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Form Follows Future

Die Bauhausnummer

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Revolution<br />

9<br />

Schacht, der je nach Größe der Kabinen und Anzahl der<br />

zu transportierenden Menschen variiert, spielt das Gewicht<br />

des Seils eine tragende Rolle: Das Seil, das den<br />

Aufzug letztendlich hält, gewinnt entsprechend der Gebäudehöhe<br />

an Gewicht. Ab 300 bis 400 Metern würde<br />

es sich, aufgrund seiner Schwere, selbst zerreißen. Das<br />

Maximum ist bei dieser Höher also erreicht, ab dann muss<br />

mit mehreren verschiedenen Schächten und Aufzügen gearbeitet<br />

werden. Im Burj Khalifa, dem aktuell höchsten<br />

Bauwerk der Welt, sind es beispielsweise insgesamt vier<br />

verschiedene – die Fahrtzeit mit Umsteigen, Aus- und Zusteigen<br />

kann dann schon mal 40 Minuten betragen.<br />

Ein Gebäude wird also um die Liftanlage herum geplant<br />

und diese wird mit zunehmender Höhe des Gebäudes<br />

umfangreicherer. Mehr Höhe bedeutet mehr Menschen<br />

und mehr Aufzüge. Und das bedeutet wiederum<br />

für die Zukunft, dass Liftanlagen, die so viel potenziellen<br />

Wohn- und Lebensraum einnehmen, nicht mehr länger<br />

funktionieren. Dessen sind sich Ingenieure schon seit einiger<br />

Zeit bewusst geworden und beschäftigen sich daher<br />

mit Alternativen.<br />

Eine davon kommt aus Deutschland, aus Neuhausen<br />

auf den Fildern in Baden-Württemberg. Der kleine Ort mit<br />

gerade einmal 11.349 Einwohnern wirkt auf den ersten<br />

Blick so gar nicht wie die Millionenstadt der Zukunft –<br />

aber hier wird groß gedacht. Hier hat „Thyssenkrupp Elevators“,<br />

der Konzern, der sich mit der Mobilität der Städte<br />

von Morgen beschäftigt, „Multi“ entwickelt: Ein seilloses<br />

Mehr-Kabinen-Aufzugssystem, das angelehnt ist an das<br />

Konzept eines Paternosters, bei der mehrere, an zwei Ketten<br />

befestigte Einzelkabinen im ständigen Umlaufbetrieb<br />

verkehren. Dabei werden die Kabinen am oberen und<br />

unteren Wendepunkt über große Scheiben in den jeweils<br />

MULTI<br />

Elevator<br />

„Was bisher aber keiner geschafft hat, ist der Exchanger. Für mich ist dieses Drehelement deswegen<br />

das wichtigste Bauteil. Ihn so wie die Kollegen in Rottweil hinzubekommen, ist Schwermechanik:<br />

Etwas Großes, vier Tonnen Schweres, das sich bewegt, das mit einer Uhrmacherpräzision ausgeführt<br />

wurde und reibungslos funktioniert – das ist echte Ingenieurskunst.“<br />

MICHAEL RIDDER, THYSSENKRUPP ELEVATORS<br />

Und das steckt dahinter: Der Exchanger als Schlüsselelement in dem Aufzugsystem „Multi“. Er ermöglicht es, dass eine Aufzugskabine erstmals nicht nur horizontal, sondern auch vertikal fahren kann.<br />

anderen Lift-Schacht umgesetzt. Dieser Prozess wiederholt<br />

sich und kommt nie zum Stillstand.<br />

Bei einem modernen „Multi“ Aufzugssystem ermöglicht<br />

ein sich an Magneten entlangziehender Linearmotor<br />

das Fahren – ganz ohne Seil. Das Wenden übernimmt<br />

der sogenannte Exchanger: Dieser funktioniert, sobald<br />

die Kabine einfährt, als Drehkreuz im Zusammenspiel mit<br />

seinem Gegenstück, welches an der Rückseite der Kabine<br />

angebracht ist. Der Exchanger ermöglicht auch erstmals,<br />

dass ein Aufzug nicht nur vertikal fahren kann, sondern<br />

auch horizontal. Für Michael Ridder ist er das Schlüsselelement<br />

und letztendlich das, was „Multi“ von seiner<br />

Konkurrenz unterscheidet und worauf noch kein anderes<br />

Unternehmen gekommen ist. Diagonales oder geneigtes<br />

Fahren sei auch kein Problem, das liege bei den Architekten<br />

und Gebäudebauern. Der Exchanger ist letztendlich<br />

das Teil, das ihnen ganz neue Möglichkeiten und Freiheiten<br />

gibt, stellt der Marketingchef von „Thyssenkrupp<br />

Elevators“ fest. Vernetzte Häuser mit Verbindungsbrücken<br />

in der Höhe werden denkbar, man müsste gar nicht mehr<br />

auf den Boden der Tatsachen zurück, sondern kann von<br />

einem Wolkenkratzer zum nächsten fahren.<br />

Die ursprüngliche Idee hinter „Multi“ ist, Gebäude<br />

möglichst ökonomisch zu gestalten, das heißt, die Fläche,<br />

die durch den Aufzug im Gebäude in Anspruch genommen<br />

wird zu minimieren. Für einen modernen Aufzug, der<br />

mit mehreren Kabinen pro Schacht fährt, wurde versucht,<br />

das zu erreichen. Als Beispiel bezieht Michael Ridder<br />

sich auf das One World Trade Center in New York, in<br />

welchem 40 Prozent der Gesamtfläche durch Aufzugsschächte<br />

belegt ist: „Wenn man sich jetzt überlegt, wie<br />

hoch die Mieten in New York sind und bei einem ‚Multi‘<br />

bis zu 50 Prozent Schachtfläche eingespart werden<br />

können – es werden weniger Schächte benötigt werden,<br />

dadurch dass mehr Kabinen pro Schacht fahren können –<br />

kann sich bei einem System wie ‚Multi‘ schnell rechnen.“<br />

Beim One World Trade Centre wären das 14.000 eingesparte<br />

Quadratmeter. Hochgerechnet auf zehn Jahre<br />

Mieteinnahmen, sind das 150 Millionen Euro. Zahlen in<br />

schwindelerregender Höhe für ein System, das sich mit<br />

den über die Jahre gerechneten Mehr-Mieteinnahmen<br />

rechnen würde. Auch wenn einen „Multi“ in sein Gebäude<br />

zu integrieren, mehr Investition verlangt als für einen<br />

herkömmlichen Aufzug.<br />

HÖHER, SCHNELLER UND WEITER:<br />

DER AUFZUG DER ZUKUNFT<br />

Gerade in den letzten Jahren wurden immer strengere<br />

Sicherheitsvorschriften für Gebäude entwickelt. Beispielsweise<br />

zusätzliche Feuerwehraufzugsschächte nehmen<br />

noch mehr Fläche im Gebäude weg. Für den gewohnten<br />

Passagierfluss fehlt dann die Kapazität. Da Kabinen eines<br />

„Multi“-Aufzugssystem schmaler sind, als bisherige kann<br />

das System aber auch im Nachhinein eingebaut werden<br />

und etwaige Probleme lösen.<br />

BILD LINKS: THYSSENKRUPP ELEVATORS; RECHTS: SONJA WUNDELRICH<br />

Bei „Multi“ liegt der Fokus ganz in der Höhe und<br />

Weite, Schnelligkeit wird durch einen kontinuierlichen<br />

Kabinenfluss garantiert. Aufzüge, die möglichst schnell<br />

fahren, sind vor allem im Asiatischen Raum gefragt, sind<br />

aber weniger effizient als gedacht. Man kann es sich so<br />

vorstellen wie einen Ferrari im Stau auf der Autobahn.<br />

Durch das ständige Aus- und Zusteigen kann der Aufzug<br />

seine Kabine nie wirklich auf die Geschwindigkeit, die<br />

eigentliche Kapazität, bringen. Hinzukommt, dass durch<br />

das ständige Bremsen und Beschleunigen mehr Energie<br />

verbraucht wird als bei einer kontinuierlichen Rotation.<br />

Energieeffizienz wiederum spielt für Gebäude ein<br />

große Rolle: Morgens, mittags und abends herrscht Rushhour<br />

im Gebäude, das bedeutet einen größeren Energieverbrauch.<br />

„Multi“ arbeitet mit Intelligenten Algorithmen<br />

zusammen, die erkennen, wenn zum Beispiel in der Tiefgarage<br />

mehrere Reisebusse ankommen – und reagiert mit<br />

einer Bereitstellung von zusätzlichen Kabinen. Das gleiche<br />

gilt für die Hochzeiten: Sobald diese wieder vorbei<br />

sind, werden die zusätzlichen Kabinen wieder einberufen<br />

und in der Garage geparkt. Die Macher von „Multi“ wollen<br />

außerdem die Gesichtserkennung einführen, damit<br />

das System einen schon registriert und mit einer privaten<br />

Kabine auf einen wartet. Es gibt außerdem die Option für<br />

personalisierte und individuell gestaltete VIP-Kabinen, die<br />

Executive Suits anfahren und Scheichs und Prominente<br />

befördern. Wenn es um superhohe Gebäude geht, dann<br />

muss auch mit superreichen Leuten gerechnet werden, die<br />

sich abgrenzen wollen von ihren Mitbewohnern oder bei<br />

denen schneller gehen muss – und vor allem hoch Hinaus.<br />

Mit ganz anderen Konzepten beschäftigen sich vor<br />

allem Architekten, die nicht nur Wohngebäude im Kopf<br />

haben, sondern alles, was zu einer lebenswerten Stadt<br />

gehört, wie zum Beispiel Krankenhäuser oder Flughäfen.<br />

Eine Forschungsarbeit setzt sich mit einem „Multi“-System<br />

in einem Krankenhaus auseinander, bei dem einzelne<br />

Kabinen steril sein würden, also nur für den OP-Bereich<br />

zuständig, und andere, die sonstige Aufgaben wie zum<br />

Beispiel den Bettwäsche-Transport übernehmen könnten.<br />

Für das Mehr-Kabinen-System gibt es Anfragen von<br />

Flughäfen, ob es möglich sei, einzelne Kabinen so zu<br />

programmieren, dass sie Gäste, die ihren Boardingpass<br />

beim Einsteigen scannen, direkt zu ihrem Gate bringen,<br />

zum Ausgang oder zur Mietwagengarage.<br />

Doch gerade bei Gebäuden, in denen sich so viele<br />

Menschen aufhalten, bleibt die Frage nach Notfallprävention.<br />

WARTEN AUF DAS „GO“: 2020<br />

SOLL DER ERSTE SUPER-LIFT ZUM<br />

EINSATZ KOMMEN<br />

„Multi“ ist letztendlich ein zertifizierter Aufzug wie jeder<br />

andere, auch wenn viele Leute erst einmal irritiert sind,<br />

weil kein Seil mehr vorhanden ist. Ein Sicherheitssystem,<br />

automatische Bremsen, Notstromaggregate und Batterien<br />

sorgen im Notfall für genügend Energie, um die Kabine<br />

bis zur nächsten Etage zu bringen. Den einzelnen Linear-<br />

Einmal selbst in der futuristischen Aufzugkabine stehen? Das geht im „Thyssenkrupp“-Testturm in Rottweil<br />

motoren muss Strom geliefert werden, zum Anschubsen<br />

sozusagen, aber ab dann funktionieren sie wie Generatoren<br />

und produzieren selbst Energie, sobald eine Kabine<br />

wieder abwärts fährt. Diese Energie wird im Aufzugssystem<br />

gehalten und gibt „Multi“ zumindest noch so viel Reserven,<br />

dass Kabinen es bis zur nächsten Etage schaffen,<br />

die Türen öffnen und dann das Ganze heruntergefahren<br />

werden kann.<br />

Auch wenn eine Personenzertifizierung noch aussteht,<br />

alles andere wäre bereit und man wartet nur noch auf<br />

das finale „Go“. Der erste „Multi“ wird 2020, vermutlich<br />

entgegen aller Erwartungen nicht in China oder Japan<br />

gebaut, sondern im East Side Tower in Berlin. Bis es 2050<br />

dann soweit ist, dass Aufzüge quasi lebensnotwendig<br />

werden, forschen weiterhin rund vierzig Ingenieure allein<br />

bei „Thyssenkrupp Elevators“ an Verbesserungs- und weiteren<br />

Einsatzmöglichkeiten.<br />

Die Entwicklung der Weltbevölkerung<br />

und die der Aufzugskabine haben Ihr<br />

Interesse geweckt? Mehr dazu gibt es<br />

auf formfollowsfuture.de

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