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Form Follows Future

Die Bauhausnummer

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Anfang<br />

57<br />

„7.500.000 Fr.“. Das war der ungefähre Betrag, auf den<br />

sich die Gesamtbaukosten der 150 Häuser auf der Parzelle<br />

986 des Grundbuches Muttenz beliefen. Schulden<br />

mussten Jäggi und der VSK dafür nicht aufnehmen. Über<br />

die sieben Millionen Franken verfügte der Konsumverein,<br />

heute bekannt als Coop, weil ihm der Bund die Steuern<br />

von Mehreinnahmen, die man während des Krieges erwirtschaftet<br />

hatte, erließ. 1920, nach zweijähriger Bauzeit,<br />

konnten dann die ersten Bewohner einziehen. Vier<br />

Jahre später lebten bereits 625 Menschen im Freidorf.<br />

UNGEWOHNTER LUXUS<br />

Um den genossenschaftlichen Gedanken zu unterstreichen,<br />

sehen alle Häuser bis heute gleich aus. Sie sind eierschalengelb<br />

gestrichen und haben braune Fensterläden,<br />

einen großen Garten mit Gartenhütte, und den gleichen<br />

beigen Briefkasten an der gleichen Stelle rechts der Eingangstür.<br />

Trotz der Einheitlichkeit boten sie den Arbeitern<br />

des VSK einen für damals ungewohnten Luxus. Die Häuser<br />

waren mit Warmwasser, eigenen Sanitäranlagen und<br />

einer Heizung ausgestattet. Reto Steib erinnert sich, unter<br />

welchen Bedingungen seine Mutter in der Stadt lebte: Bei<br />

ihr befand sich die Toilette noch im Treppenhaus; und da<br />

nicht alle Mietskasernen Platznot in dem von geprägten<br />

Basel über entsprechende Einrichtungen verfügten, musste<br />

man zum Duschen in öffentliche Badehäuser gehen. „Da<br />

war das Freidorf 1921 schon revolutionär“, sagt er. Angestrebt<br />

wurde damals eine autonome Dorfgesellschaft –<br />

wirtschaftlich, sozial, kulturell. Die Kinder gingen in die<br />

eigene Schule. Die Bewohner mussten Freidorfgeld kaufen,<br />

um die Waren im Dorfladen erwerben zu können.<br />

Die Gärten waren zur Selbstversorgung gedacht, sogar<br />

Nutzvieh wurde gehalten. Laut der Basellandschaftlichen<br />

Zeitung waren die Genossenschafter so überzeugt von<br />

ihrer Lebensform, dass sie sogar Teile der Erträge in eine<br />

Stiftung einzahlten, um in Zukunft weitere Dörfer errichten<br />

zu können. Wäre dieser Plan aufgegangen, gäbe es heute<br />

fünf weitere Freidörfer. Dazu kam es aber nie.<br />

DAS ENDE DER VOLLGENOSSENSCHAFT<br />

Der Vollgenossenschaftsgedanke ging schlichtweg im<br />

Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit unter. Die Wende<br />

kam in den Sechzigerjahren, als der Generation der Erstbewohner<br />

keine weitere folgen wollte. Die Jüngeren empfanden<br />

die Prinzipien des Freidorfs als bevormundend,<br />

sie fühlten sich sozial eingeengt. Ansätze wie: „Die wahren<br />

Erziehungsarbeiten der Menschen kann nur in kleinen<br />

übersichtlichen Gruppen erfolgen, und vor allem Erfolg<br />

verspricht, wenn gleichzeitig jede Familie über ein Heim<br />

verfügt“, die Bernhard Jäggi einst verfolgte, wären heute<br />

undenkbar und nicht mehr zeitgemäß. Auch hätten sich<br />

die äußeren Bedingungen rund um das Freidorf geändert,<br />

erklärt Reto Steib. Ein derart enges soziales Zusammenleben<br />

innerhalb der Siedlung wie früher könne nicht<br />

mehr zustande kommen, da die Bewohner oft auswärts<br />

arbeiten und die Freizeitgestaltungsmöglichkeiten außerhalb<br />

der Freidorfmauern zu- und innerhalb abgenommen<br />

haben. Früher gab es hier zum Beispiel noch eine Bibliothek,<br />

ein Café, ein Restaurant und ein Reisebüro.<br />

Ähnlich klingt es bei Philip Potocki, dem „Freidorf-Lexikon“,<br />

wie ihn Reto Steib auf dem Weg zu seinem Haus nennt.<br />

Potocki bewohnt gemeinsam mit seiner Frau Regina das<br />

Haus mit der Nummer 142. Während sie im lichtdurchfluteten<br />

Nähatelier im ersten Stock schneidert, durchforstet<br />

er am liebsten alte Freidorf-Literatur und digitalisiert die<br />

Dokumente – Potocki ist der Archivar der Siedlung. Er hat<br />

sich intensiv damit beschäftigt, warum der Status der Vollgenossenschaft<br />

1967 aufgelöst wurde und Freidorf seitdem<br />

eine reine Wohnungsbaugenossenschaft ist. Für ihn<br />

habe das im Wesentlichen zwei wirtschaftliche Gründe:<br />

„Der Lieferant VSK, der damals alle lokalen Genossenschaften<br />

angefahren hat, musste optimieren. Es war für<br />

ihn nicht mehr möglich, dreihundert Genossenschaften<br />

individuell zu versorgen, und hat deshalb verlangt, dass<br />

sie sich gruppieren. Das hätte das Freidorf aber sehr viel<br />

Geld gekostet und eine Verschlechterung der Dienstleistungen<br />

mit sich gebracht“, so Potocki. „Der zweite, fast<br />

wichtigere Grund war, dass die Siedlung auf der grünen<br />

Wiese gebaut wurde und damals im Umkreis von zwei Kilometern<br />

nichts war.“ Das habe sich aber schon seit einiger<br />

Zeit verändert. Es wurden weitere Siedlungen gebaut,<br />

deren Bewohner ebenfalls Lebensmittel benötigten. Dies<br />

führte dazu, dass der Dorfladen nicht mehr die Kapazitäten<br />

hatte, um jeden versorgen zu können.<br />

GEMEINSAM, NICHT EINSAM<br />

Doch auch wenn die Regeln „abgespeckt“ wurden, gelten<br />

bis heute einige Vorgaben: So muss jede Familie, auch<br />

gleichgeschlechtlich, mindestens ein Kind haben. Ein Elternteil<br />

ist dazu verpflichtet, zu mindestens fünfzig Prozent<br />

bei Coop angestellt zu sein. Geblieben ist aber vor<br />

allem die Pflege der Gemeinschaft – die indes freiwillig<br />

stattfindet. Die Bewohner feiern gemeinsame Gartenfeste,<br />

ein älteres Ehepaar beglückwünscht bei einem Plausch<br />

am Zaun seine jungen Nachbarn zum vierten Nachwuchs<br />

und ein Vater spritzt sein kreischendes Kind mit Wasser<br />

ab, als er gerade seine Petunien gießt; Momentaufnahmen,<br />

die zeigen, dass das Miteinander immer noch einen<br />

hohen Stellenwert in der kleinen Siedlung hat - wenn auch<br />

nicht denselben wie früher. Potocki sagt: „Der Genossenschaftsgedanke<br />

ist nicht abhandengekommen, man hat<br />

nur die Größenordnung geändert.“<br />

Siedlungsarchivar Philipp Potocki in seinem Garten<br />

Regina Potocki in ihrem Nähatelier im Obergeschoss

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