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Form Follows Future

Die Bauhausnummer

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Anfang<br />

54<br />

damals Familienväter, Mütter und Kinder trafen, sind es<br />

heute überwiegend Angestellte verschiedenster Firmen.<br />

Sogar Yogakurse können dort besucht werden. Im unteren<br />

Stockwerk befindet sich ein Saal, in dem der Vorstand<br />

seine Sitzungen abhalten kann und der von den Siedlern<br />

gern für Festivitäten gemietet wird.<br />

ERST FREIDORF, DANN BAUHAUS<br />

Als alles anfing – vor rund einhundert Jahren – träumte<br />

man hier von einer neuen Welt, die ganz anders sein<br />

sollte als alles, was man bisher kannte. Ein Wunschbild<br />

einer fortschrittlichen Gesellschaft, in der jedem alles<br />

gehört. Über das Wirtschaftliche hinaus sollten auch<br />

andere Lebensbereiche wie gemeinsame Arbeit, Kinderbetreuung,<br />

Schulen, Kultur und Altenbetreuung mit<br />

einbezogen werden. Beflügelt von diesem Gedanken,<br />

machte sich eine Gruppe von gleichgesinnten Idealisten<br />

um den schweizer Politiker Bernhard Jäggi auf, um zum<br />

ersten und letzten Mal in der Schweizer Geschichte eine<br />

vollgenossenschaftliche Siedlung zu bauen. Man nannte<br />

sie Freidorf.<br />

Damals lag die kleine Siedlung noch mitten im Nirgendwo,<br />

zwischen Muttenz und Basel, auf einem 84.915<br />

Quadratkilometer großen Grundstück. Umsäumt war Freidorf<br />

von nicht viel mehr als grünen Feldern – heute sieht<br />

das ganz anders aus: Die Gemeinde ist dicht eingewoben<br />

in die Basler Agglomeration. Jenseits der Siedlung leben<br />

170 000 Menschen ihren Großstadtalltag. Die etwa<br />

eineinhalb Meter hohen Mauern, welche das Freidorf umzäunen,<br />

scheinen diesen urbanen Trubel fast vollständig<br />

abzuschirmen, denn in der Siedlung herrscht ein anderes,<br />

gemäßigteres Tempo.<br />

Es ist still an diesem sommerlichen Tag. Durch die von<br />

Nordost nach Südwest verlaufenden Häuserzeilen zieht<br />

ein Geruch von chemischen Pheromonen. Das Industriegebiet<br />

Schweizerhalle, in dem die beiden Chemiekonzerne<br />

Novartis und Clariant angesiedelt sind, ist nur wenige Kilometer<br />

entfernt. Vereinzelt hört man das Brummen der Autos,<br />

die die anliegende Sankt Jakob-Straße befahren und<br />

das viertelstündige Glockenspiel des Freidorfer Genossenschaftshauses;<br />

Gis1, fis1, e1, h0 – der Westminsterschlag.<br />

„Das Glockenspiel ist dem von Big Ben nachempfunden“,<br />

erklärt Reto Steib, der stellvertretende Vorstandsvorsitzende<br />

der Siedlungsgenossenschaft. Er steht vor dem Genossenschaftshaus<br />

inmitten der Siedlung. Früher wurde dieses<br />

große Haus noch anders genutzt. Es diente mit großen<br />

Versammlungssälen und zahlreichen Räumen vielfältigen<br />

Aktivitäten: Orchester- oder Volkschorproben, Kurse zur<br />

Erziehung, Verwaltung, Haushalt, Berufsbildung. Wo sich<br />

Der 1985 neu mit Kupfer verkleidete Glockenturm<br />

des Genossenschaftshauses<br />

Aus dem Archic: Luftaufnahme des Freidorfs, damals noch von Feldern umgeben<br />

Die Häuser sind identisch, die Gärten etwas individueller<br />

Eine Bilderreihe von Fritz Karl Zbinden aus dem Jahr<br />

1924 ziert den frisch renovierten Raum. Der Schweizer<br />

Maler inszenierte in den zwölf Werken eine damals Wirklichkeit<br />

gewordene Utopie, die nach den schrecklichen<br />

Vorfällen des Weltkrieges und der Nachkriegszeit eine<br />

verlockende und aussichtsreiche Alternative darstellte. In<br />

Auftrag gegeben wurden die Bilder vom Architekten des<br />

Freidorfes und späteren Bauhaus-Direktor Hannes Meyer<br />

für das avantgardistischeTheaterstück „Co-Op“. Bereits<br />

zur feierlichen Eröffnung des Genossenschaftshauses am<br />

21. Juni 1924 waren die Bewohner in den Genuss einer<br />

provisorischen „Teil-Uraufführung“ gekommen. Gespielt<br />

wurden in dem Stück zwei aus Pantomimeneinlagen bestehenden<br />

Serien.<br />

Eine davon behandelt das Problem der Lieferkette mit<br />

ihrn zahlreichen Gliedern zwischen Produzenten und Konsument.<br />

Ein Bauer und eine Hausfrau möchten sich vermählen.<br />

Das kann aber erst geschehen, nachdem sie die<br />

den Liebesbund verhindernden „Zwischenglieder“ – ein<br />

Spekulant, ein Grossist, ein Handelsreisender und eine<br />

Krämerin – ausgeschaltet haben. Die Aufführung provozierte<br />

negative Reaktionen von Kritikern der Genossenschaftsbewegung,<br />

die meinten, das Stück sei erklärungsbedürftig<br />

und in manchen Abschnitten allzu drastisch.<br />

Die dafür angefertigten bunten, plakativen Bilder zeigen<br />

jedoch keinerlei Konflikte, sondern nur das rege und<br />

fröhliche Treiben der Freidorf-Bewohner und seien in der<br />

Siedlung beliebt, erklärt Reto Steib, der stellvertretende<br />

Präsident der Siedlungsgenossenschaft. Auf einem ist ein<br />

zufrieden dreinblickender Mann zu sehen, der damalige<br />

Präsident der Verwaltungskommission des Verbands<br />

Schweizerischer Konsumvereine, Bernhard Jäggi. Er steht<br />

vor einem Tisch, auf dem ein Miniaturmodell des Freidorfes<br />

zu sehen ist, daneben ein Geldsack mit dem Aufdruck<br />

Die Vorstandmitglieder der Siedlungsgenossenschaft Adrian Johner (links) und Reto Steib

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