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Form Follows Future

Die Bauhausnummer

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Anfang<br />

60<br />

Oft führt Langeweile zu den besten Ideen,<br />

so scheint es zumindest bei Gertrud Arndt<br />

gewesen zu sein. Nachdem sie 1927 am<br />

Bauhaus die Webereiklasse absolvierte<br />

und dort auch ihren späteren Ehemann<br />

Alfred Arndt kennenlernte, widmete sie sich ganz dem<br />

Hausfrauen- und Mutterdasein. Die Ausbildung in der Weberei<br />

war für sie ohnehin nur eine Notlösung. Die Architektur,<br />

ihr eigentliches Wahlfach, konnte zu diesem Zeitpunkt<br />

noch nicht am Bauhaus studiert werden. Als Alfred<br />

Arndt eine Stelle als Lehrer am Bauhaus bekam, stellte<br />

sich Gertrud Arndt selbst hinten an, auch wenn sich die<br />

beiden in ihrem Ehevertrag die „völlige Gleichheit der<br />

Frau neben dem Manne“ versprechen, aber Gleichberechtigung<br />

war und ist ja ohnehin ein weit dehnbarer Begriff.<br />

Trotzdem muss man fast schon von Glück sprechen,<br />

dass Getrud Arndt sich wohlwollend ihrem Schicksal als<br />

Heimchen und, wie sie selbst sagte, „Nichtstuerin“, hingegeben<br />

hat, denn ohne diese große Langeweile wären<br />

ihre ikonischen Maskenporträts wahrscheinlich nie entstanden.<br />

Ihre fotografischen Kenntnisse brachte sie sich<br />

alle selbst bei. So war es ihr sicher auch ein leichtes sich<br />

im Bad ihres Meisterhauses in Dessau eine Dunkelkammer<br />

einzurichten. Aus Besenstiel, Steinen, Zeitung und Zwirnfaden<br />

bastelte sie sich Stativ und Selbstauslöser und schuf<br />

damit ihre 43 Maskenfotos.<br />

Über 70 Jahre nach den Maskenporträts wurde 2002 das<br />

erste „Selfie“ gepostet. Es war kein Selfie im klassischen<br />

Sinne, denn zu sehen war nur eine angeschwollene Unterlippe.<br />

Der Australier Nathan Hope wollte das Ergebnis<br />

einer durchzechten Nacht mit der ganzen Welt teilen und<br />

gab dem Ganzen den Namen Selfie, dass er damit einen<br />

wahren Hype auslösen würde, war ihm zu diesem Zeitpunkt<br />

bestimmt nicht bewusst. Übrigens, gab es das erste<br />

Foto mit Selbstauslöser schon viel früher, nämlich 1839,<br />

als der amerikanische Chemiker Robert Cornelius seine<br />

selbstgebaute Kamera ausprobieren wollte. Was heute<br />

eine ganze Generation ausmacht, ist also eigentlich nur<br />

durch Zufälle entstanden. Im Jahr 2019 gilt das Selfie als<br />

eines der wichtigsten und auch umstrittensten Kommunikationsmittel.<br />

Arndts<br />

Maskenporträts haben auf den ersten Blick vielleicht nicht<br />

unbedingt etwas mit unserer heutigen Zeit zu tun, in der<br />

man von Contouring, Weichzeichner und Schmollmündern<br />

geradezu erschlagen wird. Schaut man aber genauer<br />

auf den Selfie-Wahn in den Sozialen Netzwerken,<br />

dann fallen sofort einige Parallelen auf. Mit ihren Bildern<br />

verfolgte die Künstlerin also damals schon einen wahnsinnig<br />

modernen Ansatz.<br />

„Was ist man? Vielleicht hat man immer eine Maske. Irgendwo<br />

hat man immer einen Ausdruck, den man haben<br />

will. Das könnte man doch Maske nennen, oder?“ In diesen<br />

Sätzen beschreibt Gertrud Arndt im Grunde genau<br />

das, was die heutige Selfie-Kultur bestimmt. Mit Filtern<br />

und Gesichtsausdrücken, die im normalen Leben niemals<br />

jemand machen würde, inszeniert man sich gekonnt oder<br />

auch weniger gekonnt auf Social Media. Keiner weiß<br />

eigentlich mehr so genau, ob eine Person wirklich so<br />

aussieht wie auf den Fotos. Das Internet ist geradezu ein<br />

virtueller Maskenball. Auch Gertrud Arndt maskiert sich<br />

auf ihren Bildern ganz bewusst mit Schminke, Gesichtsschleiern,<br />

opulenten Hüten oder mit extremen Grimassen.<br />

Der Fokus soll nicht auf ihrer Person liegen, es war nicht<br />

ihr Ziel, ihr Innerstes nach außen zu kehren, sondern viel<br />

mehr fand sie Gefallen daran, mit den unterschiedlichsten<br />

Identitäten zu kokettieren. Arndts Spiel mit Verkleidung<br />

und Mimik ist viel näher an den modernen Selfies als an<br />

den Selbstporträts der großen Meister der Kunst, die stets<br />

einen Blick in das Seelenleben des Künstlers offenbaren<br />

sollten.<br />

Den tiefen Blick ins Seelenleben gibt es in den Sozialen<br />

Medien auch nicht unbedingt. Der Kunsthistoriker Wolfgang<br />

Ullrich schreibt in seinem Essay „Selfies“: „Wer ein<br />

Selfie macht, macht sich selbst zum Bild. […] Ein Selfie ist<br />

also eigentlich ein Bild von einem Bild.“ Es geht bei Selfies<br />

nicht einfach nur darum, einen kurzen Schnappschuss von<br />

sich selbst zu machen. Durch sorgsam einstudierte Posen,<br />

das perfekte Licht, das perfekte Make-Up und den perfekten<br />

Gesichtsausdruck wird aus Natürlichkeit eine völlige<br />

Inszenierung. Die ständige Selbstdarstellung ist ein Problem,<br />

das eine ganze Generation betrifft. Ein Experiment<br />

„Was ist man? Vielleicht hat man immer eine Maske.<br />

Irgendwo hat man immer einen Ausdruck, den man haben<br />

will. Das könnte man doch Maske nennen, oder ?“ GERTRUD ARNDT<br />

FOTOS: BAUHAUS-ARCHIV BERLIN © VG BILD-KUNST,BONN 2019<br />

von Star-Fotograf Rankin zeigt, wie sehr Social Media<br />

das Selbstbild junger Menschen verändert. Für sein Projekt<br />

mit dem Titel „Selfie Harm“ fotografierte er Jugendliche<br />

und ließ diese dann ihr Bild so bearbeiten, dass sie<br />

es auf Instagram posten würden. Das Ergebnis: größere<br />

Augen, glattere Haut und schmalere Nasen – auf dem unbearbeiteten<br />

Porträt gefiel sich keiner der Teenager. Das<br />

Spiel mit der eigenen Identität, so wie es Getrud Arndt<br />

zelebrierte, lässt sich in diesem Perfektionswahn so gut<br />

wie gar nicht mehr finden. Schaut man sich einmal die<br />

Flut der Bilder auf Instagram an, die unter dem Hashtag<br />

Selfie aufpoppen, vermisst man jegliche Individualität. Es<br />

scheint, als würde jeder jeden kopieren und nach dem<br />

einen ganz bestimmten Schönheitsideal, à la Kylie Jenner,<br />

streben. Gertrud Arndt hat sich bei ihren Masken ganz<br />

auf ihr eigenes Gefühl und ihre Kreativität verlassen, es<br />

funktioniert also auch vollkommen ohne Influencer. Aber<br />

davon abgesehen sind Selfies auch für Viele Kommunikationsmittel<br />

und vor allem Ausdruck der Persönlichkeit, und<br />

das wäre Gertrud Arndt sicher mehr als recht.<br />

Mit Gesichtsschleiern, starker Schminke<br />

und Mimik, die von erschrocken bis<br />

traurig reicht, kreierte Gertrud Arndt ihre<br />

ganz individuellen Filter. Damit war sie<br />

den heutigen Weichzeichnern und dem<br />

perfekten Contouring schon weit voraus<br />

Die Sozialen Medien wären heute wohl ganz im Sinne<br />

der Bauhäusler. Alle können daran teilhaben, man kann<br />

also sagen, dass Selfies das Demokratischste überhaupt<br />

sind, denn es kann sich auch jeder so präsentieren wie<br />

er oder sie es gerne möchte. Ob das nun mit Filtern, Make-Up<br />

oder zur Abwechslung doch mal ganz natürlich<br />

ist – jeder kann seine persönliche Maske tragen. Getrud<br />

Arndt würde heute womöglich den umgekehrten Weg<br />

gehen und auf ihre Maskerade verzichten, sich stattdessen<br />

komplett natürlich zeigen. Oder das In-Szene-Setzen<br />

durch Filter und Make-up noch mehr ausreizen und auf<br />

die Spitze treiben. In jedem Fall hat die Künstlerin den<br />

Weg für eine ganz besondere Art der Inszenierung geebnet.<br />

Fotografinnen wie Cindy Sherman würde es ohne<br />

Gertrud Arndt heute vielleicht gar nicht geben - Frauen,<br />

die sich mit ihrer eigenen Identität auseinandersetzen,<br />

damit spielen und vor allem auf die Probe stellen, was damals<br />

und auch noch heute von Frauen erwartet wird, wie<br />

sie sich zu präsentieren haben. In diesem Fall hat Getrud<br />

Arndt schon Ende der Zwanziger Jahre sehr modern gedacht.<br />

Und mit Blick auf unsere heutige Zeit lohnt es sich,<br />

vielleicht manchmal auch einfach die Maske abzusetzen.

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