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damals Familienväter, Mütter und Kinder trafen, sind es<br />
heute überwiegend Angestellte verschiedenster Firmen.<br />
Sogar Yogakurse können dort besucht werden. Im unteren<br />
Stockwerk befindet sich ein Saal, in dem der Vorstand<br />
seine Sitzungen abhalten kann und der von den Siedlern<br />
gern für Festivitäten gemietet wird.<br />
ERST FREIDORF, DANN BAUHAUS<br />
Als alles anfing – vor rund einhundert Jahren – träumte<br />
man hier von einer neuen Welt, die ganz anders sein<br />
sollte als alles, was man bisher kannte. Ein Wunschbild<br />
einer fortschrittlichen Gesellschaft, in der jedem alles<br />
gehört. Über das Wirtschaftliche hinaus sollten auch<br />
andere Lebensbereiche wie gemeinsame Arbeit, Kinderbetreuung,<br />
Schulen, Kultur und Altenbetreuung mit<br />
einbezogen werden. Beflügelt von diesem Gedanken,<br />
machte sich eine Gruppe von gleichgesinnten Idealisten<br />
um den schweizer Politiker Bernhard Jäggi auf, um zum<br />
ersten und letzten Mal in der Schweizer Geschichte eine<br />
vollgenossenschaftliche Siedlung zu bauen. Man nannte<br />
sie Freidorf.<br />
Damals lag die kleine Siedlung noch mitten im Nirgendwo,<br />
zwischen Muttenz und Basel, auf einem 84.915<br />
Quadratkilometer großen Grundstück. Umsäumt war Freidorf<br />
von nicht viel mehr als grünen Feldern – heute sieht<br />
das ganz anders aus: Die Gemeinde ist dicht eingewoben<br />
in die Basler Agglomeration. Jenseits der Siedlung leben<br />
170 000 Menschen ihren Großstadtalltag. Die etwa<br />
eineinhalb Meter hohen Mauern, welche das Freidorf umzäunen,<br />
scheinen diesen urbanen Trubel fast vollständig<br />
abzuschirmen, denn in der Siedlung herrscht ein anderes,<br />
gemäßigteres Tempo.<br />
Es ist still an diesem sommerlichen Tag. Durch die von<br />
Nordost nach Südwest verlaufenden Häuserzeilen zieht<br />
ein Geruch von chemischen Pheromonen. Das Industriegebiet<br />
Schweizerhalle, in dem die beiden Chemiekonzerne<br />
Novartis und Clariant angesiedelt sind, ist nur wenige Kilometer<br />
entfernt. Vereinzelt hört man das Brummen der Autos,<br />
die die anliegende Sankt Jakob-Straße befahren und<br />
das viertelstündige Glockenspiel des Freidorfer Genossenschaftshauses;<br />
Gis1, fis1, e1, h0 – der Westminsterschlag.<br />
„Das Glockenspiel ist dem von Big Ben nachempfunden“,<br />
erklärt Reto Steib, der stellvertretende Vorstandsvorsitzende<br />
der Siedlungsgenossenschaft. Er steht vor dem Genossenschaftshaus<br />
inmitten der Siedlung. Früher wurde dieses<br />
große Haus noch anders genutzt. Es diente mit großen<br />
Versammlungssälen und zahlreichen Räumen vielfältigen<br />
Aktivitäten: Orchester- oder Volkschorproben, Kurse zur<br />
Erziehung, Verwaltung, Haushalt, Berufsbildung. Wo sich<br />
Der 1985 neu mit Kupfer verkleidete Glockenturm<br />
des Genossenschaftshauses<br />
Aus dem Archic: Luftaufnahme des Freidorfs, damals noch von Feldern umgeben<br />
Die Häuser sind identisch, die Gärten etwas individueller<br />
Eine Bilderreihe von Fritz Karl Zbinden aus dem Jahr<br />
1924 ziert den frisch renovierten Raum. Der Schweizer<br />
Maler inszenierte in den zwölf Werken eine damals Wirklichkeit<br />
gewordene Utopie, die nach den schrecklichen<br />
Vorfällen des Weltkrieges und der Nachkriegszeit eine<br />
verlockende und aussichtsreiche Alternative darstellte. In<br />
Auftrag gegeben wurden die Bilder vom Architekten des<br />
Freidorfes und späteren Bauhaus-Direktor Hannes Meyer<br />
für das avantgardistischeTheaterstück „Co-Op“. Bereits<br />
zur feierlichen Eröffnung des Genossenschaftshauses am<br />
21. Juni 1924 waren die Bewohner in den Genuss einer<br />
provisorischen „Teil-Uraufführung“ gekommen. Gespielt<br />
wurden in dem Stück zwei aus Pantomimeneinlagen bestehenden<br />
Serien.<br />
Eine davon behandelt das Problem der Lieferkette mit<br />
ihrn zahlreichen Gliedern zwischen Produzenten und Konsument.<br />
Ein Bauer und eine Hausfrau möchten sich vermählen.<br />
Das kann aber erst geschehen, nachdem sie die<br />
den Liebesbund verhindernden „Zwischenglieder“ – ein<br />
Spekulant, ein Grossist, ein Handelsreisender und eine<br />
Krämerin – ausgeschaltet haben. Die Aufführung provozierte<br />
negative Reaktionen von Kritikern der Genossenschaftsbewegung,<br />
die meinten, das Stück sei erklärungsbedürftig<br />
und in manchen Abschnitten allzu drastisch.<br />
Die dafür angefertigten bunten, plakativen Bilder zeigen<br />
jedoch keinerlei Konflikte, sondern nur das rege und<br />
fröhliche Treiben der Freidorf-Bewohner und seien in der<br />
Siedlung beliebt, erklärt Reto Steib, der stellvertretende<br />
Präsident der Siedlungsgenossenschaft. Auf einem ist ein<br />
zufrieden dreinblickender Mann zu sehen, der damalige<br />
Präsident der Verwaltungskommission des Verbands<br />
Schweizerischer Konsumvereine, Bernhard Jäggi. Er steht<br />
vor einem Tisch, auf dem ein Miniaturmodell des Freidorfes<br />
zu sehen ist, daneben ein Geldsack mit dem Aufdruck<br />
Die Vorstandmitglieder der Siedlungsgenossenschaft Adrian Johner (links) und Reto Steib