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Revolution<br />
GEMEINSAM INTELLIGENT<br />
Wenn wir so weitermachen, wird uns die Skepsis gegenüber<br />
Künstlicher Intelligenz bald zum Verhängnis. Eine<br />
Streitschrift über die Zukunft des Menschen und wieso<br />
diese eigentlich schon lange begonnen hat VON CARMEN JENNY<br />
Die Hälfte der Deutschen fürchtet sich vor einem Kontrollverlust<br />
durch den verstärkten Einsatz von Künstlicher Intelligenz<br />
(KI). Das ergab eine Studie des Bundesverbands Digitale<br />
Wirtschaft (BvDW). Verständlich, aber auch irgendwie lustig.<br />
Lustig deshalb, da es ein ziemlich schroffes Urteil über<br />
eine Entwicklung ist, die schon viel mehr Gegenwarts- als Zukunftsmusik<br />
ist. Da uns Angst und Nichtstun aber selten weitergebracht haben, sollte<br />
man dieser Blauäugigkeit etwas entgegenhalten und sich gegenüber<br />
dem technischen Fortschritt doch ein wenig optimistisch zeigen. Denn<br />
nur, wenn wir den Nutzen der KI rechtzeitig erkennen, kann sie sinnvoll<br />
genutzt werden – bevor sie in falsche Hände gerät.<br />
Moment. Eigentlich sind wir doch schon längst Optimisten. In einer Zeit,<br />
in der wir gefühlt täglich irgendwelchen Allgemeinen Geschäftsbedingungen<br />
zustimmen, ohne sie davor zu lesen. In der wir Musik hören und<br />
Filme schauen, die uns Streaming-Dienste vorschlagen. In der uns persönliche<br />
Vorschläge auf Online-Shops die Kaufentscheidungen erleichtern.<br />
Wir setzen den Haken, klicken auf Play, geben die Bestellung auf<br />
und lehnen uns zurück – mit der Erwartung, dass schon alles gut gehen<br />
wird.<br />
Wir stimmen der Künstlichen Intelligenz und der damit verbundenen<br />
Sammlung von Daten also sowohl bewusst als auch aus reiner Gewohnheit<br />
und Bequemlichkeit zu. Gleichzeitig, und das ist eigentlich das Lustige<br />
dabei, gibt es eine extrem starke Abneigung gegenüber Künstlicher<br />
Intelligenz. Gern wird in diesem Zusammenhang das Schreckgespenst<br />
moderner Überwachung und Steuerung beschworen. Dabei ist die KI<br />
keine neue Erscheinung. Bereits in den Fünfzigerjahren begannen die Forschungen<br />
zu einer Technologie, bei der sich künstliche neuronale Netze<br />
basierend auf gesammelten Daten selbst weiterentwickeln, im Dartmouth<br />
College in Hanover, New Hampshire. Der Stand heute: Man möchte seine<br />
Daten nicht teilen, weil man Angst hat, beobachtet zu werden. Man<br />
fühlt sich ertappt, wenn auf Social Media eine Werbung für die neuesten<br />
Sneakers angezeigt wird, über die man gerade mit seinen Freunden gesprochen<br />
hat. Ob man nun aber will oder nicht, der Einsatz von KI wird<br />
immer stärker. Dafür braucht es Daten, die ständig gesammelt werden<br />
und die – siehe oben – ständig von uns geliefert werden.<br />
JE FRÜHER, DESTO BESSER<br />
Bis zu einem gewissen Grad kann die Entwicklung mit der industriellen<br />
Revolution im 20. Jahrhundert verglichen werden. Wer sich damals<br />
rechtzeitig damit auseinandergesetzt hatte, konnte den Nutzen und die<br />
Effizienz-Steigerung durch Technologien erkennen. Allerdings wurden<br />
„Züge, Elektrizität, Radio, Telefon sowohl für kommunistische Diktaturen<br />
und faschistische Regime eingesetzt als auch für die Erschaffung von liberalen<br />
Demokratien“, so der Historiker Yuval Noah Harari, der in seinen<br />
Büchern wie „Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen“ ein eher dystopisches<br />
Zukunftsszenario der KI beschreibt. Ob dieses eintritt, liegt letztendlich<br />
am Einsatz und dem Verständnis für neue Leistungen durch die KI.<br />
Kurzum, es liegt an uns. Doch wie soll dieses Gespür geschaffen werden?<br />
Die Dringlichkeit, diese Frage zu beantworten, liegt im entscheidenden<br />
Unterschied zur industriellen Revolution. Noch nie waren Algorithmen<br />
und die damit verbundenen maschinellen Anwendungen so eng mit Entscheidungsprozessen<br />
der Menschen verbunden. Wenn es also irgendwann<br />
um weitaus ernstere Anwendungen als die Filmauswahl auf Netflix<br />
geht, ist es für unserer Selbstwillen essentiell, dass wir uns vor möglichen<br />
Manipulationen schützen.<br />
Myriam Locher, Gründerin und CEO von Bettermind und Unternehmensberaterin<br />
für digitale Transformation, lieferte in einem Interview eine einfache<br />
Erklärung: „Wir reden davon, dass wir in den kommenden 20<br />
Jahren den gleichen Entwicklungssprung sehen werden, wie wir ihn in<br />
den letzten 1000 Jahren vollzogen haben.“ Es gehe darum, maximal<br />
agil zu sein und eine herausragende Fehlerkultur zu etablieren. „Das ist<br />
die notwendige Basis, um in dieser Zeit schnell genug lernen zu können.“<br />
Was hindert uns eigentlich daran, uns nicht so schnell wie möglich damit<br />
auseinanderzusetzen? Woher kommt diese „allgemein mittelgute Wahrnehmung<br />
von Künstlicher Intelligenz“, wie sie Volker Darius, Experte für<br />
die KI und Innovationen von Capgemini Invent, beschreibt? Der Unternehmensstrategie-Berater<br />
im Bereich Künstliche Intelligenz erklärt dieses gesellschaftliche<br />
Phänomen anhand zweier Ursprünge: „Wenn der Mensch<br />
Dinge nicht versteht, versucht er, sie frei zu interpretieren.“ Das liege zum<br />
einen daran, dass zu wenig oder falsche Aufklärung betrieben wird – sowohl<br />
von den Medien als auch innerhalb von Unternehmen. Zum anderen<br />
spitze sich die Angst vor einer der Menschheit überlegenen Super-Intelligenz<br />
durch die verzerrte Wahrnehmung nur noch weiter zu. Dabei sind<br />
wir doch noch lange nicht am Punkt der Verschmelzung von Menschen<br />
und Robotern. Algorithmen kontrollieren auch nicht die Welt. Zumindest<br />
nicht in näherer Zukunft. Wenn Sie aber noch weiter rumtrödeln und in<br />
der gemütlichen Vergangenheit leben, könnten das bald diejenigen unter<br />
uns tun, die sich früh genug mit der Technik auseinandersetzen.<br />
DIE RICHTIGEN HELFER<br />
Aktuell geht es jedoch vielmehr um kognitive virtuelle Assistenten wie Siri<br />
und Alexa. Oder intelligente Dienste wie in der Landwirtschaft, wo die<br />
KI basierend auf gesammelten Daten bisheriger Ernten und äußeren Umständen<br />
wie klimatischer Verhältnisse oder der geografischen Lage vorschlägt,<br />
wie viel Dünger für einen höchstmöglichen Ernteertrag optimal<br />
sind. Dass die KI jedoch selbst einen Bauernhof führen kann, ist im Moment<br />
noch außer Reichweite. Ein weiteres kooperatives Beispiel ist Watson<br />
von IBM, ein auf der KI basierendes Programm, das Unternehmen in<br />
unterschiedlichsten Bereichen assistiert. Ein Anwendungsbereich ist die<br />
Medizin, wo Watson schnelle Vorschläge für Arzneimittel bereitstellt, indem<br />
hunderte von Fällen in Rekordzeit analysiert und darauf basierend<br />
Empfehlungen ausgesprochen werden.<br />
„Sinn und Zweck der Übungen sollte sein, die Studierenden<br />
zu veranlassen, sich selbst, eine Anschauung der Welt, und zwar<br />
von heute zu bilden“ OSKAR SCHLEMMER<br />
10<br />
ILLUSTRATION: NASTASJA SCHEFTER<br />
Übertragen auf andere Branchen bedeutet das, dass die KI im Zusammenhang<br />
mit technischen Entwicklungen in der nächsten Dekade die<br />
Menschen von sinnfreien, monotonen Arbeiten befreien kann, die uns<br />
doch sowieso langweilen. Bevor Sie sich jetzt um den Untergang der<br />
Arbeitskultur sorgen und vielleicht sogar die eigene Entlassung fürchten<br />
– keine Angst, Sie werden nicht nutzlos sein. Im Gegenteil, Sie werden<br />
sogar wichtiger.<br />
Diese Erfahrung machte auch Sven Galla, wie er der Süddeutschen Zeitung<br />
erzählte. Mit seiner Legal-Tech-Kanzlei Ratis setzte er als erster Jurist<br />
in Deutschland auf einen autonomen Chat-Bot. Dieser ersetzt den Anwalt<br />
in Routine-Arbeiten wie der Einordnung von Mandanten oder der Anfertigung<br />
der Abwicklungsvereinbarung. Die Vision: den Algorithmus dort<br />
einsetzen, wo er eben einfach besser und effizienter arbeitet als der<br />
Mensch. Somit kann Galla sein ganzes Wissen, das er in seiner juristischen<br />
Erfahrung angesammelt hat, auf tausende Klienten übertragen.<br />
Das Resultat: Der Anwalt aus Passau beschäftigt heute so viele Mitarbeiter<br />
wie noch nie. Deren Gehälter sind übrigens auch gestiegen. Mit dem<br />
rund um die Uhr arbeitenden Ratis-Bot will er bald die 30-Stunden-Woche<br />
einführen.<br />
ES ERGIBT ALLES SINN<br />
Es ist also nicht zu leugnen, dass die KI viele Arbeiten übernehmen wird.<br />
„Sie ist somit aber auch eine Chance, darüber nachzudenken, welche<br />
Arbeiten wirklich noch sinnvoll sind und wie man Prozesse zeitgemäßer<br />
machen kann“, plädiert Juliane Kahl, Gründerin des Responsive Fashion<br />
Institutes, das Projekte zu der Förderung von Digitalisierung, Nachhaltigkeit<br />
und Mode durchführt.<br />
Überlegen wir mal einfach: Trägt ein Kassierer von H&M wirklich zum<br />
Wohl der Welt bei, wenn er pro Tag Hunderte von Artikeln scannt und<br />
einsortiert? Oder würde es mehr dem Zeitgeist entsprechen, die Transparenz<br />
des Unternehmens fördern und den Kunden einen Mehrwert bieten,<br />
wenn er den Konsumenten fundiert über die Herstellungskette eines<br />
T-Shirts Auskunft geben könnte? Ja, Jobs und Aufgaben fallen weg, wie<br />
sie es schon zu Zeiten der Einführung der Dampfmaschine taten. Es entstehen<br />
aber auch laufend neue, für die man nicht automatisch programmieren<br />
können muss – Stichworte Influencer, Feel Good Manager und<br />
Drohnen-Piloten.<br />
Vielleicht sollten wir auch generell unsere allgemeine Einstellung zur<br />
Arbeit überdenken? Volker Darius greift bei seiner Argumentation auf die<br />
logische Konsequenz der Technologisierung zurück: „Sobald die Automatisierung<br />
steigt, wächst der Lebensstandard und Freiraum der Gesellschaft.“<br />
Besonders Letzterer wird wohl eine neue Bedeutung erfahren.<br />
Wir haben doch sowieso immer zu wenig Zeit für, naja, alles. Wenn uns<br />
dann also endlich mal mehr Freiraum zur Verfügung stünde, wofür könnte<br />
dieser genutzt werden? Eigentlich ist es ganz einfach: entweder für mehr<br />
Freizeit oder aber für eine andere Art von Arbeit. Dabei ist es doch heute<br />
schon spannend zu sehen, dass Menschen oft arbeiten, obwohl sie nicht<br />
müssten – sei es für eine gemeinnützige Organisation oder für die Umsetzung<br />
einer eigenen Idee. Vielleicht ist die KI also eine Chance, unsere<br />
Zeit in diese Arbeiten zu investieren, die unsere Gesellschaft aus sozialer<br />
Sicht vorantreiben<br />
Wir halten fest: Die KI unterstützt die Menschen da, wo sie effizienter<br />
arbeitet. Dafür braucht sie unsere Daten. Damit diese jedoch nicht gegen<br />
die Gesellschaft verwendet werden und, genau, weil immer noch wir<br />
Menschen die Algorithmen zu unserem Besten programmieren sollen,<br />
ist es entscheidend, jetzt zu handeln. KI-Experte Darius weist in diesem<br />
Zusammenhang darauf hin, dass politische sowie gesellschaftliche Ambitionen<br />
darauf abzielen müssen, dass Unternehmen mit ihren erhobenen<br />
Daten transparent umgehen. Hinzu kommen Initiativen wie das von Kanada<br />
und Frankreich gegründete Panel on Artifical Intelligence (IPAI), das<br />
internationale Standards für den Einsatz der KI schaffen will. Um mit der<br />
KI eine sinnvolle Zukunft und den potenziellen Missbrauch unter Kontrolle<br />
zu haben, sind transparenter Umgang und klare Regeln unumgänglich.<br />
Was das für jeden Einzelnen bedeutet? Zeigen Sie Interesse und Neugier<br />
statt Ablehnung und Skepsis. Die Politik soll auf diese Weise gerade noch<br />
rechtzeitig merken, dass in Aufklärung und Qualifikationen langfristig<br />
investiert werden muss. Wenn alle dabei mitmachen, wäre die Basis<br />
also nicht allzu schlecht. Was fehlt, ist Verständnis sowie Vertrauen. Und<br />
letztlich ist es doch genau das, was wir der KI voraushaben: Intuition und<br />
Empathie. Und vielleicht auch etwas Optimismus.<br />
Jetzt den Test machen:<br />
Wie optimistisch sind Sie gegenüber<br />
der Künstlichen Intelligenz?