Antje Haugg - Notenspur in Moll (Blick ins Buch)

Im Dammwäldchen in der Bayreuther Innenstadt wird die Leiche der Jurastudentin Tina gefunden. Schnell stellt sich heraus: Sie wurde ermordet, und sie führte offenbar ein Doppelleben. Was jedoch hat das geheimnisvolle uralte Papierstückchen, das bei der Leiche gefunden wurde, mit Tinas Tod zu tun? Ist etwas dran an dem Plagiatsgerücht um die Sonate Albert Zweisteins? Und wer ist der ominöse Phil Kill, der unter diesem Namen auf Facebook herumgeistert? Wie gewaltbereit ist Tinas Freundin MCM wirklich? So viele Ungereimtheiten, so viele scheinbar unzusammenhängende Bekanntschaften. Ihre Ermittlungen führen KHK Doris Lech und ihre Assistentin Lotte in Naturschutzgebieten und Anwaltskanzleien, in der internationalen Modebranche und sogar am Grünen Hügel – es gibt mehr Verdächtige, als ihnen lieb ist. Aber welcher ist tatsächlich der Mörder? Und gibt es eine Verbindung zum Selbstmord einer Schülerin des Richard-Wagner-Gymnasiums vor 100 Jahren? Im Dammwäldchen in der Bayreuther Innenstadt wird die Leiche der Jurastudentin Tina gefunden. Schnell stellt sich heraus: Sie wurde ermordet, und sie führte offenbar ein Doppelleben. Was jedoch hat das geheimnisvolle uralte Papierstückchen, das bei der Leiche gefunden wurde, mit Tinas Tod zu tun? Ist etwas dran an dem Plagiatsgerücht um die Sonate Albert Zweisteins? Und wer ist der ominöse Phil Kill, der unter diesem Namen auf Facebook herumgeistert? Wie gewaltbereit ist Tinas Freundin MCM wirklich? So viele Ungereimtheiten, so viele scheinbar unzusammenhängende Bekanntschaften.

Ihre Ermittlungen führen KHK Doris Lech und ihre Assistentin Lotte in Naturschutzgebieten und Anwaltskanzleien, in der internationalen Modebranche und sogar am Grünen Hügel – es gibt mehr Verdächtige, als ihnen lieb ist. Aber welcher ist tatsächlich der Mörder? Und gibt es eine Verbindung zum Selbstmord einer Schülerin des Richard-Wagner-Gymnasiums vor 100 Jahren?


Antje Haugg

Notenspur

in Moll

Wissen kann tödlich sein

Blick ins Buch

ELVEA


Impressum

www.elveaverlag.de

Kontakt: elvea@outlook.de

© ELVEA 2017

2. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf, auch teilweise,

nur mit Genehmigung des Verlages

weitergegeben werden.

Autor: Antje Haugg

Lektorat: Maite Schmidt / Sabrina Haugg

Covergestaltung/Grafik: ELVEA

Coverbilder:

Anton Werskii

Nik Merkulov

Layout: Uwe Köhl

Projektleitung

www.bookunit.de


Ein paar Sätze vorneweg:

Auch wenn einige Personen, die in diesem Roman vorkommen,

wie Katharina Wagner oder das Ehepaar Kremnitz,

nicht etwa frei erfunden sind, sondern tatsächlich in Bayreuth

oder Emtmannsberg leben, so möchte ich doch betonen, dass

dieser Krimi reine Fiktion darstellt und somit sämtliche Vorkommnisse

nicht in Verbindung zu tatsächlichen Geschehnissen

stehen.

Meines Wissens gab es niemals eine Zweistein-Sonate. Alle

Sagen und Mythen, die sich um dieses Stück ranken, sind

ebenso Produkte der Autorenfantasie wie die gesamte

Familie Zweistein sowie Alberts Verbindung zu Siegfried

Wagner.

Ebenfalls frei erfunden sind sämtliche Gerüchte um die

Verstrickung unserer handelnden Personen in den Brand

der Kristalltherme und um die Ausweisung von neuen Baugebieten

rund um Bayreuth.

Vorab entschuldigen möchte ich mich bei allen Lesern, die

enttäuscht darüber sind, dass Lotte Kerner nicht durchgehend

Dialekt redet. Aber mit Rücksicht auf alle nichtfränkischen

Leser erschien es mir ratsam, bei leicht lesbarer

Sprache zu bleiben – von einigen Ausrutschern abgesehen.

Zuletzt: Es ist mir klar, dass das Kellerfest normalerweise

im August stattfindet. Aus ermittlungstaktischen Gründen

musste dieser Termin leider verschoben werden.


Prolog

Das Mädchen saß am Klavier, völlig selbstvergessen spielte

sie. Tauchte ein in die Musik, wurde Teil der Sonate, erfüllte

den Raum mit mystischem Leben. Weite Passagen spielte sie

bereits auswendig, nur ab und zu noch ein schneller Blick auf

die Noten. Die Melodie, die Kritiker in Kürze mit ›genialer

als Liszt und Wagner – ein neuer Stern ist am Bayreuther

Musikhimmel aufgegangen‹ beschreiben würden, erklang nur

für das Mädchen. Kein Zuhörer, dem es erlaubt gewesen

wäre, diese schweren, vollen Akkorde zu genießen. Kein

Lehrer, der fasziniert den Klängen seiner Schülerin gelauscht

hätte. Nein, sie spielte nur für sich. Tränen liefen über ihr

Gesicht, Tränen heißer und wehmütiger Trauer um ihren

Vater. Diese Noten waren das, was er ihr anvertraut und

vermacht hatte. Diese Musik war sein Vermächtnis an sie.

Abgelenkt durch einen flüchtigen Schatten blickte sie

kurz hoch und zu dem ebenerdigen Souterrainfenster hinüber.

Für einen Augenblick, der sich auf magische Weise endlos

ausdehnte, schaute sie direkt in diese stahlblauen Augen, die

sie zu fressen schienen und in denen sie gleichzeitig zu ertrinken

drohte. Dann löste sich der Bann, sie zuckte zusammen,

und der Mann am Fenster ebenso. Das Gesicht verschwand

so plötzlich, wie sie es erblickt hatte.

Ihr Herz schlug mit einem Male laut und schwer. Grauen

erfüllte sie, und die Worte ihrer Mutter klangen in ihren

Ohren, als wäre der Streit zwischen ihren Eltern erst gestern


gewesen: »Deine verfluchten Noten werden noch Unglück

über unsere ganze Familie bringen!«

Verwirrt und verängstigt, mit fahrigen Bewegungen,

raffte sie die Notenblätter zu einem unordentlichen Stoß

zusammen, drückte sie an ihre Brust und stand auf. Es

würde am besten sein, jetzt zu gehen.

Wieder ein Schatten, diesmal am Fenster ganz hinten.

Er kam hierher! Er lief um das Gebäude herum!

Von Panik gepackt drehte sie sich um und lief aus dem

Musiksaal. Die einzige unversperrte Tür nach draußen

würde sie direkt in seine Arme führen. Hektisch blickte sie

sich um – der Kohlenkeller! Sie lief nach links, durch die

offene Tür, die sie schnell und leise hinter sich zuzog. Vor

ihr der lange dunkle Kellergang, nach links zweigte der

Kohlenkeller ab, den sie nur kurz beachtete. Geradeaus das

schwere alte Holztor. Sie wusste, dass es sich von innen

verriegeln ließ. Zitternd lief sie darauf zu, schlüpfte hindurch

auf die andere, die sichere Seite. Suchte mit fahrigen

Bewegungen im Halbdunkel nach dem Riegel, schob ihn

nach rechts. Ließ erleichtert los. Doch mit leisem Knarren

schwang das Tor ein paar Zentimeter auf. Jetzt, da ihre

Augen sich an die Dämmerung gewöhnt hatten, sah sie

warum: Die Öse des Riegels war aus der Wand gebrochen,

der Putz abgebröckelt, der zugeschobene Riegel fand keinen

Halt. Ohne nachzudenken eilte das Mädchen los, immer

weiter, bis eine kalte Mauer ihren panischen Lauf unsanft

abbremste. Sie schüttelte in einem kurzen Reflex ihren

brummenden Kopf, sah sich um, erkannte, wo sie war.

Links ging es weiter, noch ein paar Meter, dann durch eine

Tür nach oben ins Schulgebäude. Sie suchte gar nicht erst

nach einen Schlüssel. Sie wusste, dass hier nie einer steckte.


Kurz und angespannt lauschte sie, ob er ihr wohl folgte.

Als sie nichts hörte, beruhigte sie sich ein wenig, nahm sich

die Zeit nachzudenken.

Dann huschte sie lautlos und erleichtert die kalten Steintreppen

nach oben, auf die Holztreppe, die in den Dachboden

führte. Dort konnte sie sich verstecken, dort würde sie sicher

sein …

Sie war nicht eingeschlafen in ihrem Versteck zwischen

den alten Möbeln und Vorhängen. Nein, sie hatte höchstens

ihre Erschöpfung gefühlt beim langen Warten. Es wurde

schon dunkel draußen. Irgendwann würde sie gesucht werden,

da war sie sich sicher. Und dann wäre sie außer Gefahr.

Leises Knarren brachte ihre Panik zurück. Sie hielt den

Atem an, betete verzweifelt darum, sich das nur eingebildet

zu haben. Vergeblich – erneutes Knarren auf der Holztreppe.

Er kam herauf! Er wusste, dass sie hier war. Das Unglück

kam über ihre Familie.

Es blieb ihr nur noch eine einzige Möglichkeit – der

Turm! Die Notenblätter eng an ihre Brust gepresst huschte

sie zu der Tür, hinter der eine steile Hühnerleiter hinauf in

den Uhrenturm führte. Wild entschlossen kletterte sie hoch

– er würde die Tür nicht finden. Er würde die Leiter nicht

finden. Er würde gar nicht daran denken, dass hier noch ein

Turm war.

Sie irrte sich.

Er redete in ganz normalem, leichten Plauderton, aber jedes

Wort jagte ihr eine neue Gänsehaut über den Nacken.

»Margarethe, komm doch her zu mir. Ich bringe dich nach

Hause. Und vorher spielst du mir noch einmal das schöne

Stück vor, das ich bis nach draußen gehört habe. Nun komm

schon, Mädelchen. Du kennst mich doch. Sieh nur, es wird


schon dunkel. Die Leute werden reden, wenn du nicht bald

nach Hause kommst. Du willst doch sicher kein Gerede. Hat

deine arme Mutter nicht genug Sorgen? Komm her, ich bringe

dich sicher nach Hause.«

Mit schreckgeweiteten Augen sah sie umher – sie saß in

der Falle. Kein Weg nach draußen.

Wirklich kein Weg? Das Kippfenster. Sie war klein und

zierlich für ihr Alter, sie könnte sich hindurch quetschen und

auf das Dach klettern. Dorthin würde er ihr nicht folgen

können, er war zu groß.

In ihrer Not vergaß sie ihre Höhenangst, die sie normalerweise

schon in der zweiten Etage zurückschrecken ließ, wenn

sie aus dem Fenster sah. Mit fliegenden Fingern drückte sie

den Fensterriegel auf, kippte das Fenster und schlüpfte kopfüber

hinaus.

Sie schrie laut auf, als sie den harten Griff um ihre Fußknöchel

spürte. Sie war zu langsam gewesen. Er hatte sie

eingeholt. Er würde sie zurückziehen in den Turm und

dann …

Wieder irrte sie. Doch die Zeit zwischen dem heftigen

Stoß und dem harten Aufprall auf dem gepflasterten Schulhof

reichte nicht wirklich aus, um diesen Irrtum zu erkennen.

Das Mädchen lag sterbend in der Dunkelheit.

Einige Notenblätter flatterten unschlüssig umher, bis der

mit den stahlblauen Augen kam und sie einsammelte. Schließlich

zog er auch das letzte Blatt aus der Hand des Mädchens,

das diese im Todeskampf noch krampfhaft umklammerte.

»Warum hast du nur nicht auf mich gehört? Mädchen in

deinem Alter haben in der Dunkelheit nichts draußen verloren.

Das weißt du doch. Du hättest dich von mir heimbringen


lassen sollen. Wirklich.«

Wieder dieser Plauderton, der diesmal durch ein anschwellendes

Rauschen in ihren Verstand sickerte.

Er betrachtete das Mädchen interessiert, den dünnen

Blutfaden, der aus ihrer Nase rann und sich auf der Wange

mit dem dickeren Blutfaden aus ihrem Mundwinkel vereinte.

Die zuckenden Augenlider, unter denen die Augäpfel immer

wieder wegrollten, sodass man nur das Weiße sah. Die seltsam

verdrehten Gliedmaßen, durch zahlreiche Knochenbrüche zu

einem skurrilen Kunstwerk verformt.

Schließlich wurde ihr Blick für einen kurzen Moment klar

– sie starrte ihn an, anklagend, schmerzerfüllt, voll Unverständnis.

Tauchte ein in das Stahlblau seiner Augen.

Und verging.


Gegenwart

»Oh mein Gott – was hab ich mir nur dabei gedacht?«

Doris Lech starrte auf den Nordbayerischen Kurier,

der ausgebreitet vor ihr auf dem Küchentisch lag.

Sie war von einer seltsamen Mischung aus Ungläubigkeit

und Frustration erfüllt und schlug schließlich mit

der flachen Hand auf die aufgeschlagene Doppelseite

mit den Veranstaltungshinweisen. Was ihr da entgegen

grinste, frisch gedruckt mit abfärbendem Schwarz

auf dünnem Weiß, das war mehr als eine Frechheit,

zumindest in Doris' Augen. Es war – einfach nichts.

Michaeli-Kerwa in Weidenberg, Tattoomesse in

Bindlach. Bayreuther Autoherbst in der Fußgängerzone.

Ein Kinderkonzert vom Spatzenchor. Am Sonntag

eine Führung durch den ökologisch-botanischen

Garten, unter dem Motto ›Herbst im ÖBG‹. Eine vermutlich

mehr als laienhafte Theatervorstellung der

›Bühnensprinter‹, eines nichtssagenden Sportvereins,

mit dem Titel ›Es fallen die Blätter und die Leichen‹.

Bayreuther Wochenmarkt in der renovierten Rotmainhalle

am Samstag von 7 bis 13 Uhr. Und im Rotmaincenter

eine Sonderausstellung zum Thema ›unsere

Jüngsten malen mit Fingerfarben‹.

Nichts, aber auch überhaupt nichts von all den

Dingen, die Doris spontan eingefallen waren, als sie

vor einem halben Jahr diese verhängnisvolle Stellen-


ausschreibung gelesen hatte. Bayreuth – Wagner, Liszt:

Musikhimmel pur, wohin man hörte, wie man sich

drehte. Das hatte sie gedacht. Kultur pur.

Sie hatte eine Lohengrin-CD eingelegt und ihre

Bewerbung geschrieben, ohne auch nur einen Augenblick

nachzudenken, ohne zu recherchieren. Und sie

war eingestellt worden.

Hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen, ohne

mit der Wimper zu zucken. Köln – passé. Lange genug

war sie wieder und wieder übergangen worden,

wenn Beförderungen anstanden. Lange genug war sie

von ihren Vorgesetzten mit Nichtachtung gestraft,

von den Kollegen schief angeschaut worden. Genau

genommen, seit sie zu tief in ein Wespennest in der

Baubehörde gestochert hatte. Vielleicht hätte sie auf

ihren Chef hören sollen, als der damals zu ihr sagte:

»Frau Lech, lassen Sie es einfach bleiben. Es gibt

Dinge, die Sie nicht aufrühren sollten. Im Interesse

der Öffentlichkeit und in Ihrem eigenen.« Eine flammende

Rede hatte sie ihm damals gehalten über das

Interesse der Öffentlichkeit und was sie dem schuldig

war. Und hatte angefangen, die Dinge aufzurühren,

die er unangetastet sehen wollte.

Sie war nicht weit gekommen. Es gab Leute, die am

längeren Hebel saßen und das auch gnadenlos ausnutzten.

Und von da an hatte sie in Köln kein Land mehr

gesehen.

Bayreuth – das klang für sie als Liebhaberin der

Wagner-Opern wie das Paradies schlechthin. Und aus

diesem Grund hatte sie sich um diesen Job beworben

ohne groß zu recherchieren, ohne sich zu informieren.


Was für sie total untypisch war. Doris Lech war bekannt

als die kühle Denkerin, die abgeklärte logische

Ermittlerin. Diese Doris hätte sich vorab erkundigt,

was denn in Bayreuth los war, wenn der letzte Vorhang

der Saison gefallen war am Grünen Hügel. In den elf

Monaten, in denen das Wort Weltstadt hier keine Bedeutung

hatte.

Kurzum – ihr Umzug Anfang September war zur

denkbar ungünstigsten Zeit erfolgt. Wagner hatte ausgedient

für dieses Jahr, alle schienen sich erst einmal

erholen zu wollen von der Überdosis Kultur der letzten

vier Wochen. Nichts war geblieben von den

Klängen der Mitwirkenden des Jugendfestspieltreffs,

die im Sommer die Fußgängerzone erfüllt hatten.

Nichts von dem internationalen Flair, der sich jeden

Sommer, ausgehend vom Grünen Hügel, über die

Stadt legte wie ein bunter Schleier. Die Gehsteige

wurden wieder hochgeklappt, die Kulturstadt verfiel

in den alljährlichen Dornröschenschlaf.

Doris Lech hätte am liebsten losgeheult. Diese Seite

mit den jämmerlichen Veranstaltungshinweisen machte

ihr klar, wie dämlich sie war. Ihr Chef hatte Recht gehabt,

damals schon, als er sie weltfremd genannt hatte.

So, als hätte er bereits da geahnt, zu welchen Dummheiten

sie sich noch würde hinreißen lassen. Was hatte

sie sich nur dabei gedacht?

Wütend griff sie nach der Kaffeetasse und nahm

einen hastigen Schluck. Prompt verbrühte sie sich die

Zunge, was ihr wie ein Sinnbild ihrer verkorksten

Existenz erschien.


Hals über Kopf alles aufgegeben. Ihren Job, der auch

ohne Beförderungen zumindest sicher gewesen war, die

großzügige Wohnung mit Rheinblick in der Stadtvilla

ihrer Eltern, ihren Freundeskreis, ihre Beziehung, die

Vielfalt der Veranstaltungen.

Doris atmete tief durch, blätterte im Kurier und

trank einen weiteren Schluck Kaffee, diesmal vorsichtiger

und bewusster.

Nein, es war die richtige Entscheidung gewesen. Das

musste sie sich nur ab und zu bewusst vor Augen halten.

Wenn sie ehrlich war – und das fiel ihr leichter, wenn sie

diesen Veranstaltungskalender nicht vor Augen hatte –,

dann war ihr Job in den letzten Jahren mehr als mies

gewesen. Die wirklich interessanten Fälle waren nicht

mehr Doris zugeteilt worden, sondern ihren Kollegen.

Sie war zwar Kriminalhauptkommissarin, aber ihre

letzten Beurteilungen waren durchweg negativ gewesen,

was nicht an ihrer Arbeit lag, wie sie genau wusste. Es

lag daran, dass sie damals weitergegraben hatte in Dingen,

die sie nichts angingen. Zumindest nach Ansicht

ihres Chefs.

Die Wohnung war in Wirklichkeit viel zu groß für

sie allein gewesen, darüber konnte auch der Rheinblick

nicht hinwegtäuschen. Peter hatte nie auch nur ansatzweise

daran gedacht, dort einzuziehen. Eigentlich hatte

er nie an eine ernsthafte Beziehung gedacht. Und sie

hatte das nur nicht wahrhaben wollen. Jetzt war sie 37

Jahre alt, hatte sieben Jahre damit verbracht, auf einen

Heiratsantrag zu warten, der nie gekommen war. Nicht

einmal eine gemeinsame Wohnung hatte Peter gewollt.

Und auch das lag mit Sicherheit zumindest teilweise an


dieser unsäglichen Geschichte. Als Stararchitekt konnte

man schlecht mit einer Begleiterin auftreten, die der

Baubehörde ans Bein gepinkelt hatte. Gelegentliche gemeinsame

Nächte, zu mehr hatte es nicht gereicht.

Mehr Wir-Gefühl war da nicht gewesen.

Von ihrer Familie, ihren Eltern waren immer nur

sanft verhüllte Vorwürfe gekommen. Zuerst darüber,

dass sie ihr Architekturstudium abgebrochen hatte und

stattdessen zur Kripo gegangen war. Doris Lech,

Tochter des stadtbekannten Bauunternehmers, alteingesessener

Kölner Geldadel – wie konnte sie nur?

Dann darüber, dass sie es nicht geschafft hatte, Peter

an sich zu binden. Das wäre die Wiedergutmachung

gewesen, die ihre Eltern sich erhofft hatten. Ein prominenter

Name, ein erfolgreicher Schwiegersohn –

wieder nichts. Damit eng verbunden die Nachwuchsfrage.

Doris als einzige Tochter, die ganze Hoffnung

der Familie. Kinder hätte sie gebären sollen, um den

Namen fortzutragen in eine weit entfernte, unbekannte

Zukunft hinein. Und was hatte sie gemacht? Einfach

nichts. Was jetzt wirklich nicht ihre Schuld gewesen

war. Es hatte durchaus eine Zeit gegeben, in der Doris

nichts lieber getan hätte als eine Familie mit Peter zu

gründen. Er war es gewesen, der das abgeblockt hatte.

Vielleicht hätte sie ihm viel früher den Laufpass geben

und sich jemand anderen suchen sollen. Aber wie,

wenn das Herz nicht mitspielte?

Ach, und die Veranstaltungen. Die hatte sie gar nicht

so häufig besucht, dass sie ins Gewicht fallen würden.

Wenn sie ganz ehrlich war, dann hatte es sie eher gelangweilt

oder genervt, immerzu dieselben Leute auf


denselben Konzerten, und immer war sie die gebrandmarkte

Außenseiterin gewesen. Außerdem war ihr

Freundeskreis drastisch geschrumpft in den letzten Jahren.

Sie war kein Enfant terrible, sie war einfach eine

Nestbeschmutzerin in den Augen vieler Bekannter.

Nein, es war schon richtig gewesen, Köln den Rücken

zuzuwenden. Daran änderte auch dieser dürftige

Veranstaltungskalender im NK nichts. Es würden andere

Zeiten kommen. Ihre Assistentin Lotte Kerner

hatte einiges aufgezählt, worauf Doris sich freuen

konnte. Jazznovember, Konzerte im Reichshof, Osterfestival,

Studiobühne. Auch wenn die Stadthalle durch

die Generalsanierung noch für längere Zeit als Spielstätte

ausfallen würde, warteten doch einige interessante

Aufführungen auf Doris. Nur eben nicht heute oder

morgen. Was diesen Trost schal schmecken ließ.

Doris starrte durch das kleine Küchenfenster nach

draußen. Viel war nicht zu erkennen im Nebelgrau dieses

frühen Samstagmorgens. Und viel mehr würde ihr

dieses Wochenende auch nicht zu bieten haben, da biss

die Maus kein Fädchen ab. Sie trank noch einen letzten

Schluck ihres lauwarmen, ebenfalls schal schmeckenden

Kaffees, raffte die Zeitung zusammen und zog ernsthaft

in Erwägung, ihrer Vermieterin einen Besuch abzustatten.

Vielleicht hatte Frau König ja einen brauchbaren

Vorschlag, was die Wochenendgestaltung betraf. Und

nachdem sie im gleichen Haus wohnte, war das ja keine

Weltreise. Andererseits – mit zwei Kindern, dem zehnjährigen

Jonas und der sechs Jahre älteren, mitten in der

Pubertät steckenden Lena, hatte Frau König vermutlich

eine ganz andere Vorstellung von gelungener Freizeit-


gestaltung als sie selbst. Mit einem leisen Seufzer griff

Doris nach ihrem Handy und schrieb eine Nachricht an

Lotte, in der festen Gewissheit, dass die nicht vor halb

zwölf antworten würde, weil sie garantiert gestern

Abend unterwegs gewesen war. Danach machte sie sich

stadtfertig und stattete dem Wochenmarkt einen Besuch

ab. Dort fing noch der frühe Vogel den Wurm. So

erwischte Doris eines der begehrten Buchauer Holzofenbrote

und ein Pfund der letzten geschmacksintensiven

Campari-Eigenanbautomaten der Gärtnerei

Gräbner. Langschläfer wie Lotte verpassten da so

einiges an Genuss. Mit etwas besserer Laune und ihrer

Beute im Weidenkorb schlenderte Doris anschließend

durchs Rotmaincenter und sah sich nach einem neuen

Mantel um. Die triste Farbgebung der neuen Kollektion

war durchaus geeignet, Depressionen zu wecken.

Schließlich entdeckte sie ein mausgraues Mäntelchen,

das wenigstens pfiffig geschnitten war, und nahm es

kurzentschlossen mit. Dann noch ein kurzer Blick auf

die wesentlich farbenprächtigere Ausstellung. Die Werke

der kleinen Künstler standen doch tatsächlich zum

Verkauf! Irritiert schaute Doris genauer hin. Ja, die

Bilder konnten erworben werden, zugunsten des SOS-

Kinderdorfes Immenreuth. Vermutlich waren es zu 90

Prozent Eltern und Großeltern, die das Projekt finanzierten.

Mit einem Mal bekam Doris ein wehmütiges

Gefühl, kombiniert mit schlechtem Gewissen darüber,

dass sie beinahe achtlos vorbeigegangen wäre. Sie begutachtete

Bild für Bild. Fast 200 Euro hatte sie gerade

für ihren Mantel ausgegeben – wofür eigentlich? Nur

weil ihr alter schon drei Jahre auf dem Buckel hatte? Sie


starrte auf die Einkaufstasche, dann drehte sie kurzentschlossen

um und trug den Mantel zurück in das

Geschäft. Wenig später stand sie wieder vor den

Bildern. Nach kurzem Zögern entschied sie sich für das

Werk der kleinen Miriam, das wohl eine explodierende

Blumenwiese darstellen sollte oder vielleicht auch ein

Feuerwerk bei Tag – es hatte leider keinen Titel und ließ

daher viel Raum für Interpretationen. Das Mantelgeld

wanderte in die Kasse des Kinderdorfs, und Doris

klemmte sich das Kunstwerk unter den Arm. Zuhause

angekommen hängte sie den Spitzweg-Druck ab, der

nach Frau Königs Ansicht die möblierte Wohnung

perfekt abrundete. Stattdessen kam der Neukauf an die

Wand, Doris beschriftete einen großen weißen Aufkleber

mit dem Text ›Weltuntergang in Es-Dur‹ und

klebte diesen in die untere rechte Ecke. Zufrieden grinsend

trat sie einen Schritt zurück und begutachtete das

Werk. Perfekt! Das war genau die Portion Sarkasmus,

die zu ihrer Stimmung passte. Sie machte sich noch

einen Kaffee, bestrich zwei Scheiben ihres Buchauer

Brotes mit ebenfalls am Wochenmarkt gekaufter Butter,

schnitt sich drei Tomaten auf und salzte sie. Doch,

Bayreuth hatte durchaus seine guten Seiten, auch abseits

des Festspielhügels. Doris angelte ihr Handy aus der

Jackentasche und sah nach, ob Lotte ihr schon geantwortet

hatte. Tatsächlich war ihre Assistentin mittlerweile

aufgewacht und hatte den ultimativen Veranstaltungstipp:

Staudenbörse in Emtmannsberg heute ab 14 Uhr – Kaffee

und Kuchen, Pflanzentausch und die definitiv weltbeste Biskuitrolle

mit Bananen. Ich bin auf alle Fälle dort.


Die Kommissarin starrte auf den Text. Sie hätte gerne

angenommen, dass Lotte einen Scherz machte. Aber

daran glaubte sie nicht wirklich. Lotte würde tatsächlich

dort sein, und sie würde mit Feuereifer mitmischen. Vor

zwei Wochen erst war sie auf den dringenden Rat ihrer

Assistentin zum Emtmannsberger Knoblauchfest gegangen,

und auch da war Lotte mitten im Zentrum des

Geschehens herum gesaust. Hatte mit Begeisterung

bedient, hatte Doris mit halb Emtmannsberg bekannt

gemacht und ihr eine Auswahl an zugegeben sehr leckeren

Knoblauchspezialitäten auf den Teller gepackt.

Staudenbörse. Warum eigentlich nicht? Vielleicht

gab es dort auch Zimmerpflanzen, ihre Wohnung war

schrecklich kahl und konnte ein wenig Grün vertragen.

Und mit etwas Glück kam die Sonne später durch, und

dann konnte die 20°-Marke noch einmal geknackt

werden – zumindest verkündete die Mainwelle-Moderatorin

Nina Blindzellner das voller Optimismus auf

der ›Maawelln‹.

Doris Lech suchte sich ein Outfit heraus, das ihrer

Meinung nach zu einer Staudenbörse passte, zog sich

Jeans und Poloshirt an, darüber ihre hellbraune Lederjacke.

Gartenschuhe besaß sie nicht, also entschied sie

sich nach kurzem Zögern für hellbraune Stiefeletten, mit

deren Absätzen sie garantiert in jedem Garten stecken

bleiben würde. Ihr verhängnisvoller Tick, durch hohe

Absätze größer wirken zu wollen als sie tatsächlich war,

war heute eher kontraproduktiv. Wobei Doris mit ihren

1,67 problemlos die Auswahlkriterien der Landespolizei

erfüllte. Aber die Jahre mit Peter hatten sie geprägt, neben

dem gutaussehenden Hünen war sie nie wirklich


aufgefallen – woran auch die Absätze nicht viel geändert

hatten. Sinnend starrte sie auf ihren Schuhschrank. Kein

einziges straßentaugliches Paar Turnschuhe. Auch etwas,

was sie wohl ändern sollte. Aber das hatte Zeit bis

zum nächsten Samstag …


Doris Lech suchte ebenso hektisch wie erfolglos nach

einem alten Karton oder gar einer Klappkiste, um ihre

Zimmerpflanzen zu verstauen – falls es dort überhaupt

etwas für ihre Wohnung gab. Sie war ja erst unlängst

die kurvige Strecke nach Emtmannsberg gefahren und

wusste Eines sicher: haltlos herumrollende Blumentöpfe

wollte sie weder den Pflanzen noch ihrem Auto

zumuten. Wobei sie eh nicht viel in ihrem roten BMW-

Cabrio unterbringen könnte. Mit einem frustrierten

Seufzer gab sie die Suche auf und beschloss, stattdessen

bei ihrer Vermieterin, Frau König, nach einem

Karton zu fragen. Kurzerhand stieg sie ein Stockwerk

höher und läutete. Schnelle Trappelschritte waren zu

hören, dann riss Jonas die Wohnungstür derart

schwungvoll auf, dass die Klinke an die Wand knallte.

Aus der Küche tönte eine lautes und vorwurfsvolles

»Jonas!«, was den Jungen aber kalt ließ.

»Mama, die Frau Lech is da!«, brüllte er, ließ Doris

einfach stehen und sauste in sein Zimmer. Frau König

kam kopfschüttelnd aus der Küche.

»Grüß Gott, Frau Lech. Tut mer leid, der Jonas

widda. Der wart auf sein Patenonkel, der wollt mit ihm

ins Kino, drum is er so aufgedreht. Kommen'S rein!«

Doris folgte ihrer Vermieterin in die Küche und

setzte sich auf den Stuhl, den Frau König ihr hinschob.

Auf dem Tisch lag Suppengrün und Gemüse:

Kartoffeln, ein Kohlrabi, zwei, drei kleine Zucchinis.


Frau König nahm ein Messer in die Hand und kümmerte

sich wieder um das Mittagessen. Einen kurzen,

wehmütigen Moment lang verglich Doris das Leben

ihrer Vermieterin mit ihrem eigenen. Sie waren etwa

im gleichen Alter, es hätte durchaus auch Doris sein

können, die für eine Familie das Essen vorbereitete.

Energisch wischte sie diesen Gedanken beiseite, als

Frau König sie ansprach:

»Und, um was geht’s denn? Is was mit Ihrer Wohnung?«

Doris winkte ab: »Nein, alles bestens. Ich wollte

nach Emtmannsberg fahren, da ist wohl heute eine

Staudenbörse, und vielleicht finde ich dort ein paar

Zimmerpflanzen. Aber ich habe keinen Karton, in den

ich die Töpfe dann stellen kann. Und ich will mir nicht

alles voller Erde bröseln. Deswegen wollte ich fragen,

ob Sie vielleicht einen Karton oder eine Klappkiste

hätten, die ich mir ausleihen kann?«

Frau König hielt kurz inne und legte ihr Messer zurück

auf den Tisch.

»Na freilich. Aber warten's amoll – Emtmannsberch?

Da wollt mer fei aa nausfahrn, ich brauchert a

weng was für mein Gartn. Wolln's ned bei uns mitfahrn?«

Das war natürlich ein vernünftiger Gedanke. Und

so verabschiedete sich Doris innerlich von dem wesentlich

unvernünftigeren Gedanken, bei strahlendem

Sonnenschein und offenem Dach mit dem Cabrio

nach Emtmannsberg zu fahren und stieg zwei Stunden

später zu Frau König in den Familienkombi, der leicht

nach Hund roch und voller Krümel war. Überrascht


stellte sie fest, dass nicht nur der Golden Retriever

Bobby mitfuhr, sondern auch Lena König. Sie hätte

das Mädchen eher im Rotmaincenter vermutet als auf

einem solchen Ausflug. Als Doris eine diesbezügliche

Bemerkung fallen ließ, kicherte Lena und meinte:

»Keine Angst, ich geh nicht zum Blumen Aussuchen

mit. Ich treff mich mit der Lisa und der Anna, weil wir

ein Referat vorbereiten müssen.«

Damit war das Weltbild von Doris Lech wieder zurechtgerückt.

»Lisa? Heißt die zufällig Kerner?«, wollte

sie von Lena wissen.

»Ja, genau – kennen Sie die wohl? Ach ja, der Lisa

ihre Schwester arbeitet ja auch bei der Polizei«, beantwortete

Lena sich ihre Frage selbst.

Lisas Schwester war niemand anderes als Lotte,

Doris' quirlige Assistentin. Doris hatte das Mädchen,

das Lotte wie aus dem Gesicht geschnitten war, auf

dem Knoblauchfest gesehen.

Frau König lächelte und meinte: »Bareid is halt a

Dorf, da kennt jeder jeden.«

Ja, das hatte Doris auch schon gemerkt. Es schien,

als wäre hier ein unsichtbares Netz gesponnen, quer

durch die Stadt, mit Fäden hinaus ins Umland, das

jeden Bewohner umschlungen hielt. Noch fühlte Doris

sich fremd hier, außen vor. Lotte Kerner allerdings

legte sich gewaltig ins Zeug, um das zu ändern. Vom

ersten Tag an hatte sie kein Hehl daraus gemacht, dass

sie ihre Vorgesetzte schnellstmöglich integrieren wollte.

Doris konnte sich noch gut an ihre erste Begegnung

erinnern, als sie selbst etwas steif und ungelenk versucht

hatte, die richtigen Worte zu finden. Lotte hatte


gar nicht erst abgewartet, bis die Dienst- und auch ansonsten

Ältere auftaute, sondern hatte Doris sofort

höchst unkonventionell die Hand hingehalten und ihr

erklärt:

»Also, ich bin die Lotte« – das klang allerdings eher

wie »Lodde« – »und ich zeig dir gern alles, was du über

Bayreuth wissen musst, damit du dich ganz schnell

einlebst und zu uns g'hörst. Hast du heut Abend schon

was vor? Nein? Na, dann kommst gleich amoll mit mir

mit, nocherd zeig ich der Bareid bei Nochd.«

Nun war Bayreuth bei Nacht jenseits der Festspiele

und während der Semesterferien wahrlich unspektakulär,

dennoch war dieser Abend ein besonderer gewesen:

er hatte nämlich den Beginn einer ungewöhnlichen

Freundschaft markiert. Und Freunde waren etwas, das

Doris wahrlich dringend nötig hatte nach ihrer Ächtung

in Köln.

Die Kommissarin wurde aus ihren Gedanken gerissen,

als ihre Vermieterin die Sprache auf das bevorstehende

Schuljubiläum brachte. Das Richard-Wagner-

Gymnasium, kurz RWG oder vor allem bei den bereits

ergrauten Bayreuthern noch als Besenstall bekannt, hatte

nämlich bereits beachtliche 150 Jahre auf dem Buckel,

und dieser Umstand wurde groß gefeiert. Einer der Jubiläumshöhepunkte

sollte eine Theateraufführung werden,

bei der auch Frau Königs Tochter Lea mitwirkte. Entsprechend

begeistert berichtete die Mutter, während die

Tochter genervt die Augen verdrehte.

»Mama! Du glaubst doch nicht, dass das die Frau

Lech interessiert? So spannend ist das auch wieder


nicht«, so der vorwurfsvolle Kommentar von der Rückbank.

Doris beeilte sich zu widersprechen.

»Doch, Lea – natürlich interessiert mich das. Magst

du mir erzählen, worum es bei dem Stück geht?«

»Ach, worum es halt immer geht. Um Liebe und

Verrat.«

Frau König schaffte es nicht, den Mund zu halten:

»Stellen Sie sich vor, Frau Lech: Das Stück ist schon

100 Jahre alt. Beim Aufräumen hat die Lehrerin einen

alten Koffer gefunden, in dem waren Kostüme, das

Textheft für das Stück – handgeschrieben! Stellen Sie

sich das mal vor! Ich könnte das ja gar nicht mehr lesen,

wie Spinnenbeine, das Gekrakel. Wie hast du gesagt,

dass es heißt, Lena?«

Von hinten kam erneut ein genervter Seufzer. »Das

Stück oder die Schrift? Die Schrift heißt deutsche Kurrentschrift,

ein Vorläufer von Sütterlin, und als Lehrer

muss man so was lesen können. Die Frau Grimm hat

das alles für uns abgetippt, war bestimmt viel Arbeit.

Und das Stück heißt ›Elfentanz‹, voll kitschig. Spielt

halt vor hundert Jahren. Da zieht ein Kerl in den

Krieg, Georg Ludwig heißt er. Und der ist verliebt in

eine Anna Maria. In die ist noch ein anderer Kerl verliebt,

ein Konrad von Irgendwas. Und weil der adelig

ist und Einfluss hat, kann er dafür sorgen, dass der

Georg Ludwig auf ein Himmelfahrtskommando geschickt

wird und umgebracht wird. Die Anna Maria

verlobt sich dann mit dem Konrad, aber sie kommt

dahinter, dass er den Georg auf dem Gewissen hat.

Und dann bringt sie erst den Konrad um und dann

sich selbst.«


Doris heuchelte Interesse. »Und das Stück ist vor 100

Jahren schon einmal aufgeführt worden? Das war dann

zum 50jährigen Jubiläum? Das ist ja mal eine schöne

Idee.«

Lena schnaubte hörbar aus. »Wenn das nur so gewesen

wäre. Nein, das stimmt nicht so ganz, Frau Lech. In

dem Koffer war auch eine alte Zeitung mit einer Todesanzeige,

von einer Margarethe Schlehmüller. Die hat

wohl früher hier in der Nähe gewohnt.« – hier mischte

sich wieder Frau König ein – »Wir fahren gleich an der

Schlehenmühle vorbei, ich zeig sie Ihnen dann.«

»Also, die Margarethe ist wohl bei uns in der Schule

gestorben. Die muss sich vom Uhrenturm gestürzt

haben. Und weil sie bei dem Stück irgendwie mitgemacht

hat, wurde dann die ganze Aufführung abgesagt,

damals. Es lag wohl eine Notiz mit in dem Koffer, von

der damaligen Lehrerin. Da stand drin, dass das Mädchen

sich offenbar umgebracht hat, weil ihr Vater und

zwei ihrer Brüder im Krieg gefallen sind und ein dritter

Bruder verschollen war. Und dass sie das wohl nicht

verkraftet hätte. War bestimmt schlimm, das Ganze.

Sie lag jedenfalls eines Abends vor dem Turm. Frau

Grimm hat gesagt, dass damals Selbstmörder nicht auf

dem Friedhof begraben wurden, sondern irgendwo

außerhalb ohne Pfarrer verscharrt. Die arme Mutter!«

Jetzt zeigte Doris ehrliches Interesse. Diese Geschichte

klang nach einem kleinen Skandal. Ob und

wie wohl damals die Polizei ermittelt hatte, bei Selbstmord?

Es hatte ja noch kaum forensische Methoden

gegeben, um Selbstmord von Mord zu unterscheiden.

Und in den Kriegswirren war eh fraglich, inwieweit die


Polizei ordnungsgemäß ermitteln konnte. Wer weiß,

was da täglich angefallen war an neuen Aufgaben. Und

bestimmt war das Personal knapp gewesen, noch

knapper als heutzutage.

»Habt ihr mal versucht, was Genaueres zu erfahren

über diese Margarethe? Oder über ihre Familie?«

Lena zuckte nur mit den Schultern. »In der Schlehenmühle

wohnt jedenfalls kein Schlehmüller mehr.

Aber unser P-Seminar Schulgeschichte hat rausgefunden,

dass das Mädchen in einem Jahrgang war mit einigen

Leuten, die heute auch noch bekannt sind. Zweistein

zum Beispiel, sagt Ihnen der Name was?«

»Nun ja, eher ein Allerweltsname«, erwiderte Doris

im Scherz. Aber Lena, unempfänglich für Untertöne,

widersprach: »Nicht in Bayreuth, da kommt für manche

Leute Zweistein gleich hinter Wagner und Liszt.

Der Albert Zweistein muss eine Sonate geschrieben

haben, die damals ein Riesenerfolg war. War allerdings

ein One-Hit-Wonder, der Albert ist auch nicht besonders

alt geworden, sondern in den Zwanzigern an – wie

hat man das doch damals so schön umschrieben? –

Schwindsucht gestorben. Die Frau Grimm hat gesagt,

Schwindsucht war damals die Diagnose für alle Krankheiten,

von denen man sonst keine Diagnose stellen

konnte. Jedenfalls, die Schwester von diesem Albert,

eine Lisette Zweistein, war in einem Jahrgang mit der

Margarethe. Gut möglich, dass sie sogar zusammen zur

Schule und wieder heimgefahren sind. Die Zweisteins

haben nämlich in Wolfsbach gewohnt …« wieder unterbrach

ihre Mutter: »Wohnen sie immer noch, die

haben dort einen riesigen ehemaligen Gutshof und


Geld wie Heu. Halb Wolfsbach gehört denen. Frau

Lech, Sie kommen doch bestimmt zu der Aufführung,

oder? Lena kann Ihnen eine Karte reservieren. Da lernen

Sie halb Bayreuth auf einen Schlag kennen. Sogar

die Wagners sollen wohl kommen.«

»Mama! Die sind doch nicht der Nabel der Welt, was

ihr nur immer alle mit dem Wagner-Clan habt.«

»Na ja, der Nabel der Welt sind sie vielleicht nicht,

aber interessant wäre das schon für mich, die mal zu

treffen. Und euer Stück klingt auch danach, dass man

es ansehen sollte. Es wäre wirklich schön, wenn du mir

eine Karte reservieren würdest, Lena. Wann ist die

Aufführung denn genau?«

Lena legte die Stirn in Falten, als sie nachdachte.

»Hirn wie Sieb – irgendwann Mitte Oktober. Aber

warten Sie, ich hab den Termin aufm Handy … ja,

hier: am 11., 12. und 13. Oktober sind Vorstellungen.

Mittwoch bis Freitag. Wann passt es Ihnen denn am

besten?«

»Hmmm, am Mittwoch ist die Premiere, da wird es

eh schon brechend voll sein. Dann lieber am Donnerstag,

okay?«

»Da sehen Sie aber die Wagnerleute nicht. Die kommen

garantiert nur zur Premiere.«

Doris lächelte. »Auch egal. Die nächsten Festspiele

kommen bestimmt, und ich habe fest vor, mir Karten

zu kaufen.«

Mittlerweile waren sie in Emtmannsberg angekommen,

und Frau König parkte den Kombi am Rand

einer schmalen Straße hinter einer Reihe anderer Autos

– offenbar war die Staudenbörse ein beliebter Treff-


punkt. Bobby stieg bedächtig aus und schnüffelte die

Laternenpfosten ab. Lena schnappte sich seine Leine.

»Ich nehm ihn mit zur Lisa. Und heimfahren kann ich

später mit den Eltern von Anna. Ciao!«

Doris Lech hoffte für Annas Eltern, dass auch diese

einen Hund besaßen – in ihrem eigenen Auto hätte sie

weder Hundehaare noch den zwar nur leichten, aber

dennoch hartnäckigen Hundegeruch gewollt. Frau

König war schon voraus gelaufen, und so beeilte sich

Doris, ihr in einen kleinen Hof zu folgen. Schon am

Tor stand ein Tisch mit einem Sparschwein für Spenden

– die Pflanzen selbst waren kostenlos. Auf einer

kurz geschorenen Rasenfläche und auch direkt davor

war das vielfältige Staudenangebot ausgebreitet. Von

Schwertlilien über Astern und Nachtkerzen war alles

vertreten, auch etliche Pflanzen, die Doris noch nie

gesehen hatte. Als sie sich über einen grünen Büschel

beugte, trat ein Mann mit Gartenschürze neben sie.

»Das ist eine Bergflockenblume. Blüht im Mai dunkelblau,

eine echte Schönheit.« Doris sah verblüfft auf.

»Walter Kremnitz. Wenn Sie Fragen haben, nur zu.«

»Ach, wissen Sie, ich suche eigentlich nur nach

Zimmerpflanzen. Doris Lech ist mein Name. Ich bin

mit Frau König hier.« Sie deutete in Richtung ihrer

Vermieterin.

»Die Frau König – ja, die kommt jedes Jahr hierher.

Wenn Sie später Kaffee und Kuchen wollen, dann

schauen Sie mal unsere Fotowand an der Tür an. Da ist

sie auf vielen Fotos zu finden. Aber jetzt zu Ihren

Zimmerpflanzen: Die stehen alle auf der Treppe zum

Gerätehaus, dort drüben. Heuer haben wir etliche ver-


schiedene Kakteen, einen großen und zwei kleinere

Benjamin, zwei Flamingoblumen, Clivien – die blühen

wunderschön orange –,sogar ein großes Fensterblatt

und einen Asparagus. Und Duftgeranien, die halten die

Fliegen ab.«

Doris zog die Augenbrauen hoch. Sie fühlte sich ein

wenig überfordert von der Vielfalt. »Asparagus? Was

ist das denn?«, wollte sie wissen. Kremnitz lief zu dem

Gerätehaus. »Hier, das ist er. Ein Spargel, aber nicht

zum Essen, sondern ein Zierspargel. Macht sich bestimmt

gut im Bad, vielleicht in Kombination mit ein,

zwei Farnen?« Doris bedankte sich und begutachtete

das Sortiment in Ruhe, während ihre Vermieterin, ein

breites begeistertes Lächeln im Gesicht, das Auto mit

Stauden belud. Die Entscheidung fiel Doris nicht

leicht. Sie hätte gerne etwas großes Grünes im Wohnzimmer

gehabt, aber sie scheute sich, das halbe Auto in

Beschlag zu nehmen. Daher wandte sie sich mit einem

Seufzer von dem großen grünen Benjamin ab und

seinen gescheckten kleineren Freunden zu.

Frau König war unbemerkt zu ihr getreten, sie hatte

das Zögern beobachtet. »Frau Lech, wenn Sie den großen

Benjamin wollen, das ist kein Problem. Den bringen

wir schon unter, wenn wir die Rückbank umlegen.

Wir sind ja nur noch zu zweit auf der Rückfahrt.«

Noch wollte Doris sich ein wenig zieren, aber da erschien

Walter Kremnitz wieder, begrüßte auch ihre

Vermieterin herzlich und überzeugte Doris: »Was heute

nicht weggeht, das erfriert wohl morgen Nacht. Es ist

Frost gemeldet und wir haben keine Unterstellmöglichkeit

für die Zimmerpflanzen. Laden Sie ihn ein, den


Benjamin, und die beiden kleinen bunten am besten

gleich noch dazu.«

Damit war klar, dass Doris es nicht übers Herz bringen

würde, die Töpfe stehen zu lassen. Er schleppte die

große Pflanze zum Auto, Doris nahm die beiden kleinen

Töpfe hoch.

Als Frau König die Heckklappe wieder zumachte,

nickte Kremnitz zufrieden. »Und jetzt müssen die Damen

aber noch zu meiner Frau, die Angelika ist innen

beim Kuchenverkauf. Zwetschgenkuchen gibt es, eigene

Ernte, Käsekuchen, Schwarzwälder Kirschtorte, Apfelkuchen,

und wenn ihr Glück habt, dann ist noch was

von der Bananenrolle da.«

Frau König stieß Doris den Ellbogen in die Rippen.

»Bananenrolle! Kommen Sie schnell, die ist genial!«


1917

Lachend und scherzend liefen die Mädchen aus der Turnhalle

und hinauf in den Theaterfundus. Sie alle waren in dem

Alter, das man als Backfischalter bezeichnete. Die Generation

ihrer Enkel würde im gleichen Alter Teenager genannt

werden, aber das wussten die Backfische verständlicherweise

noch nicht. Sie kicherten, stießen sich gegenseitig die Ellbogen

in die Rippen und schlüpften in ihre Kostüme: altmodische

Kleider mit knöchellangen Röcken aus dunkelblauem

Wollstoff und weißen Baumwolloberteilen, die mit weit ausladenden

Matrosenkragen ausstaffiert waren. Dazu Mützen

aus dunklem Strickstoff, die vor anderer Kulisse problemlos

und authentisch französische Lebenskünstler hätten schmücken

können. Alle waren aufgeregt, denn heute sollten die

Rollen vergeben werden für das wichtigste Theaterstück seit

Schulgründung. Zum Schuljubiläum der ›Höheren Töchterschule‹

– hinter vorgehaltener Hand von den Bayreuthern

despektierlich Besenstall genannt – sollte es aufgeführt werden,

und erwartet wurde alles, was in Bayreuth Rang und

Namen hatte. Neben Oberbürgermeister von Casselmann und

einigen anderen illustren Logenmitgliedern hatte sich Siegfried

Wagner, der Sohn des hochverehrten Komponisten und

späteren Namensgebers der Schule, samt Gattin Winifred

angekündigt.

Natürlich würde es kein wirklich unbeschwertes Fest werden,

dazu waren die Zeiten viel zu übel. Kaum eine Familie,

die keinen im Krieg Gefallenen betrauerte, kaum jemand, dem


es wirtschaftlich noch gut ging. Dass Amerika vor wenigen

Monaten Deutschland ebenfalls den Krieg erklärt hatte, ließ

die Sorgenfalten auf den Gesichtern der Erwachsenen nicht

kleiner werden. Zu lange schon dauerten die stetigen Kämpfe,

ohne dass irgendjemand noch an einen Erfolg glaubte. Hinter

vorgehaltener Hand tuschelten die Bürger über die Sinnlosigkeit

dieses Krieges und auch darüber, wie sehr man sich nach

einem Ende der Katastrophe sehnte. Die Mädchen mit ihren

14, 15 oder 16 Jahren konnten es sich kaum anders vorstellen

als es jetzt war – Jugend vergisst schnell –, aber glücklich

waren auch sie nicht.

Das Theaterstück versprach Abwechslung und Ablenkung

von den trüben Gedanken und ließ die jungen Dinger über ihre

knurrenden Mägen hinweg hören. Und so kicherten und alberten

sie so übertrieben herum, bis ihre Lehrerin, Fräulein

Schmittig, jetzt energisch mit dem Lineal auf das hölzerne

Pult klopfte und laut um Disziplin bat.

»Meine Damen, ich hoffe sehr, dass ihr euch über Eines im

Klaren seid: An unserer Aufführung dürfen nur Schülerinnen

mitwirken, die erstens tadellose Leistungen und zweitens

tadellose Manieren an den Tag legen. Gänseartiges Herumschnattern

gehört mit Sicherheit nicht dazu! Also mäßigt bitte

euer albernes Betragen, bevor ich Konsequenzen ziehen muss.«

Noch kurzes Tuscheln, und dann herrschte tatsächlich

Ruhe. Fräulein Schmittig lächelte zufrieden und sprach dann

weiter.

»Ich möchte euch zuerst einige grundlegende Informationen

zu unserem Stück geben. Es heißt ›Elfentanz‹, und es

dreht sich um Liebe, Verrat, Krieg und Tod –«

Ein Arm schnellte nach oben.

»Ja, Lisette? Was möchtest du wissen?«


Lisette grinste breit und fragte in unschuldigem Ton:

»Wenn es in dem Stück um Liebe und Krieg geht – werden

dann auch Schüler der Oberrealschule mitspielen? Das klingt

so, als ob auch Männerrollen zu besetzen wären.«

Erneutes Kichern gluckste durch die Turnhalle. Einige

Mädchen wurden rot, andere stießen sich gegenseitig leicht

an. Fräulein Schmittig bemühte sich ernst zu bleiben.

»Lisette, ich muss dich enttäuschen. Wie immer werden

auch in diesem Jahr sämtliche Männerrollen durch euch besetzt.

Wenn ihr Oberrealschüler oder Humanisten treffen

wollt, dann geht am Sonntag im Hofgarten spazieren. Vielleicht

habt ihr dort mehr Glück als hier.«

Jetzt wurde auch Lisette rot und steckte ein Zopfende in

den Mund, um verlegen darauf herum zu kauen.

»Gut. Zurück zu unserem Stück. Wir haben 14 Rollen zu

besetzen. Wer eine Rolle übernehmen will, darf jetzt gerne

vorsprechen. Der Ordnung halber möchte ich noch erwähnen,

dass die besseren Zensuren zählen, wenn es mehr Bewerberinnen

als Rollen gibt. Aber auch dieses Prozedere ist euch ja

bereits aus früheren Jahren bekannt. Hier sind die Texte,

macht euch damit vertraut – um drei Uhr, also in einer halben

Stunde, beginnt das Vorsprechen.«

Die Mädchen steckten ihre Köpfe in die Texte und vertieften

sich in die Rollen.

Fräulein Schmittig nutzte den ruhigen Moment und ging

auf eine etwas abseits stehende Schülerin zu. »Margarethe,

für dich habe ich etwas Besonderes vorgesehen. Ich hätte

gerne, dass du die musikalische Umrahmung von ›Elfentanz‹

übernimmst. Du spielst so wunderschön Klavier, das wäre

richtig stimmig. Hättest du Lust dazu?«


Margarethe Schlehmüller überlegte nur kurz. Sie wusste,

dass weder ihre Noten noch ihr schauspielerisches Talent

wirklich herausragend waren. Eine kleine Statistenrolle,

mehr wäre nicht drin für sie. Dazu kam, dass ihr Vater im

März gefallen war. Das Trauerjahr war noch nicht vorbei.

Wer weiß, ob ihre Mutter überhaupt erlauben würde, dass

Margarethe auf der Bühne stand. Das war wohl nicht

schicklich. Aber wenn sie Klavier spielte, dann war sie in

ihrer eigenen Welt, in der sie sich mit schlafwandlerischer

Sicherheit bewegte. Schon die Vorstellung, wieder musizieren

zu können, war so verlockend, dass sie begeistert zustimmte.

»Sehr, sehr gerne, Fräulein Schmittig! Das würde mir gut

gefallen. Es gibt nur ein Problem. Wir haben unser Klavier

nicht mehr. Meine Mutter hat es verkauft, um Brennholz für

den Winter kaufen zu können und zwei Hühner. Eier sind

leider wichtiger als Musik geworden.«

Die Lehrerin blickte sie betroffen an. Überall war es das

Gleiche. Stück um Stück wurden die Überbleibsel aus einer

besseren Vergangenheit verkauft und weggetauscht, um das

Überleben zu sichern. Sie seufzte. Man durfte gar nicht

daran denken, wie viele Begabungen unerkannt und ungenutzt

verkümmerten, ungenannte Opfer dieses Krieges. Ganz

zu schweigen von all den Talenten, die auf den Schlachtfeldern

fielen. So ein sinnloses Morden und Sterben, das ein

ganzes Land, nein, eine ganze Welt ins Elend stürzte. Aber

das durfte man natürlich niemals laut äußern.

»Margarethe, ich bin sicher, dass du auf unserem Schulflügel

in der Blauen Grotte üben darfst. Ich werde gleich

morgen mit Herrn Schulz reden. Er hat bestimmt nichts dagegen.

Und dann kannst du täglich nach dem Unterricht

üben solange du willst.«


Margarethe lächelte dankbar. Endlich wieder musizieren zu

dürfen! Ein Traum ging in Erfüllung, so viele heiß geweinte

Gebete wurden in diesem Augenblick erfüllt. Sie war sich

sicher, ihr Vater würde in diesem Moment vom Himmel zu

ihr herunter schauen und sich mit ihr freuen. Er hatte die

Musik ebenso geliebt wie sie, hatte sie unterrichtet, wenn er

nicht gerade Hausmusiklehrer für diverse Gutsherrentöchterlein

spielen musste. Ihre Mutter hatte das nie verstanden,

hatte diese Leidenschaft nie geteilt. Sonst hätte sie gewusst,

dass sowohl Margarethe als auch ihr Vater Rudolf lieber

verhungert und erfroren wären als das Klavier zu verkaufen.

Ach Papa, wenn du nur noch hier wärst …

Die Stimme ihrer Lehrerin riss sie aus ihren Tagträumen.

»Ich hatte an ein längeres Stück als Ouvertüre gedacht,

dann an verschiedenen Stellen der Aufführung leise musikalische

Untermalung. Und zum Schluss, wenn der Vorhang

fällt, wieder ein längeres Stück. Wagner natürlich, das dürfte

selbstverständlich sein. Nicht nur Richard – ich werde

Siegfried Wagner aufsuchen und anfragen, ob er ein geeignetes

Klavierstück komponiert hat. Und Liszt hätte ich auch

gerne. Die Liebesszene, als Georg Ludwig, bevor er in den

Krieg zieht, Anna Maria seine Gefühle gesteht. Und sich

danach abwendet mit der Bitte, auf ihn zu warten – was

wäre da geeigneter als der ›Liebestraum‹? Am besten fängst

du schon morgen an, den ›Liebestraum‹ zu üben. Die übrigen

Stücke werde ich dir im Laufe der Woche mitbringen.«

Margarethe nickte brav, ohne zu erwähnen, dass sie den

›Liebestraum‹ auswendig konnte. Sie war gespannt auf die

anderen Stücke. Und sie wusste, was sie außerdem noch üben

würde …


Während die anderen Mädchen also halblaut ihren Text vor

sich hin murmelten, saß Margarethe im Schneidersitz in einer

Ecke auf dem Fußboden. Ihrer Mutter hätte das garantiert

nicht gefallen: weder der Fußboden noch die Sitzhaltung

ziemten sich für ein junges Mädchen. Aber so konnte man

einfach am besten nachdenken, sich konzentrieren. Margarethe

hatte die Augen geschlossen und stellte sich die Melodie des

›Liebestraums‹ vor. Es war für sie nicht besonders schwierig,

die Notenblätter vor ihrem inneren Auge erscheinen zu lassen.

Margarethes Finger begannen zu zucken, lautlos spielte sie die

heraufbeschworenen Noten. Das Gemurmel ihrer Mitschülerinnen

wurde leiser und verschwamm in der Dunkelheit, stattdessen

hörte Margarethe nun ganz deutlich, was sie spielte. Sie

konnte den ›Liebestraum‹ immer noch, wusste immer noch, wo

die heiklen Stellen versteckt waren. Und sogar bei ihrem lautlosen

Spiel griff sie bei demselben Akkord daneben wie früher

am Klavier. Was sie selbstverständlich hörte und bemerkte.

Lisette stupste ihre Freundin Käthe an und zeigte auf

Margarethe. Für ein paar Sekunden beobachteten die beiden

ihre Mitschülerin, bevor sie zu kichern begannen und sich

wieder in ihren Text vertieften. Margarethe bemerkte es nicht.

Sie war eingetaucht in eine völlig andere Welt.


Tina Hermann sah leicht genervt auf ihre kostspielige

goldene Armbanduhr. Zehn nach eins – wie fast immer

dehnte ihr Chef die Mittagspause wesentlich länger aus

als angekündigt. Rechtsanwalt Dr. Held war schon um

halb zwölf in die Innenstadt verschwunden, zwischen

Tür und Angel hatte er ihr als Stichwort ›Arbeitsessen

mit Richterin Salesch‹ zugeworfen und dabei über den

schlechten Witz gefeixt wie ein Schuljunge. Tina hatte

sich anstandshalber ein gezwungenes Lächeln abgerungen

und dabei genau gewusst, wie aufgesetzt es wirkte.

Dr. Held hatte ihr noch über die Schulter zugerufen:

»Bitte nicht auf dem Handy anrufen, ich bin in einer

guten Stunde wieder erreichbar.«

Einen kurzen Moment lang hatte Tina mit dem

Gedanken gespielt, ihrem Chef zu folgen. Vielleicht

hätte es sich gelohnt, vielleicht hätte sie etwas herausgefunden,

das ihn erpressbar machte. Dann jedoch

verwarf sie diese Idee wieder. Dr. Held verdiente zwar

nicht schlecht, aber im Gegensatz zu den Leuten,

über die sie bereits pikante Details auf ihrem Laptop

gespeichert hatte, war er doch ein eher kleiner Fisch,

den anzuzapfen es sich nicht wirklich lohnen würde.

Also hatte Tina in der Kanzlei die Stellung gehalten,

heute ganz alleine, denn die Sekretärin Frau Mauser

hatte sich krank gemeldet. Tina konnte daher ungestört

in allen möglichen Akten blättern, und sie suchte zielstrebig

heraus, was für sie interessant schien. ›


Lieber Bücherfreund,

gerne stelle ich mich und meine Geschichten hier vor:

1965 in Bayreuth geboren, verheiratet

und Mutter von vier Kindern,

begann ich schon während meiner

Schulzeit zu schreiben. Anfangs

waren es Gedichte und Liedtexte,

später kamen Kurzgeschichten

dazu sowie ein erster Entwurf der

›Teufelsbraten‹.

1982 gewann ich den regionalen Lyrikpreis des ›goldenen

Liebri‹, 1988 kam es zu einer ersten Veröffentlichung

in der Anthologie ›Meine Gefühle schlagen

Purzelbäume‹.

Anschließend jedoch sorgte meine berufliche Tätigkeit

für eine lange kreative Pause. Erst durch meine Kinder

kam ich wieder zum Schreiben und konnte bereits

mehrere Bücher veröffentlichen.

Die Themen sind dabei breit gefächert:

›Prinzessin Mandarina‹ ist speziell für Leseanfänger gedacht.

›Auf geht’s, Minitigers‹ handelt von Freundschaft und

Vorurteilen in einem Eishockeyteam.

Bei den ›Teufelsbraten‹ geht es um erste Liebe, Patchworkfamilien

und zwei anfangs verfeindete Banden, die

sich mit der Zeit aber zusammenraufen und sogar gemeinsam

Detektiv spielen.


›Sternenstaub über Bayreuth‹ ist ein romantisches Buch

über die erste Liebe, Schutzengel und die Suche nach

einer verschollenen Mutter.

Gänsehaut pur ist dagegen bei der ›Mordsfreundin‹ garantiert

– zwei junge Mädchen zerbrechen an den düsteren

Seiten des Lebens und reißen ihr Umfeld mit in

den Abgrund.

Der Bayreuth-Krimi ›Blutige Kufen‹ ist wieder im Eishockeymilieu

angesiedelt. Kommissarin Julia Lehmann

muss ermitteln und begeht dabei den Fehler, sich in

einen Tatverdächtigen zu verlieben.

In dem Bayreuth-Krimi ›Notenspur in Moll‹ werden

Mord und Musik verknüpft und schlagen am Bayreuther

Richard-Wagner-Gymnasium den Bogen von 1917 bis

ins Hier und Jetzt.

Daneben habe ich bereits für mehrere Anthologien

Kurzgeschichten zu verschiedenen Themen verfasst.

Fast ebenso wichtig und lieb wie das Schreiben sind

mir die Lesungen geworden, die ich regelmäßig v.a. in

Schulen der Region Bayreuth durchführe. Mein Hauptaugenmerk

liegt dabei – wie auch beim Schreiben

meiner Bücher – darin, Leute fürs Lesen zu begeistern,

die bisher nichts mit Büchern anfangen können. Als logischer

Schritt daraus resultiert auch meine Beteiligung

am Leicht-Lesen-Projekt des Elvea Verlags, wo bereits

›Die Teufelsbraten‹, ›Prinzessin Mandarina‹ sowie

›Blutige Kufen‹ (in Großdruck) erschienen sind.

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