Leseprobe: Der Affe schlägt den Takt
HENKJAN HONING DER AFFE SCHLÄGT DEN TAKT Musikalität bei Tier und Mensch Eine Spurensuche Henschel
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HENKJAN HONING<br />
DER AFFE<br />
SCHLÄGT<br />
DEN TAKT<br />
Musikalität bei<br />
Tier und Mensch<br />
Eine Spurensuche<br />
Henschel
Henkjan Honing<br />
<strong>Der</strong> <strong>Affe</strong> <strong>schlägt</strong> <strong>den</strong> <strong>Takt</strong>
Henkjan Honing<br />
DER AFFE<br />
SCHLÄGT<br />
DEN TAKT<br />
Musikalität bei<br />
Tier und Mensch<br />
Eine Spurensuche<br />
Übersetzt von Bärbel Jänicke<br />
Henschel
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten<br />
sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />
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Zustimmung der Rechteinhaber urheberrechtswidrig und strafbar.<br />
Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />
und für die Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />
<strong>Der</strong> Verlag dankt der Niederländischen Stiftung für Literatur<br />
für die Förderung der Übersetzung.<br />
ISBN 978-3-89487-810-8<br />
© 2019 by Henschel Verlag in der<br />
E. A. Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig<br />
Originalausgabe: © Henkjan Honing, Aap slaat maat.<br />
Op zoek naar de oorsprong van muzikaliteit bij mens en dier,<br />
Nieuw Amsterdam, Amsterdam 2018<br />
Übersetzung: Bärbel Jänicke, Berlin<br />
Gestaltung und Satz: Jonas Pietsch, Berlin<br />
Lektorat: Sabine Melchert<br />
Korrektorat: Susanne Armbruster, Hamburg<br />
Druck und Bindung: CPI Books<br />
Überzugsmaterial: Naturleinen 1085 von<br />
Gebr. Schabert GmbH & Co. KG, www.schabert.eu<br />
Printed in Germany<br />
www.henschel-verlag.de
Für Anne-Marie
»The perception, if not the enjoyment, of musical<br />
ca<strong>den</strong>ces and of rhythm is probably common to<br />
all animals, and no doubt depends on the common<br />
physiological nature of their nervous systems.«<br />
Charles Darwin<br />
The Descent of Man (1871)<br />
»Die Wahrnehmung, wenn nicht gar der Genuss<br />
von musikalischen Ka<strong>den</strong>zen und Rhythmus ist<br />
wahrscheinlich allen Tieren gemeinsam und hängt<br />
zweifellos von der gemeinsamen physiologischen<br />
Natur ihres Nervensystems ab.«<br />
Übers. B. J.
Inhalt<br />
11 Vorwort<br />
23 Das rasierte Ohr<br />
45 Spiegeln<br />
57 <strong>Takt</strong>taub<br />
71 Maß genommen<br />
87 Ai und Ayumu<br />
95 Übernormaler Auslöser<br />
111 Snowball<br />
135 Trällerdialekt<br />
145 Absolutes Gehör<br />
163 Rio und Ronan<br />
177 Nachbetrachtung<br />
185 In aller Kürze:<br />
Die wissenschaftliche Spurensuche<br />
nach Musikalität bei Mensch und Tier<br />
193 Danksagung<br />
195 Quellen<br />
195 Anmerkungen<br />
209 Namen-, Tiernamenund<br />
Tierregister
<strong>Takt</strong>taub<br />
Amsterdam, 11. November 2011. Es ist Abend. Ich fahre mit dem<br />
Fahrrad zum brandneuen Science Park an der Universität von<br />
Amsterdam im Stadtteil Watergraafsmeer. In einem kleinen,<br />
noch nach frischer Farbe riechen<strong>den</strong> Seminarsaal steht eine<br />
mobile Anlage für eine Live-Videoverbindung zu Teilnehmern<br />
auf der anderen Seite des Ozeans bereit: zum BRAMS-Institut<br />
in Montreal, Kanada. Das Team des niederländischen Fernsehsenders<br />
VPRO, das mir eine Kamera nach Mexiko mitgegeben<br />
hatte, dreht dort einen Dokumentarfilm über <strong>den</strong> »Mann ohne<br />
Rhythmus«. Es ist zu Besuch bei Isabelle Peretz, Direktorin des<br />
BRAMS-Instituts und Expertin im Bereich der Amusie, dem Fehlen<br />
jeglicher Musikalität.<br />
Amusie besteht vor allem aus Tontaubheit oder <strong>Takt</strong> taub heit.<br />
Ersteres kommt am häufigsten vor: Etwa 2 bis 4 Prozent der westlichen<br />
Bevölkerung haben mehr oder weniger Pro bleme damit.<br />
Den Betroffenen fällt ein falscher Ton in einer bekannten Melodie<br />
nicht auf und sie hören auch nicht <strong>den</strong> Unter schied zwischen<br />
zwei verschie<strong>den</strong>en Melodien. Im schlimmsten Falle ist Musik<br />
für sie nur Lärmbelästigung, die tunlichst zu vermei<strong>den</strong> ist.22<br />
57
Ein anderer Aspekt der Amusie ist <strong>Takt</strong>taubheit. Eine Eigenschaft,<br />
die noch seltener auftritt. Das BRAMS-Institut hat in <strong>den</strong> vergangenen<br />
Jahren nur einen Menschen gefun<strong>den</strong>, bei dem diese Form<br />
der Amusie diagnostiziert wurde. Heute werde ich mit ihm über<br />
die Live-Verbindung in Kontakt treten. Sein Name ist Mathieu.<br />
Auf dem Breitbildschirm sehe ich einige Techniker durch<br />
das Studio laufen. <strong>Der</strong> Fernsehregisseur sitzt mitten im Bild und<br />
isst entspannt ein Brot, während das Licht eingestellt wird. Wir<br />
haben uns im Vorfeld nicht beraten, um dem Gespräch nicht<br />
die Spontanität zu nehmen. Es wur<strong>den</strong> nur Absprachen über die<br />
Gegenaufnahmen getroffen, die der in Amsterdam verbleibende<br />
Redakteur mit einer kleinen Kamera filmt. Als ich <strong>den</strong> Regisseur<br />
frage, wie der Besuch bisher verlaufen ist, muss er erst einmal<br />
loswer<strong>den</strong>, dass sie gestern Abend in einer Diskothek waren,<br />
um Mathieu auf der Tanzfläche zu filmen. Mathieu fühlte sich<br />
offensichtlich nicht wohl in seiner Haut und schien vor allem die<br />
anderen Tänzer zu imitieren.<br />
Ich freue mich auf das Gespräch mit dem Mann ohne Rhythmus.<br />
In einem verblüffen<strong>den</strong> Artikel über ihn wurde deutlich<br />
gemacht, dass er zwischen einem Marsch und einem Walzer<br />
keinen Unterschied hören kann. Isabelle Peretz zufolge ist es<br />
der erste wissenschaftlich dokumentierte Fall eines takttauben<br />
Menschen.23<br />
Dass jemand unrhythmisch tanzt, kommt allerdings öfter<br />
vor. Wer kennt nicht jeman<strong>den</strong>, der sich auf der Tanz fläche<br />
bewegt, als würde ein ganz anderes Lied gespielt? Doch wenn<br />
sich Mathieu im Labor unterschiedliche Rhythmen anhört und<br />
<strong>den</strong> <strong>Takt</strong> mitklopfen soll, zeigt sich, dass bei ihm etwas ganz<br />
Besonderes vorliegt.<br />
Um das fehlende <strong>Takt</strong>gefühl bei Mathieu eingehender zu<br />
untersuchen, hat Pascale Lidji, eine Wissenschaftlerin im BRAMS-<br />
Team, in <strong>den</strong> vergangenen Wochen eine Reihe weiterer Experi-<br />
58
mente durchgeführt, einschließlich des EEG-Hörexperiments,<br />
das wir zuvor in Amsterdam durchgeführt hatten.<br />
Gegen sieben Uhr kommen Pascale und Mathieu in <strong>den</strong> Aufnahmeraum.<br />
Pascale nimmt auf einem der Stühle Platz und<br />
wedelt stolz mit einem DIN-A4-Blatt mit <strong>den</strong> ersten Resultaten<br />
in Richtung Kamera. Mathieu wirkt etwas unruhig.<br />
Mathieu, ein aufgeweckter, fröhlicher 23-jähriger Mann,<br />
er klärt, mit seinem fehlen<strong>den</strong> <strong>Takt</strong>gefühl kein Problem zu<br />
haben, und fügt verschmitzt hinzu: »Für jeman<strong>den</strong>, der sich so<br />
lange mit <strong>Takt</strong>gefühl befasst, muss das sicherlich eine Enttäuschung<br />
sein.« Er komme auch ohne aus. Ja, früher in der Schule<br />
hätten ihm die anderen, wenn er singen oder Gitarre spielen<br />
wollte, schon schnell klargemacht, dass das keine gute Idee sei,<br />
und bei Standardtänzen hätten seine Tanzpartnerinnen die Führung<br />
übernehmen müssen, weil er nicht hörte, wann der <strong>Takt</strong><br />
einsetzte. Mathieu vergleicht seine Erkrankung mit Stottern. Es<br />
ist unpraktisch, doch seiner Meinung nach lässt sich auch viel<br />
daran verbessern. Durch die vielen Experimente, an <strong>den</strong>en er<br />
in <strong>den</strong> letzten Jahren teilgenommen hat, hat er »besser gelernt,<br />
worauf man hören und wie man sich bewegen sollte«.<br />
Pascale, die neben ihm sitzt, reagiert streng: »Lösungen sind<br />
erst möglich, wenn man weiß, was das Fehlen von <strong>Takt</strong>gefühl<br />
verursacht. Alles andere sind individuelle Strategien, um dem<br />
Problem auszuweichen.« Mathieu schaut verdutzt und sagt: »Ja,<br />
es wird nie so wer<strong>den</strong> wie bei anderen.«24<br />
Nach einem angeregten, etwa zwanzigminütigen Gespräch<br />
wird der Dreh beendet. Isabelle Peretz tritt aus dem dunklen<br />
Hintergrund ins Bild und setzt sich neben Pascale und Mathieu.<br />
Bild und Ton sind von so guter Qualität, dass es sich anfühlt, als<br />
säßen wir uns direkt an einem Tisch gegenüber, nur dass bei<br />
ihnen Mittag ist und hier Abend.<br />
Wir gehen das eben gehörte Gespräch noch einmal durch<br />
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und bestätigen beide, dass wir vor allem wissen möchten, welcher<br />
kognitive und neurobiologische Prozess <strong>Takt</strong>gefühl er mög licht<br />
oder es in manchen Fällen gerade unterdrückt. Wenn wir herausfin<strong>den</strong>,<br />
was bei Mathieu fehlt oder bei ihm unter drückt wird,<br />
könnte das ein entschei<strong>den</strong>der Schritt zur Erkenntnis sein,<br />
welche Gehirnnetzwerke an der Musikalität beteiligt sind.<br />
Für Isabelle und mich ist Mathieus fehlendes <strong>Takt</strong>gefühl ein<br />
faszinierendes Phänomen. Wir sind beide davon überzeugt, dass<br />
<strong>Takt</strong>gefühl eine einzigartige und grundlegende Eigenschaft von<br />
Musikalität ist. Doch während Isabelle davon ausgeht, dass <strong>Takt</strong>gefühl<br />
ausschließlich menschlich ist, vermute ich, dass es unsere<br />
nächsten Verwandten ebenfalls besitzen, schlicht weg weil unser<br />
Gehirn eine vergleichbare Struktur aufweist (Homologie). Aber<br />
wie dem auch sei, bisher fehlt der Beweis für meine Auf fassung.<br />
Bisher legen die Ergebnisse von Hörexperimenten, die <strong>Takt</strong>gefühl<br />
von Menschen und <strong>Affe</strong>n testen, das Gegenteil nahe. Was<br />
bedeuten würde, dass Isabelle recht hat.<br />
Am Ende der Videositzung bitte ich Pascale um die ersten<br />
Ergebnisse des Hörexperiments mit Mathieu. Was ich sehe,<br />
überrascht mich. Zwischen Mathieus Hirnsignalen und <strong>den</strong><br />
Signalen einer Kontrollgruppe von fünf normal Hören<strong>den</strong> im<br />
etwa gleichen Alter, mit vergleichbarem Bildungsgrad und ähnlicher<br />
musika li scher Erfahrung, gibt es augenscheinlich keinen<br />
Unterschied.<br />
Sollte Mathieus Gehirn unbewusst also doch das Gleichmaß<br />
in der Musik erkennen, und scheitert erst die Reproduktion: die<br />
rhythmische Bewegung oder das Mitklopfen im <strong>Takt</strong> der Musik?<br />
Oder ist das <strong>Takt</strong>gefühl eher kognitiver Natur, ein Gleichmaß,<br />
das das Gehirn zwar auffasst, zu dem ein takttauber Mensch aber<br />
keinen Zugang hat?<br />
Es ist noch zu früh, um Schlüsse zu ziehen. Dem BRAMS-<br />
Institut, das über eine große Routine in der Erforschung von<br />
60
Menschen mit Amusie verfügt, ist sehr viel daran gelegen, in<br />
nächster Zeit einige weitere takttaube Hörer zu fin<strong>den</strong>, um die<br />
Resultate besser deuten zu können.<br />
Gegen acht Uhr verabschiede ich mich von meinen Forscherkollegen<br />
jenseits des Ozeans. Wie es wäre, ton- oder takttaub zu<br />
sein, kann ich mir kaum vorstellen. Ich glaube, ich würde die<br />
Freude des Musikhörens enorm vermissen. Zudem bin ich froh,<br />
dass ich Mathieu kennenlernen konnte, ohne die Reise nach<br />
Kanada auf mich nehmen zu müssen. Ich radle fröhlich und mit<br />
lauter Musik auf meinen Ohrstöpseln durch die kalte Abendluft<br />
nach Hause.<br />
<strong>Der</strong> Mann ohne Rhythmus<br />
Einige Wochen nach <strong>den</strong> Videoaufnahmen wird die TV- Dokumentation<br />
bei einem öffentlich-rechtlichen Sender aus ge strahlt:<br />
ein Porträt von Mathieu, in dem neben einem Interview mit<br />
Isabelle Peretz auch die neuesten Filmaufnahmen von Capi,<br />
Hugos Labor und unser früheres Hörexperiment mit Neu geborenen<br />
zu sehen sind. Das Voiceover stellt verständlicher weise<br />
die Unterschiede zwischen Isabelles und meiner Auf fassung<br />
besonders heraus: Gegenüber Isabelle, die meint, dass <strong>Takt</strong>gefühl<br />
etwas einzig artig Menschliches ist, erscheine ich in der<br />
Rolle des Zweiflers, der glaubt, dass unser <strong>Takt</strong>gefühl etwas ist,<br />
das wir auf je<strong>den</strong> Fall mit <strong>den</strong> <strong>Affe</strong>n teilen. Doch wie dem auch<br />
sei, obwohl ich mich mit Darwin natürlich in guter Gesellschaft<br />
befinde, lässt sich nur sagen: Wir wissen einfach noch nicht,<br />
wie es sich verhält. Die Resultate der Hörexperimente mit Capi<br />
lassen noch immer auf sich warten.25<br />
Im BRAMS-Institut wurde in <strong>den</strong> Folgemonaten hart am<br />
EEG- Hörexperiment weitergearbeitet. Isabelle hatte eine weitere<br />
takt taube Probandin gefun<strong>den</strong>, Marjorie, die gemeinsam mit<br />
61
Mathieu an einer neuen Reihe von Hör- und Verhaltens experimenten<br />
zur Untersuchung ihres <strong>Takt</strong>gefühls teilnahm.26<br />
Die Endresultate des EEG-Experiments fielen nicht so aus,<br />
wie ich es erwartet hatte. Eine »laute Pause« löste sowohl bei<br />
Mathieu als auch bei Marjorie eine ebenso große MMN aus wie<br />
bei normalen Zuhörern. Ihr Gehirn verfügte also sehr wohl über<br />
<strong>Takt</strong>gefühl!<br />
Aber es gab auch Unterschiede. Vor allem das P300, ein<br />
po si tiver Ausschlag, der meistens auf die MMN folgt, sah bei<br />
Mathieu und Marjorie anders aus als bei der Kontrollgruppe:<br />
Er war ungewöhnlich klein. Das P300 ist eine ERP-Komponente,<br />
die anzeigt, inwieweit sich eine Testperson eines be stimmten<br />
Stimulus bewusst wird. Wie die MMN zeigte, registrierten die<br />
Gehirne von Mathieu und Marjorie zwar das Gleichmaß in<br />
einem Schlag rhythmus, sie hatten aber, das belegte das P300,<br />
einen geringeren Zugang zu dieser Information. <strong>Takt</strong>taubheit<br />
erwies sich damit vornehmlich als ein kognitives Phänomen. Die<br />
Wahrnehmung eines Gleichmaßes in der Musik scheint takttauben<br />
Menschen also nicht vergönnt zu sein, obwohl ihr Gehirn<br />
dieses auf neurologischer Ebene normal registriert.27<br />
Isabelle Peretz hatte bei tontauben Hörern etwas Ähnliches<br />
nachgewiesen. Auch in dieser Gruppe macht offenbar das Fehlen<br />
bewusster Wahrnehmung <strong>den</strong> Unterschied. Isabelle vermutet,<br />
dass dies vom Hirnnetzwerk verursacht wird, das <strong>den</strong> rechten<br />
Frontallappen (die unterste Frontalwindung, also <strong>den</strong> Gyrus<br />
frontalis inferior (Gfi)) und <strong>den</strong> auditiven Kortex (AI) miteinander<br />
verbindet. Bei tontauben Hörern ist die Rückkopplung der auditiven<br />
Information zur frontalen Rinde deutlich gestört.28<br />
Auch bei takttauben Hörern wie Mathieu und Marjorie<br />
könnten Verbindungsstörungen vorliegen. Spezifische Verbindungen<br />
zwischen bestimmten Hirnregionen, die für das <strong>Takt</strong>gefühl<br />
entschei<strong>den</strong>d sind, könnten bei ihnen schwächer sein.<br />
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Das alles macht die Untersuchung von tontauben und takttauben<br />
Hörern überaus aufschlussreich für die Erfassung der<br />
Hirn netzwerke, die sich speziell zur Verarbeitung von Ton höhen<br />
und Rhythmen entwickelt haben und entsprechend essenziell<br />
für Musikalität sind.<br />
Obwohl wir mit unseren elektrophysiologischen Metho<strong>den</strong><br />
<strong>den</strong> zeitlichen Verlauf der Hirnreaktionen auf uner war tete<br />
Ereignisse sehr genau messen konnten, eignet sich ein EEG<br />
leider weniger dazu, die Quelle der Signale und ihre genaue<br />
Lokali sie rung zu bestimmen. Dazu bedarf es bildgebender Techniken<br />
wie der Magnetenzephalografie (MEG) und der funktionalen<br />
Kern spin tomografie (fMRT).<br />
Welche Hirnnetzwerke bei der <strong>Takt</strong>taubheit nun genau<br />
eine Rolle spielten, war mir, Isabelle und Hugo 2011 noch nicht<br />
klar. Deutlich war jedoch, dass es nicht so sehr spezifische Hirnbe<br />
reiche waren, die bestimmte musikalische Eigen schaften<br />
er möglichten, sondern vielmehr die Verbindungen zwischen<br />
diesen Hirnbereichen. Immer mehr Forscher richteten ihr<br />
Augen merk auf die »Functional Connectivity«, also darauf, wie<br />
verschie<strong>den</strong>e Bereiche des Gehirns in engem Zusammenwirken<br />
eine bestimmte Funktion erfüllen. Das eröffnet eine neue<br />
Perspek tive auf die vorhan<strong>den</strong>e wissenschaftliche Literatur.<br />
Wäre es <strong>den</strong>kbar, dass manche Hirnnetzwerke eine längere<br />
evolutionäre Geschichte durchlaufen haben als andere? Lassen<br />
sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen <strong>den</strong> Hirnnetzwerken<br />
fin<strong>den</strong>, die bei Menschen und <strong>Affe</strong>n an der Melodieund<br />
Rhythmuswahrnehmung beteiligt sind? Welchen Ertrag<br />
könnte eine evolutionär-biologische Perspektive für die aktuelle<br />
Hirnforschung liefern? Begierig las ich – mit Darwins Hypothese,<br />
dass Musikalität auch älter sein könnte als Musik und Sprache,<br />
im Hinterkopf – die Artikel, die zu diesem Thema in großer<br />
Regel mäßigkeit erschienen.<br />
63
<strong>Der</strong> Autor<br />
Henkjan Honing (* 1959) ist Professor für Musikkognition an der Fakultät<br />
für Geisteswissenschaften und an der Fakultät für Naturwissenschaften<br />
der Universität von Amsterdam. Er gilt als lei<strong>den</strong>schaftlicher<br />
Forscher in diesem interdisziplinären Gebiet, das einen neuen Blick auf<br />
Musikalität und ihre kognitiven Mechanismen erlaubt, und arbeitet zu<br />
diesem Zweck intensiv mit Neuro biologen, Neurowissenschaftlern und<br />
Verhaltensbiologen zusammen.<br />
Honing promovierte 1991 über die Darstellung von Zeit und Zeitstruktur<br />
in der Musik und war zwischen 1992 und 1997 am Institut für<br />
Logik, Sprache und Berechnung an der Universität Amsterdam tätig, wo<br />
er eine Studie zur Formalisierung musikalischen Wissens durchführte.<br />
Als Forschungskoordinator am Nijmegener Institut für Kognition und<br />
Information (bis 2003) spezialisierte er sich auf die rechnergestützte<br />
Modellierung von Musikkognition. 2007 wurde er zum außeror<strong>den</strong>tlichen<br />
Professor für Musikkognition an die Universität Amsterdam<br />
berufen, seit 2014 ist er or<strong>den</strong>tlicher Professor für Musik kognition an<br />
der Philosophischen Fakultät und der Fakultät für Naturwissenschaften<br />
der Universität Amsterdam.<br />
Honing hat über 200 internationale Publikationen auf dem Gebiet<br />
der Musikkognition und Musiktechnologie verfasst. Für die breite Öffentlichkeit<br />
veröffentlichte er mehrere Bücher wie »Iedereen is muzikaal«<br />
(2009/2012), »Musical Cognition« (2011), das vorliegende Buch »<strong>Der</strong> <strong>Affe</strong><br />
<strong>schlägt</strong> <strong>den</strong> <strong>Takt</strong>« (Original: »Aap slaat maat«, 2018), der auch ins Englische<br />
übersetzt wurde, sowie »The Origins of Musicality« (2018).<br />
Die Übersetzerin<br />
Bärbel Jänicke (* 1963) ist seit 2001 freiberufliche Übersetzerin wissenschaft<br />
licher Texte und literarischer Sachbücher aus dem Nieder ländischen.<br />
Sie studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Archäologie in<br />
Frankfurt und Saarbrücken und lebt seit mehr als zwanzig Jahren mit<br />
ihrem Mann in Berlin.<br />
Sie übersetzte unter anderem »Das pubertierende Gehirn« von<br />
Eveline Crone, »Wider die Gleichgültigkeit. Plädoyer für eine moderne<br />
Lebenskunst« von Joseph Domen, »Road to Nowhere. Eine Reise in die<br />
vergessenen Länder der Welt« von Marc Helsen und »Wir sind unser<br />
Gehirn. Wie wir <strong>den</strong>ken, lei<strong>den</strong> und lieben« von Dick Swaab.<br />
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www.henschel-verlag.de
Musikalisch ist, wer ein Gefühl für <strong>Takt</strong><br />
hat und Melodien erkennen kann. Aber<br />
können Tiere das auch? Diese Frage lässt<br />
Henkjan Honing zu einer faszinieren<strong>den</strong><br />
Reise in die Forschungslabore der Welt<br />
aufbrechen, auf der er trommeln<strong>den</strong><br />
<strong>Affe</strong>n, tanzen<strong>den</strong> Kakadus und musikbe<br />
gabten Zebrafinken begegnet.<br />
Entstan<strong>den</strong> ist ein sehr persönlicher<br />
und beeindruckender Forschungsbericht<br />
über das Menschliche im Tier – und über<br />
die ganz eigene tierische Musikalität.