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„7.500.000 Fr.“. Das war der ungefähre Betrag, auf den<br />
sich die Gesamtbaukosten der 150 Häuser auf der Parzelle<br />
986 des Grundbuches Muttenz beliefen. Schulden<br />
mussten Jäggi und der VSK dafür nicht aufnehmen. Über<br />
die sieben Millionen Franken verfügte der Konsumverein,<br />
heute bekannt als Coop, weil ihm der Bund die Steuern<br />
von Mehreinnahmen, die man während des Krieges erwirtschaftet<br />
hatte, erließ. 1920, nach zweijähriger Bauzeit,<br />
konnten dann die ersten Bewohner einziehen. Vier<br />
Jahre später lebten bereits 625 Menschen im Freidorf.<br />
UNGEWOHNTER LUXUS<br />
Um den genossenschaftlichen Gedanken zu unterstreichen,<br />
sehen alle Häuser bis heute gleich aus. Sie sind eierschalengelb<br />
gestrichen und haben braune Fensterläden,<br />
einen großen Garten mit Gartenhütte, und den gleichen<br />
beigen Briefkasten an der gleichen Stelle rechts der Eingangstür.<br />
Trotz der Einheitlichkeit boten sie den Arbeitern<br />
des VSK einen für damals ungewohnten Luxus. Die Häuser<br />
waren mit Warmwasser, eigenen Sanitäranlagen und<br />
einer Heizung ausgestattet. Reto Steib erinnert sich, unter<br />
welchen Bedingungen seine Mutter in der Stadt lebte: Bei<br />
ihr befand sich die Toilette noch im Treppenhaus; und da<br />
nicht alle Mietskasernen Platznot in dem von geprägten<br />
Basel über entsprechende Einrichtungen verfügten, musste<br />
man zum Duschen in öffentliche Badehäuser gehen. „Da<br />
war das Freidorf 1921 schon revolutionär“, sagt er. Angestrebt<br />
wurde damals eine autonome Dorfgesellschaft –<br />
wirtschaftlich, sozial, kulturell. Die Kinder gingen in die<br />
eigene Schule. Die Bewohner mussten Freidorfgeld kaufen,<br />
um die Waren im Dorfladen erwerben zu können.<br />
Die Gärten waren zur Selbstversorgung gedacht, sogar<br />
Nutzvieh wurde gehalten. Laut der Basellandschaftlichen<br />
Zeitung waren die Genossenschafter so überzeugt von<br />
ihrer Lebensform, dass sie sogar Teile der Erträge in eine<br />
Stiftung einzahlten, um in Zukunft weitere Dörfer errichten<br />
zu können. Wäre dieser Plan aufgegangen, gäbe es heute<br />
fünf weitere Freidörfer. Dazu kam es aber nie.<br />
DAS ENDE DER VOLLGENOSSENSCHAFT<br />
Der Vollgenossenschaftsgedanke ging schlichtweg im<br />
Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit unter. Die Wende<br />
kam in den Sechzigerjahren, als der Generation der Erstbewohner<br />
keine weitere folgen wollte. Die Jüngeren empfanden<br />
die Prinzipien des Freidorfs als bevormundend,<br />
sie fühlten sich sozial eingeengt. Ansätze wie: „Die wahren<br />
Erziehungsarbeiten der Menschen kann nur in kleinen<br />
übersichtlichen Gruppen erfolgen, und vor allem Erfolg<br />
verspricht, wenn gleichzeitig jede Familie über ein Heim<br />
verfügt“, die Bernhard Jäggi einst verfolgte, wären heute<br />
undenkbar und nicht mehr zeitgemäß. Auch hätten sich<br />
die äußeren Bedingungen rund um das Freidorf geändert,<br />
erklärt Reto Steib. Ein derart enges soziales Zusammenleben<br />
innerhalb der Siedlung wie früher könne nicht<br />
mehr zustande kommen, da die Bewohner oft auswärts<br />
arbeiten und die Freizeitgestaltungsmöglichkeiten außerhalb<br />
der Freidorfmauern zu- und innerhalb abgenommen<br />
haben. Früher gab es hier zum Beispiel noch eine Bibliothek,<br />
ein Café, ein Restaurant und ein Reisebüro.<br />
Ähnlich klingt es bei Philip Potocki, dem „Freidorf-Lexikon“,<br />
wie ihn Reto Steib auf dem Weg zu seinem Haus nennt.<br />
Potocki bewohnt gemeinsam mit seiner Frau Regina das<br />
Haus mit der Nummer 142. Während sie im lichtdurchfluteten<br />
Nähatelier im ersten Stock schneidert, durchforstet<br />
er am liebsten alte Freidorf-Literatur und digitalisiert die<br />
Dokumente – Potocki ist der Archivar der Siedlung. Er hat<br />
sich intensiv damit beschäftigt, warum der Status der Vollgenossenschaft<br />
1967 aufgelöst wurde und Freidorf seitdem<br />
eine reine Wohnungsbaugenossenschaft ist. Für ihn<br />
habe das im Wesentlichen zwei wirtschaftliche Gründe:<br />
„Der Lieferant VSK, der damals alle lokalen Genossenschaften<br />
angefahren hat, musste optimieren. Es war für<br />
ihn nicht mehr möglich, dreihundert Genossenschaften<br />
individuell zu versorgen, und hat deshalb verlangt, dass<br />
sie sich gruppieren. Das hätte das Freidorf aber sehr viel<br />
Geld gekostet und eine Verschlechterung der Dienstleistungen<br />
mit sich gebracht“, so Potocki. „Der zweite, fast<br />
wichtigere Grund war, dass die Siedlung auf der grünen<br />
Wiese gebaut wurde und damals im Umkreis von zwei Kilometern<br />
nichts war.“ Das habe sich aber schon seit einiger<br />
Zeit verändert. Es wurden weitere Siedlungen gebaut,<br />
deren Bewohner ebenfalls Lebensmittel benötigten. Dies<br />
führte dazu, dass der Dorfladen nicht mehr die Kapazitäten<br />
hatte, um jeden versorgen zu können.<br />
GEMEINSAM, NICHT EINSAM<br />
Doch auch wenn die Regeln „abgespeckt“ wurden, gelten<br />
bis heute einige Vorgaben: So muss jede Familie, auch<br />
gleichgeschlechtlich, mindestens ein Kind haben. Ein Elternteil<br />
ist dazu verpflichtet, zu mindestens fünfzig Prozent<br />
bei Coop angestellt zu sein. Geblieben ist aber vor<br />
allem die Pflege der Gemeinschaft – die indes freiwillig<br />
stattfindet. Die Bewohner feiern gemeinsame Gartenfeste,<br />
ein älteres Ehepaar beglückwünscht bei einem Plausch<br />
am Zaun seine jungen Nachbarn zum vierten Nachwuchs<br />
und ein Vater spritzt sein kreischendes Kind mit Wasser<br />
ab, als er gerade seine Petunien gießt; Momentaufnahmen,<br />
die zeigen, dass das Miteinander immer noch einen<br />
hohen Stellenwert in der kleinen Siedlung hat - wenn auch<br />
nicht denselben wie früher. Potocki sagt: „Der Genossenschaftsgedanke<br />
ist nicht abhandengekommen, man hat<br />
nur die Größenordnung geändert.“<br />
Siedlungsarchivar Philipp Potocki in seinem Garten<br />
Regina Potocki in ihrem Nähatelier im Obergeschoss