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Osnabrücker Wissen Ausgabe 26

Nr. 26 (III-2019) - Osnabrücker Wissen Wir beantworten Fragen rund um die Osnabrücker Region. Alle drei Monate als Printausgabe. Kostenlos! Und online unter www.osnabruecker-wissen.de

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Kunst und Kultur

Kunst und Kultur

VERGESSENE BÜCHER TEIL 14:

Karl Gutzkows Erzählung „Die Nihilisten“

WIE VIEL KOMFORT

BRAUCHT EIN REVOLUZZER?

Als der Vater ihre beste Freundin heiratet, verlässt Hertha fluchtartig die gemeinsame Wohnung.

Eine ungewöhnliche Entscheidung im Jahr 1847, die nicht nur damit zu tun hat, dass die Tochter

peinlich berührt ist …

Der Erzähler in Karl Gutzkows „Die

Nihilisten“ weiß, dass Herthas Abschied

auch „das Ende einer schon

lange in ihr gährenden Krisis“ markiert.

Im Grunde gehorcht sie einem

„unwiderstehlich gewordenen Drang

nach Freiheit und Selbstständigkeit“.

Tatsächlich will die junge Frau mehr

als eine eigene Wohnung. Sie beschließt,

ihren Lebensunterhalt selbst

zu verdienen und sich ohne

elterlichen Rat nach einem

geeigneten

umzuschauen.

Lebenspartner

Die Suche nach Freiheit und

Selbstbestimmung

führt

Hertha zu Gelegenheitsrevoluzzern,

Naturjüngern und

Professoren, „die die Communisterei

bereits praktisch

betreiben“. Doch im Aufruhr

Gutzkows Erzählung erschien 1853 in den

„Unterhaltungen am häuslichen Herd“

38 Osnabrücker Wissen | Ausgabe III 2019

des folgenden Revolutionsjahres

werden Ideale und Programme

zerrieben. Herthas Geliebter

Constantin erkennt beizeiten, dass

die Negation des Weltalls den Salon

unbedingt aussparen muss. Er wird

Staatsanwalt, heiratet eine angehende

Stiftsdame aus guter Familie und

bekennt sich zum Komfort als eigentlichem

Lebensziel.

Constantin, reich geworden, konnte

jetzt seiner endlich gewonnenen

Ueberzeugung, daß von allen, allen

Thatsachen, mit denen sich das alberne

neunzehnte Jahrhundert quält,

nur der Begriff des Comforts der wahrhaft

neue und befruchtende Gedanke

Offenes Buch © tomertu; Adobe Stock / Karl Gutzkow © Wikipedia;

ist, ganz nach Wohlgefallen leben.

Er hielt sich Wagen und Pferde, er

streckte sich auf Divans und Ottomanen,

er trieb Blumenzucht in seinen

Zimmern und lebte wie ein angebetetes

Idol in seiner ganzen Herrlichkeit.

(...) Die Stellung eines öffentlichen

Anklägers behielt er als

eine Art von Privat-

unterhaltung.

Karl Gutzkows,

„Die Nihilisten“

Sein alter Weggefährte

Jean Reps

wird Fabrikant in

Filzwaren. Er betreibt

künftig ein Unternehmen,

in dem Kinder von „Armen oder Verbrechern

oder Verwahrlosten“ ausgebeutet

werden können.

Herthas Vater lernt die Juristerei aus

ungewohnter Perspektive kennen,

landet vor Gericht und kehrt schließlich

enttäuscht in die Provinz zurück.

Eberhard Ott, der sich einst der verschmähten

Verlobten Constantins

angenommen hatte, tritt zum zweiten

Mal in seine Fußstapfen. Denn

Hertha, die sich wie eine Charlotte

Corday oder eine Manon Jeanne Roland

de la Platière gefühlt hatte, erkennt

überraschend den „Dünkel des

Nihilismus“, entscheidet sich für den

inzwischen verwitweten Eberhard

und entwickelt sich zur hingebungsvollen

Pflegemutter.

Gutzkows 1853 unter dem Titel „Der

Ring oder die Nihilisten“ erschienener

Text gehört auf den ersten Blick

nicht zu den literarischen Ausnahmeerscheinungen.

Den meisten Figuren

fehlt es an Profil und Authentizität

und lange Grundsatzerläuterungen

stören mitunter den Lesefluss.

Doch im streckenweisen Scheitern

des Erzählers spiegelt sich das Dilemma

der Nihilisten. Klappert

doch der trockene

Berichtston

ebenso

ermüdend wie das

rhetorische Besteck

der

Salonrevolutionäre,

die nach

einem gescheiterten

Aufstand ihre politischen

Ideale, nicht aber

ihre gesellschaftlichen Ambitionen

aufgeben.

Ähnlichkeiten mit politischen Parteien

des späten 20. und frühen 21.

Jahrhunderts waren von Gutzkow sicher

nicht beabsichtigt, machen seine

Erzählung aber ebenso lesenswert

wie die interessante sozialgeschichtliche

Perspektive.

WEN MACHTEN VERBOTE POPULÄR?

Karl Gutzkow, geboren 1811 in Berlin,

gehörte zu den produktivsten

Schriftstellern und Journalisten des

19. Jahrhunderts, galt als einer der

führenden Köpfe der „Jungdeutschen“

und streitbarer Teilnehmer an

literarischen und politischen Kontroversen.

Aufsehen erregte vor allem

sein 1835 erschienener Roman „Wally,

die Zweiflerin“, der wegen seiner

gesellschafts- und religionskritischen

Ansätze kurz nach dem Erscheinen

Osnabrücker Wissen | Ausgabe III 2019

verboten wurde. Auch andere Arbeiten

landeten auf dem Index, doch

Gutzkow blieb schreiblustig und populär.

Zu seinen größten Erfolgen gehörte

das vielfach aufgeführte Schauspiel

„Zopf und Schwert“, das noch 1974

von Helmut Käutner verfilmt wurde.

Auch seine monumentalen Romane

„Die Ritter vom Geiste“ (9 Bände,

1850/1851) und „Der Zauberer von

Rom“ (ebenfalls 9 Bände, 1858/61)

fanden zahlreiche Leser.

Das aus Osnabrücker Perspektive

sicher reizvolle, heute aber vollkommen

vergessene Lustspiel „Der

westphälische Friede“ wurde 1869 in

Mannheim uraufgeführt. 1878 starb

Gutzkow in Frankfurt am Main.

Autor: Thorsten Stegemann

GUTZKOW LESEN

Vom Buchmarkt sind Gutzkows

Werke mit Ausnahme von „Wally,

die Zweiflerin“ und diversen

Reprints weitgehend verschwunden.

Das „Editionsprojekt Karl

Gutzkow“ (www.gutzkow.de) hat

sich zum Ziel gesetzt, eine kommentierte,

digitale Gesamtausgabe

zu realisieren. Im Münsteraner

Oktober Verlag erscheinen dazu

entsprechende Textbände. „Die

Nihilisten“ sind hier noch nicht

publiziert worden. Die Erzählung

findet sich aber in einer Gutzkow-Werkausgabe

der Unibibliothek.

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