistungsminderungen sind nur<br />
verhältnismäßig, wenn die Belastungen der Betroffenen auch im rechten Verhältnis zur tatsächlichen<br />
Erreichung des legitimen Ziels stehen, die Bedürftigkeit zu überwinden, also eine menschenwürdige<br />
Existenz insb. durch Erwerbsarbeit eigenständig zu sichern. Ihre Zumutbarkeit richtet sich vor allem<br />
danach, ob die Leistungsminderung unter Berücksichtigung ihrer Eignung zur Erreichung dieses Zwecks<br />
und als mildestes, gleich geeignetes Mittel in einem angemessenen Verhältnis zur Belastung der<br />
Betroffenen steht. Die Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG sind nur dann gewahrt,<br />
wenn die durch Deckung des gesamten existenznotwendigen Bedarfs erforderlichen Leistungen für<br />
Bedürftige jedenfalls bereitstehen und es in ihrer eigenen Verantwortung liegt, in zumutbarer Weise die<br />
Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistungen auch nach einer Minderung wieder zu erhalten. Der<br />
sonst bestehende Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist hier beschränkt, er ist enger, wenn er<br />
auf existenzsichernde Leistungen zugreift. Soweit er sich auf Prognosen über tatsächliche Entwicklungen<br />
und insb. über die Wirkungen seiner Regelung stützt, müssen diese hinreichend verlässlich<br />
sein. Je länger eine Minderungsregel in Kraft ist und der Gesetzgeber damit in der Lage, fundierte<br />
Einschätzungen zu erlangen, umso weniger genügt es, sich nur auf plausible Annahmen zur Wirkung<br />
der Durchsetzungsmaßnahmen zu stützen.<br />
3. Umfang der Verfassungswidrigkeit<br />
a) Minderung i.H.v. 30 % des maßgebenden Regelbedarfs (§ 31a Abs. 1 S. 1 SGB II)<br />
Die in § 31a Abs. 1 S. 1 SGB II bei der ersten Pflichtverletzung normierte Höhe einer Leistungsminderung<br />
von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs ist, so das BVerfG, nach derzeitigen Erkenntnissen verfassungsrechtlich<br />
nicht zu beanstanden. Zwar ist schon die Belastungswirkung dieser Sanktion außerordentlich<br />
und die Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit sind entsprechend hoch. Doch kann sich<br />
der Gesetzgeber auf plausible Annahmen stützen, wonach eine solche Minderung der Leistungen auch<br />
aufgrund einer abschreckenden Wirkung dazu beiträgt, die Mitwirkung zu erreichen, und er kann davon<br />
ausgehen, dass mildere Mittel nicht ebenso effektiv wären.<br />
Allerdings genügt die weitere Ausgestaltung dieser Sanktion nicht den verfassungsrechtlichen<br />
Anforderungen. Unzumutbar ist die Vorgabe in § 31a Abs. 1 S. 1 SGB II, den Regelbedarf bei einer<br />
Pflichtverletzung ohne weitere Prüfung immer zwingend zu mindern. Der Gesetzgeber muss nach<br />
Auffassung des Gerichts sicherstellen, dass Minderungen unterbleiben können, wenn sie außergewöhnliche<br />
Härten bewirken, insb. weil sie in der Gesamtbetrachtung untragbar erscheinen. Er muss Ausnahmesituationen<br />
Rechnung tragen, in denen es Menschen zwar an sich möglich ist, eine Mitwirkungspflicht<br />
zu erfüllen, die Sanktion aber dennoch im konkreten Einzelfall aufgrund besonderer Umstände<br />
unzumutbar erscheint.<br />
Für verfassungswidrig wird auch angesehen, dass die Sanktion der Minderung des Regelbedarfs nach<br />
§ 31a Abs. 1 S. 1 SGB II unabhängig von der Mitwirkung, auf die sie zielt, immer erst nach drei Monaten<br />
endet. Da der Gesetzgeber an die Eigenverantwortung der Betroffenen anknüpfen muss, wenn er<br />
existenzsichernde Leistungen suspendiert, weil zumutbare Mitwirkung verweigert wird, ist dies nur<br />
gerechtfertigt, wenn eine solche Situation grds. endet, sobald die Mitwirkung erfolgt. Sie darf ab<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1297
Fach 18, Seite 1704<br />
Sanktionen im SGB II<br />
Sozialrecht<br />
diesem Zeitpunkt nicht länger als einen Monat andauern. Ein starr andauernder Leistungsentzug<br />
überschreitet die Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums.<br />
b) Minderung des maßgebenden Regelbedarfs i.H.v. 60 % (§ 31a Abs. 1 S. 2 SGB II)<br />
Die im Fall der ersten wiederholten Verletzung einer Mitwirkungspflicht vorgegebene Minderung<br />
der Leistungen des maßgeblichen Regelbedarfs in einer Höhe von 60 % ist nach den derzeit vorliegenden<br />
Erkenntnissen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Bei der Minderung von 60 % des<br />
maßgebenden Regelbedarfs kann sich der Gesetzgeber nicht auf tragfähige Erkenntnisse dazu<br />
stützen, dass die erwünschten Wirkungen bei einer Sanktion in dieser Höhe tatsächlich erzielt und<br />
negative Effekte vermieden werden. Die Wirksamkeit dieser Leistungsminderung ist bisher nicht<br />
hinreichend erforscht. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, erneut zu sanktionieren, wenn sich eine<br />
Pflichtverletzung wiederholt und die Mitwirkungspflicht tatsächlich nur so durchgesetzt werden<br />
kann. Doch ist die Minderung i.H.v. 60 % unzumutbar, denn die hier entstehende Belastung reicht<br />
weit in das grundrechtlich gewährte Existenzminimum hinein. Die vom Gesetzgeber in § 31a Abs. 3<br />
SGB II getroffenen Vorkehrungen, um zu verhindern, dass Menschen durch eine Sanktion die<br />
Grundlagen dafür verlieren, überhaupt wieder in Arbeit zu kommen, beseitigen die verfassungsrechtlichen<br />
Bedenken nicht.<br />
c) Vollständiger Wegfall des Arbeitslosengelds II (§ 31a Abs. 1 S. 3 SGB II)<br />
Nach den vorstehenden Äußerungen kommt das Gericht folgerichtig zu dem Ergebnis, dass auch der<br />
vollständige Wegfall des Arbeitslosengelds II (Alg II) nach § 31a Abs. 1 S. 3 SGB II (bei jeder weiteren<br />
wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 SGB II) auf der Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse mit<br />
den verfassungsrechtlichen Maßgaben nicht vereinbar ist. Hier entfallen über die Geldzahlungen für<br />
den maßgebenden Regelbedarf hinaus auch die Leistungen für Mehrbedarfe und für Unterkunft und<br />
Heizung sowie die Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Es bestehen damit<br />
bereits Zweifel, ob dadurch die Grundlagen der Mitwirkungsbereitschaft erhalten bleiben. Es bestehen<br />
keine tragfähigen Erkenntnisse, aus denen sich ergibt, dass ein völliger Wegfall von existenzsichernden<br />
Leistungen geeignet wäre, das Ziel der Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit<br />
und letztlich der Aufnahme von Erwerbsarbeit zu fördern. Erhebliche Bedenken bestehen auch gegen<br />
die Erforderlichkeit dieser Sanktion, weil diese gravierende Belastung im grundrechtlich geschützten<br />
Bereich der menschenwürdigen Existenz entfaltet. Der grundsätzliche Einschätzungsspielraum des<br />
Gesetzgebers ist überschritten, weil in keiner Weise belegt ist, dass ein Wegfall existenzsichernder<br />
Leistungen notwendig wäre, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Vielmehr spricht vieles dafür, dass<br />
sich eine solche Totalsanktion als kontraproduktiv erweist: Mit dem möglichen Verlust der Wohnung<br />
geht der Ausgangspunkt dafür verloren, durch Erwerbsarbeit wieder für sich selbst sorgen zu können;<br />
Gleiches gilt für Schulden, die bei einem Wegfall der Leistungen entstehen, so für Strom oder für<br />
Beiträge für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung. Schließlich erscheint es wahrscheinlich,<br />
dass derart sanktionierte Menschen ihre Bedarfe durch illegale Erwerbsarbeit und Kriminalität zu<br />
decken versuchen.<br />
d) Konsequenzen des Urteils<br />
Das BVerfG erklärt nach § 82 Abs. 1 i.V.m. § 78 S. 1 BVerfGG ein Gesetz grds. für nichtig, das nach seiner<br />
Überzeugung mit dem Grundgesetz unvereinbar ist. Die bloße Unvereinbarkeitserklärung einer verfassungswidrigen<br />
Norm ist hingegen regelmäßig geboten, wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten<br />
hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen.<br />
Das ist hier der Fall. Der Gesetzgeber kann insb. auf die Vorgabe der Leistungsminderungen als<br />
Sanktionen verzichten, anstelle von Sanktionen die Umstellung von Geldleistungen auf Sachleistungen<br />
oder geldwerte Leistungen vorgeben oder auch eine Regelung schaffen, die bei einer Verletzung von<br />
Mitwirkungspflichten geringere als die bisher geregelten oder je nach Mitwirkungshandlung unterschiedliche<br />
Minderungshöhen vorsieht. Auch hat der Gesetzgeber unterschiedliche Möglichkeiten, um<br />
außergewöhnliche Härten zu verhindern, die durch eine zwingende Sanktionierung entstehen können.<br />
Zudem kann er die Dauer einer Sanktion unterschiedlich ausgestalten, indem er nach Mit-<br />
1298 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1705<br />
Sanktionen im SGB II<br />
wirkungshandlungen oder auch zwischen nachgeholter Mitwirkung und der Bereitschaft, in Zukunft<br />
mitzuwirken, unterscheidet. Auch sollen Sanktionen, die eine Minderung des Regelbedarfs von mehr<br />
als 30 % vorsehen, künftig nicht generell ausgeschlossen sein. Die Regelungen wurden daher nicht für<br />
nichtig, sondern für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt.<br />
Nach der Urteilsformel gelten bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung durch den Gesetzgeber –<br />
hierfür wurde, was unüblich ist, keine Frist gesetzt – die §§ 31a Abs. 1 S. 1, 2 u. 3 und § 31b Abs. 1 S. 3 SGB II<br />
in den Fällen des § 31 Abs. 1 SGB II in der Fassung folgender Übergangsregelung weiter:<br />
• Die Leistungsminderung i.H.v. 30 % nach § 31a Abs. 1 S. 1 SGB II ist mit der Maßgabe anwendbar, dass<br />
eine Sanktionierung nicht erfolgen muss, wenn dies im Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte<br />
führen würde. Insbesondere kann von einer Minderung abgesehen werden, wenn nach Einschätzung<br />
der Behörde die Zwecke des Gesetzes nur erreicht werden können, indem eine Sanktion unterbleibt.<br />
• Die gesetzlichen Regelungen zur Leistungsminderung um 60 % sowie zum vollständigen Leistungsentzug<br />
(§ 31a Abs. 1 S. 2 u. 3 SGB II) sind mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter<br />
Pflichtverletzung eine Leistungsminderung nicht über 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen<br />
darf und von einer Sanktionierung auch hier abgesehen werden kann, wenn dies zu einer<br />
außergewöhnlichen Härte führen würde. Insbesondere kann auch hier von einer Minderung abgesehen<br />
werden, wenn nach Einschätzung der Behörde die Zwecke des Gesetzes nur erreicht werden<br />
können, indem eine Sanktion unterbleibt.<br />
• § 31b Abs. 1 S. 3 SGB II zur zwingenden dreimonatigen Dauer des Leistungsentzugs ist mit der<br />
Einschränkung anzuwenden, dass die Behörde die Leistung wieder erbringen kann, sobald die Mitwirkungspflicht<br />
erfüllt wird oder Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären,<br />
ihren Pflichten nachzukommen. Die Minderung darf ab diesem Zeitpunkt nicht länger als einen<br />
Monat andauern.<br />
III.<br />
Ausblick<br />
1. Folgen der Entscheidung für bereits abgeschlossene und noch laufende Verfahren (s. Rn 219 ff.<br />
des Urteils)<br />
1. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber nicht dazu, rückwirkend Leistungen<br />
ohne Minderungen nach § 31a SGB II festzusetzen.<br />
2. Für bestandskräftige Verwaltungsakte bleibt es bei der Regelung in § 40 Abs. 3 SGB II – danach sind<br />
Überprüfungsanträge nach der Entscheidung des BVerfG für Zeiträume vor der Entscheidung nicht<br />
möglich – als Sonderregelung zu § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X. Fraglich ist, was für Überprüfungsanträge<br />
nach § 44 SGB X wegen Sanktionen gilt, die vor dem Urteil des BVerfG eingelegt wurden. In der<br />
Kommentarliteratur wird hierzu vertreten, § 40 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB II gelte unabhängig davon, ob der<br />
Überprüfungsantrag bereits vor der Entscheidung des BVerfG gestellt wurde (s. etwa GREISER in<br />
EICHER/LUIK, SGB II, § 40 Rn 91). Gerichtlich ist die Frage noch nicht entschieden.<br />
3. Nicht bestandskräftige Bescheide über Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 S. 1 SGB II (Minderung<br />
über 30 %), die vor der Urteilsverkündung festgestellt worden sind, bleiben wirksam.<br />
4. Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung nicht bestandskräftige Bescheide über Leistungsminderungen<br />
nach § 31a Abs. 1 S. 2 und 3 SGB II sind, soweit sie über eine Minderung i.H.v. 30 % des maßgebenden<br />
Regelbedarfs hinausgehen, aufzuheben. Eines Widerspruchs bedarf es insoweit nicht, wohl aber,<br />
wenn bei einer Sanktion über 30 % des Regelbedarfs das Bestehen einer außergewöhnlichen Härte<br />
oder die Dauer der Sanktion nach einer zwischenzeitlichen Erfüllung der Mitwirkungshandlung<br />
(s. oben II. 3. a, 2. u. 3.) gerügt wird.<br />
2. Ungeklärte Rechtsfragen<br />
a) Verschärfte Sanktionierung der unter 25-Jährigen<br />
Über die Verfassungswidrigkeit der verschärften Sanktionierung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten,<br />
die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (§ 31a Abs. 2 SGB II), hatte das Gericht nicht zu<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1299
Fach 18, Seite 1706<br />
Sanktionen im SGB II<br />
Sozialrecht<br />
entscheiden. Da nach dieser Vorschrift bereits beim ersten Pflichtverstoß eine Beschränkung des Alg II<br />
auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) erfolgt und bei wiederholter Pflichtverletzung<br />
das Alg II vollständig entfällt, dürften auch diese Vorschriften nach den Ausführungen des jetzigen<br />
Urteils verfassungswidrig sein. Zusätzlich liegt wegen der strengeren Ahndungen von Pflichtverletzungen<br />
von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3<br />
Abs. 1 GG) nahe.<br />
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat angekündigt zu prüfen, inwiefern die vom<br />
Gericht aufgestellten Grundsätze für die Gruppe der unter 25-Jährigen Anwendung findet. Bis zum<br />
Abschluss dieser Prüfung empfiehlt es sich, gegen nicht bestandskräftige Bescheide Rechtsmittel<br />
einzulegen und bei bestandskräftig abgeschlossenen Verfahren einen Überprüfungsantrag nach § 44<br />
SGB X (s. die Einschränkung in § 40 Abs. 1 S. 2 SGB II) zu stellen.<br />
b) Auswirkungen der unzureichenden Höhe des Regelbedarfs<br />
Nach der Neufestsetzung der Regelleistung zum 1.1.2011 hat die nominal gleichbleibende Minderungsquote<br />
einen anderen Kontext erhalten, weil seither durch die Bereinigung/Minderung statistisch<br />
ermittelter Bedarfe der Spielraum für den beim Statistikmodell verfassungsgebotenen internen<br />
Ausgleich zwischen den verschiedenen Bedarfspositionen deutlich verringert worden ist (s. BERLIT in<br />
DERS. u.a., Existenzsicherungsrecht, 3. Aufl. <strong>2019</strong>, Kap. 23 Rn 12 m.w.N.). Das BVerfG hat zwar in seinem<br />
Beschluss vom 23.7.2014 (1 BvL 10/12 u.a.; s. hierzu SARTORIUS/PATTAR, <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1409 ff.) entschieden,<br />
dass die vom Gesetzgeber getroffenen neuen Regelungen derzeit noch mit dem Grundgesetz<br />
vereinbar sind. Allerdings hat das Gericht seine Ausführungen ergänzt mit konkreten Anweisungen<br />
an den Gesetzgeber und an die Normanwender, um dem Risiko einer Unterdeckung zu begegnen.<br />
Eine vollständige Umsetzung ist bisher nicht erfolgt.<br />
Auf diesen rechtlichen Aspekt ist das Gericht im aktuellen Urteil nicht eingegangen.<br />
c) Sanktionen im Asylbewerberleistungsgesetz<br />
Das BSG hat durch Urteil vom 12.5.2017 (B 7 AY 1/16 R) zu § 1a AsylbLG entschieden, dass die dort<br />
bestimmte Beschränkung der Leistung auf das unabweisbar Gebotene verfassungsgemäß ist, wenn<br />
ein persönliches Fehlverhalten des Leistungsberechtigten bei der Beschaffung von Passersatzpapieren<br />
zur Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen führt. Gegen die Entscheidung wurde<br />
Verfassungsbeschwerde eingelegt, die beim BVerfG anhängig ist (1 BvR 2682/17).<br />
3. Vorschläge zur Reform des Sanktionsrechts<br />
Nach jüngsten Pressemitteilungen soll der zuständige Fachminister – jedenfalls bei über 25-Jährigen –<br />
keine Sanktionen vorsehen, die 30 % des Regelbedarfs übersteigen. Linke und Grüne haben in einem<br />
gemeinsamen Antrag an den Bundestag die vollständige Abschaffung der Sanktionen gefordert (NJWaktuell<br />
49/<strong>2019</strong>, 8). Der DGB, die AWO, die Diakonie Deutschland, der Paritätische Wohlfahrtsverband<br />
und andere Organisationen fordern ebenfalls, die bestehenden Sanktionsregelungen aufzuheben und<br />
stattdessen ein System der Förderung und Unterstützung einzurichten (s. SozSich <strong>2019</strong>, 389).<br />
1300 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 22 R, Seite 1143<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger (III/<strong>2019</strong>)<br />
Von Rechtsanwalt DETLEF BURHOFF, RiOLG a.D., Leer/Augsburg<br />
Inhalt<br />
I. Hinweis<br />
II. Ermittlungsverfahren<br />
1. Durchsuchung<br />
2. Pflichtverteidigungsfragen<br />
III. Hauptverhandlung<br />
1. Mitteilungspflicht (§ <strong>24</strong>3 Abs. 4 StPO)<br />
2. Beweisverwertungsverbot nach Vernehmungsfehler<br />
der Polizei?<br />
IV. Bußgeldverfahren<br />
1. Beweisantrag „anderer Fahrer“<br />
2. Zeugnisverweigerungsrecht und Vernehmung<br />
der Verhörsperson<br />
V. Rechtsmittelverfahren<br />
1. Konkludenter Wiedereinsetzungsantrag<br />
2. Nutzung des beA und Verschulden des<br />
Rechtsanwalts<br />
I. Hinweis<br />
Die PKH-Richtlinie EU 2016/1919 vom 26.10.2016 verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Einhaltung von<br />
Mindestanforderungen in Haftsachen (s. die Richtlinie unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/<br />
TXT/PDF/?uri=CELEX:32016L1919&from=EN). Nach Art. 12 Abs. 1 war die Richtlinie bis zum 5.5.<strong>2019</strong> in<br />
nationales Recht umzusetzen (vgl. Art. 12 Abs. 1 PKH-Richtlinie i.V.m. Ziffer 2 der Berichtigung der PKH-<br />
Richtlinie [Abl. 2017 L 91/40]). Die Umsetzung ist nicht erfolgt. Es liegt bislang lediglich eine<br />
Bundesratsdrucksache vor (vgl. BR-Drucks 364/19); es bleibt abzuwarten, wann die erforderlichen<br />
Neuregelungen kommen (vgl. dazu auch BURHOFF StRR 7/2018, 5 ff.; JAHN/ZINK StraFo <strong>2019</strong>, 318 ff.; KANIESS<br />
HRRS <strong>2019</strong>, 201 ff.; vgl. auch noch II. 2. a).<br />
II.<br />
Ermittlungsverfahren<br />
1. Durchsuchung<br />
a) Anfangsverdacht bei der Durchsuchung<br />
Zu Fragen der Anordnung von Durchsuchung und/oder Beschlagnahme muss der Bundesgerichtshof<br />
(BGH) so häufig nicht Stellung nehmen. Man liest zu den Fragen eher etwas vom BVerfG (vgl. dazu<br />
eingehend BURHOFF, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl., <strong>2019</strong>, Rn 1567 ff.<br />
m.w.N. aus der Rspr. [im Folgenden kurz: BURHOFF, EV]). Im Beschl. v. 26.6.<strong>2019</strong> (StB 10/19, NStZ-RR <strong>2019</strong>,<br />
282 f.) hat der BGH dazu nun aber mal wieder Stellung genommen.<br />
Nach dem Sachverhalt hatte sich ein Zeuge mit (vagen) Angaben beim Verfassungsschutz gemeldet.<br />
Aufgrund dieser Angaben und einiger weiterer Ermittlungsergebnisse hatte der Generalbundesanwalt<br />
(GBA) gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Gründung einer<br />
und der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung eingeleitet. In dem<br />
Verfahren erging eine Durchsuchungsanordnung. Bei der daraufhin durchgeführten Durchsuchung<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1301
Fach 22 R, Seite 1144<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
konnten Beweismittel, die den Tatverdacht hätten erhärten können, nicht gefunden werden. Der<br />
Beschuldigte hatte gegen die Durchsuchungsanordnung Beschwerde eingelegt und geltend gemacht,<br />
die Durchsuchung habe mangels Anfangsverdachts nicht angeordnet werden dürfen und sei angesichts<br />
des geringen Verdachtsgrads unverhältnismäßig. Der Ermittlungsrichter beim BGH hat der<br />
Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Senat zur Entscheidung vorgelegt. Die Beschwerde hatte<br />
keinen Erfolg.<br />
Nach Auffassung des BGH (a.a.O.) war die Beschwerde unbegründet. Für eine regelmäßig in einem<br />
frühen Ermittlungsstadium in Betracht kommende Durchsuchung beim Verdächtigen genüge der<br />
über bloße Vermutungen hinausreichende, auf bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte gestützte<br />
konkrete Verdacht, dass eine Straftat begangen worden sei und der Verdächtige als Täter oder<br />
Teilnehmer an dieser Tat in Betracht komme. Eines hinreichenden oder gar dringenden Tatverdachts<br />
bedürfe es – unbeschadet der Frage der Verhältnismäßigkeit – nicht. Einen solchen (ausreichenden)<br />
Verdacht könnten allein die Angaben eines Zeugen auch dann begründen, wenn dieser durch weitere<br />
Ermittlungen weder erhärtet noch entkräftet werde und Anlass dafür bestehe, die Glaubhaftigkeit der<br />
Aussage des Zeugen kritisch zu hinterfragen. Die Durchsuchungsmaßnahme ermögliche gerade, die<br />
Qualität der Angaben des Zeugen zu überprüfen, und könne neben der Belastung auch zur Entlastung<br />
des Verdächtigen beitragen. Hier sei in Anbetracht der sonstigen Ermittlungsergebnisse nicht von<br />
einer augenscheinlichen Falschbelastung auszugehen gewesen, so dass die Zweifel am Wahrheitsgehalt<br />
der Angaben des Zeugen deren Beweiswert nicht vollständig hätten beseitigen können. Es sei<br />
in diesem Verfahrensstadium weder tatsächlich möglich noch rechtlich geboten gewesen, die Aussage<br />
des Zeugen einer weitergehenden individuellen Glaubhaftigkeitsanalyse zu unterziehen. Nach dem<br />
Inhalt der Aussage des Zeugen hätten zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Tat gem.<br />
§ 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgelegen. Auch die Verhältnismäßigkeit der Durchsuchungsanordnung sei<br />
nicht zweifelhaft.<br />
Hinweis:<br />
Der BGH geht m.E. recht weit, wenn er die Anordnung einer Durchsuchung aufgrund letztlich doch<br />
recht vager Angaben eines Zeugen als zulässig ansieht, wenn durch das Ergebnis der Durchsuchung die<br />
mangelnde Qualität einer Zeugenaussage möglicherweise kompensiert oder offengelegt wird. Denn<br />
nach der Rechtsprechung des BVerfG darf die Durchsuchung gerade nicht (erst) zur Ermittlung von<br />
Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Anfangsverdachts führen (vgl. die Nachweise bei BURHOFF,<br />
EV, Rn 1588), sondern sie setzt den Tatverdacht bereits voraus. Da hilft es m.E. auch nicht, wenn der BGH<br />
ausführt, die Durchsuchung könne gerade auch dazu dienen, die Qualität der Angaben eines Zeugen zu<br />
überprüfen und neben der Belastung auch zur Entlastung des Beschuldigten beitragen. Wegen dieser<br />
Bedenken wird man die Entscheidung des BGH kaum verallgemeinern dürfen, zumal der BGH sehr am<br />
Einzelfall argumentiert.<br />
b) Auffindeverdacht bei der Durchsuchung<br />
Ein Beschluss des VerfGH Sachsen vom 1.8.<strong>2019</strong> (Vf. 39-IV-19, StRR 10/<strong>2019</strong>, 2 [Ls.]) hat zum sog.<br />
Auffindeverdacht Stellung genommen. Hintergrund des Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist ein bei<br />
der StA Leipzig gegen die als Rechtsanwältin tätige Beschuldigte geführtes Ermittlungsverfahren<br />
wegen des Verdachts des Diebstahls bzw. der Unterschlagung. Ausgangspunkt der Ermittlungen war<br />
eine Strafanzeige des ehemaligen Kanzleipartners Z. der Beschuldigten vom 14.12.2017. Dieser gab<br />
an, im Zuge der Auseinandersetzung der Partnerschaftsgesellschaft bemühten sich sowohl die Beschuldigte<br />
als auch die Partner W. und Z., die ihrerseits weiter zusammenarbeiten wollten, bei<br />
bestehenden Mandanten um Folgebeauftragung, wozu entsprechende Vollmachten erteilt worden<br />
seien. Am Morgen des 14.12.2017 sei das Verschwinden verschiedener Unterlagen von Mandanten, die<br />
bereits neue Vollmachten für W. und Z. erteilt hätten, aus dem gemeinsamen Büro festgestellt worden.<br />
Diese Unterlagen seien am Vortag noch vollständig vorhanden gewesen. Einbruchsspuren seien<br />
nicht erkennbar gewesen. Die Beschuldigte teilte per E-Mail vom 3.1.2018 mit, ihr sei ein entspre-<br />
1302 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 22 R, Seite 1145<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
chender Vorfall nicht bekannt. Der zum Sachverhalt vernommene Zeuge L. erklärte, er schließe aus,<br />
dass kanzleifremde Personen das Büro unbeobachtet betreten könnten. Laut Verfügung der StA vom<br />
1.2.2018 bestand zwar ein Anfangsverdacht gegen die Beschuldigte, es sollten aber vor Beantragung<br />
eines Durchsuchungsbeschlusses zunächst die Details der Auseinandersetzung der Partnerschaftsgesellschaft<br />
weiter aufgeklärt werden. Eine Verzögerung der Durchsuchung wurde als unproblematisch<br />
angesehen, weil die Beschuldigte ohnehin bereits von der Anzeige gewusst habe. Im weiteren Verlauf<br />
der Ermittlungen wurden u.a. der Mitarbeiter R. der Kanzlei sowie die ehemalige Partnerin W. zum<br />
Sachverhalt befragt und eine Auflistung fehlender Unterlagen sowie vorhandener Vollmachten<br />
eingeholt.<br />
Auf Antrag der StA erließ das AG dann am 3.5.2018 einen Durchsuchungsbeschluss betreffend u.a.<br />
die Wohnung und Geschäftsräume der Beschuldigten. Gesucht werden sollte nach Jahresabschlussund<br />
Arbeitsordnern sowie weiteren Unterlagen für verschiedene namentlich genannte Mandanten.<br />
Die Durchsuchung fand am <strong>24</strong>.5.2018 statt. Die beschuldigte Rechtsanwältin hat sich dann noch<br />
beim VerfGH Sachsen (a.a.O.) gegen die Rechtmäßigkeit der Durchsuchung gewendet, nachdem<br />
ihre Rechtsmittel beim LG Leipzig keinen Erfolg hatten. Der VerfGH (a.a.O.) hat die Verfassungsbeschwerde<br />
teilweise als unzulässig und im Übrigen als unbegründet angesehen. Hier die Ausführungen<br />
zur Begründetheit (zur Zulässigkeit bitte im Volltext selbst nachlesen [Anm. des VERF.]):<br />
Der VerfGH (a.a.O.) hat in der Anordnung der Durchsuchung keine Verletzung von Art. 30 Abs. 1<br />
SächsVerf gesehen. Art. 30 Abs. 1 SächsVerf schütze die Unverletzlichkeit der Wohnung, wozu auch<br />
Arbeits- und Geschäftsräume wie Anwaltskanzleien gehören können. Eine Durchsuchung, die in diese<br />
grundrechtlich geschützte Sphäre eingreift, sei nur unter den Voraussetzungen des Art. 30 Abs. 2<br />
SächsVerf und – wie alle Maßnahmen im Strafverfahren – unter Beachtung des Grundsatzes der<br />
Verhältnismäßigkeit zulässig. Erforderlich zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Unverletzlichkeit<br />
der Wohnung sei jedenfalls der Verdacht, dass eine Straftat begangen worden sei. Das Gewicht des<br />
Eingriffs verlange dabei Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen<br />
hinausreichen (vgl. auch BURHOFF, EV, Rn 1580 ff. m.w.N.). Den Anforderungen sei – so der VerfGH –<br />
der angefochtene Durchsuchungsbeschluss gerecht geworden. Insbesondere genüge auch die<br />
Bezeichnung der Gegenstände, nach denen gesucht werden sollte, in dem angegriffenen Durchsuchungsbeschluss<br />
den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Sie seien (noch) so konkret bezeichnet,<br />
dass die mit dem Vollzug des Beschlusses betrauten Beamten ohne Weiteres in die Lage versetzt<br />
wurden, die Gegenstände in den Durchsuchungsobjekten aufzufinden, so dass der Eingriff messbar<br />
und kontrollierbar geblieben sei.<br />
Hinweis:<br />
Von Bedeutung ist bei der Anordnung einer Durchsuchung, einem Grundrechtseingriff, immer auch<br />
die Frage der Verhältnismäßigkeit. Die Maßnahme ist dann unverhältnismäßig, wenn naheliegende<br />
grundrechtsschonende Ermittlungsmaßnahmen ohne greifbare Gründe unterbleiben oder zurückgestellt<br />
werden und die vorgenommene Maßnahme außer Verhältnis zur Stärke des in diesem Verfahrensabschnitt<br />
vorliegenden Tatverdachts steht. Im Einzelfall können die Geringfügigkeit der zu ermittelnden<br />
Straftat, eine geringe Beweisbedeutung der zu beschlagnahmenden Gegenstände sowie die<br />
Vagheit des Auffindeverdachts der Durchsuchung entgegenstehen (vgl. dazu VerfGH Sachsen, a.a.O.;<br />
BURHOFF, EV, Rn 1630 ff.).<br />
2. Pflichtverteidigungsfragen<br />
a) Umsetzung/Anwendung der RiLi 2016/1919<br />
aa) Unmittelbare Anwendung im nationalen Recht?<br />
Die PKH-Richtlinie EU 2016/1919 vom 26.10.2016 war bis zum 5.5.<strong>2019</strong> in nationales Recht umzusetzen<br />
(s. oben I). Nachdem das nicht geschehen ist, stellte sich in der Praxis zunächst vor allem die Frage, ob<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1303
Fach 22 R, Seite 1146<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
die Grundsätze der RiLi ggf. automatisch im Recht der Pflichtverteidigung gelten. Dazu hat der BGH im<br />
Beschl. v. 4.6.<strong>2019</strong> (1 BGs 170/19, https://www.burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/5218.htm) Stellung<br />
genommen. Der BGH hat die Frage verneint. Für eine unmittelbare Anwendung der Bestimmungen der<br />
sog. PKH-Richtlinie i.V.m. § 141 Abs. 3 StPO mit der Folge, dass bereits mit Ablauf der Umsetzungsfrist für<br />
die Mitgliedstaaten am 5.5.<strong>2019</strong> (vgl. Art. 12 Abs. 1 PKH-Richtlinie i.V.m. Ziffer 2 der Berichtigung der<br />
PKH-Richtlinie [Abl. 2017 L 91/40]) „im Regelfall schon vor der ersten Beschuldigtenvernehmung ein Antrag auf<br />
Pflichtverteidigerbestellung zu stellen ist“, sei rechtlich kein Raum (vgl. dazu auch BURHOFF StRR 7/<strong>2019</strong>, 5 ff.).<br />
Erforderlich für eine unmittelbare Wirkung einzelner Richtlinienbestimmungen sei – neben dem Ablauf<br />
der Umsetzungsfrist –, dass diese inhaltlich unbedingt und hinreichend genau gefasst seien (vgl. bereits<br />
EuGH, Urt. v. 19.1.1982 – Rs 8/81; BECKER NJW 1982, 499, 500). Das hat der BGH verneint. Den Mitgliedsstaaten<br />
werde nämlich ein nicht unerheblicher Gestaltungsspielraum eingeräumt, der es ihnen<br />
namentlich ermöglicht, die Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Strafverfahren an „eine Bedürftigkeitsprüfung“<br />
(Art. 4. Abs. 3 PKH-RL), eine „Prüfung materieller Kriterien“ (Art. 4 Abs. 4 PKH-RL) oder an „beides“<br />
zu knüpfen (vgl. Art. 4 Abs. 2 PKH-RL).<br />
Hinweise:<br />
Damit bleibt nur die Möglichkeit der „Anwendung“ der RiLi im Rahmen der Auslegung des derzeitigen nationalen<br />
Rechts über die Grundsätze der sog. richtlinienkonformen Auslegung (vgl. aber auch dazu ablehnend<br />
BGH, Beschl. v. 4.6.<strong>2019</strong> – 1 BGs 170/19, https://www.burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/5218.htm). Danach<br />
sind alle Organe der Mitgliedstaaten verpflichtet, bei der Auslegung nationaler Rechtsvorschriften Unionsrechtskonformität<br />
herzustellen. Grenze dieser Verpflichtung ist das Verbot der contra-legem-Auslegung,<br />
welches bei Fehlen eines auslegungsfähigen nationalen Rechtssatzes bzw. Überschreitung gültiger Auslegungstopoi<br />
eingreift (zu allem BURHOFF 7/<strong>2019</strong>, 5 ff.; KANIESS HRRS <strong>2019</strong>, 201 f. m.w.N.; JAHN/ZINK StraFo <strong>2019</strong>,<br />
318 ff.).<br />
Ansatzpunkte für eine Auslegung des nationalen Rechts bieten die Generalklausel des § 140 StPO, der die<br />
Beiordnungsgründe regelt, und die Verfahrensvorschriften des § 141 Abs. 3 S. 1 und 4 StPO.<br />
bb) Anwendung im Einzelfall<br />
Exemplarisch soll auf Entscheidungen von Instanzgerichten zur Anwendung der noch nicht umgesetzten<br />
PKH-Richtlinie 2016/1919 hingewiesen werden (s. aber auch BGH, Beschl. v. 4.6.<strong>2019</strong> – 1 BGs<br />
170/19, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 608/<strong>2019</strong>; https://www.burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/5218.htm). Das<br />
LG Chemnitz geht in seinem Beschl. v. 30.7.<strong>2019</strong> (5 Qs 316/19, StRR 8/<strong>2019</strong>, 18 f.) davon aus,<br />
dass Regelungen aus Art. 4 Abs. 4 S. 2 i.V.m. Art. 3 der EU PKH-Richtlinie 2016/<strong>2019</strong> nach Ablauf<br />
der Umsetzungsfrist bei der Entscheidung über eine Pflichtverteidigerbestellung angemessen zu<br />
würdigen sind und in die Entscheidung mit einfließen müssen. Der Angeklagte befand sich in einem<br />
anderen Verfahren in Haft. Das AG hatte eine Pflichtverteidigerbestellung abgelehnt. Das LG hat<br />
nachträglich beigeordnet. Zwar habe sich der Angeklagte zum Zeitpunkt der amtsrichterlichen<br />
Entscheidung erst seit ca. sieben Wochen in Strafhaft befunden, so dass die Voraussetzungen des<br />
§ 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO noch nicht vorgelegen hätten. Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wäre<br />
aber nach Auffassung des LG vorliegend gem. § 140 Abs. 2 StPO geboten gewesen. Der Anspruch des<br />
Angeklagten ergebe sich insoweit aus Art. 4 Abs. 4 S. 2 i.V.m. Art. 3 der EU PKH-Richtlinie 2016/<strong>2019</strong>.<br />
Zwar sei diese EU-Richtlinie nicht in nationales deutsches Recht umgesetzt, die Frist zur Umsetzung<br />
sei jedoch zwischenzeitlich abgelaufen. Ein Regierungsentwurf vom 12.6.<strong>2019</strong> sehe die Umsetzung der<br />
Richtlinie vor. Damit seien die Regelungen der Richtlinie bei der Ermessensentscheidung angemessen<br />
zu würdigen und müssten in die Entscheidung mit einfließen.<br />
Hinweis:<br />
Das LG hat den ablehnenden Beschluss des AG aufgehoben und hat dem Angeklagten rückwirkend für die<br />
erste Instanz nachträglich einen Pflichtverteidiger beigeordnet. Dies sei – so das LG – ausnahmsweise<br />
zulässig, obwohl die erste Instanz bereits durch – nicht rechtskräftiges – Urteil beendet worden sei, da der<br />
1304 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 22 R, Seite 1147<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Angeklagte noch ein Interesse an der nachträglichen Beiordnung habe. Auch nach der EU-Richtlinie könne<br />
für das weitere Verfahren die Beiordnung wieder aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen einer<br />
notwendigen Beiordnung, hier die Haft in anderer Sache, wieder wegfallen.<br />
Das AG Freiburg hat in seinem Beschl. v. 5.8.<strong>2019</strong> (JSch 19 Ge 64/19 jug, StRR 9/19, 13) ebenfalls<br />
unter Hinweis auf die Richtlinie nachträglich einen Pflichtverteidiger bestellt. Zwar ist das AG nach wie<br />
vor der Auffassung, dass eine Beiordnung grds. dann nicht mehr veranlasst sei, wenn eine erste<br />
Beschuldigtenvernehmung nicht mehr zu erwarten sei. Dies könne jedoch dann nicht gelten, wenn<br />
bereits eine Beschuldigtenvernehmung – wie im vom AG entschiedenen Fall wegen des Verdachts der<br />
sexuellen Nötigung und Vergewaltigung – durchgeführt wurde, ohne dass ein Verteidiger bestellt<br />
wurde, und der ordnungsgemäß belehrte Beschuldigte dies berechtigterweise zum Anlass genommen<br />
habe, einen Verteidiger zu konsultieren, der in der Folge im Ermittlungsverfahren auch tätig gewesen<br />
sei. Diese Auslegung steht nach Auffassung des AG in Übereinstimmung mit Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie<br />
2016/1919, der bestimme, dass die Beiordnungsvorschriften sogar auch für Personen gelten, die<br />
ursprünglich nicht Verdächtige oder beschuldigte Personen waren, aber während der Befragung<br />
durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde zu Verdächtigen oder beschuldigten<br />
Personen werden.<br />
Hinweis:<br />
Es ist m.E. zutreffend, wegen des (verpassten) Zeitpunkts der Beiordnung auf die RiLi zurückzugreifen<br />
und sich nicht auf das Argument: Nachträgliche Beiordnung nicht zulässig, zurückzuziehen. Das Argument<br />
wird in Zukunft unter Anwendung der RiLi eh kaum mehr gegen eine nachträgliche Beiordnung angeführt<br />
werden können, wenn die rechtzeitige Beiordnung verpasst worden ist (vgl. dazu auch schon LG<br />
Köln, Beschl. v. 9.4.2018 – 101 Qs 21/18; zur nachträglichen Beiordnung BURHOFF, EV, Rn 3331 ff. m.w.N.).<br />
Das KG hat schließlich in einem Beschl. v. 4.7.<strong>2019</strong> (4 Ws 62/19 – 161 AR 138/19, StRR 10/<strong>2019</strong>, 17)<br />
ausgeführt, dass eine unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie nach dem Verstreichen der Umsetzungsfrist<br />
zweifellos in Bezug auf die in Art. 4 Abs. 4 S. 2 formulierten Fälle (Beschuldigter bereits in<br />
Haft oder anstehende Entscheidung über eine Haft) erforderlich sei. Darüber hinaus aber gebiete die<br />
Richtlinie nicht die Erweiterung des Anwendungsbereichs der notwendigen Verteidigung auf (alle)<br />
Fälle, in denen einem Beschuldigten in einem Ermittlungsverfahren ein Tatvorwurf eröffnet wird.<br />
Vielmehr ergebe sich aus Art. 4 Abs. 1 sowie 2 und Abs. 4 S. 1 der Richtlinie, dass den Mitgliedstaaten<br />
die Befugnis eingeräumt ist, eine Prüfung materieller Kriterien, wie der Schwere der Straftat, der<br />
Komplexität des Falls und der Schwere der zu erwartenden Strafe vorzusehen.<br />
Hinweis:<br />
Es ist zu hoffen, dass das nicht der erste Vorbote einer restriktiven Auslegung der PKH-RiLi ist.<br />
b) Rechtsprechungsübersicht<br />
Pflichtverteidigungsfragen spielen in der Praxis immer eine große Rolle. Die nachfolgenden Ausführungen<br />
stellen daher im Anschluss an BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 22 R, S. 1098, 1093 ff. erneut die dazu in der<br />
letzten Zeit ergangenen Entscheidungen in einem ABC zusammen. Die Rechtsprechungsübersicht hat<br />
den Stand von Ende November <strong>2019</strong> (vgl. zu den Pflichtverteidigungsfragen auch BURHOFF, EV,<br />
Rn 2990 ff.).<br />
• Aussetzung der Hauptverhandlung<br />
Kommt es wegen eines Interessenkonflikts bei der Verteidigung von mehreren Mitangeklagten<br />
durch Rechtsanwälte derselben Sozietät oder Bürogemeinschaft zu einer Aussetzung der Hauptverhandlung<br />
oder einer darauf beruhenden erfolgreichen Revision, ist die Belastung der Verteidi-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1305
Fach 22 R, Seite 1148<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
ger mit den Kosten in entsprechender Anwendung des § 145 Abs. 4 StPO zu prüfen (OLG Bremen,<br />
Beschl. v. <strong>24</strong>.9.2018 – 1 Ws 59/18 u.a.).<br />
• Auswahlkriterien, Allgemeines<br />
Dem Angeklagten soll grds. der Rechtsanwalt seines Vertrauens bestellt werden, da der verfassungsrechtliche<br />
Rang der Verteidigung durch den Anwalt des Vertrauens der entscheidende Maßstab<br />
für die Auswahl des Pflichtverteidigers ist, dem sich das Auswahlrecht des Vorsitzenden unterzuordnen<br />
hat. Macht der Angeklagte daher von seinem Bezeichnungsrecht Gebrauch und benennt<br />
einen Anwalt seines Vertrauens, so ist dieser ihm grds. als Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn dem<br />
nicht wichtige Gründe entgegenstehen (BVerfG StV 2001, 601, 602; LG Stendal, Beschl. v. 25.7.<strong>2019</strong> –<br />
501 Qs [115 Js 4858/19] 37/19). Die Verhinderung eines Pflichtverteidigers ist prinzipiell ein wichtiger<br />
Grund i.S.d. § 142 Abs. 1 S. 2 StPO, der einer Beiordnung entgegenstehen kann (LG Stendal, a.a.O. –<br />
zugleich zur Terminierung in einer Nichthaftsache). Ein wichtiger Grund, der der Bestellung eines<br />
Pflichtverteidigers entgegensteht, kann das Beschleunigungsgebot sein, das grds. bei allen Verfahren<br />
gilt. Bei Haftsachen ist es jedoch von erheblich stärkerer Bedeutung (LG Dessau-Roßlau, Beschl. v.<br />
7.3.<strong>2019</strong> – 6 Qs 36/19).<br />
• Bestellung: Schwere der Tat<br />
Nach gefestigter Rechtsprechung ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers i.d.R. geboten, wenn<br />
dem Angeklagten die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe droht, die mindestens im Bereich von<br />
einem Jahr liegt. Neben der dem Angeklagten hier drohenden Strafe sind wegen der bei § 140 Abs. 2<br />
StPO stets erforderlichen Gesamtbewertung aber auch sonstige schwerwiegenden Nachteile zu<br />
berücksichtigen, die er infolge der drohenden Verurteilung zu gewärtigen hat (vgl. OLG Hamm StV<br />
2004, 586). Die Grenze der Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe ist deshalb auch dann zu<br />
beachten, wenn ihr Erreichen erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht<br />
kommt (vgl. u.a. KG StV <strong>2019</strong>, 175 = StRR 2/<strong>2019</strong> 2 [Ls.] m.w.N.; LG Halle, Beschl. v. 23.11.2018 – 10a<br />
Qs 132/18, StraFo <strong>2019</strong>, 380; zur Führungsaufsicht s.a. LG Braunschweig, Beschl. v. 30.9<strong>2019</strong> – 51 BRs<br />
5/19).<br />
Steht für den Angeklagten als Konsequenz aus einer Verurteilung die Ausschließung aus der<br />
Rechtsanwaltschaft im Raum, ist ihm ein Pflichtverteidiger beizuordnen; und zwar vor allem auch,<br />
weil für die Entscheidungen im anwaltsgerichtlichen Verfahren die tatsächlichen Feststellungen im<br />
strafrechtlichen Urteil bindend sind (LG Essen, Beschl. v. 3.4.<strong>2019</strong> – 67 Ns 65/19; zur Bindungswirkung<br />
§ 118 Abs. 3 BRAO; OLG Hamm StraFo 2004, 170).<br />
• Bestellung: Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage<br />
Unterschiedliche Rechtsauffassungen der am Strafverfahren beteiligten Justizorgane (hier: Staatsanwaltschaft,<br />
Tatgericht und Berufungsgericht) bei der rechtlichen Einordnung des angeklagten<br />
bzw. sodann festgestellten Tatgeschehens begründen aus der Sicht des juristisch ungebildeten<br />
Angeklagten eine schwierige Rechtslage i.S.v. § 140 Abs. 2 S. 1 StPO (OLG Celle, Beschl. v. 9.7.2018 –<br />
2 Ss 79/18, StV <strong>2019</strong>, 175 [Ls.]; a.A. KG, Beschl. v. 4.7.<strong>2019</strong> – 4 Ws 62/19, StRR 10/<strong>2019</strong>, 17 [Gesamtwürdigung]).<br />
Eine schwierige Rechtslage i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO ist dann anzunehmen, wenn es bei der Anwendung<br />
des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen<br />
ankommt oder wenn die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten<br />
bereiten wird. Hiervon umfasst sind auch Fälle, in denen sich die Fragestellung aufdrängt, ob<br />
ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt (LG Münster, Beschl. v. 5.8.<strong>2019</strong> – 10 Qs<br />
23719, m.w.N.). Dem Angeklagten ist i.d.R. ein Verteidiger beizuordnen, wenn die Staatsanwaltschaft<br />
gegen ein freisprechendes Urteil Berufung mit dem Ziel der Verurteilung des Angeklagten<br />
eingelegt hat. Davon kann jedoch abgesehen werden, wenn das Verfahren vorläufig nach § 153a<br />
StPO eingestellt worden ist (OLG Naumburg, Beschl. v. 23.5.<strong>2019</strong> – 1 Ws [s] 173/19). Im Bußgeldverfahren<br />
ist dem Betroffenen auch dann kein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn ein Sachverständigengutachten<br />
zur Fahreridentität eingeholt werden soll (LG Münster, Beschl. v. <strong>24</strong>.4.<strong>2019</strong><br />
– 2 Qs 14/19).<br />
1306 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 22 R, Seite 1149<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Bei einer Beweislage, in der Aussage gegen Aussage steht, ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers<br />
regelmäßig angezeigt, es sei denn, zu der Aussage des Belastungszeugen kommen weitere<br />
belastende Indizien hinzu, so dass nicht mehr von einer schwierigen Beweiswürdigung gesprochen<br />
werden kann (LG München, Beschl. v. 10.7.2018 – 2 Qs 19/18). Können die dem Angeklagten<br />
vorgeworfenen Taten des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB) nur durch die<br />
Zeugenaussagen der beteiligten Polizeibeamten nachgewiesen werden und sind andere Beweismittel<br />
insoweit nicht vorhanden, kann eine sachgerechte Verteidigung, insb. das Aufzeigen von<br />
eventuellen Widersprüchen in den Angaben der Belastungszeugen nur durch Kenntnis des gesamten<br />
Akteninhalts gewährleistet werden, so dass, da dieser nur dem Verteidiger zugänglich ist, die<br />
Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich sein kann (LG Dortmund, Beschl. v. 14.1.<strong>2019</strong> – 32 Qs-<br />
100 Js 646/18-6/19): Das wird vom AG Ebersberg (Beschl. v. 6.9.<strong>2019</strong> – 1 Ds 37 Js 16717/19) unter<br />
Hinweis auf § 147 Abs. 4 StPO anders gesehen. Das AG Ebersberg (a.a.O.) hat dann aber wegen<br />
Schwierigkeit der Rechtslage einen Pflichtverteidiger beigeordnet, da für einen Laien nicht einfach zu<br />
erfassen sei, inwieweit eine (polizeiliche) Vollstreckungshandlung rechtmäßig ist/war. Allein die<br />
Einholung eines Schriftsachverständigengutachtens erfordert jedoch nicht die Bestellung eines<br />
Pflichtverteidigers (LG Münster, Beschl. v. 5.2.<strong>2019</strong> – 11 Qs-82 Js 7423/17-6/19). Auch wenn es um<br />
einen zeitlich und räumlich eng begrenzten Vorfall geht, begründet die Erforderlichkeit der Einholung<br />
eines Sachverständigengutachtens zur Identifizierung des Täters eine schwierige Sachlage, die gem.<br />
§ 140 Abs. 2 S. 1 StPO die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebietet (LG Osnabrück StV <strong>2019</strong>, 185<br />
[Ls.]). Ist nach Aktenlage im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Beweise auch die Beurteilung des<br />
Werts eines wiederholten Wiedererkennens im Rahmen einer Wahllichtbildvorlage aufgrund einer<br />
vorherigen Wiedererkennung zu würdigen bzw. zu erörtern, liegen die Voraussetzungen für eine<br />
Bestellung eines Pflichtverteidigers gem. § 140 Abs. 2 StPO wegen einer schwierigen Sachlage vor (LG<br />
Magdeburg, Beschl. v. 19.7.<strong>2019</strong> – 25 Qs 63/19).<br />
• Bestellung: Unfähigkeit der Selbstverteidigung<br />
Die Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO richtet sich nach seinen<br />
geistigen Fähigkeiten, seinem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Falls. Die<br />
Fähigkeit des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen, kann auch dann erheblich beeinträchtigt sein,<br />
wenn ein Mitangeklagter einen Verteidiger hat und sich z.B. die Mitangeklagten gegenseitig belasten<br />
(LG Stendal, Beschl. v. 25.7.<strong>2019</strong> – 501 Qs [115 Js 4858/19] 37/19). Ist der Angeklagte der<br />
deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig, ist ihm ein Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 2 StGB<br />
wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung beizuordnen (LG Berlin, Beschl. v. 17.5.<strong>2019</strong> – 533 Qs<br />
32/19; LG Koblenz, Beschl. v. 15.3.<strong>2019</strong> – 2 Qs 14/19). Allerdings gebieten Verständigungsschwierigkeiten<br />
nur regelmäßig, nicht aber ausnahmslos eine Beiordnung – insb. dann nicht, wenn die<br />
Rechte eines Angeklagten durch die Vorschrift des § 187 GVG ausreichend gewahrt werden<br />
(LG Berlin, a.a.O.; LG Koblenz, a.a.O.). Mögliche Sprachbarrieren und das Abstammen aus einem<br />
anderen Kulturkreis führen – auch in Zusammenhang mit dem Umstand, dass eine mögliche<br />
Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliegen könnte, nicht ohne Weiteres zur Bestellung eines<br />
Pflichtverteidigers (LG Heilbronn, Beschl. v. 21.1.<strong>2019</strong> – 8 Qs 2/19M; LG Leipzig, Beschl. v. 1.7.<strong>2019</strong> –<br />
1 Qs 138/19). Etwas anderes gilt aber für einen ausländischen Beschuldigten im Fall der Körperverletzung,<br />
wenn er zugleich Täter und Opfer sein soll (LG Leipzig, a.a.O.). Die Hinzuziehung<br />
eines Dolmetschers zur Hauptverhandlung genügt als Ausgleich von Defiziten eines Angeklagten<br />
jedenfalls nicht, wenn mehrere (Polizei-)Zeugen vernommen werden sollen, widersprüchliche<br />
Aussagen zu erwarten sind und es daher auch auf die Glaubwürdigkeit der Zeugen ankommt. In<br />
diesen Fällen kann der Angeklagte auch mit Hilfe eines Dolmetschers nicht die Zeugenaussagen<br />
kritisch hinterfragen und etwaige Widersprüche aufzeigen (LG Dortmund, Beschl. v. 21.3.<strong>2019</strong> –<br />
35 Qs 9/19). Entsprechendes gilt, wenn dem Angeklagten eine Übersetzung eines gegen ihn ergangenen<br />
Strafbefehls nicht zugestellt worden ist, er also erstmals in der Hauptverhandlung von<br />
den gegen ihn erhobenen Vorwürfen erfährt (LG Berlin, Beschl. v. 17.5.<strong>2019</strong> – 533 Qs 32/19).<br />
Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist schon dann notwendig, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung<br />
zumindest erhebliche Zweifel bestehen (LG Konstanz, Beschl. v. 27.5.<strong>2019</strong> – 3 Qs 39/19;<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1307
Fach 22 R, Seite 1150<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
s. auch OLG Hamm NJW 2003, 3286, 3287; OLG Frankfurt a.M. StV 1984, 370). Bei der Beurteilung<br />
dieser Frage ist die Einschätzung des Betreuungsgerichts von Bedeutung (LG Konstanz, a.a.O.). Der<br />
Umstand, dass der Angeklagte ggf. eine (berufsmäßige) Betreuerin hat, die zur Rechtsanwaltschaft<br />
zugelassen ist, macht die Pflichtverteidigerbestellung nicht entbehrlich, da sich die Aufgaben eines<br />
Betreuers und die eines Verteidigers grundlegend unterscheiden (LG Konstanz, a.a.O.; vgl. OLG<br />
Nürnberg StraFo 2007, 418). Ein Betreuer mit dem Aufgabenkreis der Vertretung in Strafsachen kann<br />
beispielsweise Strafantrag für den Betreuten stellen oder als Beistand auftreten, die Strafverteidigung<br />
als solche ist jedoch nicht Aufgabe eines Betreuers (LG Konstanz, a.a.O.). Es liegt ein Fall der<br />
notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO vor, wenn der Angeklagte unter Betreuung steht<br />
(Aufgabenkreis ist die Aufenthaltsbestimmung, die Vermögenssorge, die Vertretung vor Behörden<br />
und Institutionen, Wohnungsangelegenheiten sowie die Geltendmachung von Ansprüchen nach<br />
SGB I–XII; vgl. LG Berlin, Beschl. v. 19.9.2018 – 502 Qs 102/18). Allein Analphabetismus soll aber nicht<br />
die Beiordnung gebieten (LG Hamburg, Beschl. v. 9.10.<strong>2019</strong> – 628 Qs 31/19).<br />
Für die Beurteilung der Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung im JGG-Verfahren gelten<br />
zunächst die Grundsätze, wie sie auch bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafverfahren<br />
gegen Erwachsene gelten (LG Aachen, Beschl. v. 26.3.<strong>2019</strong> – 100 Qs-703 Js 2131/18-12/19; LG Leipzig,<br />
Beschl. v. 9.5.2018 – 2 Qs 13/18). Jedoch bedarf § 140 Abs. 2 StPO einer jugendspezifischen<br />
Auslegung, die zu berücksichtigen hat, dass der Jugendliche oder Heranwachsende insb. i.d.R.<br />
unerfahren ist im Umgang mit staatlichen Instanzen, eingeschränkte sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten<br />
hat und dadurch in seiner Interessenwahrnehmung vor Gericht gehandicapt sein<br />
könnte (LG Leipzig, Beschl. v. 9.5.2018 – 2 Qs 13/18; OLG Schleswig StV 2009, 86). Das kann der Fall<br />
sein, wenn zum einen für eine effektive Rechtsverteidigung eine Akteneinsicht geboten ist, um sich<br />
mit dem von der Staatsanwaltschaft eingeholten schriftlichen Sachverständigengutachten auseinanderzusetzen,<br />
dessen Inhalt dem Angeklagten nicht bekannt ist (LG Leipzig, a.a.O., für Verfahren<br />
mit dem Vorwurf des Verstoßes gegen § 176 Abs. 4 Nr. 3 und Nr. 4 StGB n.F.). Kommt bei einem<br />
Jugendlichen die Anwendung des § 21 StGB in Betracht, wird ein Pflichtverteidiger beizuordnen sein<br />
(LG Aachen, Beschl. v. 26.3.<strong>2019</strong> – 100 Qs-703 Js 2131/18-12/19). Die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers<br />
soll entbehrlich sein, wenn sich eine 15-jährige Angeklagte in der Hauptverhandlung<br />
von ihrer Mutter unterstützen lassen kann (LG Koblenz, Beschl. v. 2.1.<strong>2019</strong> – 2 Qs 120/18,<br />
StRR 8/<strong>2019</strong>, 19). Einem Jugendlichen ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn zu erwarten ist,<br />
dass er sich aufgrund seines Stands im Klassenverband subjektiv in der Hauptverhandlung, in der<br />
seine Mitschüler als Zeugen zu hören sind, einer Vielzahl von Gegnern gegenüber sieht (LG Potsdam,<br />
Beschl. v. 18.9.<strong>2019</strong> – 22 Qs 21/19).<br />
• Bestellung: Nebenklage, Waffengleichheit u.a.<br />
Werden in einem Verfahren mit dem Vorwurf der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung<br />
Mitangeklagte und auch Nebenkläger anwaltlich vertreten, wird die Beiordnung eines Pflichtverteidigers<br />
zur Herstellung sog. Waffengleichheit geboten sein (LG Itzehoe, Beschl. v. 4.12.<strong>2019</strong> –<br />
2 Qs 130/18). Hat sich der Verletzte auf eigene Kosten oder im Wege von Prozesskostenhilfe eines<br />
anwaltlichen Beistands versichert, folgt aus diesem möglichen strukturellen Verteidigungsdefizit<br />
noch keine zwingende Beiordnungsnotwendigkeit. Notwendig, aber auch hinreichend ist eine an<br />
den Umständen des Einzelfalls orientierte gerichtliche Prüfung der Fähigkeit des Angeklagten zur<br />
Selbstverteidigung, wobei namentlich die rechtlichen Befugnisse des Verletzten einerseits und das<br />
Verteidigungsverhalten des Angeklagten sowie die Komplexität von Anklagevorwurf und Beweislage<br />
andererseits einzustellen sind (LG München I, Beschl. v. 29.1.<strong>2019</strong> – 28 Qs 5/19). Der bloße Umstand,<br />
dass ein Mitangeklagter einen Verteidiger hat, begründet die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO<br />
für sich allein nicht. In besonderen Konstellationen kann aber aus Gründen der Waffengleichheit die<br />
Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten sein, wenn der Mitangeklagte anwaltlich verteidigt<br />
wird (LG Duisburg, Beschl. v. 15.1.<strong>2019</strong> – 31 Qs 96/18).<br />
• Bestellung: Strafvollstreckungsverfahren<br />
Das Gebot fairer Verfahrensführung gebietet ggf. auch für das Vollstreckungsverfahren, einem Beschuldigten,<br />
der die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufbringen kann, in schwerwiegenden<br />
1308 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 22 R, Seite 1151<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Fällen von Amts wegen einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Das ist insb. der Fall, wenn die Sachoder<br />
Rechtslage durch die Instanzen und die Staatsanwaltschaft unterschiedlich beurteilt werden<br />
(VerfG Sachsen, Beschl. v. 30.8.<strong>2019</strong> – Vf. 73-IV-18 HS, StRR 5/<strong>2019</strong>, 18). Liegt der Anordnung der<br />
unbefristeten Führungsaufsicht eine Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus<br />
zur Bewährung zugrunde, ist dem Verurteilten für das Überprüfungsverfahren zur Fortdauer<br />
der unbefristeten Führungsaufsicht regelmäßig ein Pflichtverteidiger zu bestellen (OLG Celle<br />
StV <strong>2019</strong>, 175 [Ls.]).<br />
• Bestellung: Strafvollzug<br />
In analoger Anwendung von § 140 StPO ist einem Strafgefangenen, der fixiert werden soll, ein<br />
Pflichtverteidiger zur Wahrung seiner Rechte zu bestellen (LG Lübeck, Beschl. v. 10.8.2018 – 5x StVK<br />
1/18, StV <strong>2019</strong>, 278).<br />
• Bestellung: Antrag/Verfahren/Zeitpunkt<br />
Es kann offen bleiben, ob in Fällen des § 408b StPO der Angeklagte vor einer Pflichtverteidigerbestellung<br />
anzuhören ist, denn dem Angeklagten ist jedenfalls dann der von ihm gewünschte Verteidiger<br />
– ggf. unter Aufhebung der Beiordnung des bisherigen Verteidigers – als Pflichtverteidiger<br />
beizuordnen, wenn die Beiordnung des Pflichtverteidigers wie vorliegend – zumindest konkludent –<br />
nicht nur für das Strafbefehlsverfahren erfolgt ist und der Angeklagte zur Verteidigerbestellung nicht<br />
angehört worden war. Einem Beschuldigten, der — etwa aus Gründen der Eilbedürftigkeit – zur<br />
Verteidigerbestellung zunächst nicht angehört wurde, ist im weiteren Verlauf des Verfahrens der<br />
Verteidiger seiner Wahl zu bestellen, um dem verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch, sich grds.<br />
auch bei einer Pflichtverteidigung vom Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen, gerecht zu<br />
werden (LG Mannheim, Beschl. v. 15.11.2018 – 5 Qs 58/18).<br />
• Bestellung: rückwirkende Bestellung<br />
Nach dem endgültigen Abschluss eines Strafverfahrens kommt die nachträgliche Beiordnung eines<br />
Verteidigers nicht mehr in Betracht und ist ein darauf gerichteter Antrag unzulässig. Dies gilt auch<br />
für den Fall der Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO, die der Sache nach mit einer<br />
endgültigen Einstellung verbunden ist, die die gerichtliche Anhängigkeit beendet. Allerdings ist eine<br />
rückwirkende Bestellung dann zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss<br />
des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gem. § 140 Abs. 1 und 2<br />
StPO vorlagen und die Entscheidung durch gerichtsinterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein<br />
Außenstehender keinen Einfluss hatte (zuletzt LG Magdeburg, Beschl. v. 26.3.<strong>2019</strong> – 22 Qs 16/19;<br />
s. auch LG Magdeburg, Beschl. v. 11.10.2016 – 23 Qs 18/16; LG Hamburg StV 2005, 207; LG<br />
Saarbrücken StV 2005, 82; LG Itzehoe StV 2010, 562; LG Neubrandenburg StV 2017, 7<strong>24</strong> mit<br />
zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen).<br />
• Bestellung: Rücknahme<br />
Die Bestellung des Pflichtverteidigers ist zurückzunehmen, wenn er durch Äußerungen zu erkennen<br />
gibt, dass er eine ungenügende Kenntnis der Anforderungen an strafrechtliche Prognosegutachten<br />
hat (LG Marburg, Beschl. v. 27.9.2018 – 11 StVK 126/17). Die Erhebung einer zivilrechtlichen Klage<br />
gegen den Pflichtverteidiger oder die Erstattung einer Strafanzeige wegen Parteiverrats durch den<br />
Angeklagten ergeben für sich noch keine wichtigen Gründe für eine Abberufung (OLG Bremen,<br />
Beschl. v. <strong>24</strong>.9.<strong>2019</strong> – 1 Ws 59/18). Die Abberufung eines Pflichtverteidigers kann nur ex nunc mit<br />
Wirkung für die Zukunft erfolgen (OLG Bremen, a.a.O.).<br />
• Entpflichtung, Allgemeines<br />
Eine Entpflichtung des Pflichtverteidigers kommt nur in Betracht, wenn Umstände vorlägen, die den<br />
Zweck der Pflichtverteidigung, dem Untergebrachten einen geeigneten Beistand zu sichern und<br />
einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährden würden, insb.<br />
wenn das Vertrauensverhältnis zwischen dem Untergebrachten und dem Verteidiger endgültig und<br />
nachhaltig erschüttert und deshalb zu besorgen ist, dass die Verteidigung objektiv nicht (mehr)<br />
sachgerecht geführt werden kann (vgl. u.a. BGH, Beschl. v. 14.11.2018 – 4 StR 419/18). Es kann in dem<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1309
Fach 22 R, Seite 1152<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
Zusammenhang nicht gerügt werden, dass ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Angeklagten und<br />
dem Pflichtverteidiger nicht entstehen konnte, da für die Bestellung eines Pflichtverteidigers ein<br />
solches keine Voraussetzung ist. Erst das Vorliegen von Gründen, die ein Vertrauensverhältnis<br />
ausschließen oder es endgültig und nachhaltig erschüttern, kann die Entbindung rechtfertigen (OLG<br />
Koblenz, Beschl. v. 10.12.2018 – 2 Ws 698/18). Der erste Besuch eines inhaftierten Beschuldigten nach<br />
über sieben Wochen U-Haft rechtfertigt das fehlende Vertrauen zu seinem Pflichtverteidiger (AG<br />
Frankfurt a.M. StraFo <strong>2019</strong>, 378).<br />
• Entpflichtung/Umbeiordnung<br />
Der Wechsel des Pflichtverteidigers ist gesetzlich derzeit nicht geregelt. Es ist jedoch in der<br />
Rechtsprechung anerkannt, dass bei schwerer Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen<br />
dem Mandanten und dem Pflichtverteidiger ein solcher Wechsel vorzunehmen ist. Dieses fehlende<br />
Vertrauensverhältnis ist jedoch substanziiert darzulegen (vgl. LG Stendal, Beschl. v. 13.3.<strong>2019</strong> –<br />
501 Qs [172 Js 13906/15] 16/19). Einer Darlegung des besonderen Grunds für einen Wechsel bedarf<br />
es jedoch dann nicht, wenn beide Verteidiger mit dem Wechsel einverstanden sind, eine Verfahrensverzögerung<br />
nicht stattfindet und durch den Wechsel keine Mehrkosten entstehen<br />
(vgl. MEYER-GOßNER/SCHMITT, StPO, 62. Aufl. <strong>2019</strong>, § 143 Rn 5a m.w.N. [im Folgenden kurz: MEYER-<br />
GOßNER/SCHMITT]). Soweit die Umbestellung nicht kostenfrei erfolgen kann, wird es in der Rechtsprechung<br />
teilweise als zulässig erachtet, dass der Verteidiger auf die entstehenden Mehrkosten<br />
verzichten kann, um so eine Umbestellung zu erreichen. Für eine einseitige Bestimmung der<br />
Kostenneutralität durch das umbeiordnende Gericht gibt es jedoch keine gesetzliche Grundlage (LG<br />
Stendal, a.a.O.). Allein der Umstand, dass der Angeklagte nun einem anderen (Pflicht-)Verteidiger<br />
sein Vertrauen schenkt, reicht für die Umbeiordnung aber nicht aus (BGH, Beschl. v. 16.8.<strong>2019</strong> –<br />
3 StR 149719).<br />
Die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 463 Abs. 8 StPO gilt auch für jedes weitere<br />
Verfahren, solange sie nicht aufgehoben wird. Die Zulässigkeit eines Pflichtverteidigerwechsels im<br />
Rahmen des § 463 Abs. 8 StPO ist außerhalb der Fallgestaltungen der Rücknahme der Bestellung<br />
nach § 143 StPO nicht allein daran zu messen, ob ein „wichtiger Grund“ vorliegt oder nicht. Für einen<br />
neuen Vollstreckungsabschnitt rechtfertigen – anders als in einem laufenden Abschnitt – weder<br />
Kostengesichtspunkte noch Gründe der Prozessökonomie die Ablehnung eines Beiordnungsantrags<br />
eines neuen Verteidigers (KG, Beschl. v. 27.8.<strong>2019</strong> – 2 Ws 135/19).<br />
• Mehrere Pflichtverteidiger<br />
Die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers kommt nur ausnahmsweise in Betracht (KG, Beschl.<br />
v. 28.6.<strong>2019</strong> – 2 Ws 102/19).<br />
• PKH-Richtlinie<br />
Unter anderem das LG Chemnitz (vgl. Beschl. v. 30.7.<strong>2019</strong> – 5 Qs 295/19, StRR 8/<strong>2019</strong>, 18) und das AG<br />
Freiburg (Beschl. v. 5.8.<strong>2019</strong> – JSch 19 Ge 64/19 jug, StRR 9/<strong>2019</strong>, 13) haben die Grundsätze der sog.<br />
PKH-Richtlinie 2106/1919, die an sich bis zum 25.5.<strong>2019</strong> in nationales Recht hätte umgesetzt sein<br />
müssen (vgl. dazu auch BURHOFF StRR 7/2018, 5) bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers herangezogen<br />
(vgl. dazu auch III. 2. a). Nach Auffassung des LG Chemnitz (a.a.O.) sind die Regelungen aus<br />
Art. 4 Abs. 4 S. 2 i.V.m. Art. 3 der EU PKH-Richtlinie 2016/<strong>2019</strong> nach Ablauf der Umsetzungsfrist bei<br />
der Entscheidung über eine Pflichtverteidigerbestellung angemessen zu würdigen und haben in die<br />
Bestellungsentscheidung mit einzufließen.<br />
• Rechtsmittel, Allgemeines<br />
Einem Pflichtverteidiger steht gegen die Ablehnung seiner Entpflichtung kein eigenes Beschwerderecht<br />
zu (KG, Beschl. v. 22.5.2018 – 4 Ws 62/18).<br />
• Vergütungsvereinbarung<br />
Ein zum Pflichtverteidiger bestellter Anwalt muss vor Abschluss einer Vergütungsvereinbarung dem<br />
Beschuldigten einen eindeutigen Hinweis erteilen, dass er auch ohne den Abschluss der Honorarvereinbarung<br />
zu weiterer Verteidigung verpflichtet ist (BGH, Urt. v. 13.12.2018 – IX ZR 216/17, NJW<br />
<strong>2019</strong>, 676 = RVGreport <strong>2019</strong>, 130).<br />
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Rechtsprechung Fach 22 R, Seite 1153<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
III.<br />
Hauptverhandlung<br />
1. Mitteilungspflicht (§ <strong>24</strong>3 Abs. 4 StPO)<br />
Der Beschluss des KG vom 25.4.<strong>2019</strong> ([3] 161 Ss 42/19 [27/19], StRR 10/<strong>2019</strong>, 15) nimmt zur Mitteilungspflicht<br />
gem. § <strong>24</strong>3 Abs. 4 StPO bezüglich mit einem anderem Spruchkörper geführten Verständigungserörterungen<br />
Stellung. Ergangen ist die Entscheidung zu einem Berufungsverfahren, für<br />
das zunächst die 61. Strafkammer des LG Berlin zuständig war. Dort kam es vor Aufruf der Hauptverhandlung<br />
zu einem Gespräch über eine dann nicht erfolgte Verständigung, eine Beschränkung der<br />
Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch sowie die Verbindung mit dem vorliegenden Verfahren. Der<br />
Vorsitzende teilte dies sodann in der Hauptverhandlung mit, hinsichtlich der Verständigung aber nur<br />
deren negatives Ergebnis. Der Angeklagte beschränkte die Berufung nach der Mitteilung seines<br />
Verteidigers, dass die StA eine Strafaussetzung ausgeschlossen hatte. Das Verfahren wurde dann<br />
ausgesetzt. Nach Verbindung mit dem vorliegenden Verfahren teilte der Vorsitzende der jetzt<br />
zuständigen 71. Strafkammer in der neuen Hauptverhandlung lediglich mit, dass Gespräche über eine<br />
Verständigung i.S.d. § 257c StPO nicht stattgefunden haben.<br />
Der Angeklagte hat mit der Verfahrensrüge einen Verstoß gegen § <strong>24</strong>3 Abs. 4 StPO gerügt. Damit hatte<br />
er keinen Erfolg. Nach Auffassung des KG (a.a.O.) ist zweifelhaft, ob die Vorsitzende der 71. kleinen<br />
Strafkammer eine Pflicht zur Mitteilung über den Inhalt des vor der Verfahrensübernahme und -verbindung<br />
vor der 61. Strafkammer geführten Erörterungsgesprächs traf. Obergerichtliche Entscheidungen<br />
zu dieser Frage seien bisher nicht ergangen. Anerkannt sei die Pflicht zur Mitteilung der vorausgegangenen<br />
Erörterungsgespräche nach erfolgter Neubesetzung der zur Entscheidung berufenen<br />
Strafkammer (BGH NJW 2014, 3385; für den Richterwechsel aufgrund erfolgreicher Besetzungsrüge BGH<br />
NStZ 2016, 221). Ob nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht eine Pflicht des Vorsitzenden des<br />
nunmehr zuständigen Tatgerichts besteht, Erörterungsgespräche, die ein im ersten Rechtsgang zuständiges<br />
Tatgericht durchgeführt hat, gem. § <strong>24</strong>3 Abs. 4 S. 1 StPO mitzuteilen, habe der BGH offengelassen<br />
(BGH NStZ 2016, 357 = StRR 4/2016, 7 mit Anm. DEUTSCHER; abgelehnt von OLG Hamburg NStZ 2016, 182).<br />
In ähnlicher Weise habe das OLG Saarbrücken entschieden, dass Erörterungen des erstinstanzlichen<br />
Gerichts nicht der Mitteilungspflicht des Berufungsgerichts unterliegen (OLG Saarbrücken, Beschl. v.<br />
25.5.2016 – Ss 29/16 [22/16]).<br />
Das KG (a.a.O.) entscheidet sich für ein spruchkörperbezogenes Verständnis der Mitteilungspflicht.<br />
Dieser Sichtweise stehe der Gesetzeswortlaut nicht entgegen. Ein solches spruchkörperbezogenes<br />
Verständnis von der Mitteilungspflicht beschränke darüber hinaus die Problematik im Zusammenhang<br />
mit inhaltlich unzureichenden Aufzeichnungen über Erörterungsgespräche auf die Fälle, in denen die<br />
Besetzung des Spruchkörpers in der Zeit zwischen dem Erörterungsgespräch und dem Beginn der<br />
Hauptverhandlung wechselt. Denn die Erfüllung der Pflicht zur umfassenden und zutreffenden<br />
Mitteilung über Erörterungsgespräche sei immer dann besonders erschwert, wenn die Mitglieder des<br />
erkennenden Spruchkörpers an diesen nicht beteiligt gewesen seien und die vorliegenden Aufzeichnungen<br />
über die Gesprächsinhalte nicht den Anforderungen an die Mitteilung i.S.d. § <strong>24</strong>3 Abs. 4 StPO<br />
genügten.<br />
Hinweis:<br />
Das Argument des KG (a.a.O.), die neue Strafkammer habe bei fehlerhafter Mitteilung im ersten Durchlauf<br />
keine oder nur unzureichende Kenntnis von Ablauf und Inhalt des damaligen Verständigungsgesprächs, ist<br />
nur auf den ersten Blick überzeugend. Dies trifft in gleicher Weise bei einer Zurückverweisung an eine<br />
andere Strafkammer nach erfolgreicher Revision zu oder bei Neubesetzung der Kammer zwischen zwei<br />
Durchläufen. Für die letztere Fallgestaltung hat der BGH (NJW 2014, 3385) mit einer am Schutzzweck des<br />
§ <strong>24</strong>3 Abs. 4 StPO orientierten Argumentation deutlich gemacht, dass es mit diesem Schutzzweck nicht<br />
vereinbar wäre, in dem Umstand, dass die Besetzung der Strafkammer zwischen dem Gespräch und der<br />
Hauptverhandlung hinsichtlich eines oder auch sämtlicher Richter gewechselt hat, einen Grund für den<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1311
Fach 22 R, Seite 1154<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
Ausschluss der Mitteilungspflicht zu sehen. In dem vom KG entschiedenen Fall kann kaum etwas anderes<br />
gelten (eingehend zur Mitteilungspflicht BURHOFF, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung,<br />
9. Aufl. <strong>2019</strong>, Rn 2069 ff. [im Folgenden kurz: BURHOFF, HV]).<br />
2. Beweisverwertungsverbot nach Vernehmungsfehler der Polizei?<br />
Beweisverwertungsverbote spielen in der Praxis eine große Rolle. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang<br />
auf eine neuere Entscheidung des BGH. Dieser nimmt im Beschl. v. 19.6.<strong>2019</strong> (5 StR 167/19,<br />
StraFo <strong>2019</strong>, 420 = StRR 8/<strong>2019</strong>, 14) zur Frage der Auswirkung von Fehlern bei einer polizeilichen<br />
Vernehmung Stellung. Das LG hatte den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit<br />
mit besonders schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Dagegen<br />
hat sich der Angeklagte u.a. mit einer Verfahrensrüge gewandt. Der Rüge hat folgendes Verfahrensgeschehen<br />
zugrunde gelegen: Der Angeklagte wurde am 5.6.2018 als Beschuldigter von der Polizei zu<br />
der ihm vorgeworfenen Tat vernommen. Nach Belehrung und Eröffnung des Tatvorwurfs verlangte<br />
er, mit seinem Rechtsanwalt reden zu können. Daraufhin wurde die Vernehmung unterbrochen, und<br />
einer der Vernehmungsbeamten versuchte vergeblich, den benannten Rechtsanwalt telefonisch zu<br />
erreichen. Dem Angeklagten wurde sodann ermöglicht, seinen Vater anzurufen, der den Rechtsanwalt<br />
in Kenntnis setzen sollte. Auf die Frage, ob er nun Angaben zur Sache machen wolle, erklärte<br />
der Angeklagte, er sage nur, dass er es nicht gewesen sei und nichts davon wisse. Auf weitere<br />
Nachfragen und Vorhalt von Ermittlungsergebnissen erfolgte eine ausführliche Vernehmung, in<br />
welcher der Angeklagte seine Tatbeteiligung – wie auch in der Hauptverhandlung – weiter bestritt,<br />
daneben aber Angaben machte. In der Hauptverhandlung hat die Verteidigung der Verwertung der<br />
Angaben der Vernehmungsbeamten widersprochen.<br />
Mit seiner Revision hat der Angeklagte u.a. den fehlenden Hinweis der Vernehmungsbeamten auf den<br />
anwaltlichen Notdienst gerügt. Ferner habe nach Unterbrechung der Vernehmung eine weitere Belehrung<br />
über das Recht auf Verteidigerkonsultation erfolgen müssen. Die Rüge hat keinen Erfolg.<br />
Der BGH (a.a.O.) verneint einen Verstoß gegen das Gebot, auf den anwaltlichen Notdienst hinzuweisen<br />
(§ 163a Abs. 4 S. 2 i.V.m. § 136 Abs. 1 S. 4 StPO). Der BGH habe bereits unter Geltung der alten Fassung<br />
von § 136 Abs. 1 StPO, in der das Hinweisgebot noch nicht ausdrücklich normiert war, einen Hinweis auf<br />
den anwaltlichen Notdienst für entbehrlich gehalten, wenn der Beschuldigte bereits einen bestimmten<br />
Rechtsanwalt als Verteidiger benannt hatte (BGH NStZ 2006, 114). In diesem Fall beschränke sich für die<br />
Ermittlungsbehörden das Gebot, bei der Kontaktaufnahme mit einem Verteidiger zu helfen, darauf, eine<br />
Verbindung zu dem benannten Rechtsanwalt herzustellen, sofern der Beschuldigte nicht zu erkennen<br />
gebe, dass er nach dem Scheitern der Kontaktaufnahme einen anderen Rechtsanwalt als Verteidiger<br />
wählen wolle. Dies habe sich – so der BGH – durch die Einfügung des Hinweisgebots in § 136 Abs. 1 S. 4<br />
StPO in der Neufassung vom 27.8.2017 (BGBl I, S. 3295) nicht geändert. Der Gesetzesbegründung, die auf<br />
frühere Rechtsprechung zur Erforderlichkeit von ernsthaften Bemühungen der vernehmenden Person<br />
verweise, den Beschuldigten bei der Kontaktaufnahme zu einem Verteidiger zu unterstützen, sei zu<br />
entnehmen, dass die gesetzlichen Ergänzungen in § 136 Abs. 1 StPO lediglich klarstellend erfolgt seien<br />
(vgl. BT-Drucks 18/9534, S. 22 unter Bezugnahme u.a. auf BGHSt 42, 15, 19). Die Vorschrift des § 136 Abs. 1<br />
S. 4 StPO schütze danach den Beschuldigten, der zwar einen Verteidiger befragen möchte, aber keinen<br />
benennt. So habe es sich hier aber nicht verhalten.<br />
Rechtsfehlerhaft sei indes, so der BGH (a.a.O.) weiter, dass die Polizeibeamten die Vernehmung<br />
fortgesetzt haben, ohne den Angeklagten erneut über sein Recht auf Zuziehung eines Verteidigers zu<br />
belehren. Dies mache seine Angaben unverwertbar. Bringe der Beschuldigte zum Ausdruck, sich mit<br />
einem Verteidiger besprechen zu wollen, könne die Vernehmung nach der Rechtsprechung des BGH<br />
ohne vorangegangene Konsultation nur fortgesetzt werden, wenn sich der Beschuldigte nach erneutem<br />
Hinweis auf sein Recht auf Zuziehung eines Verteidigers mit der Fortsetzung der Vernehmung<br />
1312 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 22 R, Seite 1155<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
einverstanden erklärt habe (BGHSt 42, 15, 19; 58, 301, 307; NStZ 2013, 299; darüber hinaus auch ganz h.M.<br />
in der Literatur, vgl. MEYER-GOßNER/SCHMITT, § 136 Rn 10a; KK/DIEMER, StPO, 8. Aufl., § 136 Rn 14). Zweck der<br />
wiederholten Belehrung sei letztlich, dem Beschuldigten vor Augen zu führen, dass er sein Recht auf<br />
Verteidigerkonsultation nicht durch den fehlgeschlagenen Kontaktversuch verwirkt habe; sie trage<br />
dadurch zur Subjektstellung des Beschuldigten bei (BEULKE NStZ 1996, 257, 261). Diese Rechtsprechung<br />
habe der Gesetzgeber in den Gesetzesmaterialien zum Zweiten Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte<br />
von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts vom 27.8.2017 (BGBl I,<br />
S. 3295) ausdrücklich gebilligt (BT-Drucks 18/9534, S. 22). Aus diesem Rechtsverstoß folge hier nach der<br />
Rechtsprechung des BGH auch ein Beweisverwertungsverbot (vgl. BGHSt 38, 214, 219 ff.; 38, 372, 373 ff.;<br />
42, 15, 21 f.).<br />
Hinweis:<br />
Bis hierhin wird man dem BGH (a.a.O.) mit Freuden folgen. Danach dann allerdings nicht mehr. Denn<br />
nach Auffassung des BGH beruhte das landgerichtliche Urteil nicht auf dem Verfahrensverstoß (vgl. § 337<br />
Abs. 1 StPO). Das LG habe den Tatnachweis nicht auf die Angaben des Angeklagten in der polizeilichen<br />
Vernehmung gestützt, mit denen er den Tatvorwurf bestritten hatte. Die Beweiswürdigung stütze sich<br />
vielmehr auf eine Gesamtschau der Indizien. Damit reiht sich die Entscheidung ein in die Reihe der Entscheidungen,<br />
die deutlich machen, dass es letztlich nur Worthülsen sind, mit denen der BGH operiert. Da<br />
ist die Rede vom „Beitrag zur Subjektstellung des Beschuldigten“, was sich gut liest, nur: Beim Beruhen scheiden<br />
sich dann immer/häufig die Geister. Da sind die Ausführungen des LG dann bloße Ergänzungen und es wird<br />
mal wieder die „Gesamtschau der Indizien“ angeführt. Man fragt sich – wie so oft: Warum nimmt man eigentlich<br />
einen Rechtsverstoß durch die Polizeibeamten und ein daraus folgendes Beweisverwertungsverbot<br />
an, wenn der Verstoß dann letztlich doch nicht sanktioniert wird? So wird sich an polizeilichem<br />
Fehlverhalten nie etwas ändern.<br />
Als Verteidiger wird man aber weiterhin in diesen Fällen der Verwertung der Angaben widersprechen<br />
(müssen). Vielleicht führt das ja doch mal zum Erfolg.<br />
IV.<br />
Bußgeldverfahren<br />
1. Beweisantrag „anderer Fahrer“<br />
Der BayObLG (Beschl. v. 28.5.<strong>2019</strong> – 201 ObOWi 758/19, zfs <strong>2019</strong>, 587 = VA <strong>2019</strong>, 181) behandelt<br />
eine verfahrensrechtliche Problematik aus dem OWi-Verfahren, die allerdings auch in einem Strafverfahren<br />
von Bedeutung sein kann. Das BayObLG nimmt nämlich (noch einmal) zu der Beweisbehauptung<br />
in einem (Beweis-)Antrag Stellung, ein anderer – als der Betroffene – habe das Fahrzeug<br />
geführt. Dazu hat das BayObLG wie folgt ausgeführt: Mit dem positiv formulierten Beweisbegehren<br />
auf Einholung eines anthropologischen Sachverständigengutachtens „zum Beweis der Tatsache,<br />
dass es sich bei dem Fahrer zur Tatzeit um eine andere Person als den Betroffenen […] handelt“, sei allenfalls das<br />
von der Beweiserhebung erhoffte Beweisziel „unter Beweis“ gestellt worden. Dies genüge regelmäßig<br />
nicht den für einen förmlichen Beweisantrag notwendigen Anforderungen an eine hinreichend<br />
bestimmte Beweisbehauptung. Zwar ergebe sich aus dem Beweisbegehren die Minimalbehauptung,<br />
dass mit der Beweiserhebung unter Beweis gestellt werden solle, dass nicht der Betroffene, sondern<br />
eben „eine andere Person“ zur Tatzeit verantwortlicher Führer des Tatfahrzeugs gewesen sei.<br />
Diesen Schluss hätte und habe indes gerade nicht der beantragte (anthropologische) Sachverständige,<br />
sondern allein das Gericht auf der Grundlage der erhobenen Beweise zu ziehen. Es fehlten aber<br />
insoweit jegliche Angaben entweder dazu, welche bestimmte (‚verwechslungsgeeignete‘) Person<br />
anstelle des Betroffenen das Fahrzeug zur Tatzeit geführt habe bzw. auf dem Beweisfoto abgebildet<br />
sei, oder aber wenigstens dazu, welche bestimmten morphologischen oder sonstigen Merkmale<br />
des Erscheinungsbilds, die eine Identität des Betroffenen mit der auf dem Messfoto abgebildeten<br />
Person ausschließen, durch das beantragte Gutachten ermittelt werden sollen (vgl. neben BGH NStZ<br />
2017, 300 = StV 2017, 787 u.a. auch OLG Hamm StRR 2010, 105 = VRR 2010, 113; OLG Bamberg<br />
StraFo 2017, 156).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1313
Fach 22 R, Seite 1156<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
Hinweis:<br />
Gerade in diesen Fällen ist darauf zu achten, dass ein Beweisantrag eine bestimmte Beweistatsache<br />
angegeben muss (vgl. u.a. BGH NStZ 2007, 112 f.; weitere Nachweise BURHOFF, HV, Rn 1113 ff.). Im Antrag<br />
müssen in diesen Fällen also konkrete Tatsachen, wie z.B. morphologische Merkmale oder sonstige Umstände,<br />
die eine Identität mit der ggf. auf einem Radarfoto abgebildeten Person ausschließen, genannt<br />
werden, die durch das Sachverständigengutachten ermittelt werden sollen. Der Antrag darf sich nicht nur<br />
in der Angabe des Beweisziels erschöpfen, indem er allein auf die Feststellung abhebt, „dass der Betroffene<br />
nicht der Fahrer des Fahrzeugs gewesen sein kann“ oder „ein anderer Fahrer gewesen ist“. Diesen Schluss hat<br />
nämlich nicht der Sachverständige zu ziehen, sondern allein das Gericht auf der Grundlage der erhobenen<br />
Beweise.<br />
2. Zeugnisverweigerungsrecht und Vernehmung der Verhörsperson<br />
Auch im Bußgeldverfahren dürfen die Angaben eines vor der Hauptverhandlung vernommenen<br />
oder informatorisch befragten Zeugen, der sich erst in der Hauptverhandlung berechtigt auf sein<br />
Zeugnisverweigerungsrecht beruft, gem. § 252 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG weder verlesen noch –<br />
über den Wortlaut der Vorschrift hinaus – durch Vernehmung nichtrichterlicher Verhörspersonen<br />
oder anderer Zeugen in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Das ist das Fazit aus dem Beschluss<br />
des OLG Hamm vom 28.5.<strong>2019</strong> (4 RBs 147/19, VRR 9/<strong>2019</strong>, 3 [Ls.] = VA <strong>2019</strong>, 181), mit dem dieses die<br />
Verurteilung eines Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung aufgehoben hatte. In<br />
der Hauptverhandlung hatte das AG Angaben der Mutter des Betroffenen gegenüber einem im Wege<br />
der Amtshilfe für die Verwaltungsbehörde ermittelnden Bediensteten des Amts für öffentliche Sicherheit<br />
und Ordnung des Kreises durch Zeugenbeweis in die Hauptverhandlung eingeführt und im Urteil<br />
dann zulasten des Betroffenen – des Sohnes – verwertet. Das hatte der Betroffene erfolgreich mit der<br />
Verfahrensrüge als fehlerhaft gerügt.<br />
Das OLG Hamm (a.a.O.) führt aus: (Auch) im Bußgeldverfahren dürfen die Angaben eines vor der<br />
Hauptverhandlung vernommenen oder informatorisch befragten Zeugen, der sich erst in der Hauptverhandlung<br />
berechtigt auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft, gem. § 252 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1<br />
OWiG weder verlesen noch – über den Wortlaut der Vorschrift hinaus – durch Vernehmung nichtrichterlicher<br />
Verhörspersonen oder anderer Zeugen in die Hauptverhandlung eingeführt werden.<br />
Nachdem die Mutter des Betroffenen gegenüber dem Zeugen Angaben zur Fahrerermittlung gemacht<br />
hatte, sich jedoch später auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 52<br />
Abs. 1 Nr. 3 StPO berufen hat, hätten – so das AG – ihre Angaben daher – anders als geschehen – nicht<br />
durch Einvernahme des Zeugen in die Hauptverhandlung eingeführt und zulasten des Betroffenen<br />
verwertet werden dürfen. Für einen Verzicht der Mutter auf das Verwertungsverbot sei nichts<br />
ersichtlich.<br />
Hinweis:<br />
Die Entscheidung ist zutreffend. Es liegt auf der Hand, dass über §§ 46, 71 OWiG im Bußgeldverfahren auch<br />
§ 252 StPO gilt. Und damit gelten auch die im Strafverfahren zu der Vorschrift entwickelten Grundsätze<br />
(vgl. dazu BURHOFF, HV, Rn 3318 ff. m.w.N.). Folge ist, dass die Angaben des nun berechtigt das Zeugnis<br />
verweigernden Zeugen weder in der Hauptverhandlung verlesen werden dürfen noch darf die Verhörsperson<br />
zu den vor ihr gemachten Angaben vernommen werden (vgl. dazu BURHOFF, HV, Rn 3425). Etwas<br />
anderes gilt nur bei einem Verzicht des Zeugen auf das Zeugnisverweigerungsrecht oder in den Fällen<br />
einer (ordnungsgemäßen) richterlichen Vernehmung. Beides lag hier nicht vor.<br />
Zwar ist grundsätzlich ein Widerspruch des Betroffenen gegen die Verlesung oder Vernehmung nicht<br />
erforderlich (vgl. BURHOFF, HV, Rn 3320 a.E.; MEYER-GOßNER/SCHMITT, § 252 Rn 18), der Verteidiger sollte ihn<br />
in der Hauptverhandlung vorsorglich aber doch erheben.<br />
1314 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 22 R, Seite 1157<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
V. Rechtsmittelverfahren<br />
1. Konkludenter Wiedereinsetzungsantrag<br />
Ein Wiedereinsetzungsantrag braucht nicht ausdrücklich gestellt zu werden; er kann auch stillschweigend<br />
in einem Schriftsatz enthalten sein, wobei es ausreicht, dass in diesem Schriftsatz<br />
konkludent zum Ausdruck gebracht wird, das Verfahren trotz verspäteter Einreichung der Rechtsmitteleinlegungs-<br />
oder Rechtsmittelbegründungsschrift fortsetzen zu wollen. So hat der BGH in<br />
seinem Beschl. v. 12.6.<strong>2019</strong> (XII ZB 432/18, StRR 11/<strong>2019</strong>, 12) entschieden, der in einem Teilungsversteigerungsverfahren<br />
ergangen ist. Dort hatte das OLG die Begründung einer Rechtsbeschwerde und<br />
einen späteren Wiedereinsetzungsantrag (als verspätet) zurückgewiesen.<br />
Der BGH (a.a.O.) hat das anders gesehen. Er ist davon ausgegangen, dass bereits der ursprüngliche<br />
Beschwerdebegründungsschriftsatz einen konkludent gestellten Wiedereinsetzungsantrag enthalten<br />
hat. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH müsse ein Wiedereinsetzungsantrag nämlich nicht<br />
ausdrücklich gestellt werden, er könne auch stillschweigend in einem Schriftsatz enthalten sein (vgl.<br />
BGH NJW 2011, 1601; 2018, 1022). Hierzu reiche es aus, dass in diesem Schriftsatz konkludent zum<br />
Ausdruck gebracht werde, das Verfahren trotz verspäteter Einreichung der Rechtsmittel- oder Begründungsschrift<br />
fortsetzen zu wollen. Diese Voraussetzung habe hier der Begründungsschriftsatz<br />
erfüllt. Die Verfahrensbevollmächtigte der Antragsgegnerin hätte darin ausgeführt, ihre Mandantin sei<br />
aus gesundheitlichen Gründen gehindert gewesen, die Frist zu wahren. Ihr sei also erkennbar bewusst<br />
gewesen, dass die Beschwerdebegründungsfrist bereits abgelaufen war. Gleichwohl erstrebte sie –<br />
was der BGH aus der nachfolgenden Begründung der Beschwerde geschlossen hat – eine Fortsetzung<br />
des Verfahrens mit dem Ziel der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.<br />
Hinweis:<br />
Der BGH (StRR 11/<strong>2019</strong>, 12) setzt mit dieser Entscheidung seine zutreffende Rechtsprechung aus BGHZ<br />
63, 389, 392 f. = NJW 1975, 928 zum konkludenten Wiedereinsetzungsantrag fort. Die Entscheidung ist<br />
zwar in einem Zivilverfahren ergangen. Die Grundsätze sind m.E. aber auch im Straf- oder Bußgeldverfahren<br />
anwendbar.<br />
Es müssen allerdings, wenn man mit dem Vorbringen: Konkludenter Wiedereinsetzungsantrag Erfolg<br />
haben will, die Anforderungen des § 236 Abs. 2 ZPO oder des § 45 StPO erfüllt sein. Es müssen also alle<br />
Tatsachen, die für die Gewährung der Wiedereinsetzung von Bedeutung sein können, innerhalb der<br />
Wiedereinsetzungsfrist vorgetragen worden sein. Die Glaubhaftmachung kann im Verfahren dann<br />
nachgeholt werden.<br />
2. Nutzung des beA und Verschulden des Rechtsanwalts<br />
Versendet ein Rechtsanwalt fristwahrende Schriftsätze über das besondere elektronische Anwaltspostfach<br />
(beA) an das Gericht, hat er in seiner Kanzlei das zuständige Personal dahingehend zu belehren,<br />
dass stets der Erhalt der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 46c Abs. 5 S. 2 ArbGG<br />
zu kontrollieren ist. Er hat zudem diesbezüglich zumindest stichprobenweise Überprüfungen durchzuführen.<br />
Das fordert das BAG in einem Beschl. v. 7.8.<strong>2019</strong> (5 AZB 16/19, NJW <strong>2019</strong>, 2793).<br />
In dem (arbeitsgerichtlichen) Verfahren wurde noch um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand<br />
gestritten. Das ArbG hatte der Klage stattgegeben. Urteilsverkündung war am 19.11.2018. Das Urteil<br />
wurde der Beklagten, die erstinstanzlich anwaltlich nicht vertreten war, am 5.12.2018 zugestellt.<br />
Am 8.1.<strong>2019</strong> ging im elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) des LAG Hamm<br />
eine aus einem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) übermittelte Berufungsschrift ein.<br />
Nachdem das LAG mit gerichtlichem Schreiben vom 22.1.<strong>2019</strong> den Prozessbevollmächtigten der<br />
Beklagten auf die verspätete Einlegung der Berufung hingewiesen hatte, teilte dieser mit Schriftsatz<br />
vom 26.1.<strong>2019</strong> mit, die Berufungsschrift sei per beA am 28.12.2018 an das LAG übermittelt worden.<br />
Hierzu legte er eine Übermittlungsdatei vor, wonach die Berufungsschrift am angegebenen<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1315
Fach 22 R, Seite 1158<br />
Verfahrenstipps/Hinweise für Strafverteidiger<br />
Rechtsprechung<br />
Datum um 10.34 Uhr gesendet wurde. Die weiteren in der Übermittlungsdatei enthaltenen Rubriken<br />
„Empfangen“ und „Zugegangen“ enthielten keine Einträge.<br />
Das LAG hat die Berufung der Beklagten unter Zurückweisung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in<br />
den vorigen Stand als unzulässig verworfen. Dagegen ist Revisionszulassungsbeschwerde erhoben<br />
worden, die beim BAG keinen Erfolg hatte. Begründung: Die Beklagte habe nicht dargelegt, dass<br />
ihr Prozessbevollmächtigter in seiner Kanzlei über eine ordnungsgemäße Ausgangskontrolle verfügt.<br />
Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen<br />
Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs per beA entsprechen denen bei Übersendung<br />
von Schriftsätzen per Telefax. Auch hier sei es unerlässlich, den Versandvorgang selbst zu<br />
überprüfen. Dies könne ohne Weiteres durch eine Kontrolle der dem Telefax-Sendeprotokoll vergleichbaren<br />
automatisierten Eingangsbestätigung (§ 46c Abs. 5 S. 2 ArbGG) erfolgen (vgl. KULOW<br />
BRAK-Mitteilungen <strong>2019</strong>, 2, 5). Sobald eine an das Gericht versendete Nachricht auf dem in dessen<br />
Auftrag geführten Server eingegangen sei, schicke dieser automatisch dem Absender eine Bestätigung<br />
über den Eingang der Nachricht. Hieran habe sich mit Einführung des beA nichts geändert, die<br />
Eingangsbestätigung werde vom EGVP an das beA versandt. Die Eingangsbestätigung solle dem<br />
Absender unmittelbar und ohne weiteres Eingreifen eines Justizbediensteten Gewissheit darüber verschaffen,<br />
ob eine Übermittlung an das Gericht erfolgreich gewesen sei oder ob weitere Bemühungen<br />
zur erfolgreichen Übermittlung des elektronischen Dokuments erforderlich seien (BT-Drucks 17/12634,<br />
S. 26 zu § 130a Abs. 5 S. 2 ZPO). Habe der Rechtsanwalt eine Eingangsbestätigung erhalten, bestehe<br />
damit Sicherheit darüber, dass der Sendevorgang erfolgreich war. Ihr Ausbleiben müsse den Rechtsanwalt<br />
zur Überprüfung und ggf. zur erneuten Übermittlung veranlassen (vgl. hierzu BACHER NJW 2015,<br />
2753, 2756).<br />
Hinweise:<br />
Die Grundsätze der Entscheidung gelten nicht nur im arbeitsgerichtlichen Verfahren, sondern auch im<br />
Straf- bzw. Bußgeldverfahren (vgl. § 32a Abs. 5 S. 2 StPO).<br />
Die Grundsätze gelten nach Auffassung des BAG im Übrigen sowohl bei der manuellen als auch bei der<br />
elektronischen Führung eines Fristenkalenders. Das bedeutet, dass der Rechtsanwalt, der laufende<br />
Fristen in einem elektronischen Fristenkalender erfasst, durch geeignete Organisationsmaßnahmen die<br />
Kontrolle der Fristeingabe gewährleisten muss. Das kann durch einen Ausdruck der eingegebenen Einzelvorgänge<br />
oder eines Fehlerprotokolls erfolgen. In seiner ständigen Rechtsprechung verlangt der BGH,<br />
dass die Eingaben in den elektronischen Kalender durch Ausgabe der eingegebenen Einzelvorgänge über<br />
den Drucker oder durch Ausgabe eines Fehlerprotokolls durch das Programm kontrolliert werden.<br />
Unterbleibt dies, sei darin ein anwaltliches Organisationsverschulden zu sehen (BGH NJW <strong>2019</strong>, 1456<br />
m.w.N.; ebenso BAG, Beschl. v. 3.7.<strong>2019</strong> – 8 AZN 233/19, Rn 8; BSG NJW 2018, 1511; kritisch hierzu SIEGMUND<br />
NJW <strong>2019</strong>, 1456, 1458). Unabhängig davon ist jedoch den Anforderungen an eine ordnungsgemäße<br />
Büroorganisation nicht genügt, wenn ein elektronischer Fristenkalender so geführt wird, dass am Tag<br />
des Fristablaufs zuvor als erledigt gekennzeichnete Sachen überhaupt nicht mehr in der Fristenliste<br />
erscheinen und ein vorheriges versehentliches Löschen der Frist daher bei der Endkontrolle am Abend<br />
des Tags nicht mehr erkannt werden kann (vgl. BGH NJW 2001, 76).<br />
1316 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1185<br />
Legal Tech<br />
Anwaltsrecht<br />
Anwaltsbüro<br />
Legal Tech – Grundlegendes, Tools und Arbeitshilfen<br />
Von Rechtsanwältin SABINE ECKER, Nürnberg<br />
Inhalt<br />
I. Grundlegendes<br />
1. Definitionen<br />
2. Angebote für den Bürger<br />
3. Tools und Arbeitshilfen für Anwälte<br />
II. Fazit<br />
I. Grundlegendes<br />
Seit 2016 schwirrt der neue Begriff Legal Tech durch den Anwaltsmarkt. Doch woher kommt der Begriff?<br />
Das Wort setzt sich aus „legal services“ und „technology“ zusammen und meint die Digitalisierung der<br />
juristischen Arbeit. Einzelne Arbeitsprozesse, aber auch Rechtsdienstleistungen, sollen vermehrt automatisiert<br />
ablaufen, um eine Effizienzsteigerung zu erzielen und somit auch Kosten einzusparen. In Zeiten<br />
des Kostendrucks und des Fachkräftemangels eigentlich ein guter Ansatz. Dennoch ist ein regelrechter<br />
Hype entstanden mit meist negativem Touch, als Existenzvernichter für Anwälte. Sogar der Deutsche<br />
Anwaltstag (DAT) 2017 befasste sich mit dem Thema „Innovationen und Legal Tech“. Die Aufregung hat<br />
sich inzwischen ein wenig gelegt. Dennoch zeigen allein die Suchanfragen bei Google, wie sehr das Thema<br />
berührt. Mit Stand Mitte August <strong>2019</strong> zeigte Google bei Eingabe des Begriffs „Legal Tech“ 1.730.000.000<br />
Treffer an.<br />
1. Definitionen<br />
Diskutiert man mit der Anwaltschaft, stellt man schnell fest, dass Digitalisierung und Legal Tech verwechselt<br />
oder gleichgestellt werden. Daher muss man beide Begriffe genau definieren, um deutlich zu<br />
machen, was Legal Tech wirklich bedeutet. Das verwundert ein wenig, denn die Informationen dazu<br />
waren und sind zahlreich, auf allen Anwaltstagen, nicht zuletzt auf dem Anwaltszukunftskongress im<br />
Oktober <strong>2019</strong> (dazu www.anwaltszukunftskongress.de)<br />
Digitalisierung bezeichnet die Überführung analoger Größen in abgestufte Werte mit dem Zweck sie<br />
elektronisch speichern zu können. Im weiteren Sinne wird mit dem Begriff der Wandel hin zum<br />
elektronisch gestützten Prozessen mittels Informationstechnik und Kommunikationstechnik bezeichnet.<br />
Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet Digitalisierung einen Vorgang von der Erfassung, über<br />
die Aufbereitung bis hin zur Speicherung mit digitalen Speichermedien.<br />
Praxistipp:<br />
Das hört sich sehr neu an, jedoch ist es Realität, dass Anwälte ihre Dokumente schon lange elektronisch<br />
speichern, Nachrichten per E-Mail, also elektronisch, versenden, Diktiersysteme verwenden usw.<br />
Schleichend hat sich hier die Digitalisierung in den Anwaltsbüros etabliert.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1317
Fach 23, Seite 1186<br />
Legal Tech<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Legal Tech hingegen ist etwas anderes, nämlich die Nutzung von Technologien im Bereich des Rechts,<br />
also Nutzung von Tools, Apps, Software zur Darstellung von Rechtsberatung und Onlinedurchführung<br />
von Rechtsberatung. Legal Tech im weiteren Sinne umfasst daher fast alles, was von anlogen zu (teil-)<br />
digitalen Prozessen umgehoben wird. Bei Legal Tech im engeren Sinne ist der Einsatz von Software<br />
gemeint, also:<br />
• Programme, die Rechtsdienstleistungen online zugänglich machen,<br />
• Gerichtsurteile auswerten,<br />
• Rechtsfragen standardisieren,<br />
• juristische Prozesse vereinfachen,<br />
• Rechtsanwälten bei ihrer Arbeit durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz und Machine Learning<br />
helfen.<br />
Wo Legal Tech anfängt ist nicht klar definiert. Daher wird aus Angst um den eigenen Berufsstand auch<br />
von einem disruptiven Geschäftsmodell gesprochen. Schwarzseher meinen daher, der Anwalt würde<br />
künftig überflüssig. Diese pessimistische Sicht ist nicht angebracht, wenn man sich mit den einzelnen<br />
Kategorien näher beschäftigt. Denn Legal Tech kann man in verschiedene Kategorien unterteilen. Die<br />
zunächst gröbste Unterscheidung ist der Empfänger des Legal Tech-Produkts, entweder der Bürger<br />
oder der Anwalt.<br />
2. Angebote für den Bürger<br />
Die Angebote für den Bürger erschöpfen sich zumeist in der Vermittlung von Kanzleien über Online-<br />
Portale oder automatisierte Rechtsberatung. Beide werden im Folgenden dargestellt.<br />
a) Vermittlungsportale<br />
Anwaltsverzeichnisse, die im Internet zu finden sind, fungieren als Legal-Tech-Plattformen. Anwälte<br />
und Mandanten werden dort zusammengeführt. Zielgruppe dieser Portale sind i.d.R. Verbraucher,<br />
also der Bürger, der auf der Suche nach rechtlicher Beratung ist und einen Anwalt benötigt. Die Anwaltsverzeichnisse<br />
bieten dem Anwalt meist gegen Gebühr die Möglichkeit sich und sein Tätigkeitsfeld<br />
online zu präsentieren und – entsprechende Optimierung vorausgesetzt – auch in Suchmaschinen<br />
präsent zu sein. Letztlich sind solche Anwaltsverzeichnisse die neuen „digitalen gelben<br />
Seiten“. Die Darstellung in solchen Verzeichnissen geben jedoch weit mehr Informationen über die<br />
Kanzlei preis als der bloße Eintrag der Kontaktdaten in einem Telefonbuch. Dies gilt insb., wenn das<br />
Portal auf die Homepage der Kanzlei verlinkt. Beispiele für solche Portale sind u.a.:<br />
• www.anwalt.de<br />
• www.anwaltssuche.de<br />
• www.anwalt<strong>24</strong>.de<br />
• www.anwaltsauskunft.de<br />
• www.jusmeum.de<br />
• www.frag-einen-anwalt.de<br />
• www.schadenfix.de<br />
Dieser Markt ist ständig im Umbruch: Neue Portale entstehen, andere Portale werden wiedereingestellt.<br />
Diese Marktbewegung gilt es aus Sicht der Anwaltskanzleien zu beobachten, denn er spiegelt<br />
zugleich das Bedürfnis der Bürger nach Online-Angeboten. Das wichtigste Marketinginstrument der<br />
Anwaltschaft ist es deshalb, sich als anwaltlicher Berufsträger/Kanzlei in einem solchen Portal zu<br />
präsentieren.<br />
1318 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1187<br />
Legal Tech<br />
b) Automatisierte Rechtsberatung<br />
Die Kategorie mit den zahlenmäßig häufigsten Legal-Tech-Anwendungen ist die der automatisierten<br />
Rechtsberatungsprodukte. Diese wenden sich zumeist an Endverbraucher und haben sich einer häufig<br />
vorkommenden, sich wiederholenden und gut strukturierbaren Problemlösung verschrieben. Ihr Ziel<br />
ist die (teil-)automatisierte Abwicklung von Fällen. Bekannt geworden sind diese Dienstleistungen<br />
mit Angeboten zu Fluggastentschädigungen wie www.flightright.de und Bußgeldbescheiden aus dem<br />
Straßenverkehr wie www.geblitzt.de. Doch darin erschöpfen sich die Angebote nicht. Zahlreiche andere<br />
Rechtsgebiete und Branchen sind hinzugekommen. So können sich Verbraucher dort automatisiert<br />
diverse Vertragstypen wie Mietverträge, Arbeitsverträge oder ähnliche Verträge prüfen lassen oder<br />
auch z.B. Hartz-IV-Bescheide. Nachfolgend werden auszugweise Beispiele für solche Portale angeführt:<br />
• www.flightright.de<br />
• www.geblitzt.de<br />
• www.myright.de<br />
• www.wenigermiete.de<br />
• www.helpcheck.de<br />
• www.kuendigung.org<br />
• www.scheidung.de<br />
Praxistipp:<br />
Falsch wäre es hier zu denken, dass die o.g. Portale den Anwälten Mandate wegnehmen. Es handelt sich<br />
um Kleinstmandate, mit denen der Bürger nicht zum Anwalt gegangen wäre, da die Anwaltsgebühren in<br />
keinem Verhältnis zum Erfolg stehen. Bei einfacher Eingabe in ein Onlineportal – ohne sofortiges Kostenrisiko<br />
– ist die Hemmschwelle für den Bürger deutlich gesenkt, der Anwaltschaft aber kein Schaden<br />
zugefügt. Dem darf man sich als Anwalt nicht verschließen, sonst wird man am Markt nicht mehr<br />
wahrgenommen.<br />
3. Tools und Arbeitshilfen für Anwälte<br />
Angebote für Anwälte sind differenzierter. Dort geht die Palette von Unterstützungssoftware für<br />
den Kanzleiworkflow oder die Kanzleiorganisation, über die Dokumentenerstellung sowie über<br />
Datenbanken bis hin zur Analyse von Dokumenten. Diverse dieser Angebote gibt es schon viele<br />
Jahre, als es das Wort oder den Begriff Legal Tech noch gar nicht gab. Trotzdem kann man darunter<br />
subsumieren, denn es ist die Überführung analoger Arbeitsschritte in die (teil-)digitalisierte Form der<br />
Prozesse.<br />
a) Anwaltliche Hilfsmittel<br />
Anwaltliche Hilfsmittel umfassen Tools und Softwarelösungen, die den Anwalt bzw. die Kanzlei in<br />
ihrer täglichen Arbeit unterstützen. In erster Linie gehört dazu das klassische Kanzleimanagementsystem,<br />
sei es als Desktop-Anwendung oder in der Cloud. Die Organisationsprozesse in der Kanzlei<br />
werden mit Hilfe solcher Software effektiver, schneller. Daten, die in der Software hinterlegt sind,<br />
greifen ineinander. Adressen werden in das Adressfeld des zu erstellenden Dokuments automatisch<br />
eingezogen, der eingegebene Streitwert zieht bei der Abrechnung die dazu hinterlegten Gebühren,<br />
gebuchte Beträge laufen automatisch in die Forderungsaufstellung, um nur wenige der Vorgänge zu<br />
beschreiben. Aufgrund der Menge der Angebote wird als genereller Überblick verwiesen auf:<br />
• https://www.legal-tech-in-deutschland.de/anwaltliche-hilfsmittel/<br />
• https://www.legal-tech.de/aktuelles-rund-um-legal-tech/tools-und-arbeitshilfen/<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1319
Fach 23, Seite 1188<br />
Legal Tech<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
b) Dokumentenerstellung<br />
Die Erstellung von Dokumenten ist die Kerntätigkeit und das Ergebnis anwaltlicher Tätigkeit, mit<br />
der letztlich der Umsatz erzeugt wird. Jedwede Unterstützung dieses Arbeitsprozesses allein in der<br />
Herstellung des Dokuments bietet Effektivität in der Kanzlei. Standard in Anwaltssoftware ist es<br />
bereits heute, nicht jedes Mal alles neu schreiben zu müssen, sondern auf Vorlagen zurückgreifen zu<br />
können. Dort findet man im Regelfall für alle standardisierbaren Anträge und Schriftsätze Mustervorlagen,<br />
in die dann die mandatsbezogenen Daten eingezogen werden. Das gibt es seit etlichen<br />
Jahren. Die Erstellung von Dokumenten gehört somit zu den ältesten Anwendungsfällen von juristischem<br />
Technologieeinsatz.<br />
Doch nicht nur die Verbindung von Daten aus der Akte mit dem diktierten Dokument ist der einzige<br />
Einsatz von Legal Tech in diesem Arbeitsprozess des Anwalts. Heutige Legal-Tech-Unternehmen bieten<br />
fast immer onlinebasierte Anwendungen, mit denen entweder Dokumentvorlagen (meistens Verträge)<br />
erstellt werden können, um sie danach standardisiert zu verwenden oder vorbereitete Standardverträge<br />
individualisiert werden können. Beispielhaft seien hier nur genannt:<br />
• www.lawlift.de<br />
• www.agreement<strong>24</strong>.de<br />
• www.smartlaw.de<br />
Hinweis:<br />
S. auch den Überblick unter: https://www.legal-tech-in-deutschland.de/dokumentenerstellung/.<br />
c) Juristische Datenbanken<br />
Juristische Datenbanken sind aus der anwaltlichen Arbeit nicht mehr wegzudenken. Das umständliche<br />
Aufsuchen von Bibliotheken und Durchwühlen von Kommentaren und Zeitschriften ist heute der<br />
Recherche in der Datenbank am Arbeitsplatz gewichen. Legal Tech hat so schon lange Einzug<br />
gehalten in den Anwaltsalltag. Juristische Datenbanken gibt es in kostenloser und kostenpflichtiger<br />
Form. Während sich die kostenfreien Datenbanken neben reinen Gesetzes- und Vorschriftensammlungen<br />
auf die automatische Aggregation von Urteilen und Fundstellen beschränken, haben die<br />
kostenpflichtigen Anbieter ihr Angebot um eine manuelle Kuration und Zusatzfunktionen erweitert.<br />
Eine Abgrenzung der einzelnen Legal-Tech-Angebote im Bereich der juristischen Datenbanken wird<br />
aber immer schwieriger, da auch die Gratis-Anbieter mit immer neuen technischen Funktionen wie<br />
einer plattformübergreifenden Suchfunktionalität und intelligenten Algorithmen Marktanteile und<br />
Nutzer gewinnen.<br />
Beispiele:<br />
• www.juris.de<br />
• www.beck-online.de<br />
• www.haufe.de<br />
• www.dejure.org<br />
• www.gesetze-im-internet.de<br />
• www.rechtsprechung-im-internet.de<br />
d) Apps für Anwälte<br />
Apps gehören heute zum Anwaltsalltag und erleichtern die tägliche Arbeit. Die schnelle Info über eine<br />
App einzuholen gehört nicht nur für den Anwalt zur täglichen Übung. Für den Rechtsmarkt und damit<br />
auch für Anwälte gibt es eine Vielzahl solcher Anwendungen, die vor allem die Arbeit auf dem Laptop,<br />
Tablet oder Handy auch unterwegs unterstützen.<br />
1320 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1189<br />
Legal Tech<br />
Hinweis:<br />
Beispiele für Apps zum Nachschlagen von Gesetzen und für Infos rund um das Thema Recht:<br />
• Juris Nachrichten: Aktuelle Meldungen aus allen Rechtsgebieten, so ist man immer bestens informiert.<br />
• Legal Tribune Online: Information und Neuigkeiten rund um die Themen Recht, Gesetz und Justiz.<br />
Nützlich für jeden Rechtsanwalt, Richter, Notar oder Jurastudenten.<br />
• Jlaw: App für Gesetze und Urteile. Stets aktuelle Information für Studenten und Juristen. Zugriff auf über<br />
4000 Gesetze mit über 100.000 Gerichtsentscheidungen<br />
• Lex Superior: Alle Gesetze des Bundes sowie studienrelevante Vorschriften des Europarechts sowie<br />
Landesrechte einiger Bundesländer. Richtet sich in erster Linie an Jurastudenten und Rechtsreferendare.<br />
Ist aber auch für professionelle Juristen geeignet.<br />
• LX Gesetze: Intuitive und zeitgemäße Gesetze-App. Die intelligente Suche erlaubt es 700 Gesetze schnell<br />
und einfach zu durchsuchen. Paragraphen und Gesetzbücher sind mit Live-Suche schnell zu finden.<br />
Auch offline kann auf über 700 Gesetze zugegriffen werden.<br />
• Gesetze: Gesetze und Vorschriften des Bundes, aus Bayern und der EU sind einfach unterwegs<br />
verfügbar. Die App richtet sich vor allem an Jurastudenten, Rechtsreferendare und Anwärter.<br />
• Anwaltsblatt App: Das Anwaltsblatt ist das offizielle Organ des deutschen Anwaltvereins. Anwälte<br />
informieren über Entwicklungen in allen Rechtsgebieten mit den Schwerpunkten Anwaltsrecht, Anwaltshaftung<br />
und Anwaltsvergütung.<br />
Darüber hinaus gibt es Apps, die bereits bei der Bearbeitung von Fällen, z.B. bei der Berechnung von<br />
Kosten und Gebühren per App, helfen:<br />
Beispiele:<br />
• RVG Pro: Diese App ist ein Gebührenrechner für professionelle Nutzer wie Rechtsanwälte, Richter und<br />
Referendare. Die einfach zu bedienende App errechnet Gebührensätze anhand des Gegenstandwerts.<br />
• RVG Strafverteidiger Bex App: Die App ist in erster Linie eine praktische Arbeitshilfe für Strafverteidiger.<br />
Mit wenigen intuitiven Eingaben kommt man mit der App zu einer Kostenprognose, die die wichtigsten<br />
Eventualitäten eines Verfahrens berücksichtigt. Als Mandant ist man damit klar informiert, als Rechtsanwalt<br />
kann man mit der Sofort-Berechnung Bedenken zerstreuen und Vertrauen aufbauen.<br />
• DAV Unterhaltsrechner: Mit der Unterhalts-App lässt sich schnell und simpel ermitteln, welcher<br />
Unterhaltsanspruch für den Mandanten besteht. Der offizielle Unterhaltsrechner des Deutschen Anwaltvereins<br />
hilft schnell und unkompliziert weiter. Für bis zu drei Kinder kann man den Unterhalt berechnen.<br />
Praxistipp:<br />
Die Apps sind teils kostenfrei, teils kostenpflichtig. Der Markt ist dort so schnelllebig, dass eine aktuelle<br />
Auflistung schon morgen überholt sein kann. Hier lohnt es für den Anwalt, aktuell und bei Bedarf den<br />
Markt nach geeigneten Angeboten abzufragen.<br />
e) Dokumentenanalyse<br />
Legal-Tech-Anwendungen aus dem Bereich der Dokumentenanalyse (eDiscovery) haben sich auf Verarbeitung<br />
und Analyse von vielen, strukturierten Dokumenten und Daten spezialisiert. Ausgestattet mit<br />
einer möglichst großen Zahl an vergleichbaren Dokumenten ermöglichen die Tools eine Strukturierung<br />
und Kategorisierung der Daten und das Herausfiltern bestimmter Informationen. Im späteren Verlauf<br />
ist oftmals eine Risikobewertung (z.B. von Verträgen) möglich. Der Vorteil dieser Legal-Tech-Start-Ups<br />
liegt oftmals in einer enormen Zeitersparnis.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong> 1321
Fach 23, Seite 1190<br />
Legal Tech<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Beispiele:<br />
• https://www.datev.de/web/de/top-themen/rechtsanwaelte/juristische-textanalyse/<br />
• www.lawlift.de<br />
• www.leverton.ai<br />
• www.normfall.de<br />
• www.knowledgetools.de<br />
Für den internationalen Anwaltsmarkt gibt es weitere Anbieter, die hier außen vorgelassen werden.<br />
II. Fazit<br />
Legal Tech ist kein Teufelszeug und wird die Tätigkeit der Anwälte auch nicht überflüssig machen! Man<br />
muss sich nur damit beschäftigen. Beste Beispiele dafür sind in der Vergangenheit zu finden. Was<br />
wurden das Fax oder die E-Mail als Unsinn und technischer Schnickschnack verschrien! Doch diese Rufe<br />
verhallten schnell, als man erkannte, welche ungeheure Effektivität diese technischen Neuerungen in die<br />
Kanzleien brachten.<br />
Denkt man über den Einsatz von Legal-Tech-Produkten nach, sollte unbedingt der erste Schritt sein,<br />
sich die eigenen Prozesse in der Kanzlei anzusehen und zu prüfen, wo genau die Zeitfresser sind, die mit<br />
solcher Technik eliminiert werden können. Als Kanzleiinhaber muss ich mir die Fragen stellen:<br />
• Wo kann ich Technik einsetzen?<br />
• Was bringt mir das?<br />
• Was spare ich dadurch?<br />
• Welches Personal ist dadurch betroffen?<br />
• Muss ich ggf. Kündigungen aussprechen?<br />
• Welche neuen Anforderungen an Personal bringt der Einsatz der Legal-Tech-Produkte?<br />
• Welches Changemanagement brauche ich dafür?<br />
• Ist meine Bürotechnik fit genug für Legal Tech?<br />
• Welche Investitionen muss ich tätigen?<br />
Allein diese wenigen Fragen zeigen auf, dass Legal Tech und der Einsatz in der Kanzlei nicht nur Beschäftigung<br />
mit der neuen Technik erfordert, sondern vor allem eine Frage des Kanzleimanagements ist.<br />
Kritisches Hinterfragen dessen, wie ich meine Kanzlei als Anwalt führe, ist der beste Schritt, entscheiden<br />
zu können, welches der Legal-Tech-Angebote für meine Kanzlei passen.<br />
Die erfolgreiche Umsetzung setzt dann allerdings voraus, dass alle Mitarbeiter in der Kanzlei mitgenommen<br />
werden. Dort wo die Tools und Arbeitshilfen eingesetzt werden, werden Kapazitäten frei,<br />
die anderswo gebraucht werden. Rechtsanwaltsfachangestellte können z.B. vermehrt für Gebühren-,<br />
Kosten- und Vollstreckungssachen eingesetzt werden. Auch die Weiterbildung des Personals in<br />
technischen Fragen ist nicht zu vernachlässigen, um Probleme vor Ort schnell lösen zu können.<br />
Alles in allem ist die Digitalisierung und das Zulassen von Legal-Tech-Produkten die Chance, die eigene<br />
Kanzlei zu durchleuchten, neu zu strukturieren und damit zukunftsfähig zu machen.<br />
1322 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 18.12.<strong>2019</strong>