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Form Follows Future

Die Bauhausnummer

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Mut<br />

G<br />

Der Bauhaus-Gründer wurde einst gefeiert wie<br />

S<br />

Bowie, Britney und Co. Aber welche Star-Qualitäten<br />

brachte er wirklich mit? Ein Vergleich mit<br />

einigen der erfolgreichsten Musikern aus den<br />

R<br />

letzten Dekaden<br />

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VON VIVIAN HARRIS<br />

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FOTO: LOUIS HELD, UM 1919 | ILLUSTRATION: VIVIAN HARRIS<br />

AUF DIE BILDUNG PFEIFEN<br />

Sie tauschten Gleichungen gegen Gitarren, Dramenanalysen<br />

gegen Drums, Religionslehre gegen Rock’n’Roll: Jimi<br />

Hendrix und Mick Jagger sind nur zwei der Musiker, die<br />

es mit der schulischen Bildung nicht ganz so ernst genommen<br />

haben. Nicht so ernst zumindest wie mit der Musik.<br />

Während Jagger sein Studium an der London School of<br />

Economics als langweilig empfand, hatte Hendrix bereits<br />

in der High School aufgegeben und diese wegen schlechter<br />

Noten verlassen. Den Plan, Musiker zu werden, hatten<br />

beide aber bereits im Hinterkopf, als sie sich gegen den<br />

klassischen Bildungsweg entschieden. Wer rockt, rebelliert<br />

ja auch immer ein bisschen. Der Rebell in Walter<br />

Gropius kam 1907 auf, als er sein Architektur-Studium,<br />

das er 1903 in München begonnen und für zwei Jahre<br />

in Berlin weitergeführt hatte, abbrach. Zum einen konnte<br />

er nicht wirklich zeichnen (eigentlich eine Voraussetzung<br />

für diesen Beruf), zum anderen erschien ihm der Lehrplan<br />

an den Universitäten – ähnlich wie dem Stones-Frontmann<br />

– öde und realitätsfern. Der damals 24-Jährige entschied<br />

sich also gegen ein Studium. Für ihn, wie auch für Hendrix<br />

und Jagger, ein Schritt in Richtung Weltkarriere.<br />

DIE FAMILIE SCHÄTZEN<br />

Mutter Künstlerin, Vater Künstler, Tochter Künstlerin. Nicht<br />

immer entscheidet man selbst über die eigene berufliche<br />

Karriere. Was nicht unbedingt ein Nachteil sein muss.<br />

Billie Eilish, die gerade zu den beliebtesten Popstars<br />

der Welt zählt, wuchs in Los Angeles als Tochter zweier<br />

Schauspieler auf. Ihr großer Bruder ist selbst Musiker<br />

und half ihr schon vor ihrem Durchbruch dabei, Songs<br />

zu schreiben und zu vertonen. In einem kreativen Umfeld<br />

aufzuwachsen, inspirierte Billie zu einem neuartigen,<br />

düsteren Sound, der sich vom aktuellen Mainstream-Pop<br />

absetzt. (Er macht die 17-Jährige gerade zu einer der<br />

weltweit kommerziell erfolgreichsten Singer-Songwriterinnen).<br />

Vielleicht wurde auch in auch Walter Gropius‘<br />

Elternhaus der Grundstein für seine visionären Ideen gelegt:<br />

Er stammte aus einer großbürgerlichen Familie mit<br />

Hang zum Design: Sein Vater Walther war Architekt bei<br />

der Berliner Baupolizei, sein Großonkel Martin ein früherer<br />

Schüler des Städteplaners Karl Friedrich Schinkels,<br />

welcher wiederum ehemaliger Mitbewohner von Walters<br />

Großvater Carl war. Während Billies Sprungbrett der Online-Musikdienst<br />

Soundcloud war (dort veröffentlichte sie<br />

den Song „Ocean Eyes“, der es auf den Soundtrack der<br />

Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“ schaffte), waren<br />

es bei Walter eher familiäre Kontakte. Nachdem er die<br />

Universität ohne Abschluss verlassen hatte, verschaffte<br />

ihm sein Großonkel eine Anstellung im renommierten<br />

Architektenbüro Behrens, wo er zukünftige Partner wie Le<br />

Corbusier oder Mies Van der Rohe kennenlernte.<br />

AUF FREMDE HILFE VERTRAUEN<br />

Hört man „Jailhouse Rock”, denkt man an den jungen Elvis<br />

Presley, wie er mit verschmitztem Lächeln und im gestreiften<br />

Oberteil vor einer Gefängnis-Kulisse seine Hüften<br />

schwingt. Selten verbindet man einen Song so sehr mit<br />

seinem Interpreten. Dabei hat Presley das Stück nicht einmal<br />

selbst geschrieben. Tatsächlich schrieb Elvis Presley<br />

keines seiner Lieder selbst. Nein, „Suspicious Minds“ ist<br />

nicht von ihm, „Hound Dog“ auch nicht und auch „Heartbreak<br />

Hotel“ hat einen anderen Verfasser. Aber nicht nur<br />

der King of Rock’n’Roll hatte fremde Hilfe. Auch Walter<br />

Gropius, der King of Reduktion, hatte einen Ghostwriter,<br />

wenn man so will. Der Architekt zeichnete keinen seiner<br />

Entwürfe selbst: Das Fagus-Werk, UNESCO-Weltkulturerbe<br />

und das Projekt, das ihn zum Begründer der Modernen<br />

Architektur machte, stammte beispielsweise von<br />

seinem Partner Adolph Meyer. Das Bauhaus in Dessau<br />

vom Architekten Carl Fieger. Gropius war vielleicht der Visionär,<br />

umgesetzt – zeichnerisch und architektonisch – haben<br />

seine Visionen aber andere. Es heißt, Gropius konnte<br />

zwar nicht mit dem Stift in der Hand umgehen, war dafür<br />

aber in der Lage, seine Ideen so genau in Worte zu fassen,<br />

dass man als Zuhörender das Ergebnis schon vor<br />

sich sehen konnte. Auch noch zeichnen zu können, wäre<br />

da ja eh überflüssig.<br />

BEDINGUNGSLOS LIEBEN<br />

John liebte Yoko, Sonny liebte Cher, Justin liebte Britney<br />

(zumindest für eine kurze Zeit) und Walter liebte Alma.<br />

„Ich habe alles ausprobiert, und nichts ist besser, als von<br />

jemanden, den man liebt, gehalten zu werden“, sagte<br />

John Lennon mal über die Liebe seines Lebens, die japanisch-amerikanische<br />

Avantgarde-Künstlerin Yoko Ono.<br />

Mit ihr zierte er nackt das Albumcover zu „Two Virgins“,<br />

mit ihr kämpfte er Ende der Sechziger in <strong>Form</strong> der berühmten<br />

Bed-Ins in Amsterdam und Montreal, für Weltfrieden.<br />

Auch Walter Gropius hatte eine Muse. Alma Mahler,<br />

die ehemalige Ehefrau des Komponisten Gustav Mahler,<br />

wurde als verführerisch beschrieben, als unberechenbar<br />

und unzähmbar. In diese Femme fatale verliebte sich der<br />

27-jährige Walter, nachdem er sie 1910 während eines<br />

Kuraufenthalts in Südtirol kennen gelernt hatte. Zu der Zeit<br />

war die vier Jahre ältere Frau zwar noch mit Mahler verheiratet,<br />

die beiden gingen aber dennoch eine Affäre ein,<br />

fünf Jahre später heirateten sie. Yoko Ono inspirierte John<br />

Lennon zu dem Song „Woman“, und auch Alma weckte<br />

den Poeten in Gropius – nicht im positiven Sinne allerdings.<br />

In seinem Trennungsbrief nach sechseinhalb Jahren<br />

Ehe schrieb er höchst theatralisch: „Die Frau fehlte in ihr.<br />

Eine kurze Zeit warst du mir eine herrliche Geliebte und<br />

dann gingst Du fort, ohne die Krankheit meiner Kriegsverdorrung<br />

mit Liebe und Milde und Vertrauen überdauern<br />

zu können – das aber wäre eine Ehe gewesen.“ Nicht<br />

jede Liebe, und nicht jede Muse, ist für die Ewigkeit.<br />

KUNST UND KÖNNEN VERBINDEN<br />

Walter Gropius vertrat in seinen Designs den Standpunkt,<br />

dass jedes Bauwerk eine Symbiose aus Kunst und Handwerk<br />

sein sollte. Es war sein Traum, diese neue Art des<br />

Konstruierens und der Baukunst einzuführen. Unter diesem<br />

Leitsatz entstand beispielsweise das 1926 eröffnete<br />

Hochschulgebäude des Bauhauses in Dessau. Nachdem<br />

man vom Jugendstil prunkvolle Bauten mit dekorativen<br />

Elementen gewohnt war, empfanden viele das karge Gebäude<br />

mit Stahl- und Glasfassade als zu modern und es<br />

stieß daher auf wenig positive Resonanz. Ähnlich ging es<br />

Queen etwa 50 Jahre später: Mit „Bohemian Rhapsody“<br />

schrieb Freddie Mercury ein fast sechsminütiges Werk,<br />

das von Plattenbossen als zu kompliziert für den kommerziellen<br />

Musikmarkt abgetan wurde. Mercury vereinte in<br />

dem Song das musikalische Handwerk verschiedenster<br />

Gattungen – der Falsettgesang einer barocken Oper traf<br />

auf Gitarrenriffs aus dem Hardrock – und erschuf so ein<br />

neues Kunstwerk. Im Mainstream mag zu viel Handwerk,<br />

und vor allem zu viel künstlerischer Anspruch, nicht immer<br />

gefragt sein. Sowohl Walter Gropius als auch Freddie<br />

Mercury bewiesen aber, dass Regeln und Experimente zusammengehören<br />

– und dass beide eine perfekte Synthese<br />

bilden können.<br />

„Er selbst dagegen verabscheute jeden Starkult.“ JOURNALISTIN AYA BACH ÜBER WALTER GROPIUS<br />

KONSEQUENT SEIN<br />

„Die <strong>Form</strong> folgt der Funktion.“ Diesen Grundsatz<br />

haben Walter Gropius und das Bauhaus<br />

zum ersten Mal konsequent durchgezogen. Auf<br />

Schnörkel, Kitsch oder Verzierungen wurde dabei<br />

komplett verzichtet, außer diese hatten einen<br />

bestimmten Nutzen. Jeglicher Glamour ging<br />

auch in den Neunzigern verloren, als eine neue<br />

Musikgattung aufkam: Der Grunge, der von Seattle<br />

aus weltweit einen Hype auslöste, stellte<br />

den krassen Gegensatz zum Glamrock der Achtzigerjahre<br />

dar. Aus aufwendig toupierten Mähnen<br />

wurden fettige Haarsträhnen, glänzende<br />

Plateaustiefel wichen ausgelatschten Tennisschuhen,<br />

Pailettenbodys wurden durch verwaschene<br />

Holzfällerhemden ersetzt. Die Verkörperung<br />

und der berühmteste Protagonist der Bewegung<br />

war Kurt Cobain. Mit seiner Band Nirvana,<br />

die neben Pearl Jam, Soundgarden oder Alice<br />

in Chains zu den Hauptvertretern des Genres<br />

zählt, produzierte er Hits wie „All Apologies“<br />

oder „About A Girl“ und war bis zu seinem Tod<br />

1994 der Anti-Held einer Generation, die sich<br />

scheinbar um nichts scherte, und modisch so wenig<br />

Aufwand betreiben wollte, wie nur möglich.<br />

Die <strong>Form</strong> des Grunge, der Schmuddel-Look, hatte<br />

aber eine Funktion: auf die Null-Bock-Attitüde<br />

der Jugend aufmerksam zu machen – absichtlich<br />

oder nicht.<br />

POLARISIEREN UND PROVOZIEREN<br />

Provokation hat viele Facetten: Manchmal tritt<br />

sie als Mann in femininen Kostümen auf, manchmal<br />

in knappen Schulmädchen-Outfits. Sicherlich<br />

haben David Bowie und Britney Spears<br />

unterschiedliche Absichten verfolgt. Während<br />

manche Musiker nur der Provokation wegen provozieren,<br />

setzen sich andere damit für Gleichberechtigung<br />

und Toleranz ein. Als David Bowie<br />

beispielsweise sein Album „Space Oddity“ mit<br />

Langhaarfrisur und im Frauenkleid promotete,<br />

antwortete er auf einen beleidigenden Kommentar<br />

nur trocken: „Ich sehe wunderschön aus.“<br />

Maßgeblich provoziert hat auch Walter Gropius<br />

mit den Grundideen für seine staatliche Hochschule:<br />

Eine Universität für alle. Dieser liberale<br />

Ansatz kam im konservativen Deutschland nicht<br />

an. Die Bauwerke? Zu modern. Die Studierenden?<br />

Zu international. Die Haare der Frauen?<br />

Zu kurz. Überhaupt: Frauen, die studieren? Das<br />

Bauhaus stellte sich aber nicht nur gegen veraltete<br />

Normen, es stellte sich vor allem gegen alte<br />

Stilrichtungen, verweigerte den Kapitalismus,<br />

zeigte sich linksliberal. Es provozierte ganz offensichtlich<br />

und verfolgte damit den Zweck, die<br />

Gesellschaft zu einer offeneren zu erziehen, bis<br />

es von den Nationalsozialisten zur Selbstauflösung<br />

gezwungen wurde. Obwohl das Bauhaus<br />

damals vielleicht ein Mikrokosmos der Offenheit<br />

war, sind die Auswirkungen noch heute, von Bedeutung.<br />

Heute, wo sich Männer und Frauen in<br />

jeder Kleidung zeigen können sollten – ohne beleidigt<br />

zu werden.<br />

Hier kommen Sie zur<br />

Bauhaus-Playlist mit den<br />

Songs von Walter Gropius‘<br />

Superstar-Kollegen.

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