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Form Follows Future

Die Bauhausnummer

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Freiheit<br />

36<br />

ürkisch<br />

Hören Sie, wie man<br />

„haydi“ und Co. richtig<br />

ausspricht und was die<br />

Begriffe wirklich bedeuten.<br />

für<br />

Anfänger<br />

Moruk, wallah, habibi – verstehen Sie nicht?<br />

Unsere Autorin auch nicht VON RAFFAELA HERRMANN<br />

BILD: UNSPLASH<br />

„Annnnnnnneee!“, ruft mein jüngerer Bruder Claudio lautstark<br />

durch den ganzen Rewe. Sechs Mütter drehen sich<br />

um. Nur nicht unsere. „Annee?“, fragt er. Keine Reaktion.<br />

„Lan, warum hört sie denn nicht? Maaaammmmaaa?“.<br />

„Ja, mein Schatz?“, antwortet unsere Mutter schließlich<br />

mit ruhiger Stimme. „Und nenn mich nie wieder Anne!“,<br />

folgt darauf mit Nachdruck. „Okay haydi, lassma gehen.<br />

Yallah!“, erwidert Claudio – genervt, dass scheinbar<br />

niemand aus der Familie das türkische Wort für Mutter<br />

(Anne) zu kennen scheint.<br />

Sie müssen wissen, dass wir in einem Dorf außerhalb<br />

von München wohnen. In der Nähe der Autobahn,<br />

nicht weit vom Flughafen entfernt. Zwei Rewe, ein Aldi,<br />

ein Netto. Daneben der „Yilmaz“ Supermarkt, eine Dönerbude<br />

und ein türkischer Brautmodenladen. Genau in<br />

diesem Laden kaufe ich Kleider für besondere Anlässe,<br />

mittags gehe ich Manti (türkische Maultaschen) essen und<br />

während des Ramadans zu meiner Freundin zum Fastenbrechen<br />

– ich faste zwar nie, das Festmahl lasse ich<br />

mir aber trotzdem nicht entgehen. Türkisch kann ich kein<br />

Wort. Denn wie Sie wahrscheinlich aus den Namen von<br />

mir (21) und meinem Bruder (18) schließen können (ich<br />

entschuldige mich im Voraus für die Stereotypisierung),<br />

sind wir keine Türken, aber auch keine Italiener. Wir sind<br />

Deutsche.<br />

Mein Bruder nannte unsere Mutter nach dem Supermarkt-Vorfall<br />

nicht mehr Anne. Jedoch auch nicht Mama.<br />

Nein, er nannte sie Anneliese. Auch ein schöner Name,<br />

aber eigentlich heißt sie Stefanie. Als meine Mutter Claudio<br />

abends von einer Party abholen wollte, flehte sein<br />

bester Freund: „Bitte nur noch eine Stunde, bitte, Anneliese.“<br />

Mama war leicht entsetzt. „Moruk, sie heißt Stefanie<br />

nicht Anneliese, wallah“, prustete Claudio. Sein Freund,<br />

sichtlich verlegen: „Çüş!“<br />

In der Tat „krass“, was alles passieren kann, wenn<br />

man keinen einzigen Satz mehr ohne türkische Begriffe<br />

sprechen möchte. Peinliche Verwechslungen sind dabei<br />

nicht mal das Schlimmste.<br />

Ist „Kiez-Dialekt“, „Türkenslang“ oder, wie ich es nenne,<br />

„Dönerdeutsch“ eine Bedrohung für die deutsche<br />

„Architektur ist eine Sprache mit der Disziplin einer<br />

Grammatik. Man kann Sprache im Alltag als<br />

Prosa benutzen und wenn man sehr gut ist, kann<br />

man ein Dichter sein.“ LUDWIG MIES VAN DER ROHE<br />

Sprache? Von vielen wird es als Ursprung fehlender Integration<br />

von Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft gedeutet<br />

und als Verfall des Deutschen angesehen. Anfangs<br />

hätte auch ich so gedacht. „Warum kannst du eigentlich<br />

nicht mal normal sprechen?“, fragte ich meinen Bruder<br />

beim Frühstück. „Habibi, tu ich doch“, trotzte er. „Hast du<br />

mich grad beleidigt? Ganz ehrlich, hör auf, immer solche<br />

Wörter zu verwenden!“ Obwohl… was genau bedeutete<br />

„Habibi“ eigentlich? Ich zückte also unauffällig mein<br />

Handy, Google Translate würde mir schon recht geben.<br />

Leicht verdutzt schaute ich Claudio an. „Habibi“ ist ein<br />

arabischer Ausdruck für „Liebling“. „Ohhhhh, du bist ja<br />

süß“, sagte ich und wollte ihn ganz feste drücken. „Siktir<br />

git lan, fass mich nicht an.“ Und so war der beinahe schöne<br />

Geschwistermoment zerstört.<br />

Ich dachte nach. Eigentlich ziemlich beeindruckend,<br />

dass viele deutsche Jugendliche neben Anglizismen<br />

auch die Bedeutung türkischer oder arabischer Wörter<br />

kennen und diese auch in ihre Ausdrucksweise miteinfließen<br />

lassen. Wir alle sprechen nicht nur ein Deutsch.<br />

Wir wechseln ständig zwischen formell und informell,<br />

zwischen Dialekt und Hochdeutsch und zwischen Englisch<br />

und Deutsch. Warum dann nicht auch zwischen<br />

Türkisch und Deutsch? Durch die sprachliche Kreativität<br />

der Jugendlichen fließen neue Fremdwörter ins Deutsche<br />

ein, die Grammatik wird vereinfacht und die Sprache dynamischer.<br />

Diese Art von Jugendsprache gibt es schon<br />

seit Mitte der 1990er Jahre und trägt seitdem, gerade in<br />

Gruppen von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund,<br />

zu einer besonderen sprachlichen Integration<br />

bei. „Dönerdeutsch“ als Bedrohung anzusehen, ist also<br />

kurzsichtig, wir sollten es eher als Geschenk betrachten.<br />

Ein türkisches Sprichwort sagt: „Bir lisan, bir insan. Iki<br />

lisan, iki Insan.“ – „Wer eine Sprache beherrscht, der ist<br />

nur ein Mensch; wer aber zwei Sprachen beherrscht, gilt<br />

als zwei Menschen.“ Na, dann sollte ich wohl schleunigst<br />

einen Türkischkurs bei meinem Bruder belegen. „Was<br />

heißt denn dieses Sektür ged lann?“ Doch er hatte mir<br />

schon den Rücken zugewandt und ich hörte nur sein verschmitztes,<br />

freches Lachen.

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