ZAP-2019-23
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Fach 17 R, Seite 974<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
InsO grundsätzlich die gleichen Vorschriften wie für ein Regelinsolvenzverfahren und somit auch die<br />
Vorschriften für die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens<br />
gelten (BAG, Urt. v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10).<br />
2. Nach § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen gegenüber ihren Arbeitgebern<br />
Anspruch auf Beschäftigung, bei der sie ihre Fertigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten<br />
und weiterentwickeln können. Um eine behinderungsgerechte Beschäftigung zu ermöglichen, ist der<br />
Arbeitgeber nach § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 4 SGB IX auch zu einer Umgestaltung der Arbeitsorganisation<br />
verpflichtet, um so den Beschäftigungsanspruch des schwerbehinderten Menschen zu erfüllen. Dies<br />
kann eine Umorganisation auch technischen Hilfen beinhalten (vgl. BAG, Urt. v. 14.3.2006 – 9 AZR<br />
411/05, Rn 18; LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 30.3.2010 – 7 Sa 58/10). Der Arbeitgeber ist jedoch in<br />
drei Fällen nicht zur Beschäftigung des schwerbehinderten Menschen verpflichtet, nämlich wenn:<br />
• ihm die Beschäftigung nicht zumutbar wäre,<br />
• mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden wäre, § 164 Abs. 4 S. 3 SGB IX oder<br />
• für den schwerbehinderten Menschen ein zusätzlicher Arbeitsplatz eingerichtet werden müsste<br />
(BAG, Urt. v. 10.5.2005 – 9 AZR <strong>23</strong>0/04 LS und Rn 36 ff. zur Versetzungspflicht).<br />
3. Grundsatz: Das konkrete Organisationskonzept lässt den Arbeitsplatz des schwerbehinderten Klägers<br />
entfallen; dem steht § 164 SGB IX nicht entgegen.<br />
4. Ausnahme: Die Grenzen der freien Unternehmensentscheidung werden i.R.d. Missbrauchskontrolle<br />
erst dann überschritten, wenn eine nach § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 AGG verbotene Diskriminierung wegen der<br />
Behinderung vorliegt. Dazu muss der schwerbehinderte Arbeitnehmer beispielsweise darlegen und<br />
beweisen, dass die Organisationsentscheidung getroffen wurde, um sich den Belastungen zu entziehen,<br />
die aus den besonderen Rechten schwerbehinderter Menschen folgen.<br />
2. Massenentlassung – Kündigung sofort nach Eingang der Massenentlassungsanzeige zulässig<br />
Während das BAG vielfach zu den Anforderungen der Massenentlassungsanzeige entschieden hat, hat<br />
der Fünfte Senat nur erstmalig entschieden, zu welchem Zeitpunkt die Kündigung wirksam erklärt<br />
werden kann (vgl. BAG Urt. v. 26.6.<strong>2019</strong> – 5 AZR 452/18, NZA <strong>2019</strong>, 1361 ff.). Es gilt der Grundsatz: Die<br />
nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige kann auch dann wirksam erstattet<br />
werden, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt ihres Eingangs bei der Agentur für Arbeit bereits zur<br />
Kündigung entschlossen ist. Kündigungen im Massenentlassungsverfahren sind daher – vorbehaltlich<br />
der Erfüllung sonstiger Kündigungsvoraussetzungen – wirksam, wenn die Anzeige bei der zuständigen<br />
Agentur für Arbeit eingeht, bevor dem Arbeitnehmer das Kündigungsschreiben zugegangen ist.<br />
Mit Beschluss vom 1.6.2017 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin<br />
eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Die von ihm verfasste Massenentlassungsanzeige<br />
ging am 26.6.2017 zusammen mit einem beigefügten Interessenausgleich bei der Agentur für<br />
Arbeit ein. Mit Schreiben vom 26.6.2017 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers ebenso<br />
wie die Arbeitsverhältnisse der anderen 44 zu diesem Zeitpunkt noch beschäftigten Arbeitnehmer<br />
ordentlich betriebsbedingt zum 30.9.2017. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 27.6.2017 zu.<br />
Dieser macht mit seiner Kündigungsschutzklage u.a. geltend, nach der Rechtsprechung des EuGH habe<br />
der Arbeitgeber auch seiner Anzeigepflicht vor einer Entscheidung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses<br />
nachzukommen. Darum dürfe die Unterschrift unter das Kündigungsschreiben, mit der die<br />
Kündigungserklärung konstitutiv geschaffen werde, erst erfolgen, nachdem die Massenentlassungsanzeige<br />
bei der Agentur für Arbeit eingegangen sei.<br />
Das ArbG hat die Klage abgewiesen, das LAG ihr stattgegeben. Die Revision des Beklagten hatte vor<br />
dem Sechsten Senat des BAG Erfolg und führte zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LAG.<br />
Das LAG war der Ansicht, die Anzeige müsse die Agentur für Arbeit erreichen, bevor der Arbeitgeber<br />
die Kündigungsentscheidung treffe, was sich in der Unterzeichnung des Kündigungsschreibens<br />
manifestiere.<br />
1252 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>23</strong> 4.12.<strong>2019</strong>