Radio-Phone-Ins: zwischen Beratung und Medieninszenierung

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18.12.2012 Aufrufe

Betroffenen helfen kann (Interview mit Domian, zit. nach Schweers 1995: 23). Seine Beratung wird, wie Schweers (1995) in seiner Analyse quantifiziert, in 70% der Fälle als erfolgreich empfunden. So ist es nicht erstaunlich, dass in den „offenen“ 32 Sendungen überwiegend Menschen anrufen, die mit Domian über ein Problem sprechen und einen Rat von ihm erhalten wollen. Im Radio-Phone-In finden also regelmäßig Beratungsgespräche statt, welche die Interagierenden durch ihr verbales Handeln selbst erzeugen. Wie aber wird der Gesprächstyp Beratungsgespräch von den Gesprächspartnern interaktiv hergestellt? Um diese Frage beantworten zu können, ist es erforderlich, auf den von Jenny Cook-Gumperz und John Gumperz 1976 geprägten Begriff der „Kontextualisierung“ (contextualization) einzugehen. In diesem Ansatz wird der Kontext einer Interaktion nicht mehr als material gegeben (Auer 1985: 23) angesehen, sondern wird von den Sprechern selbst aufgebaut, um die Interpretierbarkeit ihres Handelns sicherzustellen (Uhmann 1989: 125). 33 Die Teilnehmer einer Interaktion produzieren zu diesem Zwecke wechselseitig erkenn- bare, für den Kontext relevante Kontextualisierungshinweise (contextualization cues), die sich zu Merkmalsbündeln zusammenschließen lassen. Außerdem stellen die Gesprächspartner einen bestimmten Interaktionstyp her, indem sie beispielsweise kontextspezifische Identitätskategorien systematisch verwenden und Handlungen produzieren, die an diese Kategorien gebunden sind. Die Kategori- sierung kann aber auch umgekehrt erfolgen: „[B]estimmte Aktivitäten können zu einer ihnen entsprechenden membership-categorization führen.“ (Reitemeier 1994: 235). Wenn ein Sprecher kategoriegebundene Handlungen produziert, legt er seinem Gegenüber gleichzeitig die Wahl der komplementären Kategorie nahe 32 Anrufer können in den offenen Sendungen über alle Themen sprechen, die sie bewegen. In den thematisch vorgegebenen Sendungen wird meist nur „geplaudert“ und es entwickeln sich viel seltener Beratungsgespräche. 33 Auer (1985: 23) charakterisiert die vorherrschende Auffassung von Kontext, die Gumperz’ Ansatz widerspricht folgenderweise: „Kontext“ gilt als Aggregat material gegebener Entitäten, die unabhängig und vor der in ihm stattfindenden Interaktion vorhanden sind. Die Bekanntheit von Kontextwissen wird unterstellt und der Kontext beeinflusst das sprachliche Verhalten der Teilnehmer, aber nicht umgekehrt. 25

(Uhmann 1989: 132). 34 Beide Interaktionspartner handeln also diese wechselseitige Relationierung gegenseitig aus (Knauth 1984: 62). Kategorienspezifische Handlungen für ein Interview sind, dass der „Interviewer“ überwiegend Fragen stellt und der „Interviewte“ antwortet (Uhmann 1989: 133). Heritage und Greatbatch (1991: 98) sprechen hier von einer „turn-type pre- allocation procedure“. 35 Folglich steht in bestimmten institutionellen Gesprächen schon von vornherein fest, welche Äußerungsformate überwiegend verwendet werden. So nimmt ein Sprecher im Interview die Rolle des Fragenden ein, während sein Partner zum Antwortenden wird. In alltäglichen Gesprächen können die Rollen von Turn zu Turn wechseln. Bei Radio-Phone-Ins sind die Turns im Sinne einer „pre- allocation“ nicht vorherbestimmt (Hutchby/Wooffitt 1998: 160). Dennoch besitzen Phone-In Gespräche 36 neben Merkmalen von Alltagskonversation auch Merkmale von institutionellen Gesprächen (Heritage 1985: 100). Gleiches gilt für Beratungsgespräche im Radio. Sie nehmen eine Mittelstellung ein zwischen Interaktionsformen, in denen die Zuweisung von Äußerungsformaten frei ausge- handelt wird, und jenen, bei denen sie bereits von vornherein weitgehend feststeht (Fischer 1992: 10). Im Falle eines Beratungsgespräches sind die Identitätskategorien „Ratsuchender“ und „Ratgebender“ relevant (Fischer 1992: 9). Für den „Ratsuchenden“ gelten nach Fischer (1992: 10 ff.) folgende kategorienspezifische Aktivitäten: 1. Die Problemdarstellung, die gleich nach der Gesprächseröffnung artikuliert wird. Sie kann als Frageform formuliert werden, wird dann aber nicht als Frage im Sinne eines „first-pair-part“ mit dem konditionell relevanten „second-pair-part“, der Antwort, interpretiert 2. Lieferung von Zusatz- und Detailinformationen, die er in Form von Antworten auf Präzisierungsfragen des „Ratgebenden“ realisiert 34 Meist sind die Identitätskategorien direkt aufeinander bezogen und von vornherein durch eine bestimmte Beziehung zwischen den Beteiligten festgelegt. Es werden beim Kategorisierungsvorgang also Paare wie „Mutter-Tochter“ und nicht etwa „Mutter-Patient“ verwendet (Knauth 1984: 62). Diese Relation nennt man „membership-categorization device“ (Reitemeier 1994: 232). 35 Sie weisen allerdings darauf hin, dass Atkinson und Drew 1979 den Begriff geprägt haben. 36 Gemeint sind Radio-Phone-Ins, in denen das aktuelle politische und gesellschaftliche Geschehen diskutiert wird, wie etwa bei Hutchby (1991, 1992, 1996). 26

Betroffenen helfen kann (Interview mit Domian, zit. nach Schweers 1995: 23). Seine<br />

<strong>Beratung</strong> wird, wie Schweers (1995) in seiner Analyse quantifiziert, in 70% der Fälle<br />

als erfolgreich empf<strong>und</strong>en. So ist es nicht erstaunlich, dass in den „offenen“ 32<br />

Sendungen überwiegend Menschen anrufen, die mit Domian über ein Problem<br />

sprechen <strong>und</strong> einen Rat von ihm erhalten wollen. Im <strong>Radio</strong>-<strong>Phone</strong>-In finden also<br />

regelmäßig <strong>Beratung</strong>sgespräche statt, welche die Interagierenden durch ihr verbales<br />

Handeln selbst erzeugen.<br />

Wie aber wird der Gesprächstyp <strong>Beratung</strong>sgespräch von den Gesprächspartnern<br />

interaktiv hergestellt? Um diese Frage beantworten zu können, ist es erforderlich,<br />

auf den von Jenny Cook-Gumperz <strong>und</strong> John Gumperz 1976 geprägten Begriff der<br />

„Kontextualisierung“ (contextualization) einzugehen. In diesem Ansatz wird der<br />

Kontext einer Interaktion nicht mehr als material gegeben (Auer 1985: 23)<br />

angesehen, sondern wird von den Sprechern selbst aufgebaut, um die<br />

Interpretierbarkeit ihres Handelns sicherzustellen (Uhmann 1989: 125). 33 Die<br />

Teilnehmer einer Interaktion produzieren zu diesem Zwecke wechselseitig erkenn-<br />

bare, für den Kontext relevante Kontextualisierungshinweise (contextualization<br />

cues), die sich zu Merkmalsbündeln zusammenschließen lassen. Außerdem stellen<br />

die Gesprächspartner einen bestimmten Interaktionstyp her, indem sie<br />

beispielsweise kontextspezifische Identitätskategorien systematisch verwenden <strong>und</strong><br />

Handlungen produzieren, die an diese Kategorien geb<strong>und</strong>en sind. Die Kategori-<br />

sierung kann aber auch umgekehrt erfolgen: „[B]estimmte Aktivitäten können zu<br />

einer ihnen entsprechenden membership-categorization führen.“ (Reitemeier 1994:<br />

235). Wenn ein Sprecher kategoriegeb<strong>und</strong>ene Handlungen produziert, legt er<br />

seinem Gegenüber gleichzeitig die Wahl der komplementären Kategorie nahe<br />

32 Anrufer können in den offenen Sendungen über alle Themen sprechen, die sie bewegen.<br />

In den thematisch vorgegebenen Sendungen wird meist nur „geplaudert“ <strong>und</strong> es entwickeln<br />

sich viel seltener <strong>Beratung</strong>sgespräche.<br />

33 Auer (1985: 23) charakterisiert die vorherrschende Auffassung von Kontext, die Gumperz’<br />

Ansatz widerspricht folgenderweise: „Kontext“ gilt als Aggregat material gegebener<br />

Entitäten, die unabhängig <strong>und</strong> vor der in ihm stattfindenden Interaktion vorhanden sind. Die<br />

Bekanntheit von Kontextwissen wird unterstellt <strong>und</strong> der Kontext beeinflusst das sprachliche<br />

Verhalten der Teilnehmer, aber nicht umgekehrt.<br />

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