02.12.2019 Aufrufe

Hinz&Kunzt 321 November 2019

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Das Hamburger<br />

Straßenmagazin<br />

Seit 1993<br />

N O <strong>321</strong><br />

Nov.19<br />

2,20 Euro<br />

Davon 1,10 Euro<br />

für unsere Verkäufer<br />

Nach der<br />

Wende<br />

wohnungslos<br />

Wie Hinz&Künztler das Ende<br />

der DDR erlebten


Ein kulinarisches Dankeschön an die Hamburger.<br />

Mit 25 Drei-Gänge-Menüs von Sterneköchen, jungen Wilden<br />

und anderen Küchengöttern.<br />

Unser Kochbuch kostet 25 Euro plus<br />

Versandkosten. Vom Erlös haben wir jedem<br />

Hinz&Künztler 25 Monatsmagazine geschenkt.<br />

Sie können es online bestellen unter<br />

www.hinzundkunzt.de/shop oder<br />

im Buchladen (ISBN 978-3-00-060526-0).


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Inhalt<br />

TITELBILD: MAURICIO BUSTAMANTE (HINTERGRUND: PICTURE ALLIANCE/<br />

IMAGEBROKER/ROLF SCHULTEN); FOTO OBEN: BIRGIT MÜLLER<br />

Von Mauern und Zäunen<br />

Kommt Ihnen der Mann auf unserem Titel bekannt<br />

vor? Kein Wunder: Reiner ist seit vielen Jahren<br />

das Gesicht, mit dem HanseWerk Natur auf seine<br />

Kooperation mit uns aufmerksam macht (siehe<br />

Rückseite). Und selbstverständlich kennt ihn jeder<br />

Hinz&Künztler, weil Reiner nachmittags hinterm<br />

Kaffeetresen in unserem Vertrieb steht.<br />

Das ist aber nicht der Grund dafür, dass er es<br />

auf den Titel geschafft hat: Reiner und zwei andere<br />

Hinz&Künztler, die aus der DDR stammen, erzählen,<br />

wie sie den Mauerfall vor 30 Jahren erlebt<br />

haben (ab Seite 6).<br />

Inhalt<br />

Stadtgespräch<br />

04 Gut&Schön<br />

06 „Ich wollte nur noch weg!“ –<br />

Hinz&Künztler und der Mauerfall<br />

12 Obdachlosigkeit in der DDR<br />

14 Zahlen des Monats: besonders<br />

schutzbedürftige Flüchtlinge<br />

16 Grenzerfahrung: Geflüchtete in<br />

Ungarn, Serbien und Rumänien<br />

24 Geschenk für den Bürgermeister:<br />

Ex-Obdachlose machen Druck<br />

26 Das Winternotprogramm beginnt<br />

Engagiert: Linchen<br />

und Marcl lebten<br />

auf der Straße. Vom<br />

Bürgermeister fordern<br />

sie nun Hilfe für<br />

Obdachlose (S. 24).<br />

Blick zurück: 30 Jahre lang leitete Detlef Garbe die<br />

KZ‐Gedenkstätte Neuengamme (S. 30).<br />

Lebenslinien<br />

30 Eine Berufung – Begegnung mit<br />

dem Historiker Detlef Garbe<br />

34 Der große Reformer: Wie Fritz<br />

Schumacher Hamburg prägte<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> intern<br />

42 Hallo, Jörn! Unser Geschäftsführer<br />

Freunde<br />

44 Ahoi Marie! Ein maritimer<br />

Becher für Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

48 Schauspieler Jens Harzer liest Verhörprotokolle<br />

von Hitler-Attentäter Elser<br />

52 Tipps für den <strong>November</strong><br />

56 Wissenswertes über Obdachlose<br />

58 Momentaufnahme<br />

Reisegruppe an der<br />

Außengrenze der EU:<br />

Die Diakonie Hamburg<br />

organisierte eine Fachreise<br />

nach Ungarn, Serbien und<br />

Rumänien, um sich vor Ort<br />

mit Kollegen aus der<br />

Flüchtlingsarbeit auszutauschen.<br />

Und vor allem,<br />

um Möglichkeiten der<br />

Kooperation auszuloten.<br />

Chefredakteurin Birgit<br />

Müller (Zweite von rechts)<br />

war dabei.<br />

Ich musste in den vergangenen Wochen viel über<br />

meine Reise an die Außengrenzen der EU nachdenken.<br />

Mit der Diakonie war ich in Ungarn, Serbien<br />

und Rumänien. Die anderen Reiseteilnehmer arbeiten<br />

alle mit Flüchtlingen. Wir haben uns mit Sozialarbeitern,<br />

Juristen und Menschenrechtsexperten<br />

getroffen. Natürlich ist vieles bekannt, aber vor Ort<br />

zu erfahren, wie Flüchtlinge behandelt werden, und<br />

das in Europa, das war schockierend (Seite 16).<br />

Ihre Birgit Müller Chefredakteurin<br />

(Schreiben Sie uns doch an info@hinzundkunzt.de)<br />

Rubriken<br />

05 Kolumne<br />

28 Meldungen<br />

46 Leserbriefe<br />

57 Rätsel, Impressum<br />

Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk


Ein Ball für Obdachlose<br />

Tanzen statt einsam sein<br />

Wann fühlt man sich gut? Wenn man feiert! Mit<br />

anderen, bei gutem Essen, zu tanzbarer Musik. Also<br />

hatte die Berliner Stadtmission eine Idee: mal einen<br />

Ball für Bedürftige auszurichten. Damit alle schick<br />

erscheinen konnten, wurde zu besonderen Kleiderspenden<br />

aufgerufen, Anzüge, Ballkleider und<br />

Schuhe gesammelt. Und Handtaschen! Es wurde<br />

ein rauschendes Fest, wo sich alle wohlfühlten: so wie<br />

auch Mariella und ihr Mann Ion. Die beiden kommen<br />

aus Rumänien, leben in einem Zelt. Gefeiert wurde<br />

in der City-Station in Charlottenburg-Wilmersdorf,<br />

dem Restaurant der Stadtmission. FK<br />


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Gut&Schön<br />

Gewerkschaft ITF<br />

Erfolgreicher<br />

Einsatz für Seeleute<br />

Gewerkschafter Ulf<br />

Christiansen bei der Arbeit<br />

FOTOS: OLAF SELCHOW (S. 4), MAURICIO BUSTAMANTE (OBEN), PAUL BENCE (UNTEN LINKS),<br />

FABIAN HEINZ (UNTEN RECHTS), KOLUMNE: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Verkäuferfest<br />

Hinz&Künztler zu Gast beim FC St. Pauli<br />

Augen zu – und durch! Vertriebsmitarbeiter Marcel<br />

Stein (links) eilt der Ruf voraus, er könne jeden<br />

Verkäufer an der Stimme erkennen. Das Ratespiel<br />

war ein Höhepunkt auf dem diesjährigen Sommerfest<br />

für unsere Verkäufer und Mitarbeiter. Auf<br />

Einladung des FC St. Pauli im dortigen Clubheim:<br />

Mit Wunschdisko, Büfett und mit Stadionführung. LG<br />

•<br />

Straßenzeitungsallianz wird 25<br />

Ein Vierteljahrhundert ist es her,<br />

dass Mel Young (rechts) mit INSP ein<br />

weltweites Netzwerk der Straßenzeitungen<br />

gründete. Heftig habe man<br />

anfangs gestritten – dann gelernt,<br />

dass Unterschiede bereichern. Die<br />

Probleme der Zukunft: bargeldloses<br />

Bezahlen und der digitale Wandel.<br />

Youngs Botschaft: „Wir werden uns<br />

gegenüber technischen Weiterentwicklungen<br />

nicht verschließen können,<br />

aber wir dürfen nicht vergessen,<br />

dass das Zwischenmenschliche<br />

im Mittelpunkt stehen muss.“ FK<br />

•<br />

Bürgerschaft unterstützt<br />

Retter auf dem Mittelmeer<br />

Mit fast 5000 Euro unterstützt die<br />

Bürgerschaft die Seenotretter von<br />

Sea-Eye. Das Geld ist Teil der<br />

„Troncmittel“ – Steuereinnahmen<br />

aus Glücksspielen, die für gemeinnützige<br />

Zwecke eingesetzt werden.<br />

Sea-Eye-Vorsitzender Gorden Isler<br />

freut sich: „Unseres Wissens ist<br />

Hamburg die erste Stadt überhaupt,<br />

die zivile Seenotrettung direkt finanziell<br />

unterstützt.“ Das Geld wurde<br />

bereits in Schwimmwesten und<br />

Ferngläser investiert. LG<br />

•<br />

Ulf Christiansen kann zufrieden<br />

zurückblicken, wenn er<br />

diesen Monat in den Ruhestand<br />

geht. 29 Jahre hat der<br />

Gewerkschafter für die Rechte<br />

von Seefahrern gestritten –<br />

und viel bewirkt: „Wenn wir<br />

uns einschalten, ändert sich<br />

die Situation der Seeleute fast<br />

immer“, sagt der 64-Jährige.<br />

Eine Zahl: Rund 29,5 Millionen<br />

Euro Heuer haben die<br />

weltweit 130 Inspektoren der<br />

International Transport Workers’<br />

Federation (ITF) vergangenes<br />

Jahr bei Reedern eingetrieben,<br />

die ihre Seeleute<br />

nicht korrekt entlohnt hatten.<br />

Und: „Wenn ein Seemann im<br />

Hamburger Hafen Probleme<br />

hat, erfahren wir das.“<br />

„Ich komme aus einer<br />

Familie, die sich immer für<br />

andere Menschen eingesetzt<br />

hat“, erzählt der Sohn eines<br />

Pastors. Lange fährt er zur<br />

See, erwirbt das Kapitänspatent,<br />

arbeitet als Erster<br />

Nautischer Offizier. Als die<br />

Gewerkschaft ihn fragt, ob er<br />

Inspektor werden will, zögerte<br />

er nicht: „Die Arbeit war die<br />

ideale Kombination meines<br />

ersten Berufs mit sozialem<br />

Engagement.“<br />

Ganz verloren geht der<br />

streitbare Mann der guten Sache<br />

übrigens nicht: „Ich habe<br />

der ITF angeboten, künftig<br />

die Ausbildung junger Inspektoren<br />

zu unterstützen.“ UJO •<br />

Infos unter www.itfseafarers.org<br />

5


„Ich wollte<br />

nur noch weg“<br />

Drei Hinz&Künztler erzählen, wie sie den Fall der<br />

Berliner Mauer erlebten. Eins haben sie gemeinsam:<br />

Im Westen wurden sie wohnungslos. An die ehemalige<br />

DDR denken sie mit gemischten Gefühlen zurück.<br />

TEXT: LUKAS GILBERT<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

HINTERGRUNDFOTOS: ACTIONPRESS<br />

Silvia, 60, hat in Th ringen alles zur ckgelassen<br />

Silvia hatte einfach keinen Bock mehr:<br />

„Die ganze Bürokratie hat mich angekotzt“,<br />

sagt sie. „Aber meine Kindheit<br />

und meine Jugend in der DDR,<br />

die möchte ich trotzdem nicht missen.<br />

Ich bin gut aufgewachsen.“<br />

1959 wird sie in Nottleben in Thüringen<br />

geboren, „so ein richtig kleenes<br />

Kuhdorf war das“. Dort hat sie eine gute,<br />

unaufgeregte Kindheit und Jugend,<br />

wie sie sagt. Bis ihre Mutter stirbt. Das<br />

wirft alles durcheinander: „Ich war immer<br />

ein Mama-Kind“, erinnert sie sich.<br />

Im selben Jahr, Silvia ist gerade einmal<br />

20 Jahre alt, bringt sie einen Sohn zur<br />

Welt. Kontakt zu dessen Vater hat sie<br />

da schon nicht mehr.<br />

Gemeinsam mit dem Sohn zieht sie<br />

zu ihrem Freund. Sie arbeitet erst in<br />

einem Kuhstall, dann in einer Großküche.<br />

Silvias Vater hat mittlerweile<br />

eine neue Frau. „Aber die wollte nichts<br />

wissen von mir“, sagt Silvia. Mit 27<br />

geht ihre Beziehung in die Brüche.<br />

Plötzlich alleine, ist die junge Mutter<br />

überfordert mit Arbeit und Sohn. Der<br />

wächst deshalb von da an bei Silvias<br />

Vater auf: „Das war einfach besser so.“<br />

Zwei Jahre später kommt sie dann<br />

auch noch in Konflikt mit der Staats-<br />

6


Stadtgespräch<br />

macht. Die letzten Monate als DDR-<br />

Bürgerin verbringt sie sogar im Gefängnis,<br />

nachdem sie einem Polizisten „eine<br />

gepfeffert“ hat. Der hatte sie vorher mit<br />

auf die Wache genommen, weil sie am<br />

Bahnhof eine Zigarette geraucht hat:<br />

„Der wollte, dass ich mich vor ihm ausziehe,<br />

da bin ich ausgerastet.“<br />

Als dann die Mauer fällt und es für<br />

Silvia, wie für viele Gefängnisinsassen,<br />

eine Amnestie gibt, verlässt sie die DDR<br />

so schnell es geht: „Ich wollte nur noch<br />

weg“, sagt Silvia rückblickend. In ihrer<br />

alten Heimat lässt sie alles zurück. Auch<br />

ihren Sohn, weil der weiter bei seinem<br />

Großvater leben möchte, erzählt sie.<br />

Silvia geht nach Bayern und lebt<br />

dort erst in einer Unterkunft mit vielen<br />

anderen Ostdeutschen. Doch sie richtet<br />

sich ein, findet Arbeit und lernt einen<br />

7<br />

neuen Freund kennen. 1997 stirbt er<br />

aber unerwartet und Silvia verliert kurze<br />

Zeit später ihren Job. Sparmaßnahmen.<br />

Sie beginnt zu trinken, sieht keine<br />

Perspektive mehr. Dann fasst sie einen<br />

Entschluss: „In Bayern wäre ich kaputtgegangen,<br />

deshalb wollte ich so weit<br />

weg wie möglich.“ Mit dem Nachtzug<br />

macht sie sich auf den Weg nach Hamburg,<br />

um maximalen Abstand zu gewinnen.<br />

Eine Wohnung hat sie hier<br />

aber nicht. Mehrere Monate lebt sie<br />

auf der Straße, trotz Job bei einer Zeitarbeitsfirma.<br />

Sie putzt Hotels, arbeitet<br />

in Warenlagern. Über die Bahnhofsmission<br />

findet sie nach Monaten einen<br />

Wohnheimplatz.<br />

Mittlerweile lebt die 60-Jährige in<br />

einer Wohnung und hat eine Anstellung<br />

als Reinigungskraft bei Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />

Den Kontakt zu ihrem Sohn und ihren<br />

Brüdern hat sie all die Jahre gehalten.<br />

Heute fühlt sich Silvia nicht als Ostoder<br />

Westdeutsche, sondern „einfach<br />

als Deutsche“. Trotzdem: „Bei vielen is’<br />

es noch in den Köpfen.“ Damit sich das<br />

irgendwann ändert, müsse vor allem<br />

„Die B rokratie<br />

hat mich<br />

angekotzt.<br />

viel Geld in den Osten gesteckt werden.<br />

Das merkt sie, wenn sie ihre Familie besucht,<br />

die noch heute in Thüringen<br />

wohnt: „Wenn du da einkaufen willst,<br />

musst du erst mal 20 Kilometer fahren.“<br />

Wieder im Osten zu wohnen, kann sie<br />

sich heute nicht mehr vorstellen.<br />

Dennoch ist sie regelmäßig zu Besuch<br />

und bringt aus der alten Heimat<br />

Spezialitäten mit. Vita Cola und Thüringer<br />

Würste: „Die hab’ ich einmal mit<br />

zu Hinz&<strong>Kunzt</strong> gebracht. So schnell<br />

wie die weg waren, konnte ich gar nicht<br />

braten.“ Ansonsten vermisst sie aber<br />

nicht vieles aus der ehemaligen DDR.<br />

Nur die Kinderbetreuung, die war besser:<br />

„Da hatte jedes Kind einen Kitaplatz.<br />

Davon hätte sich der Westen mal<br />

was abschneiden können.“ •


Reiner, 61, saß zwei Jahre im DDR-Knast<br />

Als eines von zehn Kindern wächst Reiner<br />

in Ostberlin auf. Die Mutter kümmert<br />

sich um die Kinder, den alkoholkranken<br />

Vater sieht er kaum. Reiner<br />

macht eine Lehre als Elektrotechniker.<br />

Aber sein Leben ist ihm zu langweilig.<br />

Mit dem Vater beginnt er, auf die<br />

Pferderennbahn zu gehen. Dort lernt er<br />

Leute kennen, mit denen er illegale<br />

Würfelspiele organisiert: „Ich war jung,<br />

das war gutes Geld. Plötzlich war<br />

Nachtleben angesagt“, erinnert er sich.<br />

Schließlich schmeißt er sogar seinen<br />

Job. Doch sein Lebenswandel hat Konsequenzen<br />

und Reiner wird als „Asozialer“<br />

eingesperrt. Insgesamt zwei Jahre<br />

sitzt er ein. Aber damit nicht genug:<br />

Nach der Haft darf er Berlin, seine<br />

Heimatstadt, drei Jahre nicht betreten.<br />

Auch das war eine gängige Bestrafung.<br />

Für Reiner, Großstädter durch und<br />

durch, ist das hart: „Das war schlimmer<br />

als der Knast“, sagt er.<br />

Er beißt sich aber durch, richtet<br />

sich in einem Dorf bei Leipzig ein und<br />

arbeitet nach einer zweiten Ausbildung<br />

als Melker in einer Rinderzucht. „Aber<br />

allein durch den Knast war ich da<br />

schon auf Westen geeicht“, erzählt er.<br />

Er hat sogar Fluchtgedanken, aller-<br />

8


Stadtgespräch<br />

Hafen und der Kiez faszinieren ihn<br />

vom ersten Moment an. Trotzdem fährt<br />

er auch diesmal zurück. Seine Familie<br />

und auch der Job halten ihn.<br />

Wenn Reiner heute zurückblickt,<br />

wünscht er sich aber, dass er nie geheiratet<br />

hätte. Denn 1995 geht seine Ehe in<br />

die Brüche, weil sich seine Frau in ihren<br />

Chef verliebt, sagt er. Reiner fängt an<br />

zu trinken, verlässt die gemeinsame<br />

Wohnung und lebt wochenlang obdachlos<br />

in Berlin – bis er sich völlig verzweifelt<br />

auf den Weg nach Hamburg<br />

macht: „Von heute auf morgen, nur<br />

mit zwei Koffern. Ich hab’ alles abgebrochen.“<br />

Reiner dreht sein Leben auf<br />

links, lässt alles zurück, schweren Herzens<br />

sogar seinen Sohn. Auch seinen<br />

Fußballclub wechselt er: früher Union<br />

Berlin, plötzlich St. Pauli. Seitdem ist er<br />

St. Pauli-Fan durch und durch. In<br />

Hamburg wird er von der Stadt erst in<br />

einem Hotel untergebracht, dann in<br />

Wohnheimen. Da wohnt er bis heute<br />

„Das war<br />

schon nicht<br />

alles schlecht.<br />

dings setzt er die nie um – vor allem aus<br />

Angst, erneut ins Gefängnis zu kommen.<br />

Im April 1989 heiratet er dann.<br />

Das Paar zieht zurück in die Nähe von<br />

Berlin, wo der gemeinsame Sohn geboren<br />

wird. Reiner findet Arbeit, abermals<br />

in einer Rinderzucht.<br />

Als die Mauer einige Monate später<br />

fällt, ist Reiner gerade auf der Arbeit:<br />

„Ich hatte Nachtschicht bis halb drei.<br />

Danach sind wir direkt rüber nach Neukölln<br />

mit dem Trabi von ’nem Kumpel“,<br />

erinnert er sich: „Das Gefühl kann<br />

ich gar nicht beschreiben, das war der<br />

Wahnsinn.“ Nach dem Ausflug kommt<br />

er allerdings wieder zurück nach Ostdeutschland.<br />

Etwas später macht er eine<br />

Tagesreise nach Hamburg: „Mitten in<br />

der Nacht ging es los. Damit wir rechtzeitig<br />

zum Fischmarkt da sind.“ Der<br />

9<br />

und fühlt sich wohl: „Ich brauche einfach<br />

Menschen um mich.“<br />

Groll auf die ehemalige DDR hat<br />

Reiner nicht: „Ich hab’ nicht schlecht<br />

gelebt da. In der DDR hat jeder Geld<br />

verdient, jeder hat Arbeit gehabt und<br />

jeder hat einen Kindergartenplatz gehabt,<br />

die Mieten waren nicht teuer“,<br />

meint Reiner. „Das war schon nicht<br />

alles schlecht.“<br />

Sein Sohn will bis heute nichts von<br />

ihm wissen: „Das tut weh“, sagt er. Zu<br />

einem Teil der Familie hat er wieder<br />

Kontakt aufgebaut. Seine Schwestern<br />

sieht er mehrmals im Jahr. Wie ihm<br />

Berlin heute gefällt? „Einfach Bombe.“<br />

Zumindest für ein Wochenende: „Dann<br />

bin ich froh, wenn ich wieder in Hamburg<br />

bin“ – hinterm Kaffeetresen bei<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>, seinem Arbeitsplatz. •


Detlef, 59, floh auf der Ladefl che eines Lasters ber die Grenze<br />

Sein Leben in der DDR beschreibt Detlef<br />

als „ganz normal“. Er wird 1959 im<br />

brandenburgischen Paplitz geboren<br />

und verbringt dort eine ruhige Kindheit.<br />

Als er 13 ist, stirbt seine Mutter.<br />

„Das war furchtbar, plötzlich war da<br />

niemand mehr, zu dem ich gehen konnte“,<br />

erzählt der Hinz&Künztler.<br />

Der Vater findet eine neue Frau:<br />

„Aber die wollte mich nicht. Da war<br />

kein Platz mehr für mich“, erinnert er<br />

sich heute. Sein Vater entscheidet sich<br />

für die neue Frau und gegen seinen<br />

Sohn. Doch trotz dieser Schicksalsschläge<br />

schafft es Detlef, sich einen<br />

„ganz normalen“ Alltag aufzubauen.<br />

Er wächst bei seinem Onkel auf,<br />

der in einem Nachbardorf wohnt,<br />

macht dort eine Ausbildung zum Melker<br />

und findet später auch einen Job in<br />

einem Molkereibetrieb. Es wird ihm<br />

aber allmählich zu eng, Detlef will die<br />

Welt sehen. Er reist mehrfach nach<br />

Tschechien, besucht seinen Bruder in<br />

Ostberlin. Das reicht ihm aber nicht:<br />

„War mir zu langweilig, es ging mir<br />

auf ’n Senkel, dass ich nicht rauskonnte“,<br />

sagt Detlef.<br />

10<br />

Zufällig lernt er einen Westdeutschen<br />

kennen, der als Tiefbauer arbeitet und<br />

regelmäßig beruflich in der DDR ist.<br />

Als der Detlef 1988 anbietet, ihn mit in<br />

den Westen zu nehmen, zögert er keine<br />

Sekunde: „Ich hab mich von niemandem<br />

verabschiedet. Ich bin einfach los,<br />

ohne alles.“ Auf der Ladefläche eines<br />

Lkw, versteckt unter einer Plane zwischen<br />

Steinen und Kies, bricht er auf.<br />

Immer in Sorge, entdeckt zu werden:<br />

„Ich hatte ordentlich Muffensausen“,<br />

sagt er rückblickend. Aber alles geht gut<br />

und Detlef landet in Westberlin. Den


INNERE KRAFT – FÜR DICH & ANDERE<br />

BARMBEK<br />

BAHRENFELD<br />

EIMSBÜTTEL<br />

QIGONG<br />

TAIJIQUAN<br />

MEDITATION<br />

040-205129<br />

www.tai-chi- lebenskunst.de<br />

SCHNELL<br />

SCHALTEN<br />

Anzeigen: 040/28 40 94-0<br />

anzeigen@hinzundkunzt.de<br />

Großuhrwerkstatt<br />

Bent Borwitzky<br />

Uhrmachermeister<br />

Telefon: 040/298 34 274<br />

www.grossuhrwerkstatt.de<br />

Verkauf und Reparatur<br />

von mechanischen Tisch-,<br />

Wand- und Standuhren<br />

ersten Monat bleibt er noch bei der<br />

Familie des neuen Freundes. Dann<br />

macht er sich auf seinen Weg durch<br />

Westdeutschland, einen Weg, der Jahrzehnte<br />

dauern wird. Fuß fasst er nie.<br />

Detlef wird immer wieder obdachlos.<br />

Sein soziales Netz hat er im Osten zurückgelassen,<br />

im Westen kennt er kaum<br />

jemanden.<br />

Vom Mauerfall hört Detlef in Bielefeld,<br />

wo er für eine Weile in der Wohnung<br />

eines Bekannten unterkommt.<br />

Irgendwann sagt der, Detlef solle den<br />

Fernseher einschalten. Die Mauer sei ge-<br />

Die<br />

fallen. Detlef kann das damals kaum<br />

glauben. Und so richtig kann er es auch<br />

bis heute nicht glauben. Mittlerweile<br />

lebt er in Hamburg in einer eigenen kleinen<br />

Wohnung – zum ersten Mal seit seiner<br />

Flucht.<br />

Nach Ostdeutschland hinein hat er<br />

nie mehr einen Fuß gesetzt, auch seine<br />

Familie nie mehr wiedergesehen: „Einfach<br />

keinen Bock drauf“, meint er nur.<br />

Die Vergangenheit in der DDR versucht<br />

er seit 30 Jahren zu verdrängen.<br />

„Deutschland“, sagt Detlef, „ist für mich<br />

bis heute getrennt.“ •<br />

11


Stadtgespräch<br />

Knast für Obdachlose<br />

Obdachlose gab es in der DDR kaum – auch weil der Staat sie oft in den Knast sperrte.<br />

Nach der Wende landeten viele Ostdeutsche im Westen auf der Straße.<br />

TEXT: LUKAS GILBERT<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

„Obdachlosigkeit? Gab es in der DDR nicht!“ Das ist eine<br />

verbreitete Annahme. Und dass es zumindest deutlich weniger<br />

Obdachlosigkeit als in Westdeutschland gab, ist tatsächlich<br />

unstrittig. Denn der Staat sorgte für günstige Mieten, Arbeit<br />

und teilte Wohnungen zu – ging aber auch mit massiver<br />

Repression gegen alle vor, die als „asozial“ galten. „Wer<br />

obdachlos war, der wurde einfach weggesperrt“, erinnert<br />

sich Rotraud Kießling im Gespräch mit<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Zu DDR-Zeiten war sie in<br />

Obdachlose<br />

passten nicht<br />

ins Weltbild.<br />

12<br />

der kirchlichen Sozialarbeit aktiv, heute für<br />

die Diakonie Dresden in der Wohnungsnotfallhilfe.<br />

Stark zugenommen habe die Kriminalisierung<br />

von Obdachlosigkeit in der DDR<br />

seit 1961, ordnet Christoph Lorke ein.<br />

Er ist Historiker und beschäftigt sich mit<br />

Armut in der DDR. Parallel beginnt der<br />

Bau der Mauer, und die DDR-Führung orientiert sich immer<br />

stärker an den sowjetischen „Parasitenparagraphen“, ergänzt<br />

er. Die Grundlage für die Strafverfolgung in der DDR lieferte<br />

§249 des Strafgesetzbuches: Der sogenannte „Asozialenparagraph“.<br />

Betteln, „Arbeitsscheue“, Prostitution oder die<br />

Beeinträchtigung der „öffentliche(n) Ordnung und Sicherheit<br />

durch eine asoziale Lebensweise“ – all das wurde mit Erziehungsaufsicht,<br />

Gefängnis oder Aufenthaltsbeschränkungen<br />

bestraft. „Obdachlosigkeit und damit assoziierte Eigenschaften<br />

fielen ganz einfach aus dem sozialistischen Ideal“,<br />

erläutert Lorke im Gespräch mit Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />

Um Obdachlose aus dem Straßenbild zu verbannen,<br />

seien ihnen Unterkünfte staatlich zugewiesen worden – und<br />

zwar zwangsweise. Oft in heruntergekommenen Gründerzeitbauten<br />

mit Außentoiletten, etwa im<br />

Prenzlauer Berg. Also genau dort, wo<br />

Mieten heute kaum noch zu bezahlen sind.<br />

Für Jugendliche, die aus der Norm fielen,<br />

etwa weil sie nicht arbeiten wollten, gab es<br />

zudem Umerziehungslager, sogenannte<br />

„Jugendwerkhöfe“.<br />

In Betrieben existierten spezielle Brigaden<br />

für die sogenannten „Arbeitsbummler“.<br />

All das führte dazu, dass es<br />

Obdach losigkeit zumindest in der späteren DDR faktisch<br />

nicht gab, weiß Lorke.<br />

Mit dem Fall der Mauer hat sich das schlagartig geändert.<br />

Viele Ostdeutsche mussten etwa die Wohnungen, die sie von<br />

ihren Arbeitgebern gestellt bekommen hatten, verlassen.<br />

Andere waren überfordert mit bürokratischen Hürden und<br />

mit hohen Mietzahlungen.


Stadtgespräch<br />

1990 – ein knappes halbes Jahr nach der<br />

Grenzöffnung – fuhr Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Fotograf<br />

Mauricio Bustamante nach Ost-Berlin, um<br />

dort die Reste der Mauer zu fotografieren.<br />

Schätzungen zufolge gab es zwischen 1991 und 1992 in<br />

der DDR plötzlich etwa 200.000 Menschen ohne festen<br />

Wohnsitz, berichtet Lorke. Aber noch keine Struktur der<br />

Obdachlosenhilfe. Das bestätigt auch Sozialarbeiterin<br />

Kießling, die diese Strukturen dann mit aufgebaut hat:<br />

„Aus ‚Kriminellen‘ wurden plötzlich Anspruchsberechtigte,<br />

so konnten wir den Menschen endlich richtig helfen.“<br />

Viele Menschen gingen aber auch nach Westdeutschland<br />

und ließen alles zurück. Nicht wenige von ihnen wurden<br />

obdachlos. Genaue Zahlen gibt es auch hierfür nicht.<br />

In einem „Zeit“-Artikel aus dem <strong>November</strong> 1991 geht der<br />

damalige Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft<br />

Wohnungslosenhilfe aber davon aus, „daß inzwischen 20<br />

bis 30 Prozent der Plätze in den westdeutschen Asylen mit<br />

‚Ossis‘ belegt sind“.<br />

Kurze Zeit später, 1993, wird Hinz&<strong>Kunzt</strong> gegründet.<br />

Auch weil Obdachlose auf Hamburgs Straßen<br />

immer sichtbarer wurden. Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Sozialarbeiter<br />

Stephan Karrenbauer erinnert sich: „Ein großer Teil der<br />

Obdachlosen damals kam aus dem Osten. Viele von<br />

ihnen wollten sich hier ein neues Leben aufbauen und<br />

sind gescheitert.“ •<br />

Kontakt: lukas.gilbert@hinzundkunzt.de<br />

13


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Zahlen des Monats<br />

Gefoltert, vergewaltigt, ohne Hoffnung<br />

Traumatisierte<br />

Geflüchtete warten<br />

dringend auf Schutz<br />

1,4 Millionen Gefflüchtete<br />

leben unter unsicheren und oft unwürdigen Bedingungen in Krisenregionen, obwohl sie als<br />

besonders schutzbedürftig gelten. Das schätzt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen<br />

(UNHCR). Es handelt sich vor allem um Folteropfer, vergewaltigte Frauen und Männer, geflüchtete<br />

Kinder, Schwangere und Gebrechliche. Sichere Staaten wie Deutschland sollten diesen Menschen<br />

viel häufiger die Möglichkeit eröffnen, direkt einzureisen und sich ein neues Leben in Frieden<br />

aufzubauen, fordert das UNHCR.<br />

Vergangenes Jahr nahmen reiche Länder wie die USA, Kanada, Australien und einige europäische<br />

Staaten lediglich 92.400 Geflüchtete im Rahmen sogenannter Resettlement-Programme auf.<br />

2016 waren es noch 163.206 Neuansiedlungen gewesen, seitdem geht die Zahl beständig zurück.<br />

So reduzierten die USA ihr Kontingent von 85.000 (2016) auf 45.000 (2018).<br />

Deutschland nahm 2016 und 2017 insgesamt nur 1600 dringend Schutzbedürftige auf.<br />

Für 2018 und <strong>2019</strong> hat die Bundesregierung im Rahmen eines Programms der Europäischen<br />

Union die Ansiedlung von 10.200 Geflüchteten zugesagt. Bis zu 500 von ihnen sollen von<br />

engagierten Bürgern finanziell unterstützt und begleitet werden („Neustart im Team – NesT“).<br />

Resettlement-Programme sind für Geflüchtete in der Regel der einzige Weg, ohne Lebensgefahr<br />

in sichere Staaten zu gelangen. Weltweit sterben jährlich Tausende Menschen auf der Flucht,<br />

viele riskieren trotzdem den Versuch, nach Amerika, Australien oder Europa zu gelangen.<br />

Überleben sie die gefährliche und oft Jahre währende Odyssee, bleibt ihnen in Deutschland nur die<br />

Hoffnung auf Asyl. Vergangenes Jahr stellten hierzulande 185.853 Geflüchtete einen Asylantrag,<br />

so das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Ungefähr jeder Dritte, so die Statistiken,<br />

kann zumindest vorübergehend bleiben. Den anderen drohen Ausweisung und Abschiebung.<br />

Insgesamt sind laut UNHCR weltweit 70,8 Millionen Menschen auf der Flucht. Die große<br />

Mehrheit von ihnen lebt in Nachbarstaaten der Herkunftsländer, die den Geflüchteten oft<br />

keine Perspektiven bieten können. •<br />

TEXT: ULRICH JONAS<br />

ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />

Mehr Infos im Internet unter www.unhcr.org/dach/de und www.neustartimteam.de<br />

15


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>321</strong>/NOVEMBER <strong>2019</strong><br />

GRENZERFAHRUNG<br />

Eine Reise an die Außengrenzen der EU – nach Ungarn, Serbien und Rumänien.<br />

Wo es Flüchtlinge und Flüchtlingshelfer besonders schwer haben.<br />

Chefredakteurin Birgit Müller begleitete eine Gruppe von Hamburger Experten.<br />

Budapest<br />

Ungarn<br />

Röszke an der Grenze<br />

zwischen Ungarn und<br />

Serbien wirkt auf den<br />

ersten Blick ganz<br />

harmlos. Die Reiseroute:<br />

von Budapest<br />

über Subotica,<br />

Sombor und Novi Sad<br />

in Serbien nach<br />

Timisoara in Rumänien.<br />

Sombor<br />

Röszke<br />

Subotica<br />

Serbien<br />

Rumänien<br />

Timisoara<br />

16<br />

Novi Sad


Stadtgespräch<br />

vom Helsinki<br />

Komitee erläutert das ungarische<br />

Asylsystem. Unten: Akileo M. aus<br />

Uganda hat Glück. Er hat ein<br />

Stipendium an der berühmten CEU.<br />

Allerdings ist die Uni jetzt nach Wien<br />

umgezogen. Die ungarische Regierung<br />

hat ihr die Rechtsgrundlage entzogen.<br />

KARTE: OPENSTREETMAP, LIZENSIERT UNTER ODBL<br />

Normalerweise ist es kein<br />

Grund zur Freude, Obdachlose<br />

zu sehen. In Budapest<br />

schon. Denn Staatschef<br />

Viktor Orbán und seine rechtsnationale<br />

Regierung haben im vergangenen Jahr<br />

ein Gesetz erlassen, wonach Obdachlose<br />

dreimal verwarnt und dann eingesperrt<br />

werden sollen.<br />

Zum Glück wird das Gesetz anscheinend<br />

nicht überall durchgesetzt.<br />

Die Kriminalisierung von Obdachlosen<br />

ist nur eine Facette der Politik, mit der<br />

Viktor Orbán Minderheiten kriminalisiert<br />

und die Demokratie aushöhlt.<br />

Besonders haben darunter die<br />

Flüchtlinge zu leiden. Deshalb sind wir<br />

hier. Die Diakonie Hamburg hat eine<br />

Fachreise entlang der Flüchtlingsroute<br />

Rumänien, Serbien und Ungarn organisiert.<br />

Die meisten Teilnehmer arbeiten<br />

mit Flüchtlingen. Zweck der Reise:<br />

Austausch mit Kollegen – und vor allem<br />

Klärung der Frage: „Wie können<br />

wir enger zusammenarbeiten?“, sagt<br />

Koordinatorin Sangeeta Fager (Weltweite<br />

Diakonie). Denn die Flüchtlingsarbeit<br />

ist in allen drei Ländern sehr<br />

schwierig.<br />

UNGARN<br />

EU-Land Ungarn hat einen 175<br />

Kilometer langen Grenzzaun<br />

zu Serbien gebaut und versucht<br />

mit rüden Methoden, Flüchtlinge<br />

daran zu hindern, ins Land zu<br />

gelangen und einen Asylantrag<br />

zu stellen. Trotz sinkender<br />

Zahlen herrscht nach wie vor der<br />

von der Regierung verhängte<br />

Ausnahmezustand. Die Asylverfahren<br />

gelten als mangelhaft.<br />

2018 wurden 608 Asylanträge<br />

gestellt, anerkannt wurden<br />

9,1 Prozent. Immer wieder<br />

verstößt Ungarn gegen EU-<br />

Richtlinien.<br />

Einschüchterungsversuche<br />

Orbáns rechtsnationale<br />

Regierung will auch<br />

die Arbeit von unabhängigen<br />

Hilfsorganisationen<br />

(NGOs) lahmlegen, die<br />

Flüchtlinge unterstützen.<br />

Und nicht nur das: Wer<br />

Flüchtlinge unterstützt, soll<br />

eingeschüchtert werden.<br />

Man kann sich nämlich<br />

schon strafbar machen,<br />

wenn man Flüchtlinge<br />

juristisch berät. Es drohen<br />

Gefängnisstrafen bis zu nem Jahr. Eine, die eine solche<br />

Strafe treffen könnte, ist<br />

eidie<br />

Juristin Gru a Matev i vom Helsinki<br />

Komitee, einer renommierten<br />

Menschenrechtsorganisation. Gru a<br />

hatte schon überlegt, das Land zu verlassen.<br />

„Aber wir sind doch immer<br />

„Sie können<br />

mich doch nicht<br />

einfach<br />

einsperren!“<br />

noch in der EU“, sagt die 37-Jährige.<br />

„Sie können mich doch nicht einfach<br />

einsperren!“ Früher hatte das Helsinki<br />

Komitee noch Zugang zu den Transitlagern,<br />

eines davon ist im Grenzort<br />

Röszke. Heute dürfen sich die Helfer<br />

dem Lager im Umkreis von acht Kilometern<br />

nicht nähern.<br />

Hunger im Camp<br />

Dabei ist die Arbeit der NGOs dringend<br />

notwendig. Denn immer wieder<br />

passieren Fälle wie dieser: Wessen Asylgesuch<br />

abgelehnt wurde, bekam oft tagelang<br />

kein Essen mehr. Da die Flüchtlinge<br />

aber in einem geschlossenen<br />

Transitlager untergebracht sind, können<br />

sie sich auch kein Essen kaufen.<br />

Einmal gab die Lagerleitung nur der<br />

Mutter und dem Kind Essen, sie durften<br />

aber nichts dem Vater abgeben.<br />

Das Helsinki Komitee hat letztes<br />

Jahr vor dem Menschenrechtsgerichtshof<br />

in Straßburg Beschwerde eingelegt<br />

und bekam Recht. Ungarn hatte versprochen,<br />

das Urteil zu respektieren.<br />

Hält sich aber nicht daran. Immer wieder<br />

müsse sich das Helsinki Komitee an<br />

Straßburg wenden, berichtet Gru a.<br />

Eine absurde Begründung<br />

Begründet hatte Ungarn den Entzug<br />

von Essen damit, dass die Flüchtlinge ja<br />

gehen könnten. Dazu muss man wissen:<br />

Das Transitlager liegt in der Nähe von<br />

Röszke, im Niemandsland an der Grenze<br />

zu Serbien. Wer das Lager tatsächlich<br />

freiwillig verlässt, steht sofort auf<br />

serbischem Boden – und ist damit raus.<br />

Ungarn hat Serbien einfach als<br />

„sicheres Drittland“ eingestuft. Das<br />

17


Stadtgespräch<br />

heißt: Wer nach Serbien geht, hat keinerlei<br />

Möglichkeit mehr, einen Widerspruch<br />

gegen die Ablehnung seines<br />

Asylantrags zu stellen. Und abgelehnt<br />

werden fast alle. Aber Ungarn gehört<br />

doch zur EU? Dürfen die das denn alles?<br />

„Eigentlich nicht“, sagt Gru a. Weil<br />

Ungarn gegen mehrere EU-Richtlinien<br />

verstößt, hat die EU ein Verfahren<br />

angestrengt, aber das ist noch nicht<br />

entschieden.<br />

Akileo bekommt eine Chance<br />

Nachmittags treffen wir in einer kirchlichen<br />

Beratungsstelle Akileo M., einen<br />

Flüchtling aus Uganda. Er ist ein Fußballtalent,<br />

spielt im Mittelfeld einer<br />

Flüchtlingsmannschaft. Eine Erfolgsgeschichte:<br />

Er hat ein Stipendium für die<br />

renommierte Uni CEU in Budapest,<br />

konnte da bislang auch wohnen. Aber<br />

er gehört zu den Letzten, die diese<br />

Chance hatten.<br />

Die Uni wird nämlich hauptsächlich<br />

von George Soros, einem Holocaustüberlebenden<br />

und Milliardär mit<br />

ungarischen Wurzeln, finanziert. Mit<br />

seiner Stiftung Open Society setzt er<br />

sich gerade in Osteuropa für die Förderung<br />

und Erhaltung der Demokratie<br />

ein. Soros ist seit Jahren ein Feindbild<br />

Dora Kanizsai-Nagy von<br />

Kalunba will mit ihren<br />

Kollegen eine Farm<br />

für Flüchtlinge gründen.<br />

Rechts: Eingang zum<br />

Flüchtlingslager<br />

Subotica in Serbien.<br />

der Rechten – speziell das von Orbán.<br />

Die ganzen Schikanen gegen NGOs<br />

werden deshalb auch „Stop- Soros-<br />

Gesetz“ genannt. Die Regierung entzog<br />

der privaten CEU die Rechtsgrundlage,<br />

trotz internationaler Proteste. Sie musste<br />

deshalb schließen und ist jetzt nach<br />

Wien umgezogen.<br />

„Wir wollen<br />

doch nur unsere<br />

Arbeit machen!“<br />

DORA KANIZSAI-NAGY<br />

18<br />

Eine Farm für Flüchtlinge<br />

Dora Kanizsai-Nagy hat große Pläne.<br />

Die Mitbegründerin der Hilfsorganisation<br />

Kalunba will auf einem Dorf in<br />

der Nähe von Budapest eine Farm gründen<br />

– mit Flüchtlingen, die Gemüse anpflanzen,<br />

ernten und verkaufen.<br />

Mutig! Angesichts der Ausländerfeindlichkeit,<br />

die auch durch Orbáns<br />

Propaganda geschürt wird. Auf Plakaten<br />

wurden monatelang Flüchtlinge als<br />

Eindringlinge und potenzielle Gewalttäter<br />

diffamiert. Das verfehlt seine Wirkung<br />

in der Bevölkerung nicht. Aber<br />

davon will sich Dora nicht unterkriegen<br />

lassen. Allerdings: Das Geld für die<br />

Farm haben sie und ihre Mitstreiter<br />

noch nicht ganz zusammen. Geld ist sowieso<br />

so eine Sache. Denn auch Kalunba,<br />

die Flüchtlingen beispielsweise<br />

Ungarischkurse oder eine Unterkunft<br />

anbietet, wird von der Regierung finanziell<br />

ausgetrocknet.<br />

Dabei gibt es einen europäischen<br />

Integrationsfonds – extra für die Flüchtlingsarbeit.<br />

Diese Gelder müssen allerdings<br />

von der jeweiligen Nationalregierung<br />

abgerufen werden, aber Orbáns<br />

Regierung weigert sich und dreht somit<br />

den Organisationen den Geldhahn zu.<br />

„Wir wollen nicht kämpfen“, sagt Dora<br />

und seufzt. „Wir wollen doch nur unsere<br />

Arbeit machen.“<br />

SERBIEN<br />

Serbien will nur Transitland<br />

sein, aber Mitglied in der<br />

EU werden. Ein Grund, vorübergehend<br />

Flüchtlinge aufzunehmen.<br />

Die EU gibt Geld für Lager<br />

und Mitarbeiter. Die Asylverfahren<br />

und der Zugang zu rechtlicher<br />

Beratung gelten als mangelhaft.<br />

2018 haben 327 Flüchtlinge<br />

einen Asylantrag gestellt,<br />

nur 11 wurden mit uneingeschränktem<br />

Schutz anerkannt.<br />

Die Liste der Hoffnung<br />

Die Fahrt über die Grenze nach Serbien<br />

wirkt zunächst ganz harmlos. Ob-


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

wohl hier in Röszke, hinter Stacheldraht,<br />

das berüchtigte ungarische<br />

Transitlager liegt (siehe Seite 17).<br />

Nur wenige Kilometer weiter auf serbischem<br />

Gebiet liegt das Flüchtlingslager<br />

Subotica. Wir treffen Nata a Markovska<br />

Mom ilovi von der ökumenischen<br />

Hilfsorganisation EHO, die die Flüchtlinge<br />

unterstützt. 52 Menschen, davon<br />

30 Kinder, leben in Wohncontainern.<br />

„Alle, die hier sind, haben es fast<br />

geschafft“, sagt Nata a. Sie stehen nämlich<br />

auf der Liste, von der alle reden.<br />

Nur 10 Flüchtlinge dürfen pro Woche<br />

an der ungarischen Grenze Asyl beantragen.<br />

Ein Zugeständnis: Damit will<br />

Ungarn beweisen, dass es sich nicht<br />

total abschottet. Was gegen geltendes<br />

EU-Recht verstoßen würde.<br />

Aber welche zehn dürfen rüber?<br />

Damit es halbwegs gerecht zugeht, haben<br />

Flüchtlinge früher selbst eine Liste<br />

geführt. Diese wurde von den Lagerleitern<br />

und Autoritäten akzeptiert, jetzt<br />

wird sie von der staatlichen serbischen<br />

Flüchtlingskommission weitergeführt.<br />

Amna erzählt<br />

Vier afghanische Frauen sitzen auf<br />

einer Bank und unterhalten sich. Die<br />

Verständigung auf Englisch ist schwierig<br />

und die Begegnung nur kurz. Sie<br />

wirken etwas apathisch. Amna S. (Name<br />

geändert) erzählt, dass sie seit 2015 auf<br />

der Flucht ist, zum Schluss „zu Fuß,<br />

viel gelaufen“ und schon in mehreren<br />

Lagern war.<br />

Das Lager Vranje an der mazedonischen<br />

Grenze sei das Grauen gewesen:<br />

Es war total überfüllt, es gab nichts<br />

zu essen, sagt sie. Wie es jetzt für sie<br />

Verhaltene Freude:<br />

Amna S. (rechts)<br />

und die anderen<br />

Afghaninnen stehen<br />

auf der Liste.<br />

Ob es sie wirklich<br />

weiterbringt, ist<br />

mehr als fraglich.<br />

heißt der verharmlosende Begriff. Der<br />

Leidensdruck muss schon extrem hoch<br />

sein, um sich dem Ganzen auszusetzen.<br />

Denn in der Regel geht das „Spiel“<br />

nicht gut aus.<br />

Ungarn hat einen meterhohen<br />

Zaun entlang der 175 Kilometer langen<br />

Grenze zu Serbien gebaut. Grenzer mit<br />

Hunden patrouillieren und Helikopter<br />

überfliegen das Gelände. Wer aufgegriffen<br />

wird, wird „zurückgeschoben“ auf<br />

serbisches Gebiet. Das „Pushback“ ist<br />

ziemlich brutal. Ein Beispiel, das zwei<br />

Menschenrechtsorganisationen recherweitergeht?<br />

Amna zuckt die<br />

Schultern. Dass sie zwar<br />

bald in Ungarn einen Asylantrag<br />

stellen darf, heißt ja<br />

noch lange nicht, dass der<br />

positiv beschieden wird.<br />

Die Anerkennungsquote<br />

lag 2018 noch bei 9 Prozent,<br />

in diesem Jahr ist sie<br />

auf 5 Prozent gesunken.<br />

„Es gibt keine andere<br />

Möglichkeit“, sagt sie.<br />

Sie zeigt auf ihren klei-<br />

nen Sohn. „Ich mach das alles für ihn –<br />

und umkehren geht ja nicht mehr.“<br />

Eine 15-Jährige mischt sich ein.<br />

„Hierbleiben können wir ja auch nicht.<br />

Die Serben haben ja selbst nichts.“ Das<br />

ist wahr: Die Arbeitslosenquote beträgt<br />

40 Prozent, bei den jungen Leuten sogar<br />

60 Prozent.<br />

„Making the game“<br />

Aus Verzweiflung versuchen viele, meistens<br />

Männer, in kleinen Gruppen oder<br />

mit Hilfe von Schleppern über die<br />

Grenze nach Ungarn und von da aus<br />

weiter nach Westen zu kommen. „Making<br />

the game“ – das Spiel machen –<br />

abasto<br />

ökologische Energietechnik<br />

Ambulanter Pflegedienst<br />

Wir stellen ein:<br />

Haushaltskräfte in Teilzeit mit Pkw-FS<br />

Lagerstr. 30-32, 20357 Hamburg<br />

Tel.: 040 – 38 68 66 -0<br />

Email: info@solihilfe.de<br />

www.solihilfe.de<br />

Für mehr soziale Wärme<br />

und eine klimaschonende<br />

Strom- und Wärmeversorgung.<br />

www.abasto.de


Stadtgespräch<br />

Auch wenn diese Frauen aus Syrien<br />

stammen, heißt das nicht, dass<br />

sie in Ungarn eine Chance haben,<br />

als Flüchtlinge anerkannt zu werden.<br />

Im Flüchtlingslager<br />

Sombor können<br />

Kinder die örtliche<br />

Schule besuchen,<br />

erzählt Nata a<br />

Markovska<br />

Mom ilovi (im<br />

weißen T-Shirt).<br />

chiert haben: Im August hatten es<br />

16 afghanische Männer und Jugendliche<br />

von Subotica aus geschafft, über die<br />

Grenze nach Ungarn zu kommen.<br />

Schlepper hätten ihnen versprochen, sie<br />

in einem Waldstück abzuholen.<br />

Stattdessen kam die Polizei. Wer<br />

nicht sofort spurte, habe den Schlagstock<br />

zu spüren bekommen. Stundenlang<br />

hätten die Flüchtlinge in der prallen<br />

Sonne sitzen müssen, ohne Trinken,<br />

ohne Essen. Ihre Handys seien zerstört<br />

worden. Die Möglichkeit, einen Asylantrag<br />

zu stellen, habe es nicht gegeben.<br />

Spät am Abend seien sie an der<br />

Grenze zu Serbien ausgesetzt worden.<br />

Stunden später kamen sie in Subotica<br />

an. Die gute Nachricht: „Die Schlafplätze<br />

im Camp werden drei Tage lang<br />

freigehalten“, sagt Nata a. Und somit<br />

auch der Platz auf der Liste.<br />

Mit Englischunterricht<br />

bereitet Lehrerin Sne ana<br />

Ivkovi Flüchtlinge auf die<br />

Zukunft vor. „Meine besten<br />

Schülerinnen“ nennt<br />

sie Malek R. aus Syrien und<br />

Nasra D. aus Eritrea.<br />

Danijela Kora<br />

Mandi (links) vom<br />

Humani tären<br />

Zen-trum in Novi<br />

Sad weiß, was es<br />

heißt, ein Flüchtling<br />

zu sein. Sie floh im<br />

Jugos lawienkrieg<br />

aus Tuzla nach<br />

Novi Sad.<br />

Die Ermüdung der Geldgeber<br />

Wir fahren weiter nach Novi Sad. Um<br />

die 20.000 Flüchtlinge kommen pro<br />

Jahr nach Serbien, sagt uns Danijela<br />

Korác-Mandic vom Humanitären Zentrum.<br />

3000 bis 4000 von ihnen werden<br />

in Camps untergebracht. „Wo sind die<br />

anderen? Vielleicht könnt ihr mir das<br />

sagen?“ Natürlich weiß sie das selbst:<br />

vermutlich in den inoffiziellen Lagern,<br />

in Abrisshäusern oder im Wald. Auch<br />

Danijela erzählt uns von Flüchtlingen,<br />

die von ungarischen Grenzern geschlagen<br />

und von Hunden gebissen wurden.<br />

Aber auch ihre Organisation kann<br />

immer weniger für Flüchtlinge tun.<br />

Denn sie bekommt kein Geld vom serbischen<br />

Staat. Und weil Serbien kein<br />

EU-Land ist, „haben wir auch keinen<br />

Zugang zu den europäischen Integrationsfonds“,<br />

sagt Danijela.<br />

Bei den internationalen Geldgebern<br />

wiederum gebe es eine „donor fatigue“,<br />

eine Ermüdung. Deshalb bleibt<br />

ihr nichts anderes übrig, als die Programme<br />

drastisch zu reduzieren oder<br />

sogar einzustellen.<br />

20


Stadtgespräch<br />

Exklusiv für die Leser von Hinz & <strong>Kunzt</strong>!<br />

Mit folgendem Code erhältst Du das<br />

Eintrittsticket für nur 5€ anstatt für 10€:<br />

MH9-HINZKUNZT<br />

Integration? Gibt’s quasi nicht!<br />

Danijela wünscht sich, dass die Flüchtlinge zur Ruhe<br />

kommen – und bleiben. So wie sie damals: Sie floh im Jugoslawienkrieg<br />

aus Tuzla, das nur drei Autostunden entfernt<br />

liegt, nach Novi Sad. „Ich dachte, ich würde nur<br />

bleiben, bis alles vorbei ist“, sagt sie. Aber ohne es zu merken,<br />

habe sie sich integriert. Als sie nach dem Krieg zurück<br />

nach Tuzla kam – dann in ein anderes Land: Bosnien<br />

Herzegowina – „war nichts mehr, wie es war“, sagt die<br />

48-Jährige. „Ich gehörte längst woanders hin.“<br />

Ihre Situation ist natürlich nicht vergleichbar mit den<br />

Erfahrungen der Flüchtlinge heute. Abgesehen von den<br />

kulturellen Unterschieden und der Sprache: Serbien will<br />

überhaupt nicht, dass die Flüchtlinge heimisch werden.<br />

Hält fest daran, nur ein Transitland zu sein. Integration<br />

und Unterstützung ist deshalb nicht erwünscht.<br />

RUMÄNIEN<br />

Aufnahme, Unterbringung und Zugang zu sozialem<br />

Recht gelten als problematisch. 2018 wurden 2069<br />

Asylanträge gestellt und 1077 Entscheidungen bei<br />

den Erst-Anträgen gefällt. Anerkennungsquote:<br />

26 Prozent. Interessant: 74 Prozent davon erst in<br />

der zweiten Instanz.<br />

Neuigkeiten von einem Mönch<br />

In Timisoara sind wir in einem Kloster untergebracht.<br />

Abends sitzen wir auf der Terrasse und überlegen, wie die<br />

Zusammenarbeit mit den Kolleginnen in Ungarn, Serbien<br />

und Rumänien vertieft werden könnte. Schließlich versuchen<br />

sie, unter schwersten Bedingungen, Flüchtlingen<br />

zu ihrem Recht und zu etwas Würde und Freude zu verhelfen.<br />

Ein junger Mann in Shorts kommt dazu: Pater<br />

Rumänien: 300<br />

Flüchtlinge pro<br />

Monat würden an<br />

der Grenze aufgegriffen<br />

und<br />

nach Serbien zurückgeschoben,<br />

sagt Gabriel Vasilescu,<br />

der Leiter<br />

des Transit Centers<br />

in Timi oara.<br />

Mit Helikoptern<br />

könne die Grenzpolizei<br />

einen<br />

Streifen von 20<br />

bis 30 Kilometer<br />

überwachen.<br />

HANDGEMACHT – INNOVATIV – GENUSSVOLL<br />

Erlebe das kreative Hamburg<br />

16. & 17. <strong>November</strong> <strong>2019</strong><br />

Ballsaal Haupttribüne | FC St. Pauli<br />

Tickets & weitere Infos unter<br />

WWW.MADEINHAMBURG-MESSE.DE<br />

Happy Birthday,<br />

liebe<br />

Hamburger Tafel!<br />

Schön, dass es euch gibt:<br />

Seit 25 Jahren unterstützt<br />

ihr Obdachlose<br />

und Projekte wie uns.<br />

21


Stadtgespräch<br />

Rumänien. Abschiedsabend bei der<br />

kirchlichen Organisation AidRom: Chefin<br />

Elena Timofticiuc (links) führt ihre Gäste<br />

herum. Mitte: Ein syrische Vater und seine<br />

Tochter wurden vom UNHCR ins Emergency<br />

Transit Centre evakuiert und hoffen<br />

auf ein neues Leben in Norwegen. Unten:<br />

UNHCR-Vertreterin Camelia Ni u-Fr il<br />

freut sich über jeden, der es schafft.<br />

Marton, einer der vier<br />

Mönche, die hier leben.<br />

Er erzählt, dass<br />

er an der serbischen<br />

Grenze Gottesdienste<br />

in kleinen Dörfern abhalte.<br />

Und dass dort<br />

oft Flüchtlinge über<br />

die grüne Grenze<br />

nach Rumänien kämen.<br />

„Die Dorfbewohner<br />

sind weder<br />

begeistert noch gegen<br />

sie“, sagt der 31-jährige<br />

Mönch. „Manche helfen ihnen<br />

sogar.“ Zur Erntezeit<br />

sind sie auch als Arbeiter<br />

willkommen.<br />

Flüchtlinge kommen<br />

über die grüne Grenze<br />

nach Rumänien? Pater<br />

Marton erklärt, warum:<br />

„Nach Ungarn kommen<br />

sie nicht durch, und zwischen<br />

Rumänien und<br />

Serbien gibt es noch<br />

keinen Zaun. Und von<br />

hier aus starten sie einen neuen Versuch,<br />

mithilfe von Schleppern.“ Wieder<br />

eine neue Spielart von „Making the<br />

game“.<br />

Aufrüstung in Rumänien<br />

Wie lange das wohl noch funktioniert<br />

mit „Making the game“? Besuch im<br />

Transitzentrum in Timisoara. Die<br />

22<br />

Camps werden vom Staat, sprich von<br />

der Polizei, geführt. Entsprechend ist<br />

auch der Leiter des Transit Centre,<br />

Gabriel Vasilescu, ein Polizeibeamter.<br />

Der 42-Jährige erläutert nicht ohne<br />

Stolz, dass die Grenzpolizei rund 300<br />

Flüchtlinge im Monat an der Grenze<br />

abfängt und nach Serbien zurückschiebt.<br />

„Wir können einen Streifen von<br />

20 bis 30 Kilometer Breite überwachen,<br />

mit Helikoptern, Tag und Nacht.“<br />

Vasilescu geht davon aus, dass die<br />

Zahlen von Flüchtlingen, die in Rumänien<br />

landen werden, wieder steigen.<br />

Schließlich werden immer mehr Routen<br />

geschlossen, und überhaupt: „Die<br />

Menschen lassen sich nicht abhalten.“<br />

Deswegen wird im Land aufgerüstet. Es<br />

werden neue Zentren gebaut. „Noch<br />

einmal wollen wir uns nicht überrumpeln<br />

lassen von der Zahl der Flüchtlinge“,<br />

sagt Vasilescu. „Diesmal sind wir<br />

vorbereitet.“<br />

Evakuierung in ein neues Leben<br />

Draußen sehen wir fünf Flüchtlinge,<br />

die anscheinend gerade angekommen<br />

sind, jeweils mit einer schwarzen Mülltüte<br />

in der Hand. Darin Bettzeug und<br />

etwas zu essen. Wir hoffen, dass sie zu<br />

den Glücklichen gehören, für die die<br />

Reise weitergeht.<br />

Denn dieses Camp ist etwas Besonderes:<br />

Hier ist auch das Emergency<br />

Transit Centre (ETC) untergebracht –<br />

das einzige seiner Art in Europa. Hierher<br />

evakuiert das Flüchtlingshilfswerk<br />

der Vereinten Nationen (UNHCR)<br />

Menschen, die als besondere Härtefälle<br />

gelten (siehe Seite 14).<br />

Viele von ihnen wurden aus offiziellen<br />

und inoffiziellen libyschen Lagern<br />

gerettet. Im Grunde sind dort alle<br />

„besonders schutzbedürftig“, wie der<br />

Terminus lautet. Weil sie womöglich als<br />

Sklaven versteigert werden und weil<br />

Schläge und Vergewaltigungen an der<br />

Tagesordnung sind. Übrigens: Die EU<br />

hat Libyen beauftragt, die Flüchtlinge<br />

aufzunehmen, finanziert die Lager mit<br />

und bildet die als brutal geltende Küstenwache<br />

mit aus.<br />

Eine heikle Mission<br />

1,4 Millionen Flüchtlinge gehören laut<br />

UNHCR zu den besonders gefährdeten<br />

Personen. Das Flüchtlingshilfswerk


Stadtgespräch<br />

sucht unter all diesen Menschen einige aus, die in Länder<br />

vermittelt werden, die bereit sind, diese „sehr, sehr verletzliche<br />

Gruppe“ aufzunehmen. Eine delikate Aufgabe,<br />

denn der UNHCR kann nur Vorschläge machen. Das<br />

letzte Wort haben die Aufnahmeländer. UNHCR-Vertreterin<br />

Camelia Ni u-Fr il ist froh über jede Familie, die in<br />

eine sichere Umgebung kommt.<br />

Neulich erst habe sie von einer Familie, die in<br />

Nürnberg aufgenommen wurde, einen Anruf erhalten.<br />

Aufgeregt und glücklich hätte die Tochter geklungen.<br />

„Sie hat mich zur Hochzeit eingeladen“, sagt Camelia<br />

Ni u-Fr il . „Da wusste ich: Jetzt ist die Familie endlich in<br />

ihrem neuen Leben angekommen.“<br />

Ein Fest zum Abschied<br />

Unsere Reise geht zu Ende. Zum Abschluss erleben wir<br />

etwas Schönes: Wir sind bei der kirchlichen Organisation<br />

AidRom eingeladen. Heute feiert sie ihr monatliches<br />

interkulturelles Fest – mit viel Essen und Musik. Wir lernen<br />

ein afghanisches Ehepaar mit zwei süßen Kindern<br />

kennen. Sie wirken so zufrieden. Aus gutem Grund: Die<br />

beiden wurden als Flüchtlinge anerkannt. Er studiert Wirtschaftswissenschaften,<br />

sie Informatik. Und wenn alles gut<br />

geht, können sie bald einen Aufenthaltsstatus bekommen.<br />

Und dann wird gefeiert. Sozialarbeiter Flavius spielt<br />

den Animateur. Ruft: „Wer kommt aus Syrien, bitte aufstehen!“<br />

Es geht weiter: aus Somalia, aus Afghanistan,<br />

aus Rumänien und Deutschland. Und alle stehen auf,<br />

die Erwachsenen zurückhaltend und ver legen lächelnd,<br />

die Kinder meistens strahlend und stolz. Jeder Einzelne<br />

wird begeistert beklatscht. Das macht Laune. Und für<br />

einen winzigen Moment fühlen sich alle irgendwie<br />

willkommen, egal woher sie kommen und wohin sie<br />

irgendwann gehen werden. •<br />

Auch 2020 geht der weltweit größte<br />

fahrtüchtige Museumsfrachter auf große Fahrt.<br />

Unsere Fahrten unter Ihrem Weihnachtsbaum!<br />

Freitag, den 8. Mai 2020<br />

Einlaufparade zum<br />

831. Hafengeburtstag<br />

Samstag, den 09. Mai 2020<br />

Technikfahrt am<br />

831. Hafengeburtstag<br />

Freitag, den 12. Juni 2020<br />

Fahrt Hamburg nach Brunsbüttel<br />

(inkl. Busshuttle<br />

zurück)<br />

Bestellen Sie bequem online:<br />

www.capsandiego.de<br />

Sonntag, den 14. Juni 2020<br />

Fahrt Brunsbüttel nach Hamburg<br />

(inkl. Busshuttle nach Brunsbüttel)<br />

Sonntag, den 26. Juli 2020<br />

Sommerliche Brunchfahrt<br />

- Hafen und Elbe -<br />

Donnerstag, den 20. August 2020<br />

Fahrt Hamburg - Cuxhaven<br />

(inkl. Busshuttle zurück)<br />

Dienstag, den 25. August 2020<br />

Fahrt Cuxhaven nach Hamburg<br />

(inkl. Busshuttle nach Cuxhaven)<br />

Nähere Infos online oder<br />

telefonisch unter 040/36 42 09<br />

Kalender Motiv 1:<br />

„Voller Erwartung“<br />

Mischling Puffy<br />

und Herrchen Marc<br />

sind seit 12 Jahren<br />

unzertrennlich.<br />

Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de<br />

Kalender Motiv 2:<br />

„Hafenhusky“ Aryala ist<br />

schon Gerrits zweiter Husky.<br />

Seit drei Jahren ist sie seine<br />

treue Begleiterin – auch<br />

beim Verkauf.<br />

Rumänischkurse, rechtliche Beratung, Unterkunftsplätze,<br />

Freizeitangebote: Das Team von AidRom will den<br />

Flüchtlingen in ihrer Zeit in Rumänien so gut helfen,<br />

wie es nur geht. Für die gute Stimmung gibt Flavius Ilioni<br />

(Zweiter von rechts) auch gerne mal den Entertainer.<br />

Adventskalender<br />

Geduldig saßen die beiden Hundedamen unserer Verkäufer<br />

Marc und Gerrit Modell für unseren Adventskalender.<br />

24 Türchen mit Bio-Fairtrade-Schokolade,<br />

ohne Plastikinlay, also komplett als Altpapier recycelbar.<br />

Von Postalo. Preis: 11,90 Euro.<br />

Schnell bestellen unter www.hinzundkunzt.de/shop<br />

23


Ein Geschenk für<br />

den Bürgermeister<br />

Linchen und Marcl lebten jahrelang auf der Straße, heute<br />

setzen sie mit ihrem Label Middlefinger Streetwear ein<br />

Zeichen gegen Ausgrenzung und Armut. Dabei hoffen<br />

sie auf Beistand von oberster Stelle.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Hamburg am 6. September.<br />

Mit einem Geschenk in der<br />

Hand steuert Marcl auf das<br />

Rathaus zu. Er will zum<br />

Bürgermeister, der sollte ja irgendwo<br />

hier zu finden sein. Einen Termin hat<br />

Marcl nicht, aber Glück: Zufällig spielt<br />

vor dem Rathaus das Polizeiorchester,<br />

sein 125-jähriges Bestehen wird gefeiert,<br />

dann eine Durchsage: Peter Tschentscher<br />

werde gleich ein Grußwort sprechen.<br />

„Besser geht’s gar nicht“, habe er<br />

sich gedacht, erzählt Marcl uns später.<br />

Er drängt sich durch die Menge und<br />

drückt dem verblüfften Bürgermeister<br />

die Geschenkbox in die Hand – Teil<br />

eines sozialen Projekts des Modelabels<br />

Middlefinger Streetwear, das er mit seiner<br />

Freundin Linchen gegründet habe,<br />

es gehe um Armut in Hamburg, sie würden<br />

ihn dazu gern sprechen. „Beim<br />

Weggehen habe ich ihm noch gesagt:<br />

‚Aber wirklich melden! Ist wichtig‘“, erzählt<br />

Marcl. Tschentscher kam gar nicht<br />

dazu, etwas zu sagen. Schnell nahm ihm<br />

eine Mit arbeiterin das Paket aus der<br />

Hand und übergab es der Security. Wer<br />

wusste schon, was unter dem Deckel lag.<br />

In der Box steckte das Ergebnis monatelanger<br />

Arbeit: Ein T-Shirt mit der<br />

Aufschrift „Open Your Eyes“, das<br />

Linchen (21) und Marcl (29) in ihrem<br />

Siebdruckatelier selbst angefertigt hatten.<br />

Eine Packung Merci-Schokolade als<br />

Zeichen der Anerkennung, ein paar<br />

symbolische Pflaster. Und ein kleines<br />

Buch mit dem Titel „Reality“, in dem<br />

die beiden ehemaligen Straßenkids<br />

indirekt auch ihre eigene Geschichte<br />

erzählen.<br />

Es zeigt Bilder von Armut, Menschen,<br />

die Mülltonnen durchsuchen<br />

oder auf der Straße betteln. Soziale<br />

Einrichtungen werden vorgestellt, die<br />

sich für Bedürftige in Hamburg stark<br />

machen – das CaFée mit Herz, die<br />

Tafel, auch Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist vertreten.<br />

Linchen und Marcl haben all diese Einrichtungen<br />

persönlich kennengelernt.<br />

Wenn sie davon erzählen, wie es sich anfühlt,<br />

für die Essensausgabe anzustehen<br />

oder beim Schnorren ignoriert zu werden,<br />

dann berichten sie aus Erfahrung.<br />

Für Tausende Menschen in Hamburg<br />

ist das Leben in Armut bittere<br />

Realität. Dem soll sich der Bürgermeister<br />

stellen, finden Linchen und Marcl.<br />

In die Geschenkbox haben sie deshalb<br />

auch einen Brief an Peter Tschentscher<br />

gelegt. „Es ist gut, dass wir Sie als<br />

Ansprechpartner und Bürgermeister in<br />

Hamburg haben“, schreiben sie. „Mit<br />

dieser Box möchten wir auf ein offensichtliches,<br />

gesellschaftliches sowie politisches<br />

Problem aufmerksam machen:<br />

die sogenannte Unterschicht.“ Tschentscher<br />

möge dieses Problem ernst nehmen<br />

– und sich dafür einsetzen, dass es<br />

auch andere tun.<br />

„Aber wirklich<br />

melden!<br />

Ist wichtig.“<br />

MARCL ZU BÜRGERMEISTER TSCHENTSCHER<br />

Bei allem Respekt, der aus den Zeilen<br />

spricht: Es gehört einiges an Mut dazu,<br />

so etwas zu schreiben. Dem Bürgermeister<br />

ein Thema auf die Agenda zu<br />

setzen und ihn in die Pflicht zu nehmen.<br />

„Machen statt labern“ ist das Motto,<br />

unter dem Linchen und Marcl für eine<br />

bessere Zukunft kämpfen. Sie glauben<br />

fest daran, dass es sich lohnt, bei diesem<br />

Kampf an oberster Stelle Druck zu<br />

machen. „Das ist ja der Grund, warum<br />

wir uns den Film überhaupt geben“,<br />

erklärt Marcl.<br />

Inzwischen haben sie gemerkt: So<br />

einfach, wie es bei der Paketübergabe<br />

lief, ist es nicht. Denn erst einmal<br />

geschah tagelang nichts. Auf Instagram<br />

25<br />

machten Bilder von der Aktion die Runde,<br />

aber aus dem Büro des Bürgermeisters<br />

kam keine Antwort. Linchen und<br />

Marcl riefen an, baten um ein Treffen<br />

mit dem Bürgermeister, wurden vertröstet,<br />

riefen noch mal an. Am 10. September<br />

hakten sie per Mail nach und bekamen<br />

die Antwort, Tschentscher habe<br />

leider keine Zeit für Einzelgespräche,<br />

man habe ihr Anliegen an die Sozialbehörde<br />

weitergeleitet. Die meldete sich<br />

zwei Wochen später, zollte den beiden<br />

Respekt für ihren Werdegang, bot<br />

Middlefinger Streetwear Finanzierungsmodelle<br />

für Start-ups an oder versprach<br />

Unterstützung, falls das Label weitere<br />

Arbeitsplätze schaffen wolle.<br />

Linchen und Marcl antworteten<br />

freundlich, aber bestimmt: „Wir von<br />

Middlefinger haben bestimmte Prinzipien,<br />

unter anderem möchten wir nichts<br />

geschenkt bekommen“, schrieben sie.<br />

Außerdem sei ihr eigentliches Anliegen<br />

immer noch, den Bürgermeister zu<br />

sprechen. „Wir wollen ja nur, dass er<br />

sich ein bisschen gerade macht“, erklärt<br />

Marcl. „Es ist doch seine Stadt.“ Linchen<br />

bekräftigt: „Dass er viel zu tun hat,<br />

respektieren wir. Aber 30 Minuten Zeit<br />

ist nicht zu viel verlangt.“<br />

Ob es zu einem Treffen mit Peter<br />

Tschentscher kommen wird, blieb bis<br />

Redaktionsschluss offen. Linchen und<br />

Marcl warteten weiter auf Antwort und<br />

kündigten an, noch mal nachzuhaken. •<br />

Kontakt: annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />

Die Geschenkbox<br />

mit T-Shirt und Buch bietet das Label<br />

Middlefinger Streetwear auch zum Bestellen<br />

an. Die Erlöse aus dem Verkauf<br />

sollen zur Hälfte an soziale Projekte in<br />

Hamburg fließen, die sich für Obdachlose<br />

und arme Menschen einsetzen.<br />

Kontakt unter<br />

www.middlefinger-streetwear.com


Im Winternotprogramm in der<br />

Friesenstraße schlafen<br />

Obdachlose in Mehrbettzimmern.<br />

Harsche Kritik<br />

am Erfrierungsschutz<br />

Ab <strong>November</strong> schützt das Winternotprogramm der Stadt Obdachlose vor<br />

dem Erfrieren. Doch die Kritik am Konzept ist groß – und beschäftigt sowohl<br />

Sozialarbeiter und Fachleute als auch die Hamburgische Bürgerschaft.<br />

TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

M<br />

an könnte es als Erfolg<br />

bewerten: Das Winternotprogramm<br />

für Obdachlose<br />

war im vergangenen<br />

Winter nur zu 67 Prozent<br />

ausgelastet – ein Rückgang um 10 Prozent<br />

im Vergleich zum Vorwinter und<br />

sogar um 22 gegenüber dem davor.<br />

Sind also weniger Menschen auf den<br />

Erfrierungsschutz angewiesen? Die andere<br />

Deutung: Von den mehr als 2000<br />

Obdachlosen in der Stadt wollen oder<br />

können immer weniger die zusätzlichen<br />

Notunterkünfte im Winter nutzen.<br />

Als im Oktober Sozialarbeiter und<br />

Fachleute auf einer Veranstaltung der<br />

Reihe „Gerechte Stadt“ im Haus 73<br />

darüber diskutierten, freute sich keiner<br />

von ihnen über den Rückgang. „Die<br />

Behörde macht es für immer mehr<br />

Menschen immer schwerer, hineinzukommen“,<br />

beklagte etwa Dirk Hauer,<br />

Leiter des Fachbereichs Migration und<br />

Existenzsicherung bei der Diakonie.<br />

In der Kritik steht zum Beispiel<br />

die sogenannte Wärmestube, ein Raum,<br />

in dem Obdachlose auf dem Boden<br />

schlafen müssen. Dorthin werden zum<br />

26<br />

Beispiel Menschen verwiesen, die in<br />

Hamburg zwar auf der Straße schlafen,<br />

aber womöglich in ihrem Herkunftsland<br />

eine Unterkunft haben.<br />

Auch Beratungsgespräche im Winternotprogramm,<br />

die von manchen als<br />

Zwang empfunden werden, stoßen auf<br />

Kritik. Denn ihr Ergebnis kann auch<br />

sein, dass Menschen von den Unterkünften<br />

abgewiesen werden. Uwe Giffei,<br />

der für die SPD­Bürgerschaftsfraktion<br />

auf dem Podium saß, erklärte,<br />

dass solche „Steuerungsmechanismen“<br />

eingeführt wurden, um einen Miss­


Stadtgespräch<br />

brauch des Winternotprogramms zu verhindern. Aber er<br />

räumte ein: „Das trifft auch Menschen, die das Winternotprogramm<br />

brauchen.“<br />

Tags darauf war Thema in der Bürgerschaft, wie das<br />

Winternotprogramm zu verbessern wäre. Die Linksfraktion<br />

beantragte wie schon in den Vorjahren, die beiden<br />

Unterkünfte in Friesen- und Kollaustraße auch tagsüber<br />

für alle Obdachlosen unabhängig von ihrer Herkunft zu<br />

öffnen – so wie die Wohncontainer, die über den Winter<br />

ALARM IN´T<br />

GRANDHOTEL<br />

SUITE SURRENDER // KOMÖDIE VON<br />

MICHAEL MCKEEVER // 16.11.<strong>2019</strong> – 11.1.2020<br />

„Es wird nicht gelingen, die<br />

Probleme innerhalb<br />

eines Jahres zu lösen.“<br />

UWE GIFFEI, SPD<br />

bei Kirchengemeinden und anderswo stehen. Schließlich<br />

seien Obdachlose „aufgrund ihrer Lebenssituation physisch<br />

und psychisch erschöpft“ und bräuchten deshalb<br />

„auch tagsüber Wärme und Ruhe“, so der Antrag. Ein<br />

Anliegen, das auch Hinz&<strong>Kunzt</strong> und Sozialverbände seit<br />

Jahren teilen, mit dem sich die Linken aber vermutlich<br />

auch in diesem Jahr nicht werden durchsetzen können.<br />

Auch der CDU geht die Forderung nach einer ganztägigen<br />

Öffnung zu weit. Sie schlug im Parlament einen<br />

Kompromiss vor: Ein Bus-Shuttle solle die Obdachlosen<br />

von den Notunterkünften bis direkt zu den Tagesaufenthaltsstätten<br />

fahren, statt wie bisher nur in die Innenstadt.<br />

Das Problem allerdings: Diese Einrichtungen haben unregelmäßige<br />

Öffnungszeiten, keine hat ganztägig offen,<br />

viele öffnen erst deutlich später, als das Winternotprogramm<br />

schließt – und es gibt dort zu wenige Plätze.<br />

Eine Entscheidung über die Anträge ist noch nicht<br />

gefallen. „Es wird nicht gelingen, die Probleme innerhalb<br />

eines Jahres zu lösen“, orakelte SPD-Politiker Giffei im<br />

Haus 73. „Wir werden sehen: Es gibt Fortschritte, aber es<br />

gibt auch noch viel Kritik.“ •<br />

Kontakt: benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />

Das Winternotprogramm<br />

780 Plätze für Obdachlose sieht das diesjährige Winternotprogramm<br />

vor. 650 davon stellt das städtische<br />

Unternehmen fördern&wohnen in zwei Großunterkünften<br />

zur Verfügung. Sie sind jeweils nur von 17 bis 9.30 Uhr geöffnet.<br />

Ganztägig geöffnet sind hingegen die Wohncontainer<br />

für 130 Obdachlose, die bei Kirchengemeinden und anderen<br />

Einrichtungen aufgestellt sind. Zuletzt gezählt wurden<br />

1910 Obdachlose – und es gibt noch eine Dunkelziffer.<br />

Foto: Sinje Hasheider<br />

<strong>2019</strong>1011_AZ-Alarm_Hinz&<strong>Kunzt</strong>_93x138_DV.indd 1 11.10.19 15<br />

WENN UNSERE UMWELT<br />

NICHT FÜR DIE RENDITE<br />

BEZAHLEN MUSS. DANN<br />

IST ES GUTES GELD.<br />

GUTESGELD.DE<br />

Interessiert an ethischer Geldanlage?<br />

Informieren Sie sich beim Oikocredit<br />

Förderkreis Norddeutschland e.V.<br />

Tel. 040 94 36 2800<br />

27<br />

NACHHALTIGE GELDANLAGE SEIT 1975.


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>321</strong>/NOVEMBER <strong>2019</strong><br />

Meldungen<br />

Politik & Soziales<br />

Ab <strong>November</strong> ist wieder der Kältebus der<br />

Alimaus unterwegs. Wer Obdachlose sieht<br />

und helfen will, wählt 0151/65 68 33 68.<br />

Ehrenamtliche fahren täglich von 19 bis<br />

24 Uhr Hilfebedürftige in Notunterkünfte.<br />

Obdachlose in Altona<br />

Neue Tagesaufenthaltsstätte<br />

Die Stadt schafft ein neues Angebot<br />

für Obdachlose: Ab Januar öffnet<br />

eine Tagesaufenthaltsstätte (TAS) in<br />

der Stresemannstraße. Sie richtet<br />

sich vor allem an die Trinkerszene<br />

am Bahnhof Holstenstraße. Straßensozialarbeiter<br />

haben zudem eine<br />

Jobbörse und Ämterbegleitung angeregt.<br />

Auch solle Gästen der Konsum<br />

von nicht-hochprozentigem Alkohol<br />

erlaubt sein. Ob die Wünsche umgesetzt<br />

werden, ist noch unklar. JOF<br />

•<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer stirbt auf der Straße<br />

Trauer um Hinz&Künztler Valentin<br />

Erneut ist ein Obdachloser auf Hamburgs Straßen verstorben: Ein Ladenbesitzer<br />

fand Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer Valentin am Morgen des 5. Oktobers leblos vor<br />

seinem Lebensmittelmarkt in Mümmelmannsberg. Der Notarzt konnte nur noch<br />

den Tod des 45-Jährigen feststellen. Woran Valentin gestorben ist, bleibt ungeklärt:<br />

Laut Polizei wies der Leichnam keine Spuren von Fremdeinwirkung auf,<br />

eine Obduktion veranlassten die Behörden nicht. Eine Mitarbeiterin des Supermarktes,<br />

vor dem Valentin zuletzt das Straßenmagazin verkaufte, berichtete, dass<br />

der Moldawier an mehreren Krankheiten gelitten habe. So habe er erzählt, dass<br />

er Diabetiker sei, auch sein Magen war offenbar angegriffen. Valentin war 2014<br />

nach Hamburg gekommen. Dubiose Arbeitgeber hatten ihn hierher gelockt<br />

und dann um Lohn betrogen. Mit dem Job verlor er auch den Schlafplatz in<br />

einem Vierbettzimmer und lebte fortan auf der Straße. Mümmelmannsberger<br />

organisierten für den Verstorbenen eine Gedenkfeier im Gemeindehaus. ATW/UJO<br />

•<br />

Totensonntag<br />

Gedenken an verstorbene Obdachlose<br />

Auch in diesem Jahr lädt Hinz&<strong>Kunzt</strong> zu einer Gedenkfeier für die Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />

Verkäufer ein, die in den vergangenen zwölf Monaten verstorben sind. Interessierte<br />

treffen sich am Totensonntag (24.11.) um 14 Uhr auf dem Öjendorfer<br />

Friedhof an der Busstation Feierraum Nord. Von dort aus geht es gemeinsam zum<br />

Gedenkbaum, an dem Plaketten mit eingravierten Namen an die Verstorbenen<br />

erinnern. Die katholische St.-Bonifatius-Gemeinde (Am Weiher 29) lädt<br />

am selben Tag um 18 Uhr zu einem ökumenischen Gedenkgottesdienst für<br />

verstorbene Wohnungslose ein. Der einsam Verstorbenen wird in der Haupt -<br />

kirche St. Petri (Bei der Petrikirche 2) mit einem Gottesdienst gedacht. Dieser<br />

beginnt am Totensonntag um 15 Uhr. UJO<br />

•<br />

Poliklinik für Obdachlose<br />

Hilfsprojekt sucht Ärzte<br />

Die studentische Poliklinik für obdachlose<br />

Menschen ohne Krankenversicherung<br />

sucht Fachärzte, vor allem<br />

für Innere Medizin. Das Projekt<br />

bietet einmal pro Woche eine allgemeinärztliche<br />

Sprechstunde im Cafée<br />

mit Herz an. Während die Arbeit für<br />

die Medizinstudierenden zur Ausbildung<br />

gehört, werden die bislang drei<br />

Ärzte auch honoriert. Die Poliklinik<br />

füllt eine Lücke im Hilfesystem: Für<br />

Obdachlose ohne Krankenversicherung<br />

gibt es zu wenig Angebote. JOF<br />

•<br />

Kontakt: info@stupoli-hamburg.de<br />

Vorlesungen über Obdachlosigkeit<br />

Hamburg für alle – aber wie?<br />

Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist<br />

eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung:<br />

Das ist die Grundidee einer<br />

Vorlesungsreihe an der Uni Hamburg.<br />

Praktiker geben ab <strong>November</strong><br />

jeden Dienstag um 18 Uhr Einblicke<br />

in ihre Arbeit und laden zur Diskussion.<br />

Am 19.11. etwa geht es um<br />

„Lebenslagen von Frauen auf der<br />

Straße“, am 26.11. um Straßenkinder,<br />

am 3.12. um Housing first. UJO<br />

•<br />

Mehr Infos im Internet:<br />

hamburg-fuer-alle.blogs.uni-hamburg.de<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

28


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> Randnotizen<br />

Unser Newsletter ist da!<br />

Jeden Freitag informieren wir Sie in<br />

unserem neuen Newsletter „Randnotizen“<br />

über Themen, die uns in der<br />

Woche beschäftigt haben, über unsere<br />

Veranstaltungen und den Flurfunk<br />

aus dem Projekt. Und wir lassen<br />

Sie natürlich wissen, was im aktuellen<br />

Monatsmagazin steht – damit Sie<br />

keine Ausgabe mehr verpassen.<br />

Anmeldung:<br />

www.hinzundkunzt.de/randnotizen<br />

Gericht: Bauherr muss nicht haften<br />

Nach fünfjährigem Rechtsstreit sind zwei rumänische Wanderarbeiter mit dem<br />

Versuch gescheitert, mehrere Tausend Euro Lohn einzuklagen: Das Bundesarbeitsgericht<br />

(BAG) entschied, dass der Bauherr der „Mall of Berlin“ nicht dafür<br />

haften muss, dass zwei seiner Subunternehmer Arbeiter um Lohn betrogen haben.<br />

Ein Berliner Arbeitsgericht hatte die Ansprüche von acht Wanderarbeitern zwar<br />

anerkannt. Geld sahen die Kläger aber trotzdem nicht, weil die Subunternehmen<br />

und auch der vom Investor beauftragte Generalunternehmer Insolvenz angemeldet<br />

hatten oder von der Bildfläche verschwunden waren. Dem Investor kann das<br />

egal sein: Die sogenannte Nachunternehmerhaftung erstrecke sich nicht auf<br />

„Unternehmer, die lediglich als bloße Bauherren eine Bauleistung in Auftrag geben“,<br />

entschied das BAG. Der Bau der Einkaufsmeile kostete eine Milliarde Euro,<br />

die Forderungen der Wanderarbeiter betrugen etwa 50.000 Euro. UJO<br />

•<br />

Ausgebeutete Wanderarbeiter bekommen keinen Lohn<br />

Jobcenter und Mietkosten<br />

Hilfeempfänger zahlen drauf<br />

Jeder sechste Hartz­IV­Haushalt in<br />

Hamburg bekommt vom Jobcenter<br />

nicht die komplette Miete bezahlt.<br />

Das geht aus einer Anfrage der<br />

Bundestags­Linken hervor. Demnach<br />

sind in Hamburg 17.000 Haushalte<br />

betroffen. Sie müssen im Schnitt<br />

1014 Euro pro Jahr aus dem Regelsatz<br />

abzwacken. Dieses Geld fehle für<br />

Schulsachen und gesunde Ernährung,<br />

kritisiert die Linke. JOF<br />

•<br />

Vordringlich Wohnungssuchende<br />

Hilfe für Menschen in Wohnungsnot<br />

Vergangenes Jahr fanden 3738 Haushalte, die die Stadt mit einem Dringlichkeitsschein<br />

als Notfälle anerkannt hat, eine Wohnung. Allerdings gingen zeitgleich rund<br />

12.000 weitere Dringlichkeitsscheininhaber leer aus. „Menschen in Not sollten<br />

zuerst eine Wohnung bekommen“, fordert Diakonie­Chef Dirk Ahrens. Der Senat<br />

müsse die Saga stärker in die Pflicht nehmen:<br />

Statt jede vierte solle das städtische<br />

Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />

Unternehmen jede zweite Wohnung an<br />

www.hinzundkunzt.de<br />

Notfälle vermieten. JOF<br />

•<br />

Für Hamburger.<br />

Und für alle Anderen.<br />

Passt.<br />

www.rymhart.de<br />

Troyer | Jacken | Mützen | Shirts<br />

NEU: Troyer in 100% Merino extrafein<br />

Online oder ab Werk in Stade


Lebenslinien<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>321</strong>/NOVEMBER <strong>2019</strong><br />

Wer die Geschichte befragt,<br />

muss Akten studieren. Detlef Garbe<br />

interessiert sich derzeit für die mehr als<br />

80 Außenlager von Neuengamme.<br />

„Eine Berufung“<br />

30


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Lebenslinien<br />

TEXT: FRANK KEIL<br />

FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK<br />

Wenn alles klappt, nimmt<br />

Detlef Garbe nach einem<br />

langen Arbeitstag<br />

pünktlich den Bus, der<br />

in Sichtweite seines Büros hält. Fährt<br />

mit der Nummer 327 in vielen Schlenkern<br />

vom Neuengammer Hauptdeich<br />

über den Neuengammer Hausdeich bis<br />

zum S-Bahnhof Bergedorf, von dort<br />

weiter in die City. Aber meistens ist er<br />

nicht pünktlich. „Dass das hier kein<br />

Beruf ist, sondern eine Berufung, wurde<br />

mir in dem Moment klar, als ich hier<br />

anfing zu arbeiten“, sagt er.<br />

Das ist nun 30 Jahre her. 1989 übernahm<br />

Detlef Garbe die Leitung der<br />

KZ-Gedenkstätte Neuengamme, seit<br />

Kurzem ist er in der Kulturbehörde für<br />

die Abteilung „Gedenkstätten und<br />

Lernorte“ zuständig. Jetzt, mit 62 Jahren,<br />

nähert sich seine Berufslaufbahn<br />

Vor Kurzem<br />

wurde er zum<br />

Professor ernannt.<br />

30 Jahre lang leitete der Historiker Detlef Garbe die Gedenkstätte<br />

Neuengamme. Wie es dazu kam, warum er über die<br />

Zeugen Jehovas forschte, was ihm noch am Herzen liegt und<br />

ob er AfD-Mitglieder herumführen würde – eine Begegnung.<br />

dem Ende. Was tun in der verbleibenden<br />

Zeit? Ihm lägen besonders die Außenorte<br />

von Neuengamme am Herzen,<br />

die mehr Beachtung verdienten und wo<br />

noch Spannendes zu entdecken sei. Wie<br />

etwa im Außenlager nahe dem Salzstock<br />

bei Morsleben, wo KZ-Häftlinge<br />

in 400 Metern Tiefe schuften mussten<br />

und in dem die DDR später radioaktiven<br />

Müll lagerte. In Wolfsburg wiederum<br />

sei man bei den Erdarbeiten für die<br />

Errichtung eines Einkaufszentrums<br />

jüngst auf Barackenfundamente gestoßen,<br />

denn auch hier war ein Außenlager<br />

von Neuengamme, aus dem bis zu<br />

800 KZ-Häftlinge beim dortigen Volkswagenwerk<br />

eingesetzt wurden. „Ohne<br />

den Nationalsozialismus gäbe es Wolfsburg<br />

als Stadt ja nicht“, sagt Garbe.<br />

Entsprechend hätten die Wolfsburger<br />

ein Bewusstsein, umsichtig mit solchen<br />

historischen Spuren umzugehen,<br />

man sei an seiner Expertise inte ressiert.<br />

Detlef Garbe ist seit zwei Jahren<br />

Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der<br />

31


KZ-Gedenkstätten, er berät die Bundesbeauftragte<br />

für Kultur und Medien<br />

in Fragen von Projekt förderungen. Und<br />

jüngst ist er vom Hamburger Senat zum<br />

Ehrenprofessor ernannt worden.<br />

Wie alles anfing? Da muss er „kurz“<br />

weit ausholen. Er rückt sein Wasserglas<br />

ein wenig zur Seite, geht zurück in das<br />

Jahr 1982, als die SPD in Hamburg die<br />

Mehrheit in der Bürgerschaft verlor und<br />

sich mit der Grün-Alternativen Liste<br />

(GAL) zu Koalitionsverhandlungen zusammensetzen<br />

musste. Unter anderem<br />

ging es damals auch um den Punkt „die<br />

Erforschung des Verfolgungsschicksals<br />

von Minderheiten im Nationalsozialismus“,<br />

der bei der SPD zustimmendes<br />

Interesse fand. Garbe wird Vorstand der<br />

„Projektgruppe vergessene Opfer des<br />

Nationalsozialismus“. „Es gab dafür öffentliche<br />

Mittel, und auch wenn es nicht<br />

viel Geld war, es kam einiges in Bewegung“,<br />

erzählt er. Und man beginnt<br />

1972 reiste er<br />

das erste Mal<br />

nach Auschwitz.<br />

über die Schicksale homosexueller Menschen<br />

in der NS-Zeit zu arbeiten und<br />

über den Leidensweg der Roma und<br />

Sinti; entdeckt die Swing-Jugend,<br />

forscht nach, was behinderte Menschen<br />

im Nationalsozialismus zu erleiden hatten<br />

und was die sogenannten Asozialen<br />

32<br />

Etwa 50.000<br />

Menschen wurden von<br />

1938 bis 1945 im<br />

KZ Neuengamme<br />

ermordet. Bis in die<br />

1970er-Jahre wollte<br />

man vom Schreckensort<br />

vor den Toren<br />

Hamburgs nichts<br />

wissen. Erst seit 2007<br />

ist das gesamte<br />

Gelände eine<br />

Gedenkstätte.<br />

oder, wie sie seinerzeit genannt wurden,<br />

die Gemeinschaftsfremden. „Und irgendwann<br />

sagte jemand in der Runde:<br />

‚Da gab es doch auch diese Bibelforscher<br />

…‘“, erinnert sich Garbe.<br />

„Mir ging es mit den Zeugen Jehovas<br />

wie den meisten: Ich kannte sie, wie<br />

sie mit ihren Zeitungen irgendwo standen<br />

oder wenn sie bei einem an der Tür<br />

klingelten und auch mal nervten“, erzählt<br />

er. Aber Genaueres zu ihrer Verfolgungsgeschichte<br />

kannte er nicht.<br />

Wusste noch nicht, wie brutal diese vordergründig<br />

unpolitische Gemeinschaft<br />

verfolgt worden war, weil ihre Anhänger<br />

bis zuletzt den Wehrdienst verweigert<br />

hatten; weil ihnen ihr Herrgott weit<br />

wichtiger blieb als jeder Führer der irdischen<br />

Welt. Hatte noch keine Kenntnis,<br />

dass sie zuweilen an den Haustüren, an<br />

denen sie mit ihrem „Wachturm“ in der<br />

Hand klingelten, zu hören bekamen:<br />

„Euch hat doch der Hitler vergessen.“<br />

Und er machte sich an die Arbeit,<br />

ging in Archive, wertete Akten aus, suchte<br />

vor allem nach Zeitzeugen und befragte<br />

sie: „Mir sind Themen, die mit<br />

Glauben und Religiosität zu tun haben,<br />

ja nicht fremd, denn ich komme aus der<br />

kirchlichen Jugendarbeit.“<br />

Was mit an den beiden Pastoren<br />

liegt, denen er als Jugendlicher begegnet,<br />

in Moringen, einer Kleinstadt im<br />

Landkreis Northeim, in der er aufwächst.<br />

„Sie haben uns junge Leute für<br />

die damals angesagten Themen sensibilisiert:<br />

die Lage in der Dritten Welt, den<br />

Militärputsch gegen den Präsidenten<br />

Allende in Chile, die Situation der<br />

Gastarbeiter, auf die man damals herabschaute“,<br />

erzählt Garbe. 1972 fuhr<br />

er schließlich zum ersten Mal mit dem<br />

Verein „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“<br />

nach Polen und war davon so<br />

beeindruckt, dass er ein Jahr später eine<br />

eigene Reisegruppe nach Ausschwitz<br />

mitorganisiert hat.<br />

Auch zu Hause ist die NS-Zeit Thema:<br />

„Mein Vater war schon früh Nationalsozialist<br />

gewesen, hat auch Schuld<br />

auf sich geladen – aber im Gegensatz<br />

zu anderen hat er darüber geredet, und


Lebenslinien<br />

er hat alle meine Schritte als richtig und konsequent angesehen“,<br />

erzählt er. „Er wollte nie wieder eine Uniform<br />

tragen, wollte nichts mehr mit dem Nazitum zu tun haben,<br />

auch wenn er zuweilen traumatisiert und alkoholisiert<br />

die alten Lieder sang.“ Und Garbe sagt: „Ich habe<br />

mich jedenfalls nicht wie andere Historiker meiner Generation<br />

an einem Nazivater abarbeiten müssen.“<br />

Damals wendet er sich mit anderen der Geschichte<br />

des eigenen Wohnortes zu: „Bei uns in Moringen haben<br />

die Nazis gleich 1933 eines der ersten KZ errichtet: für<br />

,Schutzhaftgefangene‘, also überwiegend für Kommunisten.“<br />

Anschließend wird das Lager ein Frauen-<br />

KZ,1940 ein sogenanntes Jugendschutzlager. Unter den<br />

dort Festgehaltenen sind auch einige der Hamburger<br />

Swing-Jugendlichen: junge Leute, die dem von den<br />

Nazis verpönten Orchester-Jazz aus England und den<br />

USA frönen und die sich zum Teil handfest mit der<br />

Hitlerjugend anlegen.<br />

Am Ende, so Garbe, stand eine kleine Ausstellung,<br />

die seinen Lebensweg prägen sollte. Auch weil seine Mitstreiter<br />

und er für ihre Offenlegungen zum Teil heftig<br />

angefeindet wurden.<br />

Zu den Gegnern der Ausstellung gehörte etwa die<br />

SPD, die im Moringer Stadtrat die Mehrheit stellte.<br />

Unterstützung und Zuspruch kam dagegen von einem<br />

CDU-Landtagsabgeordneten: „Der kam aus einer örtlichen<br />

Unternehmerfamilie, die unter den Nazis als sogenannte<br />

Halbjuden bedrängt und dann verfolgt worden<br />

waren, und so hatte er eine andere Sicht auf die Dinge.“<br />

Und Garbe sagt: „Ich habe damals erfahren, dass das mit<br />

dem Links- und Rechtssein durchaus komplizierter ist.“<br />

Was nicht heißt, dass ihm der Anstieg des Rechtspopulismus<br />

nicht Sorgen bereitet; die ihn aber auch<br />

nicht um den Schlaf brächten: „Sollte etwa die AfD unsere<br />

Gedenkstätte besuchen wollen, warum nicht? Sie<br />

kann gerne kommen.“ Bisher habe es aber noch keine<br />

solche Anfrage gegeben. Und er sagt abschließend: „Wir<br />

stehen vor spannenden Heraus forderungen.“ •<br />

Der Hamburg-Kalender<br />

Die Teilnehmer*innen unseres Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Fotowettbewerbs<br />

können stolz sein: Unter Anleitung von Fotografin Lena Maja<br />

Wöhler haben sich einige Hinz&Künztler*innen regelmäßig zu<br />

Workshops und Exkursionen getroffen.<br />

Ihre schönsten Hamburg-Motive zeigen wir in<br />

einem DIN-A4-Wandkalender.<br />

Ab sofort bei den Verkäufer*innen Ihres Vertrauens<br />

und unter www.hinzundkunzt.de<br />

Preis: 4,80 Euro<br />

(davon 2,40 Euro für die Verkäufer*innen)<br />

Kontakt: frank.keil@hinzundkunzt.de<br />

KZ-Gedenkstätte Neuengamme<br />

Jean-Dolidier-Weg 75, 21039 Hamburg,<br />

Mo–Fr, 9.30–16 Uhr, Sa, So und an Feiertagen<br />

(geschlossen am 24.12., 25.12., 31.12 und 1.1.):<br />

Oktober bis März, 12–17 Uhr, April bis September,<br />

12–19 Uhr, Eintritt frei<br />

Mehr Infos: www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de<br />

Derzeit ist die Gedenkstätte Teil der Hamburger Kulturbehörde.<br />

Doch Kultursenator Carsten Brosda (SPD) plant,<br />

die Gedenkstätte in eine Stiftung zu überführen, auch um<br />

sie unabhängiger zu machen. Da diese über kein eigenes<br />

Stiftungskapital verfügen würde, würde erneut Hamburg<br />

als Stadt einspringen; dazu kämen Bundes- und Drittmittel.<br />

33


Der große<br />

Reformer<br />

Fritz Schumacher, Oberbaudirektor in<br />

Hamburg von 1909 bis 1933, prägte das<br />

Stadtbild wie kaum ein anderer Architekt.<br />

Zum 150-jährigen Geburtstag des<br />

Visionärs blickte Fotograf David Altrath<br />

hinter die Fassaden großer Staatsbauten.<br />

TEXT: CHRISTIANE MEHLIG, BENJAMIN LAUFER


Der Statuensaal im Kuppelbau der Hamburger<br />

Kunsthalle: Zwischen 1912 und 1919 entstand der<br />

Erweiterungsbau aus einem Entwurf von Fritz<br />

Schumacher. Gebaut aus Muschelkalkstein gilt er als<br />

architektonisches Markenzeichen des Museums.


Lebenslinien<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>321</strong>/NOVEMBER <strong>2019</strong><br />

„In Schumachers<br />

Bauten verschmelzen<br />

Kunst und Funk tion.“<br />

FOTOGRAF DAVID ALTRATH<br />

Diplom-Ingenieur Roger Popp ist Experte für die Bauten von<br />

Fritz Schumacher und lebt selbst in der Dulsberg-Siedlung (unten),<br />

die der Architekt in den 1920er-Jahren als sozialen Wohnungsbau<br />

entwarf. Rechts: Die Grundbuchhalle des Hamburger Ziviljustizgebäudes<br />

mit ihrem charakteristischen Treppengeländer aus Stahlbeton.<br />

W<br />

er mit offenen Augen<br />

durch Hamburg geht,<br />

kommt an Fritz Schumacher<br />

nicht vorbei.<br />

Der Architekt hat das Stadtbild geprägt<br />

wie kein Zweiter. Und trotzdem kennen<br />

die meisten nur eine Seite seiner Werke.<br />

„Man sieht die Gebäude immer nur<br />

von außen, hat aber keine Ahnung, wie<br />

die Innenräume aufgebaut sind“, beklagt<br />

der Fotograf David Altrath.<br />

Zum 150-jährigen Schumacher-<br />

Geburtstag hat er deswegen seinen<br />

Blick auf das Innere der Gebäude gerichtet.<br />

Ein halbes Jahr lang hat er in<br />

Schumachers Staatsbauten fotografiert,


war im Zellentrakt der Davidwache, im<br />

Hörsaal des Bernhard-Nocht-Instituts<br />

und im sogenannten Bananensaal der<br />

Finanzbehörde. „Es verbergen sich so<br />

tolle Räume hinter den Fassaden“, sagt<br />

Altrath. Dem Architekten und Oberbaudirektor<br />

Schumacher sei es darum<br />

gegangen, ein besonderes Ambiente für<br />

die arbeitenden Menschen zu schaffen,<br />

erklärt der Fotograf: „Hier verschmelzen<br />

Kunst und Funktion.“<br />

Dass Schumacher sich selbst als<br />

„Baukünstler“ sah, kam nicht von ungefähr.<br />

„Ich merkte mit einer Art innerem<br />

Staunen“, schrieb er einst, „dass ich<br />

eine neue Sprache beherrschte, in der<br />

37<br />

ich nur mit den Mitteln der Gruppierung,<br />

der Proportion, der Lichtführung<br />

und der Farbe alles anzusprechen vermochte,<br />

was mir am Herzen lag.“<br />

Man findet seine Spuren in der<br />

ganzen Stadt, unter mehr als 100 Baupläne<br />

hat er seine Unterschrift gesetzt.<br />

Allein mehr als einem Dutzend Schulgebäuden<br />

hat er die Gestalt gegeben.<br />

Schumachers Ambition, Kunst und<br />

Funktion miteinander zu verbinden,<br />

lässt sich zum Beispiel am Bau der<br />

Hochschule für bildende Künste gut erkennen.<br />

Im Auftrag der Stadt entwarf<br />

er auch die Gewerbeschule im Stadtteil<br />

Uhlenhorst. Das dunkle Backsteingebäude<br />

entstand von 1911 bis 1913 mit<br />

besonderen Merkmalen: Weithin sichtbar<br />

hebt sich die hohe Baugruppe in ihrer<br />

Lage am Kuhmühlenteich vom üblichen<br />

Stadtbild ab. Ein „abweichendes,<br />

mehr festliches Gepräge“ sollte so zum<br />

Ausdruck kommen, befand Schumacher.<br />

Seine Hamburger Staatsbauten, die<br />

Fotograf Altrath nun abgelichtet hat,<br />

präsentieren sich stolz und erhaben, als<br />

ob sie wüssten, dass in ihnen wertvolle<br />

Entscheidungen getroffen werden. Der<br />

Besucher erlebt eine ganz eigene, ruhige<br />

Atmosphäre.<br />

Doch Schumacher konnte nicht<br />

nur öffentliche Gebäude entwerfen –


Lebenslinien<br />

Schumacher steht<br />

für menschenwürdiges<br />

und<br />

sozial gerechtes Bauen.<br />

Zellentrakt der Davidwache (oben): Das heutige Gebäude auf der Reeperbahn wurde von<br />

Schumacher entworfen und 1914 fertiggestellt. Unten: Kapelle 13 auf dem Friedhof Ohlsdorf.<br />

Die Fenster zeigen abstrakte Muster aus Buntglas. Rechts: Der „Bananensaal“ der Finanzbehörde<br />

am Gänsemarkt erhielt seinen Namen von den Keramiksäulen, die an Bananenstauden<br />

erinnern. Schumacher arbeitete hier mit dem Bildhauer Richard Kuöhl zusammen.<br />

auch seine Wohnsiedlungen gaben<br />

der Hansestadt ein neues Gesicht.<br />

Gerade nach dem Ersten Weltkrieg war<br />

der Bedarf hiernach groß. Mit der<br />

Dulsberg-Siedlung in Barmbek machte<br />

Schumacher als Oberbaudirektor<br />

Hamburgs dann erste Schritte im<br />

sozialen Wohnungsbau.<br />

Die Wohnungsnot verlangte nach<br />

neuen Ideen, und Schumacher verachtete<br />

die bis dahin in Hamburg übliche<br />

„Hinterflügelbauweise“, die kaum<br />

Licht und Frischluft in die Zimmer ließ.<br />

Er empfand auch die „Massenanhäufung<br />

der Menschen in hohen Stockwerkshäusern<br />

als etwas Bedrückendes“.<br />

38


39<br />

Schumacher wollte etwas Neues:<br />

Wohnverhältnisse in seiner Stadt sollten<br />

menschenwürdig und sozial gerecht<br />

sein! Also senkte er die Anzahl der<br />

Stockwerke bei seinen Gebäuden von<br />

sechs auf drei bis vier und plante sie<br />

vermehrt mit Grünflächen – geschützt<br />

im Hinterhof, aber offen zugänglich.<br />

„Er erschuf ein neues Konzept“,<br />

sagt der Diplom-Ingenieur Roger Popp,<br />

der sich seit einigen Jahren mit Schumachers<br />

Werken beschäftigt. „Grünflächen<br />

waren von großer Bedeutung<br />

und standen nicht irgendwo – sie hatten<br />

eine Funktion.“ Auf nur 50 Metern<br />

Breite, aber dafür 1,5 Kilometern Länge<br />

hielten die Grünstreifen in Dulsberg<br />

gegenüberliegende Häuserreihen zusammen.<br />

Hinter ihnen lag die nächste<br />

Hauptstraße. „Die Strukturierung von<br />

Hauptstraße, Wohnblock, Grünzug,<br />

Wohnblock und nächster Hauptstraße<br />

war bis dato einmalig“, erzählt Popp<br />

weiter. Praktisches Wohnen wollte<br />

Schumacher mit Schönheit verbinden.<br />

Dazu zählten für ihn die ansprechende<br />

Gestaltung genauso wie vorteilhafte<br />

Lage und ein nicht zu langer Weg zur<br />

Arbeitsstätte für die Bewohner.<br />

Sein Gespür für Gerechtigkeit und<br />

Ungerechtigkeit entwickelte der 1869 in<br />

Bremen geborene Sohn eines Diplomaten<br />

schon in jungen Jahren. Seinen<br />

Vater sah er selten; er wuchs bei den<br />

neun Tanten auf. Die Finanzen der Familie<br />

waren miserabel. Aus der Geldnot<br />

heraus schrieb Fritz Schumacher in<br />

jungen Jahren Feuilletons, allerdings für<br />

die besten Zeitungen – das konnte er<br />

dank seines großen Kunstwissens. Er<br />

bewegte sich in höchsten Gesellschaftskreisen,<br />

obwohl er sich selbst zum<br />

ärmeren Teil der Gesellschaft zählen<br />

musste.<br />

Schumacher brach ein Mathematikstudium<br />

ab, begann ein zweites zum<br />

Diplom-Architekten in Berlin und arbeitete<br />

fortan in München und Leipzig.


Mit 32 wurde er Professor an der Universität<br />

in Dresden. In den sieben Lehrjahren<br />

dort erarbeitete er sich international<br />

einen Ruf als Reformer, sodass<br />

die Stadt Hamburg ihn für sich gewinnen<br />

wollte. Mit Erfolg: Drei Tage vor<br />

seinem 40. Geburtstag folgte er dem<br />

Ruf der Hansestadt.<br />

Eine Entscheidung mit Folgen für<br />

die Stadt: „Er war identitätsprägend für<br />

Hamburg, federführend im Siedlungsbau<br />

und zuständig für den Städtebau“,<br />

sagt Dirk Schubert, Vorsitzender der<br />

Fritz­Schumacher­Gesellschaft. „Schumacher<br />

versuchte, die dichten städtebaulichen<br />

Strukturen aufzulockern. Er<br />

wollte Licht, Luft und Sonne.“<br />

Und er wollte die heute charakteristischen<br />

roten Backsteinfassaden, um<br />

sich von der damals etablierten Bauweise<br />

mit verputzten Wänden abzugrenzen:<br />

„Die Architekten unter<br />

Schumachers Hand sollten bei der<br />

Häuserplanung den Klinker berück­<br />

David Altrath<br />

wurde 1995 in Datteln geboren und<br />

lebt heute in Hamburg. Er hat Visuelle<br />

Kommunikation mit dem Schwerpunkt<br />

Fotografie an der Merz Akademie – Hochschule<br />

für Gestaltung, Kunst und Medien in<br />

Stuttgart studiert. Seit 2014 ist er als freier<br />

Fotograf mit dem Schwerpunkt Architektur,<br />

Reportage und Landschaft tätig.<br />

Außerdem arbeitet er als Bildredakteur.<br />

Mehr Infos: www.davidaltrath.com<br />

sichtigen. So entstand der Titel ‚Das<br />

rote Hamburg‘“, erklärt der Architekt<br />

und Soziologe Schubert.<br />

Fritz Schumacher realisierte mehr<br />

als 60.000 Wohnungen in Hamburg, allein<br />

auf dem Dulsberg entstand auf<br />

900.000 Quadratmetern neuer Wohnraum<br />

für tausende Hamburger. All<br />

seine Gebäudepläne passten sich dabei<br />

stets den Bedürfnissen der Menschen<br />

an. 1933 dann der Bruch: Schumacher<br />

wurde in den vorzeitigen Ruhestand<br />

versetzt – nach 24 Jahren Amtszeit.<br />

Laut Fritz­Schumacher­Gesellschaft<br />

wohl wegen seiner „inneren Distanz<br />

zum Nationalsozialismus“.<br />

Seinem Arbeitseifer setzte das aber<br />

kein Ende: Er schrieb zwölf Bücher<br />

über seine Erlebnisse, Reisen und architektonischen<br />

Eindrücke. Schweigen fiel<br />

ihm schwer: Nach Ende des Zweiten<br />

Weltkriegs hielt er im Hamburger Rathaus<br />

eine vielbeachtete Rede zum Wiederaufbau<br />

der Stadt – und prägte damit<br />

wieder einmal das Stadtbild mit. •<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

40


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Lebenslinien<br />

„Schumacher<br />

wollte Licht, Luft<br />

und Sonne.“<br />

DIRK SCHUBERT, FRITZ-SCHUMACHER-GESELLSCHAFT<br />

Veranstaltungen<br />

im <strong>November</strong><br />

und Dezember<br />

Mittwoch, 13.11.<strong>2019</strong>, 19 Uhr<br />

Neue Literatur im alten Gewölbe –<br />

Lesung mit Susanne Neuffer<br />

Donnerstag, 14.11.<strong>2019</strong>, 18 Uhr<br />

Verleihung des 11. Holger-Cassens-<br />

Preises<br />

In Kooperation mit der Mara und<br />

Holger Cassens-Stiftung<br />

Dienstag, 19.11.<strong>2019</strong>, 18:30 Uhr<br />

Jugendhilfe sozialräumlich denken.<br />

Vortrag und Diskussion mit Falko<br />

Droßmann und Vertretern der<br />

Bürgerschaftsfraktionen<br />

Eine Veranstaltung des Arbeitskreises<br />

Kinder, Jugend und Bildung<br />

Montag, 25.11.<strong>2019</strong>, 18 Uhr<br />

Die ostdeutsche Erfahrung (1989 –<br />

<strong>2019</strong>) – Eine Bestandsaufnahme<br />

Festveranstaltung zum 254. Gründungstag<br />

der Patriotischen Gesellschaft<br />

mit Prof. Dr. Wolfgang Engler<br />

Montag, 02.12.<strong>2019</strong>, 18 Uhr<br />

Let it be democracy –<br />

Impuls & Dialog<br />

Eine Veranstaltung des Arbeitskreises<br />

Interkulturelles Leben in Kooperation<br />

mit der Initiative wirsprechenfotografisch<br />

Eintritt frei zu allen Veranstaltungen,<br />

Anmeldung erbeten:<br />

www.patriotische-gesellschaft.de<br />

Patriotische Gesellschaft von 1765<br />

Trostbrücke 4-6, 20457 Hamburg<br />

Im Hauptgebäude der Hochschule für bildende Künste befindet sich auch ihre Bibliothek<br />

(links). Sie beherbergt Bücher der Gegenwartskunst ab dem 20. Jahrhundert. Oben: Das<br />

Treppenhaus der Handwerkskammer liegt im Innungsflügel des 1912 erbauten Gewerbehauses.<br />

Die Räume sind weitgehend original erhalten. Der Hörsaal im Bernhard-Nocht-<br />

Institut für Tropenmedizin entstand, wie der gesamte Klinkerbau, zwischen 1910 und 1914.<br />

41<br />

Foto: Karin Desmarowitz


War lange als kaufmännischer<br />

Direktor an den Theatern Kampnagel<br />

und Kiel beschäftigt: Jörn Sturm.<br />

„Meine Tür steht<br />

immer offen“<br />

Seit Anfang Oktober ist Jörn Sturm neuer Geschäftsführer von Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />

TEXT: ANNETTE WOYWODE<br />

FOTO: DMITRIJ LELTSCHUK


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> intern<br />

ENGAGIEREN<br />

TAufEN<br />

SINGEN<br />

„Erst mal will<br />

ich ganz<br />

viel zuhören.“<br />

JÖRN STURM<br />

Natürlich waren wir total<br />

neugierig: Wie mag er wohl<br />

sein, unser neuer Geschäftsführer?<br />

Klar kannten wir<br />

den Lebenslauf von Jörn Sturm. Der<br />

schien schon mal gut zu uns zu passen.<br />

Denn der 53-Jährige hat beruflich und<br />

privat eine Menge geleistet und bewegt,<br />

wovon Hinz&<strong>Kunzt</strong> profitieren kann.<br />

Vor allem seine vielen Jahre in der Werbung,<br />

am Kampnagel Theater und am<br />

Theater Kiel klangen spannend. Dort<br />

war Jörn – im Gegensatz zu unserem<br />

Ex-Geschäftsführer Jens Ade – nicht<br />

auf der kreativen Seite beschäftigt, sondern<br />

als kaufmännischer Direktor. Mit<br />

Zahlen kann er also umgehen. Und mit<br />

Menschen in einem kreativen und<br />

künstlerischen Umfeld, die ja oft – sagen<br />

wir – eigen sind. Damit hatte er nie<br />

Probleme, erzählt er. „Auf Kampnagel<br />

wurden Dinge immer in großer Runde<br />

besprochen und diskutiert. Die Meinung<br />

der Mitarbeiter war sehr wichtig.“<br />

Eine Unternehmenskultur also, die sich<br />

mit der unsrigen deckt.<br />

Privat ist Jörn Sturm seit Langem<br />

ehrenamtlich beim FC St. Pauli im<br />

Amateurvorstand engagiert. Sportlich<br />

gehört er dem 2. Herren-Senioren-Fußballteam<br />

an, das ihm das Kapitänsamt<br />

anvertraut. Wer den Kiezclub kennt,<br />

der weiß, dass auch dort Menschen zusammenkommen,<br />

die mitreden wollen<br />

und alles kritisch hinterfragen. Die Meinungen<br />

über Jörn Sturm gehen offenbar<br />

trotzdem nicht sehr weit auseinander:<br />

Sehr humorvoll und unprätentiös<br />

sei unser neuer Chef, verrieten uns<br />

43<br />

gleich mehrere, die es wissen müssen.<br />

Er hat trotzdem klare Ziele, führt Diskussionen<br />

in einer ruhigen und sachlichen<br />

Art, er bringt die Ideen, die er<br />

hat, auf die Straße, ist kein Träumer,<br />

sondern einer, der macht und machen<br />

lässt. Viele herzliche Komplimente sind<br />

über Jörn Sturm zu hören. Wir haben<br />

also anscheinend einen guten Fang gemacht.<br />

Und freuen uns riesig.<br />

Auch Jörn hat sich auf Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

gefreut: „Nach zehn Jahren am Theater<br />

war ich auf der Suche nach einem<br />

Job, bei dem man sich mehr in soziale<br />

Themen einbringen kann“, sagt er.<br />

Dass Hinz&<strong>Kunzt</strong> mit dem Magazin<br />

gleichzeitig ein kreatives Produkt anbietet,<br />

bildet für ihn dabei die ideale<br />

Mischung.<br />

Mit Obdachlosigkeit hatte der gelernte<br />

Metallflugzeugbauer bisher zwar<br />

nicht zu tun. Berührungsängste mit unseren<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufern hat er<br />

trotzdem nicht. „Meine Tür steht immer<br />

offen“, sagt Jörn, dessen Büro direkt<br />

an den Vertriebsraum grenzt – zu<br />

verstehen als klares Signal an die<br />

Hinz&Künztler, sich jederzeit an ihren<br />

neuen Geschäftsführer wenden zu können.<br />

Der Kontakt auf Augenhöhe<br />

ist ihm wichtig, sagt er. Und ganz neu<br />

ist zumindest ein Problem vieler<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer auch für Jörn<br />

Sturm nicht: Drogenabhängigkeit.<br />

„Das habe ich im engen Freundeskreis<br />

erlebt“, erzählt er. Dadurch sei ihm klar<br />

geworden, dass man gegenüber Suchtkranken<br />

„ein anderes Vertrauen, Geduld<br />

haben und auch mal fünfe gerade<br />

sein lassen sollte“, sagt Jörn, „aber auch<br />

ganz klare rote Linien und Grenzen setzen<br />

muss.“<br />

Inzwischen fühlt sich Jörn bei uns<br />

„toll aufgenommen“. „Ganz viel zuhören“<br />

will er erst mal. Und dann Ziele abstecken,<br />

„um Hinz&<strong>Kunzt</strong> weiterzuentwickeln<br />

und um den immerwährenden<br />

Veränderungsprozess mit euch zusammen<br />

zu meistern“. Wir sind bereit. •<br />

Kontakt: annette.woywode@hinzundkunzt.de<br />

PflEGEN<br />

TRAuERN<br />

INfoRmIEREN<br />

HEIRATEN<br />

Das leben<br />

steckt voller<br />

fragen.<br />

Wie können wir Ihnen helfen?<br />

Mieter helfen Mietern – Anzeige 44 x 62 mm<br />

Hinz&KunstV2.indd 1 08.05.15 11:1<br />

Mieter helfen Mietern – Anzeige 44 x 62 mm<br />

Gute Beratung<br />

ist die halbe Miete<br />

Unsere Juristen beraten Sie<br />

professionell und engagiert<br />

Gute Gute Beratung<br />

halbe Miete<br />

ist die halbe Miete<br />

Mieter<br />

Mieter<br />

Mieter helfen<br />

helfen<br />

helfen Mietern<br />

Mietern<br />

Mietern<br />

Hamburger<br />

Hamburger<br />

Hamburger Unsere Juristen<br />

Mieterverein<br />

Mieterverein<br />

Mieterverein beraten Sie<br />

e.<br />

e.<br />

e.<br />

V.<br />

V.<br />

V.<br />

professionell und engagiert<br />

www.mhmhamburg.de<br />

www.mhmhamburg.de<br />

www.mhmhamburg.de<br />

040 / 431 39 40<br />

© Madle | pix & pinsel . madle@pixundpinsel.de . +49 (0)4107-3<br />

Madle pix pinsel madle@pixundpinsel.de +49 (0)4107-3<br />

© Madle | pix & pinsel . madle@pixundpinsel.de 110<br />

. +49 (0)4107-3<br />

110<br />

mhm-anzeige_44x62_guteBeratung.indd 110<br />

Mieter helfen Mietern01.06.2015 1<br />

14:25:59<br />

mhm-anzeige_44x62_guteBeratung.indd<br />

mhm-anzeige_44x62_guteBeratung.indd Hamburger Mieterverein 01.06.2015 01.06.2015 1e. V. 14:25:59<br />

14:25:59<br />

Hamburger Mieterverein e. V.<br />

www.mhmhamburg.de<br />

Freilichtmuseum am Kiekeberg.<br />

040 / 431 39 40<br />

www.kiekeberg-museum.de<br />

Madle pix pinsel madle@pixundpinsel.de +49 (0)4107-3<br />

Madle<br />

Madle pix<br />

pix pinsel<br />

pinsel madle@pixundpinsel.de<br />

madle@pixundpinsel.de +49 (0)4107-3<br />

110<br />

110<br />

+49 (0)4107-3<br />

© Madle | pix & pinsel . madle@pixundpinsel.de . +49 (0)4107-3<br />

110<br />

mhm-anzeige_44x62_guteBeratung.indd<br />

mhm-anzeige_44x62_guteBeratung.indd 110<br />

01.06.2015<br />

01.06.2015 14:25:59<br />

14:25:59<br />

mhm-anzeige_44x62_guteBeratung.indd 01.06.2015 14:25:59<br />

mhm-anzeige_44x62_guteBeratung.indd 01.06.2015 1 14:25:59<br />

29.11.–1.12.<br />

und<br />

13.12.–15.12.<br />

Weihnachtsmärkte<br />

der Kunsthandwerker<br />

über 140 Kunsthandwerker<br />

handgearbeitete Unikate<br />

viele Vorführungen<br />

in Hamburgs Süden,<br />

direkt an der A7, HH-Marmstorf<br />

kostenfreie Parkplätze


Freunde<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>321</strong>/NOVEMBER <strong>2019</strong><br />

Hoffentlich kommt kein Elefant<br />

vorbei! Hauke Neumann in<br />

seinem Reich in der Neustadt.<br />

Ahoi Marie!<br />

Bärtige Seeleute und dicke Fische, Meerjungfrauen und große Pötte: Beim Hamburger Label<br />

Ahoi Marie kommt alles aufs Porzellan, was mit Seefahrerromantik und einer Handbreit Wasser unterm<br />

Kiel zu tun hat. Nun ist der zweite Becher für unsere Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Kollektion da!<br />

TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Geschäfte werden<br />

per Handschlag<br />

geschlossen.<br />

44<br />

Im Laden von Hauke Neumann in<br />

der Neustadt steht zwischen Geschirr<br />

mit Ankern und Möwen,<br />

Meerjungfrauen und Elbphilharmonie<br />

versteckt ein altes Foto. Es zeigt einen<br />

feschen jungen Mann in voller Fischermontur,<br />

dem er verflixt ähnlich sieht.<br />

„Das ist mein Opa“, sagt Hauke stolz,<br />

„der war Kapitän und Fischer auf der<br />

Nordsee.“ Haukes Onkel ging sogar als<br />

Seemann auf Forschungsschiffen auf<br />

große Fahrt um die Welt.<br />

So viel Fernweh ist Hauke fremd.<br />

Der Cuxhavener schaffte es zum Studium<br />

nur bis nach Hamburg. Dort blieb<br />

er hängen, mal in Ottensen, mal auf St.<br />

Pauli. „Die Musikszene hatte mich<br />

mehr am Wickel als die Seefahrt“, erzählt<br />

der 42-Jährige. Als Student der<br />

Elektrotechnik und angehender Wirtschaftsingenieur<br />

druckte er mit Freunden<br />

nebenbei T-Shirts in limitierter<br />

Edition. „Das war die wilde Punkrock-<br />

Zeit“, erinnert er sich grinsend. „Ging<br />

so mittel, nur als Hobby ist so ein Geschäft<br />

schwierig.“<br />

Schließlich verabschiedete er sich<br />

vom T-Shirt-Business und stellte auf<br />

hochwertiges Porzellan um. „Maritim<br />

fand ich spannend“, erzählt er. „Damals<br />

waren wir Pioniere, da gab’s nur<br />

die Landungsbrücken auf Touristenbechern<br />

– heute wäre es schwieriger, ins<br />

Geschäft zu kommen.“ Seit 2010 ist


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Hauke voll dabei. Siebdruck-Technik –<br />

damals bei den T-Shirts erprobt – findet<br />

nun auf Bechern, Tellern oder<br />

Pommesschalen Anwendung. 18 unterschiedliche<br />

Designs gibt es bei Ahoi<br />

Marie, die Teile sind spülmaschinenfest<br />

und alltagstauglich.<br />

Mit fünf Künstlerinnen und Künstlern<br />

arbeitet er zusammen, alles Weggefährten<br />

aus unterschiedlichen Lebensstationen.<br />

Und: Ist er eine treue Seele?<br />

„Wahrscheinlich bin ich eher bequem“,<br />

findet er mit typisch norddeutschem<br />

Understatement. Ganz hanseatisch<br />

gibt’s bei Ahoi Marie keine schriftlichen<br />

Verträge, Geschäfte werden per Handschlag<br />

geschlossen, alle verdienen am<br />

Verkauf. Der läuft gut, das Label ist<br />

mittlerweile in zahlreichen Läden in<br />

Norddeutschland vertreten.<br />

Maritim bedeutet für Hauke nicht<br />

Urlaub und Strand, sondern vor allem<br />

Hamburg: „Es ist eine Einstellung, ein<br />

Gefühl.“ Das prima mit Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

zusammenpasst – und so gibt es seit<br />

Weihnachten 2017 einen Becher von<br />

Ahoi Marie in unserem Shop. Darauf<br />

ein Hinz&<strong>Kunzt</strong> lesender Fisch, entworfen<br />

von Jan-Hendrik Holst. Jetzt<br />

kommt ein zweiter Becher in einem<br />

anderen Look dazu, das Design ist von<br />

Freunde<br />

Ellen Beckel – beide gehören zum<br />

Ahoi-Marie-Team.<br />

Was ist das eigentlich für ein Name?<br />

Da grinst Hauke. Vom Balkon seiner<br />

früheren Wohnung in Ottensen<br />

konnte er immer den tiefen Typhon-<br />

Bass des Kreuzfahrtschiffs Queen Mary<br />

hören. Dann war eben ein standesgemäßer<br />

Gruß fällig: „Ahoi Marie!“ Das<br />

gefällt auch Haukes fünfjähriger Tochter,<br />

die davon überzeugt ist, ihr Vater<br />

sei Kapitän. Denn Hauke hat einen<br />

Bootsführerschein, und sie freut sich<br />

schon darauf, dass er sie und ihre<br />

Freundinnen über Hamburgs Kanäle<br />

schippert, „immerhin.“ Das weite Meer<br />

lockt ihn nicht. Hamburg genügt. •<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Ahoi Marie gibt es im Bootshaus,<br />

Thielbek 3, geöffnet Do und<br />

Fr, 11–19 Uhr, Sa, 11–17 Uhr,<br />

www.ahoi-marie.com.<br />

Im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />

Shop: Becher<br />

„Fischkopp“ und<br />

neu Becher „Ahoi“,<br />

jeweils 14,90 Euro<br />

JA,<br />

ICH WERDE MITGLIED<br />

IM HINZ&KUNZT-<br />

FREUNDESKREIS.<br />

Damit unterstütze ich die<br />

Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />

Meine Jahresspende beträgt:<br />

60 Euro (Mindestbeitrag für<br />

Schüler/Studenten/Senioren)<br />

100 Euro<br />

Euro<br />

Datum, Unterschrift<br />

Ich möchte eine Bestätigung<br />

für meine Jahresspende erhalten.<br />

(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />

Meine Adresse:<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Nr.<br />

PLZ, Ort<br />

Telefon<br />

E-Mail<br />

Einzugsermächtigung:<br />

Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />

Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />

Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />

IBAN<br />

Wir danken allen, die im Oktober an uns<br />

gespendet haben, sowie allen Mitgliedern<br />

im Freundeskreis von Hinz&<strong>Kunzt</strong> für die<br />

Unterstützung unserer Arbeit!<br />

DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />

• IPHH • wk it services<br />

• Produktionsbüro<br />

Romey von Malottky GmbH<br />

• Hamburger Tafel<br />

• Axel Ruepp Rätselservice<br />

• Hamburger Kunsthalle<br />

Dankeschön<br />

• bildarchiv-hamburg.de<br />

• Andrea Kampmeier und Jörg Meyer<br />

sowie ihren Gästen<br />

für die Hochzeitskollekte<br />

NEUE FREUNDE:<br />

• Heidi Adamczek • Dirk Bade • Lena<br />

Brügmann-Koegst • Marga Flader • Karin<br />

Grünbaum • Anna Hahne • Birgit und Frank<br />

Kohl-Boas • Elke Richter • Ulla-Ruth In der<br />

Stroth • Olaf Schön • Morten Simon<br />

• Cornelia Weißleder • Alp Yilmaz<br />

• Gerda Zeller<br />

BIC<br />

Bankinstitut<br />

Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />

der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />

Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />

Ja<br />

Nein<br />

Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />

Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />

Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />

Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />

genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />

jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />

mehr von uns bekommen möchten, können Sie<br />

jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer personenbezogenen<br />

Daten widersprechen.<br />

Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />

einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />

Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis<br />

Altstädter Twiete 1-5, 20095 Hamburg<br />

Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />

45<br />

HK <strong>321</strong>


Buh&Beifall<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>321</strong>/NOVEMBER <strong>2019</strong><br />

Was unsere Leser meinen<br />

„Es war toll. Niemanden hat es interessiert, wer man ist.“<br />

„Sehr lobenswert“<br />

H&K online, Tagesaufenthaltsstätte in Altona<br />

Toll – eine Tagesaufenthaltsstätte, die<br />

nicht komplett abgelegen ist. Das finde<br />

ich sehr lobenswert!<br />

UTA NICKELS VIA FACEBOOK<br />

„Anpacken – machen“<br />

H&K online, Hanseatic Help: Vor vier Jahren<br />

Kleiderkammer für Geflüchtete eröffnet<br />

Es war toll. Niemanden hat es interes-<br />

siert, wer/was man ist. Anpacken –<br />

machen. Noch nie in solch kurzer Zeit<br />

so viele tolle Menschen kennengelernt.<br />

HINZ&KÜNZTLER GERRIT KEITEL VIA FACEBOOK<br />

Arroganz des Kunstmarktes<br />

H&K 319, Zwischen Reaktion und Rebellion<br />

Polke erklärt „einen brillanten Dilettantismus“<br />

„zur Kunst“, und Gerhard<br />

Richter malt „völlig banale“ Bilder ab.<br />

Und dafür soll ich 12 Euro zahlen?<br />

Früher förderten Kuratoren talentierte<br />

einheimische Künstler und machten<br />

diese mit internationalen Genies bekannt.<br />

Heute huldigen alle Beteiligten<br />

der Arroganz des Kunstmarktes, der<br />

mit seinem Geld wohl jeden Scheiß zur<br />

Kunst erklären kann. DR. ROMAN LANDAU<br />

Leserbriefe geben die Meinung des Verfassers<br />

wieder, nicht die der Redaktion. Wir behalten<br />

uns vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />

Wir trauern um<br />

Valentin Sobuleac<br />

24. Dezember 1973 – 5. Oktober <strong>2019</strong><br />

Valentin hat unser Magazin in Mümmelmannsberg<br />

verkauft. Er wurde frühmorgens tot auf seinem<br />

Schlafplatz gefunden.<br />

Die Verkäufer und das Team von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

Wir trauern um<br />

Janusz Bogdan Zdunczyk<br />

7. <strong>November</strong> 1972 – 23. August <strong>2019</strong><br />

Janusz hat seit März in Norderstedt<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> verkauft. Dort wurde er tot<br />

in seinem Zelt gefunden.<br />

Die Verkäufer und das Team von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

Wir trauern um<br />

Hans-Peter Ritter<br />

3. August 1960 – 7. Oktober <strong>2019</strong><br />

Hans-Peter kam 1996 zu uns. Schon seit<br />

einiger Zeit hat er keine Magazine mehr verkauft.<br />

Nach langer Krankheit ist er nun verstorben.<br />

Die Verkäufer und das Team von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />

DER ETWAS<br />

ANDERE<br />

STADTRUNDGANG<br />

Tschüss Weidenallee!<br />

trostwerk<br />

andere bestattungen<br />

Osterstraße 149<br />

Hamburg-Eimsbüttel<br />

040 43 27 44 11<br />

Wollen Sie Hamburgs City einmal mit anderen Augen sehen?<br />

Abseits der teuren Fassaden zeigt Hinz&<strong>Kunzt</strong> Orte, die in<br />

keinem Reiseführer stehen: Bahnhofs mission statt Rathausmarkt,<br />

Drogenberatungsstelle statt Alsterpavillon, Tages aufent halts stätte<br />

statt Einkaufspassage.<br />

Anmeldung: bequem online buchen unter<br />

www.hinzundkunzt.de oder Telefon 040/32 10 83 11<br />

Kostenbeitrag: 10/5 Euro<br />

Nächste Termine: 10.11. + 24.11.<strong>2019</strong>, 15 Uhr<br />

Mieterhöhungsmigräne?<br />

Unser Rat zählt.<br />

Beim Strohhause 20<br />

mieterverein-hamburg.de<br />

im Deutschen Mieterbund<br />

879 79-0<br />

Jetzt<br />

Mitglied<br />

werden<br />

20079 Hamburg


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Hitler-Attentat: Schauspieler Jens Harzer liest aus den Verhörprotokollen von Georg Elser (S. 48).<br />

Gute Frage: Wir erklären, was Obdachlose tun, wenn ihre Haustiere krank sind (S. 56).<br />

Nicht mehr obdachlos: Hinz&Künzler Klaus hat wieder die Kurve gekriegt (S. 58).<br />

„Im Schlaf ist man schutzlos“, weiß Michael.<br />

Besonders als Obdachloser. Der 52-Jährige ist<br />

einer von fünf Hinz&Künztlern, die in einer<br />

Ausstellung im Museum der Arbeit das Leben<br />

auf der Straße erlebbar machen (S. 53)<br />

FOTO: ANDREAS HORNOFF


Harzer liest Elser<br />

Vor 80 Jahren, am 8. <strong>November</strong> 1939, zündete der Schreiner Georg Elser im Bürgerbräuhaus<br />

in München eine Bombe. Und hätte damit fast Adolf Hitler getötet. Seit zehn Jahren<br />

erinnern Schauspieler Jens Harzer und Musiker Helmut Butzmann an den Widerstandskämpfer.<br />

INTERVIEW: BIRGIT MÜLLER<br />

FOTOS: ROMAN DACHSEL<br />

48


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Claus Schenk Graf von<br />

Stauffenberg, der am 20. Juli 1944 ein<br />

Attentat auf Hitler verübte, kennt jedes Kind.<br />

Georg Elser hat schon am 8. <strong>November</strong> 1939<br />

eine Bombe im Bürgerbräukeller in München<br />

gezündet und hätte es fast geschafft, Hitler<br />

und seine Führungsriege zu beseitigen – hätte<br />

Hitler nicht seine Rede früher als geplant<br />

beendet. Elser, der kurz vor Kriegsende<br />

hingerichtet wurde, ist nach wie vor recht<br />

unbekannt. Herr Butzmann, Sie setzen sich<br />

seit zehn Jahren dafür ein, das zu ändern.<br />

Warum?<br />

HELMUT BUTZMANN: Der Unterschied zwischen<br />

Elser und Stauffenberg hat mich<br />

damals interessiert. Ich wusste ja, dass<br />

Stauffenberg durch seine Familie eine<br />

große Lobby hatte und sehr geehrt wurde.<br />

Elser hat eine ähnliche Tat fünf Jahre<br />

früher vollbracht, bevor der Krieg<br />

Deutschland zerstört hatte, von ihm<br />

hat kein Mensch gesprochen. Ich habe<br />

die verrücktesten Antworten bekommen,<br />

wenn ich gefragt habe: „Kennst<br />

du Georg Elser?“ – „ Ja, vom Fernsehen<br />

…“ Sie meinten den Moderator Frank<br />

Elstner.<br />

Was hat Sie an Elser so fasziniert?<br />

BUTZMANN: Er war ein einfacher Handwerker,<br />

er hat immer KPD gewählt,<br />

war aber nie KPD-Mitglied, was sehr<br />

wichtig ist. Es gibt niemanden, der ihn<br />

ideologisch für sich reklamieren kann.<br />

Er ist ein aufrechter Mensch, der schon<br />

1938 gesehen hat: Da kommt ein Unglück<br />

auf uns zu.<br />

Ein aufrechter Mensch, der früh<br />

das Unheil hat kommen sehen –<br />

das fasziniert Helmut Butzmann (rechts)<br />

an Georg Elser. Jens Harzer (links)<br />

beeindrucken die klaren Worte,<br />

mit denen Elser seine Tat erklärt –<br />

im Verhör durch die Gestapo.<br />

Auf welche speziellen Dinge hat er denn<br />

hingewiesen?<br />

BUTZMANN: Natürlich hat er sich mit seiner<br />

Meinung vor dem Attentat zurückgehalten.<br />

Aber in den Verhörprotokollen<br />

weist er auf soziale Ungerechtigkeiten<br />

hin, dass ein Arbeiter unter den Nazis<br />

viel weniger verdient und mehr Steuern<br />

abgeben muss. Er hat schon 1936 erkannt,<br />

dass ein Krieg vorbereitet wird.<br />

Er arbeitete damals in einem Armaturenwerk,<br />

und da gab es eine geheime<br />

Sonderabteilung, die in großer Menge<br />

Zündkapseln hergestellt und irgendwohin<br />

geliefert hat. Er wusste nicht, wohin,<br />

aber er wusste: Hier passiert etwas.<br />

49


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>321</strong>/NOVEMBER <strong>2019</strong><br />

Vor zehn Jahren schrieb Helmut<br />

Butzmann (rechts) ein Manuskript für<br />

einen Abend zu Georg Elser (Mitte).<br />

Mit dem Schauspieler Jens Harzer<br />

fand er den passenden Mitstreiter.<br />

Er hat auch über die Juden gesprochen …<br />

BUTZMANN: Einer seiner Freunde hat berichtet,<br />

er habe gesagt: „Ich verstehe<br />

gar nicht, warum man die Juden so<br />

plagt.“ Das war 1939. Es gab schon die<br />

Nürnberger Gesetze, und 1939 haben<br />

die Deutschen in Polen schon viele Verbrechen<br />

begangen, hauptsächlich an<br />

den Juden. Von Stauffenberg gibt es ja<br />

aus dem Polenkrieg einen schrecklichen<br />

Satz: „Die Bevölkerung ist ein unglaublicher<br />

Pöbel, sehr viele Juden und sehr<br />

viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich<br />

nur unter der Knute wohlfühlt.“ Mir<br />

wird daran klar, wie es die Nazis verstanden<br />

haben, andere Menschen für<br />

nicht lebenswert zu erklären. Diese<br />

Haltung und das Vokabular haben die<br />

Nazis peu à peu bis in die höchsten<br />

Kreise etabliert. Das ist schrecklich.<br />

Sie haben das Manuskript vor zehn Jahren<br />

geschrieben und den Jens Harzer gewonnen.<br />

BUTZMANN: Ich fand, dass Jens als Schauspieler<br />

und als Person eine große<br />

Glaubwürdigkeit hat. Ich bin sehr froh,<br />

dass er schon all die Jahre dabei ist, weil<br />

alles, was Jens aus dem Verhörprotokoll<br />

rausholt, überzeugend ist.<br />

Was bedeutet Ihnen Georg Elser,<br />

Jens Harzer?<br />

JENS HARZER: Der Georg-Elser-Abend gehört<br />

für mich mittlerweile schon zu einer<br />

Art <strong>November</strong>ritual, zu einem Gedenken,<br />

das man als Deutscher um<br />

diese Zeit ohnehin in sich mitträgt. Ich<br />

kannte Georg Elser schon vorher ein<br />

wenig, weil ich lange in München gelebt<br />

habe, nur zwei Straßen weiter von<br />

der Türkenstraße, wo Elser kurz vor<br />

dem Attentat gewohnt hat.<br />

In den Verhörprotokollen berichtet er minutiös<br />

von den Vorbereitungen zum Attentat. Aber den<br />

Menschen Georg Elser kann ich mir schlecht<br />

vorstellen. Sie mussten ihn sich erarbeiten?<br />

HARZER: Nein, es ist ja weder ein Spiel<br />

noch ein Hineinschlüpfen in eine Rolle.<br />

Ich lese aus den Verhörprotokollen. Das<br />

heißt: Wir hören den Wortlaut von<br />

Georg Elser, der aber von der Gestapo<br />

aufgezeichnet worden ist. Auch das<br />

trägt dazu bei, dass ich den Text mit<br />

einer fühlenden Distanz vortrage.<br />

50<br />

Haben Sie eine Vorstellung, in welcher<br />

Verfassung Georg Elser beim Verhör war?<br />

BUTZMANN: Was er über seinen Glauben<br />

und über Gott sagt, das zeigt ihn mir als<br />

einen Menschen, der sehr nachgedacht<br />

hat, auch über das Thema Tyrannenmord.<br />

Er wird ja sehr angegriffen, weil<br />

es Tote gegeben hat, darunter eine<br />

Kellnerin, die mit Nazis gar nichts am<br />

Hut hatte.<br />

Als er verhört wurde, war er ja schon<br />

mehrfach gefoltert worden. Trotzdem<br />

bewahrt Georg Elser im Verhör Haltung.<br />

HARZER: Seine Worte sind für mich von<br />

einer sehr einnehmenden Klarsicht auf<br />

die Dinge. Er schreibt es nicht in sein<br />

Tagebuch oder an seine geliebte Frau.<br />

Sondern er sagt es danach, im Verhör.<br />

Er hat vorher mit niemandem darüber<br />

geredet. Wenn man ihn spielen müsste,<br />

ist es eine Figur, die eher nach innen zu<br />

sich selbst als nach außen spricht.<br />

Aber man muss als Schauspieler bei<br />

einer solchen Lesung aufpassen, aus ihm<br />

keine Figur werden zu lassen, gar eine<br />

literarische. Er hat ja womöglich Süddeutsch<br />

gesprochen. Wer weiß, was sein<br />

Naturell war?


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Stauffenberg kommt bei Ihnen auch immer<br />

wieder vor. Ihnen war offensichtlich wichtig<br />

zu zeigen, dass Stauffenberg und Elser einen<br />

anderen politischen Hintergrund hatten.<br />

BUTZMANN: Stauffenberg war ein mutiger<br />

Mann, der sein Leben eingesetzt hat. Er<br />

war durch seine Herkunft natürlich anders<br />

geprägt als Georg Elser, er war mit<br />

Leib und Seele Militär, ein Beruf, der in<br />

seiner Familie Tradition hatte. Als er<br />

1942 den Entschluss zum Attentat fasste,<br />

hat er deutlich gesagt: Die (Nazis, Anmerkung<br />

der Redaktion) müssen weg! Es<br />

war in der Widerstandsgruppe alles geregelt,<br />

wer nach dem Attentat Minister<br />

und wer Staatspräsident wird.<br />

Und Georg Elser?<br />

BUTZMANN: Elser wollte keine Macht ergreifen,<br />

er hatte keinen Plan für die Zukunft.<br />

Er wollte nur diese Bande beseitigen,<br />

die er als Bedrohung gesehen hat.<br />

Sie sprechen an dem Abend davon,<br />

dass man Elsers Ruf beschädigt habe.<br />

Wer hat das betrieben?<br />

BUTZMANN: Das war unter anderen auch<br />

Pfarrer Martin Niemöller, der wie Elser<br />

in Dachau gefangen war. Er hat nie mit<br />

Elser darüber gesprochen, aber trotzdem<br />

nach dem Krieg behauptet, Elser<br />

wäre eigentlich SS-Scharführer und das<br />

Attentat wäre mit den Nazis abgesprochen<br />

gewesen. Bis man dann 1964 das<br />

Verhörprotokoll gefunden und Elsers<br />

Leben erforscht hat: Elser hat nie eine<br />

Uniform getragen, den Hitlergruß hat<br />

er immer verweigert.<br />

Dieses Mal findet der Georg-Elser-Abend erstmalig<br />

auf einer großen Bühne statt.<br />

BUTZMANN: Selbst wenn wir das Thalia<br />

Theater nur halb voll kriegen, ist es die<br />

größte Gedenkveranstaltung für Elser,<br />

die es bislang gegeben hat.<br />

Halb voll? Jetzt sind Sie, Jens Harzer,<br />

als Iffland-Ring-Träger doch sicher ein<br />

Publikumsmagnet.<br />

HARZER: Das können sich nur Journalisten<br />

so vorstellen, nein, nein. Glauben Sie<br />

mir, das macht nichts aus. Ich würde<br />

mich sehr wundern, wenn dadurch<br />

mehr Menschen kommen.<br />

Der Iffland-Ring wird ja seit 1815 vererbt:<br />

vom bedeutendsten Schauspieler seiner Zeit an<br />

den seiner Meinung nach bedeutendsten<br />

Schauspieler nach ihm. Ahnten Sie, dass Bruno<br />

Ganz Ihnen den Iffland-Ring vererben würde –<br />

oder haben Sie es sich sogar gewünscht?<br />

HARZER: Nein, um Himmels Willen, dann<br />

hätte ich ja denken müssen, dass Bruno<br />

Ganz stirbt – ein Kollege, den ich sehr<br />

geschätzt habe, mit dem ich zusammengearbeitet<br />

habe und der ja einer der<br />

ganz großen Schauspieler war. Deswegen<br />

ist das Wünschen hierbei völlig<br />

„Ich will immer<br />

tiefer werden<br />

mit der Schauspielerei.“<br />

JENS HARZER<br />

abstrus. Es geht ja mit dem Tod einher<br />

– dem Tod eines Menschen, der viel zu<br />

früh gestorben ist.<br />

Verbinden Sie mit dem Ring einen Wunsch<br />

oder einen Auftrag?<br />

HARZER: Nein, als Schauspieler sollte man<br />

keinen Auftrag mit sich führen, außer:<br />

Ich will so weit wie möglich kommen,<br />

und das meine ich nicht karrieremäßig,<br />

sondern ich will immer tiefer werden<br />

mit der Schauspielerei. •<br />

Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de<br />

Allein gegen Hitler<br />

Lesung aus den Verhörprotokollen mit<br />

Jens Harzer. Helmut Butzmann: Bilder<br />

und Fakten, anschließend Konzert mit<br />

Frank Spilker (Die Sterne), Fr, 8.11.,<br />

20 Uhr, Thalia Theater, Alstertor 2,<br />

Eintritt: 8–41 Euro<br />

10.11.19 – Mojo Club<br />

SCARLXRD<br />

10.11.19 – Fabrik<br />

CHARLI XCX<br />

10.11.19 – Gruenspan<br />

BANKS<br />

12.11.19 – Große Freiheit 36<br />

WELSHLY ARMS<br />

13.11.19 – Stage Club<br />

LIVE ON MARS –<br />

A TRIBUTE TO DAVID BOWIE<br />

13.11.19 – Bahnhof Pauli<br />

TAL WILKENFELD<br />

14.11.19 – Mojo Club<br />

LAMB<br />

14.11.19 – Bahnhof Pauli<br />

MUSTASCH<br />

16.11.19 – Fabrik<br />

THE IRISH FOLK FESTIVAL<br />

17.11.19 – Große Freiheit 36<br />

ZEDD<br />

19.11.19 – Sporthalle<br />

ALTER BRIDGE<br />

24.11.19 – Markthalle<br />

BEAR'S DEN<br />

25.11.19 – Gruenspan<br />

VANESSA MAI<br />

26.11.19 – Laeiszhalle<br />

GIORA FEIDMAN SEXTETT<br />

26.11.19 – Gruenspan<br />

ANNA TERNHEIM<br />

27.11.19 – Uebel & Gefährlich<br />

WE ARE SCIENTISTS<br />

29.11.19 – Fabrik<br />

ADRIANA CALCANHOTTA<br />

30.11.19 – Mojo Club<br />

ELDER ISLAND<br />

03.12.19 – Docks<br />

MAX MUTZKE & MONOPUNK<br />

05.12.19 – Sporthalle<br />

ALLE FARBEN<br />

05.12.19 – Kulturkirche Altona<br />

NILS WÜLKER<br />

& ARNE JANSEN<br />

10.12.19 – Laeiszhalle<br />

PEE WEE ELLIS<br />

FEAT. CHINA MOSES<br />

AND IAN SHAW<br />

10.12.19 – Knust<br />

SONGS FROM ABOVE<br />

11.12.19 – Barclaycard Arena<br />

SASHA<br />

11.12.19 – Docks<br />

HOT CHIP<br />

12.12.19 – Uebel & Gefährlich<br />

BISHOP BRIGGS<br />

13.12.19 – Fabrik<br />

WLADIMIR KAMINER<br />

16.12.19 – Gruenspan<br />

SÓLSTAFIR<br />

17.12.19 – Uebel & Gefährlich<br />

ODEVILLE<br />

51<br />

TICKETS: →(0 40) 4 13 22 60 → KJ.DE


Kult<br />

Tipps für den<br />

Monat <strong>November</strong>:<br />

subjektiv und<br />

einladend<br />

Konzert<br />

Flinke Finger am Bass<br />

Dass Jazz nicht nur was für ältere Herren in Cordhosen sein muss, beweist<br />

Kinga Glyk. Vorbild der Musikerin ist Bass-Altmeister Jaco Pastorius.<br />

Es läuft bei Kinga Glyk: Mit gerade mal<br />

22 Jahren gilt die Bassistin aus Polen als<br />

das neue Jazz-Wunder. Schon mit zwölf<br />

Jahren stand sie mit Vater und Bruder<br />

auf der Bühne. Den Bass, Herzschlag<br />

jeder Band, wollte sie schon immer<br />

spielen, „für mich ist es das beste Instrument<br />

der Welt“. Ihr Durchbruch kam<br />

2017 mit einem Video ihrer Coverversion<br />

von Eric Claptons „Tears in<br />

Heaven“, Hunderttausende Male<br />

angeklickt von Menschen, die mit Jazz<br />

sonst nichts am Hut haben. Mittlerweile<br />

füllt Kinga Glyk Konzertsäle rund um<br />

52<br />

den Globus. Mit Blues, Funk, Soul<br />

und Jazz wird sie auf ihrer Tour<br />

auch das Hamburger Publikum zum<br />

Tanzen und Grooven bringen. •<br />

Fabrik, Barnerstraße 36,<br />

Do, 7.11., 20 Uhr, Eintritt 28 Euro,<br />

www.fabrik.de


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Mal kurz die<br />

Lücke im<br />

Fahrplan nutzen:<br />

Männer<br />

hängen<br />

nachts in der<br />

Hamburger<br />

U-Bahn<br />

Werbeplakate<br />

auf. Wie funktioniert<br />

das<br />

eigentlich bei<br />

durchgehendem<br />

Verkehr?<br />

Kurdisches Filmfestival<br />

Leben im Widerstand<br />

Aktueller denn je: Das 10. Kurdische<br />

Filmfest setzt sich mit Vertreibung,<br />

Krieg und Unterdrückung auseinander.<br />

Schwerpunkte sind der Kampf<br />

der Frauen und das Leben im<br />

Widerstand. Zahlreiche kurdische<br />

Kulturschaffende werden erwartet,<br />

Vorträge ergänzen das Programm. •<br />

Kurdisches Filmfestival, bis Mi, 6.11.,<br />

Spielorte: Zeise Kino, 3001 Kino,<br />

Studiokino, Gängeviertel und Rote Flora,<br />

www.hkff.de<br />

FOTOS: KINGA GLYK (S. 52), HOCHBAHN HAMBURG (OBEN), EDITION SALZGEBER<br />

Ausstellung<br />

Was passiert eigentlich nachts?<br />

„Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da“, heißt es in einem alten Gassenhauer.<br />

Aber wozu sonst? Die Ausstellung „Die Nacht. Alles außer Schlaf“ zeigt, was los<br />

ist, wenn die meisten von uns entspannt in den Kissen liegen sollten: Nachtarbeit<br />

und Nachtleben, Subkultur und Amüsement, Schlaflosigkeit und Schrecken.<br />

Dazu gehört in einer Großstadt aber auch die Obdachlosigkeit: Hinz&Künztler<br />

bringen in großformatigen Fotos und in Audios neugierigen Ausstellungsbesuchern<br />

den Alltag auf der Straße näher. •<br />

Museum der Arbeit, Wiesendamm 3, 30.10. bis 1.6.2020, Mo, 10–21 Uhr,<br />

Mi–Fr, 10–17 Uhr, Sa+So, 10–18 Uhr, Eintritt 8,50 Euro, ermäßigt 5 Euro,<br />

bis 18 Jahre Eintritt frei, www.shmh.de<br />

Film<br />

PJ Harvey vertont die Welt<br />

Was ist Inspiration? Im Film „A Dog called Money“ gibt die britische Musikerin<br />

PJ Harvey darauf eine sehr persönliche Antwort. Sie folgte ihrem Partner, dem<br />

preisgekrönten Fotojournalisten und Kameramann Seamus Murphy, bei seinen<br />

Reisen um die Welt – nach Afghanistan,<br />

in den Kosovo, in die USA<br />

nach Washington. Ihre Eindrücke<br />

und Begegnungen verarbeitete sie<br />

in Texten und Songs, Murphy<br />

begleitete den Prozess in Bildern.<br />

Daheim in England entstand<br />

schließlich der Film, der das Entstehen<br />

ihres Albums „The Hope Six<br />

Demolition Project“ als Gesamtkunstwerk<br />

zeigt. Eine einfühlsame<br />

Studie über Vertrauen und darüber,<br />

wie Kunst ohne Grenzen und als<br />

Gemeinschaftswerk entstehen kann.<br />

Nicht nur für Fans sehenswert. •<br />

Metropolis Kino, Kleine Theaterstraße<br />

10, Mi, 6.11., 21.15 Uhr, Eintritt<br />

9/8 Euro, www.metropoliskino.de<br />

Indie-Star PJ Harvey hat überall Fans: 2013<br />

bekam sie sogar einen Orden von der Queen.<br />

Film<br />

Die Vielfalt Afrikas im Blick<br />

Informativ und unterhaltsam gibt<br />

das 8. Afrikanische Filmfestival sehr<br />

persönliche Einblicke in Lebenswelten<br />

zwischen Kap und Sahara. Ob Roadmovie<br />

oder Musikfilm, Western oder<br />

Science-Fiction – Film ab! •<br />

Augen Blicke Afrika, Studiokino, Bernstorffstraße<br />

93–95, 7.–17.11., Eintritt<br />

8/6,50 Euro, www.augen-blicke-afrika.de<br />

Konzert<br />

Abgefahrene Spielzeugklaviere<br />

Doch, das sind richtige Instrumente!<br />

Spielzeugklaviere erzeugen im Resonanzraum<br />

intergalaktische Klangwelten.<br />

Schwer vorstellbar, ziemlich<br />

abgefahren und gerade deswegen<br />

mehr als hörenswert. •<br />

Toy Piano Weekend, Resonanzraum,<br />

Feldstraße 66, 15./16.11., jeweils 20 Uhr,<br />

Eintritt 18/12 Euro, beide Tage<br />

30/18 Euro, www.toypiano-weekend.de<br />

Film<br />

Wir retten die Welt!<br />

Wie könnte die Welt im Jahr 2040<br />

aussehen? Wird sie zu retten sein?<br />

Dieser Frage geht der preisgekrönte<br />

Filmemacher Damon Gameau bei<br />

einer Reise um die Welt nach – und<br />

findet viele erstaunliche neue<br />

Antworten. •<br />

Zeise Kino, Friedensallee 7–9, mehrere<br />

Termine ab Do, 7.11., Eintritt Di und<br />

Mi 8/7 Euro, Do–So 8,50/7,50 Euro,<br />

www.zeise.de<br />

53


Ausstellung<br />

Die Essenz des Eises<br />

Kann man die Arktis begreifbar machen?<br />

Die Hamburger Künstlerin und<br />

Kalligrafin Jeannine Platz hat das Experiment<br />

gewagt und sich auf die Suche<br />

nach der Essenz des Eises gemacht. Am<br />

Süd- und am Nordpol war sie wochenlang<br />

unterwegs und erforschte mit ihrem<br />

Blick als Künstlerin die Ränder der<br />

Welt. Eisbären kamen zu Besuch, bei<br />

Minustemperaturen ging sie im Meer<br />

schwimmen. Jeannine Platz erlebte<br />

Pinguine hautnah und verlor bei ewiger<br />

Helligkeit fast den Rhythmus von Zeit<br />

und Raum. Das Arbeiten an Bord der<br />

Eisbrecher war schwierig für die<br />

Künstlerin – mal schaukelte es zu arg,<br />

mal froren die Farben ein. Zurück in<br />

ihrem Atelier entstanden schließlich<br />

ihre Bilder – die Arktis zum Anfassen.<br />

„Inmitten von Eisschollen machte ich<br />

54<br />

Eisberg voraus: Die Hamburger Künstlerin Jeannine<br />

Platz bei der Arbeit an Bord eines Eisbrechers.<br />

mir ein Bild von Schönheit und Kraft,<br />

Stille und Weite im Eis, von fühlbaren<br />

Geräuschen, von dem Unfassbaren<br />

einer atemberaubenden Natur.“<br />

Die Ausstellung „The Sound of Ice“<br />

ist eine perfekte Einstimmung auf den<br />

Winter! •<br />

BarlachHalle K, Klosterwall 13, 21.–24.11.,<br />

Fr + So, 11–18 Uhr, Sa, 11–16 Uhr,<br />

Eintritt frei, www.thesoundofice.com


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Kinofilm des Monats<br />

Musik statt<br />

Trübsal<br />

FOTOS: JEANNINE PLATZ (S. 54), FAIRAFRIC (OBEN), PRIVAT<br />

Film<br />

Faire Schokolade<br />

Lesung für Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

Benefiz in St. Nikolai<br />

Zwei prominente Hamburger Autorinnen<br />

lesen in der Hauptkirche St.<br />

Nikolai zugunsten von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

aus ihren Büchern: Doris Gercke stellt<br />

„Frisches Blut“ vor, Petra Oelker „Die<br />

Brücke zwischen den Welten“. Dazu<br />

gesellt sich Thomas Mehlhorn, der<br />

„Die Spinne auf der Haut“, ein Buch<br />

von Joachim Ritzkowsky über Obdachlosigkeit,<br />

vorstellt. Die Benefizlesung<br />

ist der Höhepunkt einer guten<br />

Zusammenarbeit: 2018 hatten sich<br />

Astrid Froese, Inhaberin von ArtLit,<br />

Meike Cattarius, Leiterin des Kunsthallen­Shops,<br />

und Anne von Karstedt,<br />

Leiterin der Druckwerkstatt im<br />

Museum für Arbeit, zusammengetan<br />

und uns eine Postkarten­Edition zum<br />

Thema Arbeit geschenkt. Der Erlös<br />

wird an diesem Abend übergeben. •<br />

St. Nikolai am Klosterstern,<br />

Harvestehuder Weg 118,<br />

Fr, 22.11., 18.30 Uhr, Eintritt 10/8 Euro<br />

Arbeitsalltag auf einer<br />

Kakaoplantage in Ghana – faire<br />

Bedingungen sind möglich.<br />

Kolonialismus und Globalisierung prägen den Welthandel, sie machen faire<br />

Bedingungen in Entwicklungs­ und Schwellenländern oft schwierig. Dass es<br />

trotzdem geht, beweisen die Pioniere der ghanaischen Schokoladenproduktion.<br />

Wie das funktioniert und was es dafür braucht, zeigt der Film „Decolonize<br />

Chocolate“. Im Anschluss diskutieren Vertreter des sozialen Start­ups fairafric<br />

und des Netzwerks Inkota mit den Zuschauern. •<br />

Lichtmess Kino, Gaußstraße 25, Di, 19.11., 20 Uhr, Eintritt frei, www.lichtmess-kino.de<br />

Kinder<br />

Neues aus Mullewapp<br />

Ein Bauernhof in Mullewapp, drei<br />

tierische Freunde, ein Fahrrad und<br />

jede Menge Abenteuer – alles klar?<br />

Viele sind mit den unsterblichen<br />

Helden aus Helme Heines Kinderbüchern<br />

groß geworden: Franz von<br />

Hahn, Johnny Mauser und der dicke<br />

Waldemar halten zusammen – meistens.<br />

Als ein großer schwarzer Storch<br />

auftaucht, kriegen sie sich doch in die<br />

Wolle und plötzlich wird es gefährlich.<br />

Dass das Theaterstück „Zum<br />

Glück gibt’s Freunde“ gut ausgeht,<br />

freut große und kleine Zuschauer ab<br />

drei Jahren. •<br />

Altonaer Theater, Museumstraße 17,<br />

ab Mi, 27.11., Eintritt 13,50 Euro,<br />

www.altonaer-theater.de<br />

Über Tipps für Dezember freut sich<br />

Annabel Trautwein. Bitte bis zum 10.11.<br />

schicken: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

<strong>November</strong> <strong>2019</strong> … Hoppla.<br />

War es das fast schon wieder?<br />

Noch ein paar Wochen und<br />

das Rumgeeiere der Nullerund<br />

Zehnerjahre hat ein Ende.<br />

Endlich. Zwanzigerjahre<br />

– das klingt gleich viel besser:<br />

dekadent und charismatisch.<br />

Nach Champagnerduschen,<br />

großer Party und Musik.<br />

Und so ist die Vorfreude auf<br />

ein neues Jahrzehnt möglicherweise<br />

genau das Richtige<br />

für einen grauen Monat wie<br />

eben diesen.<br />

Das dachten sich vielleicht<br />

auch die Programmstrategen<br />

unterschiedlicher<br />

Hamburger Programmkinos<br />

wie Metropolis, 3001 und<br />

B­Movie. Denn die feiern<br />

vom 6. bis 10. <strong>November</strong> das<br />

Musikfilmfestival „Unerhört!“<br />

in ihren Sälen.<br />

Mehr als 20 Filmperlen<br />

und ­premieren versprechen<br />

die Veranstalter – und dass<br />

man anschließend nicht nur<br />

mit anderen Cineasten diskutieren<br />

kann, sondern auch<br />

mit Musikern und Machern<br />

der Werke.<br />

Dabei ist das Programm<br />

beeindruckend: Das mittlerweile<br />

13. Musikfilmfestival<br />

zeigt Filme über Acid House<br />

und Aretha Franklin, über<br />

Hip­Hop bis hin zu Underground,<br />

Schlager oder Jazz.<br />

Die Dokumentationen entführen<br />

die Zuschauer in die<br />

Heavy­Metal­Szene Asiens,<br />

in die legendäre Plattenküche<br />

des NDR oder die Düsseldorfer<br />

Punkszene der 1970er­<br />

Jahre. So lässt sich der <strong>November</strong><br />

ertragen. •<br />

André Schmidt<br />

geht seit<br />

Jahren für uns<br />

ins Kino.<br />

Er arbeitet in der<br />

PR-Branche.<br />

55


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>321</strong>/NOVEMBER <strong>2019</strong><br />

N o 11<br />

Was Sie schon<br />

immer über<br />

Obdachlosigkeit<br />

wissen wollten!<br />

Kai mit King<br />

Louie beim Tierarzt.<br />

Hier muss<br />

er nicht befürchten,<br />

dass<br />

es teuer wird –<br />

der Veterinär<br />

behandelt Tiere<br />

von Bedürftigen<br />

auf Spendenbasis.<br />

Wo gehen Obdachlose<br />

mit ihrem Hund zum Tierarzt?<br />

Wenn der beste Freund des Menschen krank ist, kann das schnell teuer werden.<br />

Ein Problem, wenn man kein Geld hat. Aber es gibt Tierärzte, die helfen.<br />

TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

King Louie hat es mal wieder erwischt.<br />

Eine dicke Entzündung am Hals, die<br />

blutet, wenn er sich kratzt. Sein Besitzer<br />

Kai (44) vermutet: ein Spinnenbiss.<br />

„Wir liegen an einer Ecke, in der so<br />

große Spinnen herumlaufen.“ Der<br />

Hinz&Künztler, der mit seinem Hund<br />

Platte macht, zeigt etwa sechs Zentimeter.<br />

Weil King Louie kaum Fell hat, ist<br />

er für Bisse, Stiche und Erkältungen<br />

besonders anfällig. „Sein Papa war ein<br />

Powderpuff und seine Mama ein<br />

Chinese Crested“, erklärt Kai. Das kleine<br />

Tier mit dem charmanten Unterbiss<br />

ist also ein halbrassiger Nackthund.<br />

Wenn es kalt wird, steckt Kai ihn in<br />

einen Hundeanzug. Trotzdem fängt<br />

sich King Louie immer wieder mal was<br />

ein. Normale Erkältungen kann Kai inzwischen<br />

selbst behandeln: Er schwört<br />

auf Kamille. Auch den Spinnenbiss hat<br />

er vorerst mit Kamillosan behandelt.<br />

Um den Tierarzt kommen die beiden<br />

trotzdem nicht herum.<br />

So etwas kann schnell teuer werden,<br />

weiß Kai. „Normalerweise sind<br />

schon 20 Euro weg, wenn man nur<br />

Moin sagt.“ Als King Louie einmal in<br />

Lübeck von einem anderen Hund angegriffen<br />

wurde, musste Kai alle zwei<br />

Tage mit ihm in die Praxis. „Da hat der<br />

Tierarzt auf mein Bitten hin mal ’ne<br />

Rechnung aufgemacht“, erzählt er.<br />

„Das wären 1200 Euro gewesen.“<br />

Zum Glück gibt es Veterinäre, die<br />

für Menschen wie ihn Notlösungen finden:<br />

An jedem ersten Montag im Monat<br />

um 20 Uhr macht eine Tierärztin<br />

am Gerhart­Hauptmann­Platz halt, um<br />

ehrenamtlich die Tiere von Obdachlo­<br />

sen zu versorgen. Kai hat noch eine andere<br />

Adresse: Er geht zu einem Tierarzt<br />

auf der Uhlenhorst. „Der macht das für<br />

Leute, die Hartz IV bekommen, gegen<br />

Spende.“ Eine große Erleichterung für<br />

den Hinz&Künztler. Und die Medikamente?<br />

„Da gehe ich zum Krankenmobil<br />

für Menschen“, sagt Kai. Den<br />

Ärzten sagt er, dass er die Medizin für<br />

seinen Hund braucht. Und inzwischen<br />

kennt sich Kai recht gut aus. „Was etwa<br />

kleinen Kindern hilft, hilft oft auch<br />

kleinen Hunden.“ •<br />

Aufruf<br />

Haben auch Sie eine Frage an unsere<br />

Hinz&Künztler? Dann schreiben Sie uns<br />

eine Mail an redaktion@hinzundkunzt.de<br />

56


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Rätsel<br />

ILLUSTRATION (BLEISTIFT IM IMPRESSUM): BERND MÖLCK-TASSEL<br />

veraltet:<br />

Wohlwollen<br />

Gartenhäuschen<br />

Moosart<br />

veraltet:<br />

grüner<br />

Junge,<br />

Laffe<br />

Bodenvertiefung<br />

antike<br />

Stadt in<br />

Kleinasien<br />

elektrisch<br />

geladenes<br />

Teilchen<br />

Nieder-<br />

elbe-<br />

Zufluss<br />

längl.<br />

elektr.<br />

Lichtquelle<br />

peinlich<br />

berührt<br />

englisch:<br />

Katze<br />

Harz der<br />

Balsambaumgewächse<br />

1<br />

8<br />

1<br />

Note beim<br />

Doktorexamen<br />

lateinisch:<br />

siehe da!<br />

2<br />

Einrichtung<br />

ein.<br />

Geldinstituts<br />

radioaktives<br />

Schwermetall<br />

deutscher<br />

Showmaster<br />

†<br />

(Hans)<br />

3<br />

4<br />

1<br />

10<br />

4<br />

mieten,<br />

pachten<br />

(engl.)<br />

Öffnung<br />

für<br />

einen<br />

Stecker<br />

Täfelung<br />

der<br />

Innenwände<br />

5<br />

Menschen<br />

3. Buchstabe<br />

des<br />

griech.<br />

Alphabets<br />

aus Hose<br />

und Jacke<br />

besteh.<br />

Bekleidg.<br />

Enzym<br />

im Kälbermagen<br />

Himmelsbote<br />

Indianerzelt<br />

unverdiente<br />

Milde<br />

Paradiesgarten<br />

Handelsbrauch,<br />

Gewohnheit<br />

nichtig,<br />

leer,<br />

eitel<br />

(latein.)<br />

Sitz des<br />

Internat.<br />

Roten<br />

Kreuzes<br />

Gewürz umgangssprachl.:<br />

eines der<br />

und Heilmittel<br />

dürftig, Edelgase<br />

schlecht<br />

Stammvater,<br />

Vorfahr<br />

griech.<br />

Göttin<br />

der Morgenröte<br />

französisch:<br />

Bogen<br />

Übereinkommen<br />

(veraltet)<br />

scharfer<br />

Spott<br />

umgangssprachlich:<br />

nein<br />

9<br />

41<br />

63<br />

47 5<br />

3<br />

9<br />

19<br />

24<br />

7<br />

4<br />

68<br />

85 7<br />

35 1<br />

AR0909-0619_3sudoku<br />

flüstern,<br />

murmeln<br />

Stadt im<br />

östlichen<br />

Ruhrgebiet<br />

mittelamerik.<br />

Paprikaart<br />

außerirdischer<br />

TV-Star<br />

Lösungen an: Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />

per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />

Einsendeschluss: 27. <strong>November</strong> <strong>2019</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />

Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet,<br />

kann zwei Karten für die Hamburger Kunsthalle oder eins von vier<br />

Taschenbüchern „Wir sind die Freeses“ von Andreas Altenburg<br />

(Rororo Verlag) gewinnen.<br />

Das Oktober-Lösungswort beim Kreuzwort rätsel lautete: Betrachter.<br />

Die Sudoku-Zahlenreihe war: 384 267 951.<br />

6<br />

7<br />

7<br />

8<br />

3<br />

2<br />

8<br />

9<br />

6<br />

5<br />

10<br />

9<br />

AR1115-0619_3 – raetselservice.de<br />

Füllen Sie das Gitter so<br />

aus, dass die Zahlen von<br />

1 bis 9 nur je einmal in<br />

jeder Reihe, in jeder<br />

Spalte und in jedem<br />

Neun-Kästchen-Block<br />

vorkommen.<br />

Als Lösung schicken<br />

Sie uns bitte die farbig<br />

gerahmte, unterste<br />

Zahlenreihe.<br />

Impressum<br />

Redaktion und Verlag<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />

Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg<br />

Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />

Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />

E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />

Herausgeber<br />

Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />

Externer Beirat<br />

Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),<br />

Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />

Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />

Thomas Magold (BMW-Niederlassungsleiter i.R.),<br />

Beate Behn (Lawaetz-Service GmbH), Karin Schmalriede (Lawaetz-Stiftung),<br />

Dr. Bernd-Georg Spies (Russell Reynolds),<br />

Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />

Geschäftsführung Jörn Sturm<br />

Redaktion Birgit Müller (bim; Chefredakteurin, V.i.S.d.P.),<br />

Annette Woywode (abi; Stellv., CvD), Benjamin Laufer (bela, stellv. CvD),<br />

Misha Leuschen (leu), Jonas Füllner (jof), Lukas Gilbert (lg),<br />

Ulrich Jonas (ujo), Frank Keil (fk), Annabel Trautwein (atw)<br />

Korrektorat Kristine Buchholz und Kerstin Weber<br />

Redaktionsassistenz Sonja Conrad, Cedric Horbach, Anja Steinfurth<br />

Online-Redaktion Jonas Füllner, Lukas Gilbert, Benjamin Laufer<br />

Artdirektion grafikdeerns.de<br />

Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />

Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />

Anzeigenvertretung Caroline Lange,<br />

Wahring & Company, Tel. 040 284 09 418, c.lange@wahring.de<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 23 vom 1. Januar 2018<br />

Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Sigi Pachan,<br />

Jürgen Jobsen, Meike Lehmann, Sergej Machov, Frank Nawatzki,<br />

Elena Pacuraru, Reiner Rümke, Cristina Stanculescu,<br />

Marcel Stein, Eugenia Streche, Cornelia Tanase, Silvia Zahn<br />

Spendenmarketing Gabriele Koch<br />

Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />

Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Jonas Gengnagel<br />

Isabel Kohler, Irina Mortoiu<br />

Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Chris Schlapp, Harald Buchinger<br />

Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Stefan Calin, Gheorghe-R zvan Marior, Pawel Marek Nowak<br />

Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />

Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger, Klaus Peterstorfer,<br />

Herbert Kosecki, Torsten Wenzel<br />

Litho PX2 Hamburg GmbH & Co. KG<br />

Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />

Druck A. Beig Druckerei und Verlag,<br />

Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />

Umschlag-Druck Neef+Stumme premium printing GmbH & Co. KG<br />

Verarbeitung Hartung Druck + Medien GmbH<br />

Spendenkonto Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

IBAN: DE56 2005 0550 1280 1678 73<br />

BIC: HASPDEHHXXX<br />

Die Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />

Freistellungsbescheid bzw. nach der Anlage zum Körperschaftssteuerbescheid<br />

des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer 17/414/00797, vom<br />

21.1.<strong>2019</strong>, für den letzten Veranlagungszeitraum 2017 nach § 5 Abs.1 Nr. 9<br />

des Körperschaftssteuergesetzes von der Körperschaftssteuer und nach<br />

§ 3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />

Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist als<br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister beim<br />

Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen.<br />

Wir bestätigen, dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

einsetzen. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte<br />

weitergegeben. Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf<br />

www.hinzundkunzt.de. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />

obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />

Das Magazin wird von Journalisten geschrieben, Wohnungslose und<br />

ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter<br />

unterstützen die Verkäufer.<br />

Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />

Gesellschafter<br />

Durchschnittliche monatliche<br />

Druckauflage 3. Quartal <strong>2019</strong>:<br />

59.666 Exemplare<br />

57


Momentaufnahme<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>321</strong>/NOVEMBER <strong>2019</strong><br />

Schon einmal war Klaus<br />

bei Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Dann<br />

fand er Arbeit – bis ein<br />

Absturz folgte.<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> zu verkaufen<br />

half ihm erneut, er fand<br />

eine Wohnung.<br />

Einmal an die Algarve<br />

und wieder zurück<br />

Klaus, 63, verkauft Hinz&<strong>Kunzt</strong> in den Colonnaden.<br />

TEXT: JONAS FÜLLNER<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Es gibt nicht mehr allzu viele<br />

Hinz&Künztler mit einer dreistelligen<br />

Verkäufernummer. Aber Klaus ist einer<br />

von ihnen. „Ich kam schon vor 25 Jahren<br />

zu Hinz&<strong>Kunzt</strong>“, erinnert sich der<br />

63-Jährige. Damals sei er zum ersten<br />

Mal für längere Zeit obdachlos gewesen.<br />

Wie es dazu kam? Der Tod der<br />

Mutter. Eine Trennung folgte. Und<br />

Klaus fiel in ein tiefes Loch und betäubte<br />

sich mit Drogen. In dieses Loch<br />

stolpert er seitdem immer wieder hinein.<br />

Dabei hatte der gebürtige Rendsburger<br />

schon früh gelernt, auf eigenen<br />

Beinen zu stehen.<br />

Klaus war keine 15 Jahre alt, als er<br />

zu Hause auszog und eine Ausbildung<br />

als Bootsbauer anfing. „Bei uns war es<br />

eh ziemlich eng“, sagt er. Zwar liebte er<br />

seine Mutter, aber über den Rest der<br />

Familie sagt Klaus: „Mit denen war ich<br />

nie grün.“ Er absolvierte seine Ausbildung,<br />

lebte in einer Lehrlingswohnung<br />

und spezialisierte sich auf Einhandsegler,<br />

mit denen man die Welt hätte<br />

umrunden können. Doch Klaus wollte<br />

gar nicht groß hinaus. Fünf Jahre,<br />

nachdem er das Elternhaus verlassen<br />

hatte, hatte er geheiratet und war Vater<br />

geworden. Aber mit der Arbeit ging es<br />

nicht mehr weiter. Und zu Hause kam<br />

es immer mehr zu Spannungen in der<br />

einst trauten Zweisamkeit.<br />

Es folgte die erste Trennung seines<br />

Lebens. Ein paar Monate später ließ<br />

Klaus alles stehen und liegen. Sein<br />

Weg führte ihn an die Algarve. Mit<br />

s einer neuen Freundin, die er während<br />

eines Gelegenheitsjobs auf der Insel<br />

Sylt kennen gelernt hatte.<br />

In Portugal unter der warmen Sonne<br />

blühte Klaus richtig auf: Der Massentourismus<br />

hielt gerade erst Einzug<br />

an der Küste, und Handwerker wurden<br />

händeringend gesucht. Kaum hatte der<br />

Deutsche von seinen Tischlerfähigkeiten<br />

erzählt, konnte er sich vor Jobangeboten<br />

kaum retten.<br />

Aus drei geplanten Monaten Urlaub<br />

wurde ein mehrjähriger Aufenthalt.<br />

Dann erkrankte seine Mutter<br />

schwer. Das war vor etwa 30 Jahren.<br />

Klaus kehrte zurück nach Rendsburg<br />

und betreute seine Mutter anderthalb<br />

Jahre, bis zu ihrem Tod. Danach fiel er<br />

in das Loch, aus dem er sich seitdem<br />

immer nur mühsam wieder he rauszieht.<br />

Vor ein paar Jahren dachten wohl alle,<br />

er hätte es endlich geschafft. Damals<br />

fand Klaus Arbeit in einer Jugendwerkstatt.<br />

Er war clean und half jetzt<br />

anderen, die Probleme hatten. „Da hatte<br />

ich wirklich Bock drauf“, sagt er<br />

rückblickend.<br />

Fast drei Jahre ging das gut. Dann<br />

aber folgte erneut ein Absturz. Wieder<br />

landete Klaus auf der Straße. Er kam<br />

zurück zu Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Der Magazinverkauf<br />

bot ihm Stabilität, war eine Art<br />

Rettungsanker. Tatsächlich hat Klaus<br />

noch einmal die Kurve gekriegt: Er ist<br />

weg von der Straße. Inzwischen lebt er<br />

seit etwa zwei Jahren in seiner kleinen<br />

Wohnung. Das soll so bleiben. Dieses<br />

Mal wirklich. Schließlich ist Klaus nicht<br />

mehr der Jüngste, sondern bald schon<br />

Rentner. „Es wird für mich aber wohl<br />

nicht viel mehr als die Grund sicherung<br />

geben“, sagt Klaus. •<br />

Klaus und alle anderen Hinz&Künztler<br />

erkennt man am Verkaufsausweis.<br />

485<br />

58


Niemand kennt<br />

KUNZT-<br />

KOLLEKTION<br />

BESTELLEN SIE DIESE UND WEITERE PRODUKTE BEI: Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH,<br />

www.hinzundkunzt.de/shop, shop@hinzundkunzt.de, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />

Tel. 32 10 83 11. Preise zzgl. Versandkostenpauschale 4 Euro, Ausland auf Anfrage.<br />

Schürze „<strong>Kunzt</strong>Küche“<br />

100% GOTS-zertifi zierte Bio-Baumwolle.<br />

Farbe: Norddeutsch-Grau,<br />

Schürze: ca. 80 cm breit, ca. 86 cm lang,<br />

von Kaya & Kato GmbH, Firma für fair produzierte<br />

Arbeitskleidung aus Köln. Preis: 25 Euro<br />

„Willkommen in der <strong>Kunzt</strong>Küche!“<br />

Das Kochbuch zum 25-jährigen<br />

Geburtstag von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

Ein kulinarisches Dankeschön an die<br />

Hamburger mit 25 Drei-Gänge-Menüs<br />

von Sterneköchen und jungen Wilden.<br />

Gebundenes Kochbuch, 194 Seiten,<br />

farbige Fotos und rund 180 inspirierende<br />

Rezepte. Preis: 25 Euro<br />

Tee „Chillax“<br />

Bio-Kräutertee aus Griechenland:<br />

Bergtee vom Olymp* (40 %),<br />

Zitronenverbene* (40 %), Johanniskraut* (20 %),<br />

von Aroma Olymp (www.aroma-olymp.com).<br />

Von Hand geerntet in Griechenland, von den<br />

Elbe-Werkstätten in Hamburg verpackt, 25 g.<br />

Preis: 4,90 Euro<br />

*aus kontrolliert biologischer Landwirtschaft<br />

Hamburgs<br />

Straßen besser<br />

„Ein mittelschönes Leben“<br />

Eine Geschichte über Obdachlosigkeit<br />

für Kinder zwischen 7 und 10 Jahren<br />

von Kirsten Boie, illustriert<br />

von Jutta Bauer, 7. Aufl age 2017.<br />

Preis: 4,80 Euro<br />

„Auf Fotosafari in Hamburg #3“<br />

Fotografi n Lena Maja Wöhler war mit<br />

Hinz&Künztlern in Hamburg unterwegs.<br />

Kartenset mit fünf interessanten Motiven,<br />

gedruckt bei alsterpaper in Hamburg.<br />

Preis: 10 Euro<br />

Tasse „Ahoi“<br />

Sonderedition für Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

von der Hamburger<br />

Firma AHOI MARIE.<br />

Qualitätsporzellan von Kahla<br />

aus Thüringen.<br />

Design: Ellen Bechel,<br />

keramischer Siebdruck.<br />

Durchmesser: 9 cm,<br />

Höhe: 9 cm,<br />

mikrowellen- und<br />

spülmaschinentauglich.<br />

Preis: 14,90 Euro


Wir möchten, dass Sie es warm haben.<br />

Als Spezialist für umweltfreundliche und hocheffiziente Wärmelösungen<br />

sorgt HanseWerk Natur seit Jahrzehnten für warme Wohnzimmer und<br />

Werkshallen im Norden. Und weil wir wissen, dass menschliche Wärme<br />

genauso wichtig ist wie eine warme Heizung, unterstützen wir seit vielen<br />

Jahren das Hamburger Straßenmagazin Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />

Energielösungen für den Norden

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!