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Mode : 11 / Ein Magazin der Modejournalisten der AMD Akademie Mode & Design München<br />
/100<br />
FORM<br />
FOLLOWS<br />
FUTURE<br />
Die Bauhausnummer
Editorial<br />
FASHION JOURNALISM<br />
AND COMMUNICATION<br />
(B.A.)<br />
„DIE GANZE WELT<br />
EIN BAUHAUS“<br />
www.amdnet.de<br />
Damit bringt es Fritz Kuhr auf den Punkt. Was der ehemalige Bauhaus-Schüler und spätere Lehrer<br />
bereits im Jahr 1928 wusste, mussten wir erst herausfinden. Wir, das sind die Studierenden der<br />
Abschluss- Lehrredaktion Modejournalismus/Medienkommunikation der AMD München vom Kurs<br />
MM18.<br />
Das Bauhaus war 14 Jahre lang eine Hochschule für Kunst, Design und Architektur. Es prägt bis heute<br />
einen reduzierten Baustil und eine komplett neue Denkweise. Sogar einen gleichnamigen Baumarkt<br />
gibt es – mit dem unser Magazin aber nichts zu tun hat.<br />
In diesem Jahr feiern wir auf jeweils 100 Seiten mit einer Auflage von 100 Exemplaren 100 Jahre<br />
Bauhaus und fragen: Wie relevant ist die Stilrichtung in der Gegenwart und was bedeutet das für<br />
unsere Zukunft? Mut, Freiheit, Anfang und Revolution waren die entscheidenden Begriffe, die uns<br />
zum Bauhaus einfielen. Diese Schlagworte gliedern unser Magazin. Jede Geschichte wurde inspiriert<br />
von einer künstlerischen oder programmatischen Aussage über die Bauhaus-Philosophie. So finden<br />
Walter Gropius, Johannes Itten, Alfred und Gertrud Arndt sowie Alma Buscher ihren Platz in der Bauhausnummer.<br />
Die Bauhaus-Schüler arbeiteten in ihren Werkstätten nach dem Leitsatz von Louis Sullivan „<strong>Form</strong><br />
<strong>Follows</strong> Function“. Wir sagen im Jahr 2019: „<strong>Form</strong> <strong>Follows</strong> <strong>Future</strong>“. Im Jubiläumsjahr der Kunstschule<br />
bringen wir die elfte Ausgabe der MO:DE-Reihe heraus. Obwohl das Jahr nun bald zu Ende geht,<br />
können wir dem Bauhaus auch in Zukunft nicht entkommen. Das wollen wir auch gar nicht. Sie werden<br />
schon sehen – die ganze Welt ist Bauhaus!<br />
DIE ABSCHLUSS-LEHRREDAKTION DES 18. JAHRGANGS<br />
DER AMD AKADEMIE MODE & DESIGN MÜNCHEN<br />
Foto: Sammy Hart, Styling: Michaela Konz, Lydia Raaf-Dahaldian<br />
AK ADEMIE MODE & DESIGN<br />
AKADEMIE MODE DESIGN<br />
Mode · Medien · Management · Design<br />
Mode · Medien · Management · Design<br />
Fachbereich Design<br />
Ein Fachbereich Fachbereich Design der Hochschule Fresenius<br />
University Ein Fachbereich of Applied der Hochschule Sciences Fresenius<br />
University of Applied Sciences<br />
DER MO:DE 11 PODCAST<br />
Bitte gleich zu Beginn das Smartphone ans Ladekabel<br />
hängen, damit es später einsatzbereit ist. Denn <strong>Form</strong><br />
<strong>Follows</strong> <strong>Future</strong> – die Bauhausnummer ist mehr als ein<br />
Druckerzeugnis. Wer die QR-Codes im Magazin mit der<br />
Handykamera scannt, wird auf die Webseite geleitet und<br />
findet zusätzliche Inhalte wie Reportagevideos, Quizze<br />
und Behind-the-Scenes-Eindrücke von den Modeproduktionen.<br />
Auch der Besuch des Spotify-Kanals lohnt sich: Der<br />
FFF-Podcast versorgt die Hörer mit Hintergrundinformationen<br />
zu den Machern des Heftes. In jeder Folge stellt Moderatorin<br />
Marie-Louise Wenzl-Sylvester dieselben sechs<br />
Fragen an einen Contributor – und die Antworten könnten<br />
nicht unterschiedlicher sein. So verrät der Art Director<br />
Lutz Widmaier, wie ihn ein strenger Dozent in die richtige<br />
Richtung geschubst hat, und die Designerin und CEO des<br />
Responsive Fashion Institute Juliane Kahl spricht über die<br />
Gleichberechtigung in ihrer Branche. Um dieses Magazin<br />
in all seinen Facetten erleben zu können, ist es durchaus<br />
erwünscht, das Smartphone in der Hand zu haben.<br />
MO:DE 11 PINCODES<br />
Exklusive Inspirationen, zusätzliche Bilder und noch viel<br />
mehr Ideen: Auf Seite XX, XX und XX finden Sie Pincodes,<br />
die direkt auf das Pinterest Profil von <strong>Form</strong> <strong>Follows</strong> <strong>Future</strong><br />
führen. Zu erkennen sind sie an den Kreis-Symbolen aus<br />
schwarzen Punkten.<br />
So funktionieren die Pincodes:<br />
1. Die Pinterest-App auf Ihrem Smartphone downloaden.<br />
2. Auf das Kamera-Symbol in der Suchleiste tippen.<br />
3. Pincode scannen.<br />
MODE11_Anzeige.indd 1 10.07.19 09:04
INHALT<br />
52 GARTEN FREIDORF<br />
Die Wohngenossenschaft: Ein Paradies auf Erden?<br />
58 MASKENBALL<br />
So nah liegen Selfies und Bauhaus-Fotografie zusammen<br />
62 HIN UND WEG<br />
Sieben Reiseziele und der Umgang mit Overtourism<br />
ANFANG<br />
64 GLANZLEISTUNG<br />
Das neue Handwerk in der Mode<br />
REVOLUTION<br />
66 WIE VON HAND<br />
Gewebte Stoffe, zeitgenössisch interpretiert<br />
78 SIEBEN TAGE, SIEBEN FARBEN<br />
Wie Foodtrends unser Leben beeinflussen<br />
84 KUNST HAT KEINE NATIONALITÄT<br />
Verfolgte Musiker und Maler schöpfen neue Hoffnung<br />
88 PUNKT, PUNKT, KOMMA, STRICH<br />
So abstrakt kann Make-up sein<br />
94 PILLE PALLE<br />
Warum Verhütung beide Geschlechter angeht<br />
98 GROPIUS SUPERSTAR<br />
Walter im Vergleich mit Bowie, Britney und Co.<br />
06 ÜBER DEN WOLKEN<br />
Sieht so die Stadt der Zukunft aus?<br />
10 GEMEINSAM INTELLIGENT<br />
Warum wir uns vor Künstlicher Intelligenz nicht fürchten sollten<br />
12 VISUAL REALITY<br />
Wenn Technologie auf Mode trifft<br />
FREIHEIT<br />
24 SCHÖN IST, WAS FUNKTIONIERT<br />
Der Utility-Trend erobert die Laufstege<br />
26 „DIE KUNST IST, MIT WENIG WEITER ZU KOMMEN“<br />
Ein Gespräch mit Designerin Ayzit Bostan über Mode, Stil und das Bauhaus<br />
32 BAUHAUS / HAUSPARTY<br />
Fünf junge Menschen schildern ihren perfekten Abend<br />
36 TÜRKISCH FÜR ANFÄNGER<br />
Von der neuen Jugendsprache<br />
38 802C<br />
Neon: Die Bauhaus-Farben weitergedacht<br />
44 WIR SCHAFFEN DAS<br />
Wie unterstützt die Gesellschaft den Kinderwunsch berufstätiger Frauen?<br />
48 WELTERWEITERUNG<br />
Mit dem Smartphone in einen anderen Kosmos<br />
BILDER: BLINDER CREDIT LOREM IPSUM<br />
MUT<br />
COVERFOTO:<br />
KAJ LEHNER<br />
STYLING:<br />
ALINE GANGUIN<br />
EVA KAPELLER<br />
ROSSELLA LOFINO<br />
MODELS:<br />
CARO SCHÄFFLER<br />
HANNAH-SOPHIE WEBER<br />
HAARE & MAKE-UP:<br />
ALEXANDRA SALATINO
RE<br />
VOLU<br />
––– Stetige Ver änderung,<br />
vor allem<br />
im technischen<br />
Bereich, fordert<br />
uns heraus. Die<br />
Studierenden am<br />
Bauhaus waren<br />
Visionäre und<br />
wollten die Welt<br />
einfacher machen.<br />
Hundert Jahre<br />
später schauen<br />
wir, ganz in ihrem<br />
Stil, in die Zukunft.<br />
TION<br />
FOTO: CHARLOTTE HABERSETZER
Revolution<br />
26<br />
„Die Kunst ist, mit wenig<br />
weiterzukommen.“<br />
Designerin und Künstlerin Ayzit Bostan ist für ihre<br />
reduzierte Mode bekannt. Konsequenterweise<br />
hat sie jetzt ein Bauhaus-Kleid entworfen. Ein Gespräch<br />
über Styling, Stoff und Stilgefühl VON JULIANA GUTZMANN<br />
Hundert Jahre Bauhaus – ein tolles Jubiläum. Hat die<br />
revolutionäre Bildungsstätte Sie schon länger inspiriert<br />
oder haben Sie erst durch Ihre Designkooperationen<br />
2018/19 einen Bezug dazu gefunden?<br />
Ayzit Bostan: Bauhaus interessiert mich beruflich<br />
schon lange. Ich lehre an der Kunsthochschule Kassel<br />
Produktdesign. Dort hatten wir bereits im letzten Sommersemester<br />
das Thema „Why not Bauhaus!?“. Mir ging es<br />
aber nicht um eine Retrospektive, sondern auch darum<br />
das Bauhaus ein bisschen zu entthronen – den Hype zu<br />
durchbrechen. In der heutigen Zeit kann man das ruhig<br />
realistischer sehen und die Strenge ein wenig auflösen.<br />
ges T-Shirt, das die Trägerin nicht anstrengt, aber trotzdem<br />
cool und angezogen aussieht. Dann hat es Taschen – praktisch!<br />
Beim inneren Gürtel fand ich toll, dass man nur eine<br />
Stelle betont und hinten locker lassen kann. Vorne ist man<br />
fitted, hinten weit. Diese Silhouette verwende ich gern.<br />
Wie würden Sie das Kleid stylen?<br />
Es kommt auf den verwendeten Stoff an. Das Bauhaus-Kleid<br />
gibt es in vielen Variationen, die man festlich,<br />
sinnlich oder auch ein bisschen rougher kombinieren<br />
kann. Es ist eine moderne Interpretation – keine Retrospektive.<br />
Ayzit Bostan, 51, in New York. 2015 hat sie sich von der Weltstadt inspirieren lassen, in der Bauhaus-Studentin Anni Albers im Jahr 1949 als erste Textilkünstlerin überhaupt<br />
eine Ausstellung im MOMA bekam. Ayzit Bostan ist zurzeit Teil einer Exposition zum Thema Bauhaus: ihre Neuinterpretation des Lattenstuhls von Marcel Breuer ist in „Reflex Bauhaus.<br />
40 Objects – 5 Conversations “ zu sehen. Besucht werden kann die Ausstellung noch bis Februar 2020 in der Münchner Pinakothek der Moderne.<br />
FOTO: FABIAN FRINZEL<br />
Wie zum Beispiel?<br />
Bei der Designkooperation mit Philipp Bree habe ich<br />
einen Brustbeutel entworfen, dessen Gurt-Enden freie <strong>Form</strong>en<br />
sind und eben kein Quadrat oder Kreis. Ich fand<br />
diese Interpretation irgendwie netter und auch lustiger.<br />
Der Bauhaus-Wiedererkennungseffekt entstand trotzdem<br />
durch unsere Farbgebung in der Taschenkollektion. Danach<br />
war ich im Flow. Wenn man sich intensiv mit etwas<br />
beschäftigt, strahlt das auch in andere Bereiche aus.<br />
Ich bin froh, dass ich die Bauhaus Idee früh aufgegriffen<br />
habe. 2019 gibt es schon einen leichten Overload: Alles<br />
wird Bauhaus. Das Kleid, für MO:DE 11 ist daher mein<br />
letztes Projekt in dieser Richtung.<br />
Das Kleid ist sehr clean gehalten. Welche Elemente genau<br />
sind für Sie daran Bauhaus?<br />
Vor allem die Farbe und der Stoff! Ich wollte ein pures<br />
Kleid machen, das aber durch die Ausschnittgröße auch<br />
eine gewisse Sexiness bekommt. Meiner Meinung nach<br />
war das Bauhaus nämlich auch minimal prüde. Es ist unfair:<br />
wenig Frauen sind sichtbar geblieben oder geworden,<br />
weil die Hochschule männerdominiert war – obwohl<br />
sie ja offiziell sehr progressiv und modern sein wollten.<br />
Die Studentinnen haben mehr Produkte verkauft, da ihre<br />
Entwürfe viel angewandter waren. Trotzdem sind sie als<br />
Designerinnen nie so gefeiert worden wie die männlichen<br />
Studenten/Absolventen.<br />
Das Bauhaus-Kleid ist knöchellang und sehr luftig geschnitten.<br />
Hatten Sie beim Entwurf auch angewandtes<br />
Design im Sinn?<br />
Definitiv. Ich finde ein pures Kleid so wunderbar unkompliziert.<br />
Gerade im Sommer. Man ist angezogen, es<br />
engt einen nicht ein. Man muss nicht tausend Stunden<br />
überlegen, was man anzieht. Eine Basis, die zu allem<br />
passt: flache Schuhe, hohe Schuhe, eine Tasche oder nur<br />
ein Beutel… so etwas mag ich. Im Prinzip ist es wie ein lan-<br />
Wie kann man das Schnittmuster zuhause<br />
anwenden?<br />
Ganz individuell. Verschiedene Farben, verschiedene<br />
Stoffe oder Muster – auch die Ärmellängen können variiert<br />
werden. Wir arbeiten gerade an einer Version in<br />
Schwarz mit durchsichtigen Ärmeln. Das ist das Tolle am<br />
Basic-Schnitt: Man kann sich immer wieder neu inspirieren<br />
lassen.<br />
Wenn Sie in der damaligen Zeit gelebt hätten, wären<br />
Sie auch ans Bauhaus gegangen?<br />
Das hätte mich total interessiert. Man wusste ja, dass<br />
aufgeschlossene, modern eingestellte oder die Moderne<br />
suchende Leute ans Bauhaus gingen. In so einem Kontext<br />
zusammen zu wachsen, sich zusammen auszuprobieren<br />
und durch andere inspiriert zu werden – das ist eine große<br />
Chance. Es waren ja nicht nur lokale, sondern auch<br />
internationale Studenten und Dozenten dort. In einer Welt<br />
ohne Internet – keine alltäglichen Austauschpartner. Im<br />
Prinzip war es natürlich auch ein bisschen Name-Dropping,<br />
aber trotzdem: alles was neu ist und sich neu entwickelt<br />
ist total interessant. Wenn hier in München etwas<br />
so Spannendes aufmachen würde, wo sich wichtige und<br />
interessante Leute treffen... da würde man sich ja auch<br />
bewerben.<br />
Wo finden Sie stattdessen kreativen Input?<br />
In einen Beruf wie meinen wächst man durch diverse<br />
Einflüsse hinein. Modedesign war und ist eigentlich gar<br />
nicht mein Fokus im Alltag. Ich finde eher, dass man sich<br />
für viele Richtungen interessieren muss. Designer oder<br />
Künstler zu sein ist kein Nine-to-Five-Job – es ist eine Haltung.<br />
Ob Filme, Ausstellungen, Musik, Austausch - alles<br />
kann inspirieren! An manchem bleibt man hängen und<br />
nimmt es wahr, weil man mit anderen Augen, einem andere<br />
Blick durch die Welt läuft. Dann absorbieren sich die<br />
Eindrücke und am Ende kommt etwas Persönliches heraus.<br />
Isabella Heinz, zurzeit Modedesignstudentin<br />
der AMD München, hat den beigelegten<br />
Papierschnitt des Bauhaus-Kleides für MO:DE 11<br />
digitalisiert. Das Schnittmuster zum Ausdrucken<br />
und Nachschneidern findet man auch auf unserer<br />
Homepage www.formfollowsfuture.de
Revolution<br />
Was ist Ihnen als Designerin wichtig? Welche Aussagen<br />
möchten Sie transportieren?<br />
Mir ist wichtig, qualitativ hochwertige und im Design<br />
reduzierte Kleider und Accessoires mit essenziellen Details<br />
zu kreieren. Ich möchte ein souveränes Frauenbild<br />
zeigen. Außerdem arbeite ich oft mit Symbolen, die ich<br />
durch Intervention neu interpretiere. Dadurch entstehen<br />
humorvolle, nachdenkliche oder politische Botschaften.<br />
Wir ordnen in diesem Heft jede Geschichte einem Bauhaus-Zitat<br />
zu. Für Sie finde ich eines von Walter Gropius<br />
passend, das beinhaltet, dass Begrenzungen den<br />
menschlichen Geist erfindungsreicher machen. Denken<br />
Sie das auch?<br />
Auf jeden Fall. Grenzen zwingen einen kreativ zu<br />
werden. Wenn man nur wenig zur Verfügung hat, ist es<br />
eine wahnsinnige Herausforderung, daraus viel machen<br />
zu können.<br />
Wie ein guter Koch.<br />
Genau! Da kommt es neben der Kreativität aber auch<br />
auf die Zutaten an. Damit eine Arrabiata toll schmeckt<br />
braucht man gute Tomaten, gutes Olivenöl, guten Parmesan,<br />
gute Nudeln…<br />
Arbeiten Sie oft mit hochwertigen Stoffen?<br />
Hochwertig ja, aber es muss auch nicht immer Seide<br />
sein. Ich lege Wert auf Nachhaltigkeit. Fast alles ist bei<br />
mir made in Munich oder zumindest made in Germany.<br />
Schon immer. Als der Slow-Fashion-Trend aufkam, fand ich<br />
das sehr interessant: Auf einmal stand die Herkunft überall<br />
explizit dabei – ähnlich wie bei veganen Lebensmitteln,<br />
zum Beispiel einem Apfel. Aber zurück zum Thema:<br />
Eingrenzung macht definitiv kreativ. Und auch innovativ!<br />
Welche Innovation würden Sie gern in der Gesellschaft<br />
anstoßen?<br />
Diese Massen an Kleidung machen mich wahnsinnig.<br />
Wie die Leute mit Ware umgehen – als wären sie vorgefertigt<br />
vom Baum gefallen. Keine Wertschätzung des<br />
Handwerks! Zum Glück gibt es auch Gegentrends wie<br />
Minimalismus. Dieses Thema habe ich passenderweise<br />
direkt nach Bauhaus mit meinen Studenten behandelt. Es<br />
war für alle Bereiche anwendbar – sie konnten sich frei<br />
entfalten. Das war wirklich interessant.<br />
Was hat Ihnen am Besten gefallen?<br />
Alle Ideen waren cool: einer hat ein Magazin gemacht,<br />
ein paar haben selbst ausprobiert mit wenig zu leben.<br />
Dabei haben sie sich total strukturiert. Eine Studentin<br />
hatte einen Podcast, in dem sie Leute zu der Frage „Auf<br />
was kannst du verzichten und auf was nicht?“ interviewt<br />
hat.<br />
Worauf könnten Sie verzichten? Und worauf nicht?<br />
Ohne gutes Essen geht es nicht. Aber ich könnte auf<br />
jeden Fall auf mein Auto verzichten. Grade hier in München,<br />
weil ich viel und gerne Fahrrad fahre. Auf was<br />
könnten SIE denn verzichten?<br />
Auf keinen Fall auf meine Kaffeemaschine!<br />
Ja, das kenne ich! Die Kunst ist, mit wenig weiterzukommen.<br />
Es sammelt sich so viel an. Man muss seine<br />
eigene Haltung ändern, damit man eben auch mit wenig<br />
weiterleben will – nicht nur einmal aufräumt und das<br />
war’s.<br />
28<br />
„Limitations make the creative mind inventive“<br />
Walter Gropius<br />
Womit wir wieder bei den Basics wären...<br />
Basics sind eine gute Sache. Das wusste schließlich<br />
schon das Bauhaus.<br />
FOTOS:PAUL MEYER, MODEL:AISSA, H&M:MARLENA
Revolution<br />
12<br />
Visual<br />
Reality<br />
Reduzierte Schnitte treffen auf sportliche Teile<br />
und läuten das technologische Zeitalter ein.<br />
Mit gesellschaftlichen Statements wird<br />
diese Zurückhaltung laut<br />
FOTOS VON PAUL MEYER<br />
STYLING VON ALINE GANGUIN, EVA KAPELLER, ROSSELLA LOFINO<br />
HAIR & MAKE-UP VON MARLENE FUCHS<br />
MODELS: AÏSSATOU ESTELLE NIANG, EMMANUEL EDIGIN<br />
Boilersuit mit kurzen Ärmeln von<br />
H&M, um 60 Euro. Sweatshirt<br />
von Jack&Jones, um 40 Euro.<br />
Sneakers von Nike, um 180<br />
Euro. Bucket Hat von Carhartt,<br />
um 40 Euro
Blindtext<br />
14<br />
Revolution<br />
Links: Windbreaker von Under<br />
Armour, um 75 Euro. Daunenweste<br />
von The North Face, um<br />
190 Euro. Hose von Missguided,<br />
um 35 Euro. Sneaker von<br />
Umbro, um 120 Euro<br />
Rechts: Regencape mit Kapuze<br />
von Oysho Sport, um 50 Euro.<br />
Schmale Hose von Zara, um 40<br />
Euro. Sneaker von Pregis, um<br />
220 Euro<br />
Hemd mit Gummizug von<br />
Mango, um 40 Euro. Stoffhose<br />
mit Bundfalte von Mango, um<br />
50 Euro. Budapester von<br />
Bianco, um 100 Euro
Blindtext<br />
Revolution<br />
16<br />
Links: Trenchcoat von Uniqlo,<br />
um 100 Euro. Naturfarbenes<br />
Hemd von H&M, um 20 Euro.<br />
Stoffhose von Mango, um 50<br />
Euro. Sneaker von Pregis, um<br />
220 Euro<br />
Rechts: Kurze Jacke, um 30<br />
Euro, und Minirock, um 20<br />
Euro, von Bershka. Strümpfe<br />
von Adidas, um 10 Euro. Sneaker<br />
von Gabor, um 75 Euro.<br />
Sportliche Brille von Konstant,<br />
um 15 Euro
Revolution<br />
Linke Seite: Kapuzenpullover<br />
von Pull&Bear, um 20 Euro.<br />
Utility Weste von Night Addict,<br />
um 80 Euro. Latzhose von<br />
Puma, um 40 Euro. Sneaker<br />
von Nike, um 180 Euro. Bucket<br />
Hat von Carhartt, um 40 Euro.<br />
Sportliche Brille von Konstant,<br />
um 15 Euro<br />
Diese Seite: Rollkragenpullover<br />
von MAX&Co., um 100 Euro.<br />
Latzhose von Missguided, um<br />
40 Euro. Bucket Hat von<br />
Carhartt, um 40 Euro<br />
Revolution
Revolution<br />
20 21<br />
Kapuzenpullover von Asos<br />
Design, um 20 Euro.<br />
Sweatshorts von H&M, um 20<br />
Euro. Chinohose von Replay,<br />
um 100 Euro. Sneaker von<br />
Pregis, um 220 Euro
Revolution<br />
22 23<br />
Revolution<br />
T-Shirt mit Reißverschluss von<br />
Libertine-Libertine, um 110<br />
Euro. Nylonhose von Collusion,<br />
um 40 Euro. Transparenter<br />
Windbreaker von Calvin Klein,<br />
um 160 Euro. Sonnenbrille mit<br />
bunten Gläsern von Vintage<br />
Supply, um 15 Euro. Sneaker<br />
von Umbro, um 120 Euro
Revolution<br />
24<br />
25<br />
Schön ist,<br />
was funktioniert<br />
Diese Haltung vertraten nicht nur Schüler<br />
und Lehrende am Bauhaus – auch<br />
Designer von heute entwerfen die aktuelle<br />
Mode entsprechend. Eine Analyse des<br />
Utility-Trends VON ANGELA GUNDOLF<br />
Einen guten Fang macht man<br />
diese Saison mit Kleidung, die<br />
mehr kann als nur gut aussehen.<br />
Die Anglerweste von Oysho<br />
Sport vergüt über praktische<br />
Elemente wie aufgesetzte<br />
Taschen, einen verstellbaren<br />
Tunnelzug und versiegelte<br />
Zipper. Ein weiteres Plus: das<br />
atmungsaktive und wasserabweisende<br />
Material.<br />
Schnelllebigkeit ist ein prägender Teil unserer<br />
heutigen Gesellschaft. Oft haben weder Gebrauchsgegenstände<br />
noch Dinge mit einem<br />
persönlichen Bezug, wie zum Beispiel Beziehungen,<br />
eine langfristige Bedeutung für den<br />
Einzelnen. Doch derzeit scheinen sich genau danach die<br />
Menschen zu sehnen. Und das hat einen Grund: Die politisch<br />
kritische und instabile Lage bringt uns dazu, Einfachheit<br />
und Klarheit im Alltag zu schätzen.<br />
Diese Probleme greifen die Mode-Designer im<br />
Herbst/Winter 2019/20 in ihre Kollektionen auf. In <strong>Form</strong><br />
von funktioneller Mode kreieren sie Designs, die einen<br />
langfristigen Nutzen haben. Utility (Deutsch: Nützlichkeit)<br />
nennt sich der Trend, der Designelemente der funktionalen<br />
Outdoor-Bekleidung in den zeitgenössischen Kontext<br />
integriert. „Auf den Laufstegen wurden Jumpsuits, gegürtete<br />
Hosen und Jacken gezeigt [...] Der Trend liegt irgendwo<br />
zwischen schicker Safari und modernem Militär. Aber<br />
die allgemeine Botschaft ist klar: Mach dich nützlich“,<br />
schreibt Kerry Pieri in der amerikanische Harper‘s Bazaar<br />
über die Schauen.<br />
Ein Paradebeispiel für den Utility-Chic ist Stella Mc-<br />
Cartney. Gummistiefel, Cargo-Hosen und Outdoor-Jacken<br />
mit aufgesetzte Leistentaschen. Im Gegenzug dazu zeigt<br />
sie feminine Silhouetten und Materialien wie taillierte Blazer,<br />
Chiffon-Kleider und Fransen. Die britische Designerin<br />
vereint in ihrer Herbst-/Winterkollektion 2019/20 das<br />
Design der Jagd- und Militärkleidung mit der Eleganz der<br />
Powerfrau von heute: Ausgerechnet große aufgesetzte Taschen<br />
und Kellerfalten etwa – bislang eher als praktisch,<br />
weniger als schön angesehen – werden bei McCartney<br />
zu den Herzstücken ihrer Looks. „Funktion wird in <strong>Form</strong><br />
des Utility-Chic in die Mode aufgenommen“, beschreibt<br />
Elizabeth von der Goltz, Buying Director des Luxus-Händlers<br />
Net-à-Porter, das Phänomen.<br />
Ein Label, das schon seit seiner Gründung 2013 mit<br />
sportlichen Street-Styles und Elementen des Outdoor-Bereichs<br />
arbeitet, ist Off-White. In seiner Kollektion für<br />
Herbst/Winter 2019/20 zelebriert Chefdesigner Virgil<br />
Abloh vollkommene Funktionalität: Seine Models, die in<br />
übergroßen Daunenmänteln und Dufflecoats über den<br />
Runway liefen, könnten so auch eine Polarexpedition starten.<br />
„Virgil Abloh designt mit einem sehr hohen kreativen<br />
Anspruch und stellt gleichzeitig die Funktionalität in den<br />
Vordergrund“, sagt Theresa Pichler, Fashion Director der<br />
deutschen InStyle. Das Fleece-Material, das Abloh für<br />
die Kollektion bevorzugt, kommt aus dem Bereich der<br />
Outdoor-Bekleidung – es wärmt, ist formbeständig und<br />
trocknet schnell. Somit setzt der Designer nicht nur auf die<br />
Utility-Optik, sondern greift auch bei der Materialauswahl<br />
auf funktionale Stoffe zurück.<br />
FOTOS: PAUL MEYER<br />
Doch es ist nicht nur das Praktische, das den Trend so<br />
populär macht, sondern auch der vielfältige Einsatz im<br />
Alltag. Athleisure – ein Teil des Utility-Trends – ermöglicht<br />
es, ein Kleidungsstück sowohl im Büro, im Club, als auch<br />
beim Sport zu tragen. So wirkt ein Outfit zugleich schick<br />
und sportlich.<br />
Klassische Sport-Labels wie Adidas, Nike und Co.<br />
perfektionieren diese Verschmelzung längst. Durch Kooperationen<br />
mit High-Fashion-Labels bringen sie die<br />
Funktionalität des Sports auf die Laufstege. Zuletzt kollaborierte<br />
Nike mit dem amerikanischen Designer Matthew<br />
M. Williams, der 2009 durch die Zusammenarbeit mit<br />
Lady Gaga bekannt wurde. Williams entwarf 2018 eine<br />
Capsule-Kollektion für Nike und arbeitet nun vermehrt an<br />
Schuhen für das Label, die den Multifunktionalitätseffekt<br />
aufgreifen. Sein eigenes Label, 1017 ALYX 9SM, das<br />
in den letzen Saisonen eine der Newcomer-Brands auf<br />
den Pariser Modewochen war, zelebriert den Multifunktionalitätstrend<br />
noch mehr. Für Herbst/Winter 2019/20<br />
präsentiert Williams Cargo-Hosen, die man als elegant<br />
und sportlich zugleich bezeichnen kann, da sie schlicht<br />
und einfach beide Aspekte zu hundert Prozent erfüllen.<br />
Ebenfalls Multitalente sind seine Regenjacken, die sowohl<br />
die Funktion des gelben Paddington-Mantels erfüllen als<br />
auch mit moderner Optik überzeugen. Außerdem zeigt er<br />
klassische Rollkragen-Pullover, die durch ihren Schnitt und<br />
ihr atmungsaktives Material als Second Skin unter einen<br />
Blazer oder als Breathables bei der nächsten Jogging-Einheit<br />
getragen werden können. Kleidungsstücke, die zu jeder<br />
Uhrzeit, zu jedem Anlass und bei jedem Wetter zum<br />
Einsatz kommen.<br />
Die Gegenströmung CAMP dagegen – Eyecatcher<br />
und Motto der diesjährigen Met-Gala – zelebriert laut Susan<br />
Sontag die Liebe zum Unnatürlichen, zur Künstlichkeit<br />
und zur Übertreibung. Der Funktionalitätsgedanke aber<br />
ist es, der der Allgemeinheit einen zeitlosen, langfristigen<br />
Nutzen liefert: „Funktionskleidung ist gekommen, um zu<br />
bleiben. Seitdem sie bewusst entworfen wird, finden immer<br />
mehr Menschen Gefallen daran. Eine Regenjacke,<br />
ein Parka oder Track-Pants werden sich auch in ihrer<br />
Grundform nie ändern. Wer hier in gute Teile investiert,<br />
kann sie ein Leben lang tragen“, erklärt InStyle-Expertin<br />
Theresa Pichler.<br />
Die <strong>Form</strong> folgt also der Funktion. An dieses obligatorische<br />
Bauhaus-Credo von Architekt Louis O‘Sullivan knüpft<br />
heute die Utility-Mode an: Designs und Produkte werden<br />
langlebig, praktisch, modern und ästhetisch. Genau das<br />
wird in unserer Zeit, die von politischem Chaos geprägt<br />
ist, gebraucht. Denn schön ist am Ende, was funktioniert.<br />
Pinterest<br />
Stella McCartney, Off-White<br />
und Matthew M. Williams<br />
waren erst der Anfang:<br />
Durch das Scannen dieses<br />
Codes gelangen Sie in die<br />
ganze Welt von Utility,<br />
dem wohl praktischsten Modetrend<br />
diees Jahres.<br />
Lassen sie sich inspirieren!<br />
Wie beim Wandern wird diese<br />
Saison auch in der Stadt auf<br />
den praktikablen Lagen-Look<br />
gesetzt – links mit Regenjacke<br />
von Nike Performance und gepolsterter<br />
Weste von The North<br />
Face, unten mit einem leichten<br />
Cape von Nike als schützende<br />
und wasserabweisende Top-<br />
Schicht.<br />
WASSILY KANDINSKY<br />
Kunst und Technik – eine neue Einheit! –
Revolution<br />
Über den Wolken<br />
7<br />
Das Wohnen in superhohen Gebäuden wird in der Stadt<br />
der Zukunft Realität. Wie werden wir uns dort bewegen?<br />
Ein Ausblick auf die neue Urbane Mobilität. VON SONJA WUNDERLICH<br />
„The ultimate goal of all visual artistic activity is construction! Architects, painters and<br />
sculptors must learn again to know and understand the multi-faced form of building in<br />
its entirely as as its parts. Together let us call for, devise and create the construction<br />
of the future, compromising everything in one form: architecture, sculpture and painting.“<br />
WALTER GROPIUS<br />
Eine Kabine, etwa so groß wie eine Gondel beim Skifahren.<br />
Zu zweit oder zu dritt kann man noch angenehm<br />
nebeneinander stehen, bei sechs oder mehr Leuten wird<br />
es schon enger. Schwarze, polierte Kabinentüren gleiten<br />
auf und geben den Blick auf ein großes, rundes Touchpad<br />
frei. Zehn, zwanzig, dreißig Stockwerke werden<br />
angezeigt und verschiedene Tower können ausgewählt<br />
werden, die Skybridge oder eine digitale Wetteranzeige.<br />
„Welcome to Tower S, 30th floor“, grüßt eine Computer-generierte<br />
Stimme. Im Hintergrund läuft leise Musik<br />
und sorgt für eine entspannte Atmosphäre. Die unangenehme<br />
Frage „Führt man jetzt Smalltalk oder schaut man<br />
doch lieber konzentriert ins Handy“ kommt nicht auf,<br />
wenn man die Kabine des Aufzugssystems „Multi“ betritt.<br />
In der futuristischen Fahrstuhl-Kabine wechseln Lichtschienen<br />
ihre Farbe von Neonblau zu Rosa-Lila, die seitlichen<br />
Wände sind mit einem Art Wabennetz aus Aluminiumstangen<br />
überzogen, es gibt bodentiefe Fenster - soll man<br />
von hier schwindelfrei den Aufstieg bis in 2000 Meter<br />
hohe Gebäude mitverfolgen?<br />
Verschiedenen Prognosen zufolge werden 2050 nicht<br />
nur etwa zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben,<br />
sondern auch zwei bis drei Milliarden weitere Menschen<br />
in Städte ziehen. Der Wohnraum bleibt aber weiterhin<br />
begrenzt, wohin also mit all den Menschen? Asien, Indien<br />
und die Emirate wachsen zu den bevölkerungsreichsten<br />
Regionen heran, Auswirkungen der Überbevölkerung wie<br />
Kriminalität, Smog, Abgase und hohe Mietpreise sind<br />
hier schon lange deutlich zu spüren. Zwangsläufig müssen<br />
Gebäude wachsen, vor allem in die Höhe, um den<br />
Menschen Platz zum Wohnen, Arbeiten, Schlafen, Sport<br />
und Urlaub machen zu geben.<br />
ES WIRD ENG – NICHT NUR<br />
IN DEN STÄDTEN, SONDERN AUF DER<br />
GANZEN WELT<br />
Heute leben rund 30 Prozent der Weltbevölkerung in<br />
Städten, laut Stadtplanern wird sich diese Zahl nicht nur<br />
verdoppeln, sondern bis 2050 sogar auf 70 Prozent steigen.<br />
Es wird eng, bei wachsender Bevölkerungsdichte auf<br />
gleichem Raum - nicht nur in den Städten, sondern auf der<br />
ganzen Welt.<br />
Urbanisierung hat sich zu einem Megatrend entwickelt:<br />
Laut Zukunftsinstitut, eines der einflussreichsten<br />
Think Tanks der europäischen Trend- und Zukunftsforschung,<br />
bedeutet das aber viel mehr als der Wandel von<br />
Lebensräumen. Auch neue <strong>Form</strong>en der Vernetzung und<br />
Mobilität sind Teil davon, sowie eine komplett neue Lebens-<br />
und Denkweise. Für die Zukunft wird das Szenario<br />
von Städten, die sich zu Staaten entwickeln und immer<br />
einflussreicher werden, vorstellbar: Städte werden dabei<br />
zu den mächtigsten Akteuren in einer globalisierten Welt.<br />
Eine sogenannte „Global City“ ist eine Stadt, die zentrale<br />
Steuerungsfunktionen hat und regionale, nationale<br />
und internationale Finanz-, Dienstleistungs- und Warenströme<br />
verknüpft und somit auch einen zentralen Knotenpunkt<br />
der Globalisierung bildet. Häufig entwickeln sich<br />
aus Global Cities dann die Megacities: Das sind Städte<br />
mit mindestens zehn Millionen Einwohnern, die vor der<br />
Herausforderung stehen, Lebensqualität, Infrastruktur und<br />
Nachhaltigkeit zu vereinen. Heute lebt bereits jeder Achte<br />
in einer der rund dreißig Megacities – laut Prognose wird<br />
sich die Anzahl solcher Städte bis zum Jahr 2035 auf<br />
fünfzig erhöhen.<br />
Aber was zieht die Menschen denn in die Stadt? Für<br />
Benjamin Plank vom Mediaplanet Verlag bestehen die positiven<br />
Aspekte hauptsächlich in der kulturellen Vielfalt, im<br />
Nebeneinander der Gegensätze und im Abwechslungsreichtum<br />
des Alltags. Dabei sind vor allem europäische<br />
Städte Vorbilder für Megacities. Sie geben durch ihre<br />
hohe Lebensqualität die Tendenz in Richtung ökosoziale<br />
Stadt vor – eine Metropole als aktiver Sozialstaat, der<br />
sich mit einer weit entwickelten Infrastruktur für die Lösung<br />
von Umweltproblemen einsetzt. Und tatsächlich spielt die<br />
Infrastruktur eine entschiedene Rolle in der Stadtplanung.<br />
In der Zukunft werden Maschinen mit Künstlicher Intelligenz<br />
nicht nur die autonome Fahrgastbeförderung übernehmen,<br />
sondern auch die Verantwortung für die Steuerung<br />
der Straßenbeleuchtung und der Menschenströme<br />
innerhalb großer Gebäude.<br />
Im Fachjargon versteht man unter „Urban Mobility“<br />
neben der Fortbewegung auf den Straßen auch den Personen-Nahverkehr<br />
in großen Gebäuden. Statistisch gesehen,<br />
fährt heute im Durchschnitt jeder fünfte Mensch täglich<br />
Aufzug – was den Lift, in der Häufigkeit der Nutzung<br />
gemessen, zum wichtigsten Transportmittel macht. Der<br />
Aufzug wird als lebensbegleitend gesehen, er ist mittlerweile<br />
selbstverständlich, weshalb seine Funktionen für das<br />
Leben und die Fortbewegung in der Stadt nicht immer<br />
wahrgenommen werden.<br />
Dass ein Fahrstuhl unbedingt notwendig ist für 400,<br />
500, 1000 oder 2000 Meter hohe Gebäude, ist klar,<br />
aber andererseits schränkt er Architekten enorm in ihrer<br />
Freiheit bei der Gebäudegestaltung ein. Neben einem<br />
BILD: THYSSENKRUPP ELEVATORS<br />
Wohnen, Arbeiten, Schlafen, Sport und Urlaub machen – in der Zukunft soll das in superhohen Gebäuden vereint werden. Das „Multiple-Cabin-System“, kurz „Multi“, bringt einen dabei von A nach B, von Wolkenkratzer zu Wolkenkratzer.
Revolution<br />
9<br />
Schacht, der je nach Größe der Kabinen und Anzahl der<br />
zu transportierenden Menschen variiert, spielt das Gewicht<br />
des Seils eine tragende Rolle: Das Seil, das den<br />
Aufzug letztendlich hält, gewinnt entsprechend der Gebäudehöhe<br />
an Gewicht. Ab 300 bis 400 Metern würde<br />
es sich, aufgrund seiner Schwere, selbst zerreißen. Das<br />
Maximum ist bei dieser Höher also erreicht, ab dann muss<br />
mit mehreren verschiedenen Schächten und Aufzügen gearbeitet<br />
werden. Im Burj Khalifa, dem aktuell höchsten<br />
Bauwerk der Welt, sind es beispielsweise insgesamt vier<br />
verschiedene – die Fahrtzeit mit Umsteigen, Aus- und Zusteigen<br />
kann dann schon mal 40 Minuten betragen.<br />
Ein Gebäude wird also um die Liftanlage herum geplant<br />
und diese wird mit zunehmender Höhe des Gebäudes<br />
umfangreicherer. Mehr Höhe bedeutet mehr Menschen<br />
und mehr Aufzüge. Und das bedeutet wiederum<br />
für die Zukunft, dass Liftanlagen, die so viel potenziellen<br />
Wohn- und Lebensraum einnehmen, nicht mehr länger<br />
funktionieren. Dessen sind sich Ingenieure schon seit einiger<br />
Zeit bewusst geworden und beschäftigen sich daher<br />
mit Alternativen.<br />
Eine davon kommt aus Deutschland, aus Neuhausen<br />
auf den Fildern in Baden-Württemberg. Der kleine Ort mit<br />
gerade einmal 11.349 Einwohnern wirkt auf den ersten<br />
Blick so gar nicht wie die Millionenstadt der Zukunft –<br />
aber hier wird groß gedacht. Hier hat „Thyssenkrupp Elevators“,<br />
der Konzern, der sich mit der Mobilität der Städte<br />
von Morgen beschäftigt, „Multi“ entwickelt: Ein seilloses<br />
Mehr-Kabinen-Aufzugssystem, das angelehnt ist an das<br />
Konzept eines Paternosters, bei der mehrere, an zwei Ketten<br />
befestigte Einzelkabinen im ständigen Umlaufbetrieb<br />
verkehren. Dabei werden die Kabinen am oberen und<br />
unteren Wendepunkt über große Scheiben in den jeweils<br />
MULTI<br />
Elevator<br />
„Was bisher aber keiner geschafft hat, ist der Exchanger. Für mich ist dieses Drehelement deswegen<br />
das wichtigste Bauteil. Ihn so wie die Kollegen in Rottweil hinzubekommen, ist Schwermechanik:<br />
Etwas Großes, vier Tonnen Schweres, das sich bewegt, das mit einer Uhrmacherpräzision ausgeführt<br />
wurde und reibungslos funktioniert – das ist echte Ingenieurskunst.“<br />
MICHAEL RIDDER, THYSSENKRUPP ELEVATORS<br />
Und das steckt dahinter: Der Exchanger als Schlüsselelement in dem Aufzugsystem „Multi“. Er ermöglicht es, dass eine Aufzugskabine erstmals nicht nur horizontal, sondern auch vertikal fahren kann.<br />
anderen Lift-Schacht umgesetzt. Dieser Prozess wiederholt<br />
sich und kommt nie zum Stillstand.<br />
Bei einem modernen „Multi“ Aufzugssystem ermöglicht<br />
ein sich an Magneten entlangziehender Linearmotor<br />
das Fahren – ganz ohne Seil. Das Wenden übernimmt<br />
der sogenannte Exchanger: Dieser funktioniert, sobald<br />
die Kabine einfährt, als Drehkreuz im Zusammenspiel mit<br />
seinem Gegenstück, welches an der Rückseite der Kabine<br />
angebracht ist. Der Exchanger ermöglicht auch erstmals,<br />
dass ein Aufzug nicht nur vertikal fahren kann, sondern<br />
auch horizontal. Für Michael Ridder ist er das Schlüsselelement<br />
und letztendlich das, was „Multi“ von seiner<br />
Konkurrenz unterscheidet und worauf noch kein anderes<br />
Unternehmen gekommen ist. Diagonales oder geneigtes<br />
Fahren sei auch kein Problem, das liege bei den Architekten<br />
und Gebäudebauern. Der Exchanger ist letztendlich<br />
das Teil, das ihnen ganz neue Möglichkeiten und Freiheiten<br />
gibt, stellt der Marketingchef von „Thyssenkrupp<br />
Elevators“ fest. Vernetzte Häuser mit Verbindungsbrücken<br />
in der Höhe werden denkbar, man müsste gar nicht mehr<br />
auf den Boden der Tatsachen zurück, sondern kann von<br />
einem Wolkenkratzer zum nächsten fahren.<br />
Die ursprüngliche Idee hinter „Multi“ ist, Gebäude<br />
möglichst ökonomisch zu gestalten, das heißt, die Fläche,<br />
die durch den Aufzug im Gebäude in Anspruch genommen<br />
wird zu minimieren. Für einen modernen Aufzug, der<br />
mit mehreren Kabinen pro Schacht fährt, wurde versucht,<br />
das zu erreichen. Als Beispiel bezieht Michael Ridder<br />
sich auf das One World Trade Center in New York, in<br />
welchem 40 Prozent der Gesamtfläche durch Aufzugsschächte<br />
belegt ist: „Wenn man sich jetzt überlegt, wie<br />
hoch die Mieten in New York sind und bei einem ‚Multi‘<br />
bis zu 50 Prozent Schachtfläche eingespart werden<br />
können – es werden weniger Schächte benötigt werden,<br />
dadurch dass mehr Kabinen pro Schacht fahren können –<br />
kann sich bei einem System wie ‚Multi‘ schnell rechnen.“<br />
Beim One World Trade Centre wären das 14.000 eingesparte<br />
Quadratmeter. Hochgerechnet auf zehn Jahre<br />
Mieteinnahmen, sind das 150 Millionen Euro. Zahlen in<br />
schwindelerregender Höhe für ein System, das sich mit<br />
den über die Jahre gerechneten Mehr-Mieteinnahmen<br />
rechnen würde. Auch wenn einen „Multi“ in sein Gebäude<br />
zu integrieren, mehr Investition verlangt als für einen<br />
herkömmlichen Aufzug.<br />
HÖHER, SCHNELLER UND WEITER:<br />
DER AUFZUG DER ZUKUNFT<br />
Gerade in den letzten Jahren wurden immer strengere<br />
Sicherheitsvorschriften für Gebäude entwickelt. Beispielsweise<br />
zusätzliche Feuerwehraufzugsschächte nehmen<br />
noch mehr Fläche im Gebäude weg. Für den gewohnten<br />
Passagierfluss fehlt dann die Kapazität. Da Kabinen eines<br />
„Multi“-Aufzugssystem schmaler sind, als bisherige kann<br />
das System aber auch im Nachhinein eingebaut werden<br />
und etwaige Probleme lösen.<br />
BILD LINKS: THYSSENKRUPP ELEVATORS; RECHTS: SONJA WUNDELRICH<br />
Bei „Multi“ liegt der Fokus ganz in der Höhe und<br />
Weite, Schnelligkeit wird durch einen kontinuierlichen<br />
Kabinenfluss garantiert. Aufzüge, die möglichst schnell<br />
fahren, sind vor allem im Asiatischen Raum gefragt, sind<br />
aber weniger effizient als gedacht. Man kann es sich so<br />
vorstellen wie einen Ferrari im Stau auf der Autobahn.<br />
Durch das ständige Aus- und Zusteigen kann der Aufzug<br />
seine Kabine nie wirklich auf die Geschwindigkeit, die<br />
eigentliche Kapazität, bringen. Hinzukommt, dass durch<br />
das ständige Bremsen und Beschleunigen mehr Energie<br />
verbraucht wird als bei einer kontinuierlichen Rotation.<br />
Energieeffizienz wiederum spielt für Gebäude ein<br />
große Rolle: Morgens, mittags und abends herrscht Rushhour<br />
im Gebäude, das bedeutet einen größeren Energieverbrauch.<br />
„Multi“ arbeitet mit Intelligenten Algorithmen<br />
zusammen, die erkennen, wenn zum Beispiel in der Tiefgarage<br />
mehrere Reisebusse ankommen – und reagiert mit<br />
einer Bereitstellung von zusätzlichen Kabinen. Das gleiche<br />
gilt für die Hochzeiten: Sobald diese wieder vorbei<br />
sind, werden die zusätzlichen Kabinen wieder einberufen<br />
und in der Garage geparkt. Die Macher von „Multi“ wollen<br />
außerdem die Gesichtserkennung einführen, damit<br />
das System einen schon registriert und mit einer privaten<br />
Kabine auf einen wartet. Es gibt außerdem die Option für<br />
personalisierte und individuell gestaltete VIP-Kabinen, die<br />
Executive Suits anfahren und Scheichs und Prominente<br />
befördern. Wenn es um superhohe Gebäude geht, dann<br />
muss auch mit superreichen Leuten gerechnet werden, die<br />
sich abgrenzen wollen von ihren Mitbewohnern oder bei<br />
denen schneller gehen muss – und vor allem hoch Hinaus.<br />
Mit ganz anderen Konzepten beschäftigen sich vor<br />
allem Architekten, die nicht nur Wohngebäude im Kopf<br />
haben, sondern alles, was zu einer lebenswerten Stadt<br />
gehört, wie zum Beispiel Krankenhäuser oder Flughäfen.<br />
Eine Forschungsarbeit setzt sich mit einem „Multi“-System<br />
in einem Krankenhaus auseinander, bei dem einzelne<br />
Kabinen steril sein würden, also nur für den OP-Bereich<br />
zuständig, und andere, die sonstige Aufgaben wie zum<br />
Beispiel den Bettwäsche-Transport übernehmen könnten.<br />
Für das Mehr-Kabinen-System gibt es Anfragen von<br />
Flughäfen, ob es möglich sei, einzelne Kabinen so zu<br />
programmieren, dass sie Gäste, die ihren Boardingpass<br />
beim Einsteigen scannen, direkt zu ihrem Gate bringen,<br />
zum Ausgang oder zur Mietwagengarage.<br />
Doch gerade bei Gebäuden, in denen sich so viele<br />
Menschen aufhalten, bleibt die Frage nach Notfallprävention.<br />
WARTEN AUF DAS „GO“: 2020<br />
SOLL DER ERSTE SUPER-LIFT ZUM<br />
EINSATZ KOMMEN<br />
„Multi“ ist letztendlich ein zertifizierter Aufzug wie jeder<br />
andere, auch wenn viele Leute erst einmal irritiert sind,<br />
weil kein Seil mehr vorhanden ist. Ein Sicherheitssystem,<br />
automatische Bremsen, Notstromaggregate und Batterien<br />
sorgen im Notfall für genügend Energie, um die Kabine<br />
bis zur nächsten Etage zu bringen. Den einzelnen Linear-<br />
Einmal selbst in der futuristischen Aufzugkabine stehen? Das geht im „Thyssenkrupp“-Testturm in Rottweil<br />
motoren muss Strom geliefert werden, zum Anschubsen<br />
sozusagen, aber ab dann funktionieren sie wie Generatoren<br />
und produzieren selbst Energie, sobald eine Kabine<br />
wieder abwärts fährt. Diese Energie wird im Aufzugssystem<br />
gehalten und gibt „Multi“ zumindest noch so viel Reserven,<br />
dass Kabinen es bis zur nächsten Etage schaffen,<br />
die Türen öffnen und dann das Ganze heruntergefahren<br />
werden kann.<br />
Auch wenn eine Personenzertifizierung noch aussteht,<br />
alles andere wäre bereit und man wartet nur noch auf<br />
das finale „Go“. Der erste „Multi“ wird 2020, vermutlich<br />
entgegen aller Erwartungen nicht in China oder Japan<br />
gebaut, sondern im East Side Tower in Berlin. Bis es 2050<br />
dann soweit ist, dass Aufzüge quasi lebensnotwendig<br />
werden, forschen weiterhin rund vierzig Ingenieure allein<br />
bei „Thyssenkrupp Elevators“ an Verbesserungs- und weiteren<br />
Einsatzmöglichkeiten.<br />
Die Entwicklung der Weltbevölkerung<br />
und die der Aufzugskabine haben Ihr<br />
Interesse geweckt? Mehr dazu gibt es<br />
auf formfollowsfuture.de
Revolution<br />
GEMEINSAM INTELLIGENT<br />
Wenn wir so weitermachen, wird uns die Skepsis gegenüber<br />
Künstlicher Intelligenz bald zum Verhängnis. Eine<br />
Streitschrift über die Zukunft des Menschen und wieso<br />
diese eigentlich schon lange begonnen hat VON CARMEN JENNY<br />
Die Hälfte der Deutschen fürchtet sich vor einem Kontrollverlust<br />
durch den verstärkten Einsatz von Künstlicher Intelligenz<br />
(KI). Das ergab eine Studie des Bundesverbands Digitale<br />
Wirtschaft (BvDW). Verständlich, aber auch irgendwie lustig.<br />
Lustig deshalb, da es ein ziemlich schroffes Urteil über<br />
eine Entwicklung ist, die schon viel mehr Gegenwarts- als Zukunftsmusik<br />
ist. Da uns Angst und Nichtstun aber selten weitergebracht haben, sollte<br />
man dieser Blauäugigkeit etwas entgegenhalten und sich gegenüber<br />
dem technischen Fortschritt doch ein wenig optimistisch zeigen. Denn<br />
nur, wenn wir den Nutzen der KI rechtzeitig erkennen, kann sie sinnvoll<br />
genutzt werden – bevor sie in falsche Hände gerät.<br />
Moment. Eigentlich sind wir doch schon längst Optimisten. In einer Zeit,<br />
in der wir gefühlt täglich irgendwelchen Allgemeinen Geschäftsbedingungen<br />
zustimmen, ohne sie davor zu lesen. In der wir Musik hören und<br />
Filme schauen, die uns Streaming-Dienste vorschlagen. In der uns persönliche<br />
Vorschläge auf Online-Shops die Kaufentscheidungen erleichtern.<br />
Wir setzen den Haken, klicken auf Play, geben die Bestellung auf<br />
und lehnen uns zurück – mit der Erwartung, dass schon alles gut gehen<br />
wird.<br />
Wir stimmen der Künstlichen Intelligenz und der damit verbundenen<br />
Sammlung von Daten also sowohl bewusst als auch aus reiner Gewohnheit<br />
und Bequemlichkeit zu. Gleichzeitig, und das ist eigentlich das Lustige<br />
dabei, gibt es eine extrem starke Abneigung gegenüber Künstlicher<br />
Intelligenz. Gern wird in diesem Zusammenhang das Schreckgespenst<br />
moderner Überwachung und Steuerung beschworen. Dabei ist die KI<br />
keine neue Erscheinung. Bereits in den Fünfzigerjahren begannen die Forschungen<br />
zu einer Technologie, bei der sich künstliche neuronale Netze<br />
basierend auf gesammelten Daten selbst weiterentwickeln, im Dartmouth<br />
College in Hanover, New Hampshire. Der Stand heute: Man möchte seine<br />
Daten nicht teilen, weil man Angst hat, beobachtet zu werden. Man<br />
fühlt sich ertappt, wenn auf Social Media eine Werbung für die neuesten<br />
Sneakers angezeigt wird, über die man gerade mit seinen Freunden gesprochen<br />
hat. Ob man nun aber will oder nicht, der Einsatz von KI wird<br />
immer stärker. Dafür braucht es Daten, die ständig gesammelt werden<br />
und die – siehe oben – ständig von uns geliefert werden.<br />
JE FRÜHER, DESTO BESSER<br />
Bis zu einem gewissen Grad kann die Entwicklung mit der industriellen<br />
Revolution im 20. Jahrhundert verglichen werden. Wer sich damals<br />
rechtzeitig damit auseinandergesetzt hatte, konnte den Nutzen und die<br />
Effizienz-Steigerung durch Technologien erkennen. Allerdings wurden<br />
„Züge, Elektrizität, Radio, Telefon sowohl für kommunistische Diktaturen<br />
und faschistische Regime eingesetzt als auch für die Erschaffung von liberalen<br />
Demokratien“, so der Historiker Yuval Noah Harari, der in seinen<br />
Büchern wie „Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen“ ein eher dystopisches<br />
Zukunftsszenario der KI beschreibt. Ob dieses eintritt, liegt letztendlich<br />
am Einsatz und dem Verständnis für neue Leistungen durch die KI.<br />
Kurzum, es liegt an uns. Doch wie soll dieses Gespür geschaffen werden?<br />
Die Dringlichkeit, diese Frage zu beantworten, liegt im entscheidenden<br />
Unterschied zur industriellen Revolution. Noch nie waren Algorithmen<br />
und die damit verbundenen maschinellen Anwendungen so eng mit Entscheidungsprozessen<br />
der Menschen verbunden. Wenn es also irgendwann<br />
um weitaus ernstere Anwendungen als die Filmauswahl auf Netflix<br />
geht, ist es für unserer Selbstwillen essentiell, dass wir uns vor möglichen<br />
Manipulationen schützen.<br />
Myriam Locher, Gründerin und CEO von Bettermind und Unternehmensberaterin<br />
für digitale Transformation, lieferte in einem Interview eine einfache<br />
Erklärung: „Wir reden davon, dass wir in den kommenden 20<br />
Jahren den gleichen Entwicklungssprung sehen werden, wie wir ihn in<br />
den letzten 1000 Jahren vollzogen haben.“ Es gehe darum, maximal<br />
agil zu sein und eine herausragende Fehlerkultur zu etablieren. „Das ist<br />
die notwendige Basis, um in dieser Zeit schnell genug lernen zu können.“<br />
Was hindert uns eigentlich daran, uns nicht so schnell wie möglich damit<br />
auseinanderzusetzen? Woher kommt diese „allgemein mittelgute Wahrnehmung<br />
von Künstlicher Intelligenz“, wie sie Volker Darius, Experte für<br />
die KI und Innovationen von Capgemini Invent, beschreibt? Der Unternehmensstrategie-Berater<br />
im Bereich Künstliche Intelligenz erklärt dieses gesellschaftliche<br />
Phänomen anhand zweier Ursprünge: „Wenn der Mensch<br />
Dinge nicht versteht, versucht er, sie frei zu interpretieren.“ Das liege zum<br />
einen daran, dass zu wenig oder falsche Aufklärung betrieben wird – sowohl<br />
von den Medien als auch innerhalb von Unternehmen. Zum anderen<br />
spitze sich die Angst vor einer der Menschheit überlegenen Super-Intelligenz<br />
durch die verzerrte Wahrnehmung nur noch weiter zu. Dabei sind<br />
wir doch noch lange nicht am Punkt der Verschmelzung von Menschen<br />
und Robotern. Algorithmen kontrollieren auch nicht die Welt. Zumindest<br />
nicht in näherer Zukunft. Wenn Sie aber noch weiter rumtrödeln und in<br />
der gemütlichen Vergangenheit leben, könnten das bald diejenigen unter<br />
uns tun, die sich früh genug mit der Technik auseinandersetzen.<br />
DIE RICHTIGEN HELFER<br />
Aktuell geht es jedoch vielmehr um kognitive virtuelle Assistenten wie Siri<br />
und Alexa. Oder intelligente Dienste wie in der Landwirtschaft, wo die<br />
KI basierend auf gesammelten Daten bisheriger Ernten und äußeren Umständen<br />
wie klimatischer Verhältnisse oder der geografischen Lage vorschlägt,<br />
wie viel Dünger für einen höchstmöglichen Ernteertrag optimal<br />
sind. Dass die KI jedoch selbst einen Bauernhof führen kann, ist im Moment<br />
noch außer Reichweite. Ein weiteres kooperatives Beispiel ist Watson<br />
von IBM, ein auf der KI basierendes Programm, das Unternehmen in<br />
unterschiedlichsten Bereichen assistiert. Ein Anwendungsbereich ist die<br />
Medizin, wo Watson schnelle Vorschläge für Arzneimittel bereitstellt, indem<br />
hunderte von Fällen in Rekordzeit analysiert und darauf basierend<br />
Empfehlungen ausgesprochen werden.<br />
„Sinn und Zweck der Übungen sollte sein, die Studierenden<br />
zu veranlassen, sich selbst, eine Anschauung der Welt, und zwar<br />
von heute zu bilden“ OSKAR SCHLEMMER<br />
10<br />
ILLUSTRATION: NASTASJA SCHEFTER<br />
Übertragen auf andere Branchen bedeutet das, dass die KI im Zusammenhang<br />
mit technischen Entwicklungen in der nächsten Dekade die<br />
Menschen von sinnfreien, monotonen Arbeiten befreien kann, die uns<br />
doch sowieso langweilen. Bevor Sie sich jetzt um den Untergang der<br />
Arbeitskultur sorgen und vielleicht sogar die eigene Entlassung fürchten<br />
– keine Angst, Sie werden nicht nutzlos sein. Im Gegenteil, Sie werden<br />
sogar wichtiger.<br />
Diese Erfahrung machte auch Sven Galla, wie er der Süddeutschen Zeitung<br />
erzählte. Mit seiner Legal-Tech-Kanzlei Ratis setzte er als erster Jurist<br />
in Deutschland auf einen autonomen Chat-Bot. Dieser ersetzt den Anwalt<br />
in Routine-Arbeiten wie der Einordnung von Mandanten oder der Anfertigung<br />
der Abwicklungsvereinbarung. Die Vision: den Algorithmus dort<br />
einsetzen, wo er eben einfach besser und effizienter arbeitet als der<br />
Mensch. Somit kann Galla sein ganzes Wissen, das er in seiner juristischen<br />
Erfahrung angesammelt hat, auf tausende Klienten übertragen.<br />
Das Resultat: Der Anwalt aus Passau beschäftigt heute so viele Mitarbeiter<br />
wie noch nie. Deren Gehälter sind übrigens auch gestiegen. Mit dem<br />
rund um die Uhr arbeitenden Ratis-Bot will er bald die 30-Stunden-Woche<br />
einführen.<br />
ES ERGIBT ALLES SINN<br />
Es ist also nicht zu leugnen, dass die KI viele Arbeiten übernehmen wird.<br />
„Sie ist somit aber auch eine Chance, darüber nachzudenken, welche<br />
Arbeiten wirklich noch sinnvoll sind und wie man Prozesse zeitgemäßer<br />
machen kann“, plädiert Juliane Kahl, Gründerin des Responsive Fashion<br />
Institutes, das Projekte zu der Förderung von Digitalisierung, Nachhaltigkeit<br />
und Mode durchführt.<br />
Überlegen wir mal einfach: Trägt ein Kassierer von H&M wirklich zum<br />
Wohl der Welt bei, wenn er pro Tag Hunderte von Artikeln scannt und<br />
einsortiert? Oder würde es mehr dem Zeitgeist entsprechen, die Transparenz<br />
des Unternehmens fördern und den Kunden einen Mehrwert bieten,<br />
wenn er den Konsumenten fundiert über die Herstellungskette eines<br />
T-Shirts Auskunft geben könnte? Ja, Jobs und Aufgaben fallen weg, wie<br />
sie es schon zu Zeiten der Einführung der Dampfmaschine taten. Es entstehen<br />
aber auch laufend neue, für die man nicht automatisch programmieren<br />
können muss – Stichworte Influencer, Feel Good Manager und<br />
Drohnen-Piloten.<br />
Vielleicht sollten wir auch generell unsere allgemeine Einstellung zur<br />
Arbeit überdenken? Volker Darius greift bei seiner Argumentation auf die<br />
logische Konsequenz der Technologisierung zurück: „Sobald die Automatisierung<br />
steigt, wächst der Lebensstandard und Freiraum der Gesellschaft.“<br />
Besonders Letzterer wird wohl eine neue Bedeutung erfahren.<br />
Wir haben doch sowieso immer zu wenig Zeit für, naja, alles. Wenn uns<br />
dann also endlich mal mehr Freiraum zur Verfügung stünde, wofür könnte<br />
dieser genutzt werden? Eigentlich ist es ganz einfach: entweder für mehr<br />
Freizeit oder aber für eine andere Art von Arbeit. Dabei ist es doch heute<br />
schon spannend zu sehen, dass Menschen oft arbeiten, obwohl sie nicht<br />
müssten – sei es für eine gemeinnützige Organisation oder für die Umsetzung<br />
einer eigenen Idee. Vielleicht ist die KI also eine Chance, unsere<br />
Zeit in diese Arbeiten zu investieren, die unsere Gesellschaft aus sozialer<br />
Sicht vorantreiben<br />
Wir halten fest: Die KI unterstützt die Menschen da, wo sie effizienter<br />
arbeitet. Dafür braucht sie unsere Daten. Damit diese jedoch nicht gegen<br />
die Gesellschaft verwendet werden und, genau, weil immer noch wir<br />
Menschen die Algorithmen zu unserem Besten programmieren sollen,<br />
ist es entscheidend, jetzt zu handeln. KI-Experte Darius weist in diesem<br />
Zusammenhang darauf hin, dass politische sowie gesellschaftliche Ambitionen<br />
darauf abzielen müssen, dass Unternehmen mit ihren erhobenen<br />
Daten transparent umgehen. Hinzu kommen Initiativen wie das von Kanada<br />
und Frankreich gegründete Panel on Artifical Intelligence (IPAI), das<br />
internationale Standards für den Einsatz der KI schaffen will. Um mit der<br />
KI eine sinnvolle Zukunft und den potenziellen Missbrauch unter Kontrolle<br />
zu haben, sind transparenter Umgang und klare Regeln unumgänglich.<br />
Was das für jeden Einzelnen bedeutet? Zeigen Sie Interesse und Neugier<br />
statt Ablehnung und Skepsis. Die Politik soll auf diese Weise gerade noch<br />
rechtzeitig merken, dass in Aufklärung und Qualifikationen langfristig<br />
investiert werden muss. Wenn alle dabei mitmachen, wäre die Basis<br />
also nicht allzu schlecht. Was fehlt, ist Verständnis sowie Vertrauen. Und<br />
letztlich ist es doch genau das, was wir der KI voraushaben: Intuition und<br />
Empathie. Und vielleicht auch etwas Optimismus.<br />
Jetzt den Test machen:<br />
Wie optimistisch sind Sie gegenüber<br />
der Künstlichen Intelligenz?
FOTO: CHARLOTTE HABERSETZER<br />
FREI<br />
HEIT<br />
––– Jeder möchte<br />
sich frei fühlen.<br />
In jedem Lebensbereich<br />
– kreativ,<br />
politisch, körperlich.<br />
Das Bauhaus war<br />
es im Nazi-Deutschland<br />
leider nicht.<br />
Sind wir es heute?
Freiheit<br />
Wir schaffen<br />
das!<br />
44<br />
„WÄHREND DES STUDIUMS SCHWANGER<br />
ZU WERDEN, WAR EIN SEGEN.“<br />
YVONNE (33), ARCHITEKTIN, IN EINER PARTNERSCHAFT, ZWEI KINDER<br />
Das erste Kind mit 23 zu bekommen, ist nicht unbedingt<br />
ungewöhnlich. Manche stehen da seit Jahren im Beruf,<br />
haben Sicherheiten, Routine und vielleicht einfach Lust,<br />
ihren Alltag mit einer neuen Aufgabe und Herausforderung<br />
zu bereichern. Befindet man sich mit 23 allerdings<br />
noch im Studium, sieht die Sache mit dem Baby ganz<br />
anders aus: Der Plan von der großen Karriere, von Unabhängigkeit<br />
und davon, die Welt zu bereisen, wird – auf<br />
unbestimmte Zeit – verschoben. Nur sechs Prozent der<br />
Studentinnen in Deutschland sind Mutter. Zu dieser Randgruppe<br />
zählte Yvonne, nachdem sie 2009 ungeplant mit<br />
ihrem Sohn Noah schwanger wurde. Damals steckte sie<br />
mitten im Architektur-Studium. Sie war mit ihrem Kommilitonen<br />
Michael zusammen, hatte zwar den Wunsch nach<br />
eigenen Kindern – aber doch bitte zu einem viel späteren<br />
Zeitpunkt! „Rückblickend“, sagt Yvonne, „war es aber<br />
genau der richtige. Eigentlich ein Segen.“ Trotz anfänglicher<br />
Befürchtungen, Lehrplan und Familienzeiten nicht<br />
unter einen Hut bringen zu können, ließ sich der Alltag<br />
mit Uni und Baby doch einfacher gestalten als erwartet.<br />
Bei der Betreuung tagsüber wechselte sich Yvonne mit Michael<br />
ab; wenn Noah schlief, konnte sie an Uniprojekten<br />
arbeiten oder Vorlesungen online nachholen. Das Ende<br />
ihres Studiums bedeutete auch das Ende dieser liebgewonnenen<br />
Flexibilität: Yvonne fing an, zu festen Zeiten in<br />
einem Architekturbüro zu arbeiten. Als sie erneut schwanger<br />
wurde, stand für sie zwar von Anfang an fest, bald<br />
nach der Geburt wieder ins Berufsleben zurückkehren<br />
zu wollen, allerdings wusste sie, dass das nur in Teilzeit<br />
möglich sein würde. Aktuell sind Tochter Greta und Sohn<br />
Noah bis nachmittags bei der Tagesmutter, anschließend<br />
kümmert sich Yvonne um sie. Ihr Partner Michael arbeitet<br />
in Vollzeit, absolviert außerdem die Ausbildung zum Ziviltechniker. Die ist in ihrer neuen Wahlheimat,<br />
Dornbirn in Österreich, nämlich Voraussetzung für das nächste Projekt des Paares: Die<br />
jungen Eltern wollen sich als Architekten selbstständig machen. Yvonne fehlt diese Voraussetzung<br />
bislang. Um diese Qualifikation zu erhalten, müsste sie drei Jahre als Vollzeitkraft arbeiten – für<br />
junge Mütter fast unmöglich. Eine Hürde, die laut Yvonne sofort abgebaut werden muss! Schließlich<br />
setze sich Arbeitserfahrung aus mehr als nur abgeleisteten Stunden zusammen. Irgendwie,<br />
das hat sie ihr Leben als junge Mutter gelehrt, wird sie auch dieses Problem meistern. Es gibt ja nur<br />
zwei Wege, sagt sie: „Entweder richtet man sein Leben nach dem Kind aus – oder man integriert<br />
das Kind in sein Leben.“ Yvonne hat sich für letztere Variante entscheiden und möchte sich keine<br />
andere vorstellen müssen.<br />
Für die Frauen am<br />
Bauhaus bedeutete ein<br />
Kind meist das Ende der<br />
Karriere. Wie sieht das<br />
100 Jahre später aus?<br />
Vier Frauen über ihren<br />
individuellen Plan Familie<br />
VON EVA KAPELLER UND ROSSELLA LOFINO<br />
ILLUSTRATIONEN VON PATRICK SIMON<br />
„ICH MÖCHTE MEINE<br />
EIGENEN REGELN<br />
AUFSTELLEN.“<br />
LISA (30), UNTERNEHMERIN, IN EINER<br />
PARTNERSCHAFT, KEINE KINDER<br />
Lisa gründete 2013 mit ihrer Geschäftspartnerin die Kreativagentur<br />
Blogger Bazaar, die heute ihren Sitz in Berlin<br />
hat. Ein voller Terminplan mit Events und Businessmeetings<br />
gehört seither zu ihrem Alltag. Freie Tage oder Wochenenden<br />
konnte sie die letzten Jahre nur selten genießen.<br />
Trotz ihrer Verpflichtungen hat sie der Wunsch von eigenen<br />
Kindern schon früh begleitet. Da ihr Job nicht die Sicherheiten<br />
garantiert, die eine klassische Festanstellung<br />
mit sich bringt, musste die Familienplanung hintenangestellt<br />
werden. „Als Selbstständige hatte ich immer das<br />
Gefühl, dass ich nicht ausreichend abgesichert bin“, so<br />
Lisa. Diese Furcht habe in den letzten Jahren abgenommen,<br />
das Kinderthema rückte wieder in den Vordergrund.<br />
Um auch ihren Mitarbeiterinnen entsprechende Ängste zu<br />
nehmen, legt Lisa großen Wert auf eine Arbeitskultur, die<br />
sehr emphatisch und ehrlich ist und auf individuelle Bedürfnisse<br />
der anderen eingeht. Gerade bei Minderheiten,<br />
sagt sie, solle es generell so sein, dass man sich unterstützt<br />
und gegenseitig stark macht. Vor allem in männerdominierten<br />
Strukturen werde Müttern oftmals mit Intoleranz<br />
begegnet, die durch den Zusammenhalt unter Frauen verhindert<br />
werden könne. Neben der Karriere gibt es für Lisa<br />
noch einen weiteren Grund, weshalb sich Frauen oftmals<br />
gegen ein Kind entscheiden. In Berlin sieht sie neben den beruflichen Zwängen vor allem einen<br />
„Lifestyle-Druck“. Überall dabei zu sein und nach dem Motto „Sehen und gesehen werden“ zu<br />
leben, habe Priorität, weshalb für viele ein Kind erstmal nicht in Frage käme. Bei Freunden außerhalb<br />
der Szene beobachtet sie, dass Familie früher ein Thema wird. Wenn die 30-Jährige sich<br />
demnächst für Nachwuchs entscheidet: Wie möchte sie dann die Balance zwischen Job und<br />
Familie finden? „Ich kann mir vorstellen, mein Kind mit zu Meetings zu nehmen und es vielleicht<br />
sogar währenddessen zu stillen.“ Lisa gibt sich da sehr zuversichtlich, weil sie – als ihr eigener<br />
Boss – ihre Rolle selbst definieren und anpassen kann. Die Agenturleiterin möchte ihre eigenen<br />
Regeln aufstellen, bestehende Grenzen durchbrechen und Menschen so mit einer neuen Realität<br />
konfrontieren, die irgendwann Normalität werden soll. Es gehe ihr darum, zu sagen: „Hey, ich<br />
bin zwar Mutter, aber ich bin noch immer Lisa, ich bin noch immer dieselbe Person und noch<br />
immer ein aktives Mitglied der Gesellschaft“. Wichtig sei es ihr auch, dass beide Elternteile<br />
gleichwertig involviert und engagiert dabei sind. Dass eine intensiv gelebte Vaterrolle für Männer<br />
in der heutigen Zeit immer wichtiger ist, sei eine positive Entwicklung für eine moderne und<br />
gleichberechtigte Elternschaft. Allerdings sieht Lisa große Lücken im System: fehlende Kita-Plätze,<br />
ein Mangel an Tagesmüttern und ein veraltetes Schulwesen sind Probleme, die bestimmt auch für<br />
sie eine Herausforderung darstellen werden. Um nachhaltig etwas zu verändern, müsse erst einmal<br />
das Muttersein in der Gesellschaft anerkannt werden. „Denn auch das Muttersein ist eine Art<br />
Beruf, der viel Energie kostet und bei dem es darum geht, der nächsten Generation die besten<br />
Entwicklungschancen zu bieten.“
Freiheit<br />
„ICH MUSSTE LERNEN, AUFGABEN ABZUGEBEN“<br />
FRANZISKA (45), STELLV. CHEFREDAKTEURIN, IN EINER PARTNERSCHAFT, EIN KIND<br />
Franziska arbeitet nun schon seit mehr als 20 Jahren<br />
für die deutsche Ausgabe des Modemagazins Elle. Trotz<br />
ihres zeitintensiven Jobs investiert sie auch in ihr Familienleben<br />
mit Tochter und Partner viel Energie. Zwei unterschiedliche<br />
Bereiche ihres Lebens, die ihr gleichermaßen<br />
Freiheit geben und sie wachsen lassen. In ihrer Berufslaufbahn<br />
ist Franziska nie an den Punkt gekommen, sich<br />
entweder für den Job oder die Familie entscheiden zu<br />
müssen. Für sie sei es immer klar gewesen, konstant<br />
arbeiten zu wollen und selbstständig zu leben. Um diese<br />
zwei Komponenten zu vereinen, musste sie jedoch<br />
lernen, Kompromisse einzugehen, was ihre eigenen Ansprüche<br />
angeht. „Frauen wollen in allem hundertprozentig<br />
gut sein und alles geben. Ganz ohne Abstriche geht<br />
es jedoch nicht, wenn man Familie und Karriere unter<br />
einen Hut kriegen möchte“, sagt Franziska. Da sowohl<br />
ihr Mann als auch sie selbst beruflich sehr eingespannt<br />
sind, waren sie von Anfang an auf die Hilfe von Anderen<br />
angewiesen. Das Vertrauen und das Abgeben von<br />
Verantwortung sei also ein wichtiger Bestandteil ihres<br />
Familienlebens. Veränderung kann laut Franziska nur<br />
stattfinden, wenn Frauen mehr Dinge einfordern, den<br />
Männern mehr abverlangen und anfangen, „auch mal<br />
ihren Stiefel durchzuziehen“. Um eine gewisse Selbstverständlichkeit<br />
nach außen zu repräsentieren, sei das<br />
Selbstbewusstsein der Frauen ein wichtiger Faktor. Nur<br />
so könne ein gesellschaftliches Umdenken entstehen. Als<br />
Führungskraft ist ihr auch klar, dass die Doppelbelastung<br />
Job und Familie oftmals zu Konflikten führen kann. Mit<br />
diesem Thema sollte daher sehr sensibel umgegangen<br />
„ICH MÖCHTE KEINE<br />
AUFFÜHRUNG MEINES<br />
KINDES VERPASSEN“<br />
SARAH (27), VISUAL COMMERICIAL<br />
MANAGER, IN EINER PARTNERSCHAFT,<br />
KEINE KINDER<br />
werden: Es dürften für niemandem im Team Nachteile entstehen, auch nicht für Frauen ohne<br />
Kinder. „Wenn eine Mutter früher los muss, um ihr Kind abzuholen, sollte den kinderlosen<br />
Kolleginnen ein Ausgleich gewährt werden“, erklärt Franziska. Man könne nicht immer nur<br />
von den „armen Müttern“ sprechen, sondern müsse das gesamte Bild betrachten. In der<br />
Gesellschaft beobachtet Franziska eine Renaissance des Biedermeier, wie sie sagt: die Rückbesinnung<br />
auf die Familie und traditionelle Werte, begleitet von einer großen Sehnsucht nach<br />
Stabilität. Ein sehr klassisches Familienideal, das sie selbst nie hatte. Sie sei von einem sehr<br />
gleichberechtigten Rollenbild geprägt worden, weshalb ihr dies auch in der Erziehung ihrer<br />
Tochter besonders wichtig ist. Jeder Elternteil solle nach seinen Stärken eingesetzt werden,<br />
um das Bestmögliche herauszuholen. In Bezug auf Gleichberechtigung fordert Franziska eine<br />
größere Wertschätzung der Männer und gegenseitigen Respekt: „Es ist kein Kampf. Es sollte<br />
keiner sein, aber momentan ist es noch einer.“<br />
Wenn Sarah einmal Kinder hat, möchte sie ihnen bei<br />
den Hausaufgaben helfen, nachmittags mit ihnen ins<br />
Schwimmbad gehen und keine ihrer Musikaufführungen<br />
verpassen. Schließlich sind das die Ereignisse, die eine<br />
Mutter nicht verpassen sollte, findet sie. Sie ist aber der<br />
Meinung, dass das nur funktionieren kann, wenn sie<br />
Abstriche im Beruf machen würde. Eigentlich bietet ihr<br />
Job als Visual Commercial Manager bei Zara, wo sie<br />
für die Gestaltung der Verkaufsflächen zuständig ist, die<br />
idealen Arbeitszeiten für Mütter. Länger als 15:00 Uhr<br />
muss sie selten arbeiten. Sarah möchte sich jedoch noch<br />
weiterbilden, Seminare und Workshops sowie Filialen<br />
auf der ganzen Welt besuchen. Mit einem Kind wäre<br />
das für sie, die rund um die Uhr für ihre Familie da sein<br />
möchte, unmöglich. Daher hat sie dieses Thema erstmal<br />
auf Eis gelegt. Eigentlich so gar nicht, was sie sich einmal<br />
vorgestellt hat: „Mit 27 wollte ich längst in einem<br />
Haus mit Garten leben, mich hingebungsvoll um zwei<br />
Kindern kümmern und das Dasein als Familienmutter<br />
genießen.“ Zwar hat sie seit zehn Jahren eine stabile<br />
Beziehung, wohnt aber in einer gemütlichen Altbauwohnung<br />
und plant Kinder frühestens mit 30. Warum hat sich ihre Wunschvorstellung in Sachen<br />
Familie so verändert? Das liegt unter anderem an ihrem beruflichen Aufstieg, der ihr ganz<br />
neue Möglichkeiten aufzeigte. Angefangen hatte sie als gelernte Einzelhandelskauffrau. Das<br />
hieß: wechselnde Schichten, lange Arbeitszeiten und Einsätze auch an Samstagen - nicht<br />
gerade familienfreundlich. Viele Mütter mit Kindern arbeiten daher in Teilzeit und müssen<br />
trotzdem um freie Wochenenden kämpfen, da auch bei einer 25-Stunden-Woche nicht jeder<br />
Wunsch erfüllt werden kann. Jene Kolleginnen, die Vollzeit arbeiteten, waren oft gelangweilt<br />
und ausgebrannt, viele sahen in der Familienplanung den einzigen Ausweg. Doch Sarah<br />
merkte: ich möchte mich noch nicht aufs Private konzentrieren, sondern mich beruflich neuen<br />
Herausforderungen stellen! Deshalb bewarb sie sich als Visual Commercial Manager, wurde<br />
genommen - und sammelt seitdem Erfahrungen, die mit einem Kind schwierig wären. Wenn<br />
der richtige Zeitpunkt gekommen ist, sagt sie, werde es ihr besonders wichtig sein, dass ihr<br />
Partner nicht nur beim Kinderwunsch, sondern auch bei der Erziehung hundert Prozent hinter<br />
ihr steht. Schließlich opfere die Frau doch einiges für eine Familie. Daher ist es für Sarah nicht<br />
abwegig, dass der Partner nach der Geburt in Elternzeit geht - mindestens zwei Monate. Um<br />
das zu klären, sei aber noch genügend Zeit. Gerade lebt sie sehr gern im Hier und Jetzt.<br />
46<br />
UND SEI ES NUR ZUM ZEITVERTREIB“<br />
„WO WOLLE IST, IST AUCH EIN WEIB, DAS WEBT,<br />
OSKAR SCHLEMMER<br />
Bilder der Frauen und die Gedanken<br />
über ihre Zukunft finden Sie hier.
Freiheit<br />
36<br />
ürkisch<br />
Hören Sie, wie man<br />
„haydi“ und Co. richtig<br />
ausspricht und was die<br />
Begriffe wirklich bedeuten.<br />
für<br />
Anfänger<br />
Moruk, wallah, habibi – verstehen Sie nicht?<br />
Unsere Autorin auch nicht VON RAFFAELA HERRMANN<br />
BILD: UNSPLASH<br />
„Annnnnnnneee!“, ruft mein jüngerer Bruder Claudio lautstark<br />
durch den ganzen Rewe. Sechs Mütter drehen sich<br />
um. Nur nicht unsere. „Annee?“, fragt er. Keine Reaktion.<br />
„Lan, warum hört sie denn nicht? Maaaammmmaaa?“.<br />
„Ja, mein Schatz?“, antwortet unsere Mutter schließlich<br />
mit ruhiger Stimme. „Und nenn mich nie wieder Anne!“,<br />
folgt darauf mit Nachdruck. „Okay haydi, lassma gehen.<br />
Yallah!“, erwidert Claudio – genervt, dass scheinbar<br />
niemand aus der Familie das türkische Wort für Mutter<br />
(Anne) zu kennen scheint.<br />
Sie müssen wissen, dass wir in einem Dorf außerhalb<br />
von München wohnen. In der Nähe der Autobahn,<br />
nicht weit vom Flughafen entfernt. Zwei Rewe, ein Aldi,<br />
ein Netto. Daneben der „Yilmaz“ Supermarkt, eine Dönerbude<br />
und ein türkischer Brautmodenladen. Genau in<br />
diesem Laden kaufe ich Kleider für besondere Anlässe,<br />
mittags gehe ich Manti (türkische Maultaschen) essen und<br />
während des Ramadans zu meiner Freundin zum Fastenbrechen<br />
– ich faste zwar nie, das Festmahl lasse ich<br />
mir aber trotzdem nicht entgehen. Türkisch kann ich kein<br />
Wort. Denn wie Sie wahrscheinlich aus den Namen von<br />
mir (21) und meinem Bruder (18) schließen können (ich<br />
entschuldige mich im Voraus für die Stereotypisierung),<br />
sind wir keine Türken, aber auch keine Italiener. Wir sind<br />
Deutsche.<br />
Mein Bruder nannte unsere Mutter nach dem Supermarkt-Vorfall<br />
nicht mehr Anne. Jedoch auch nicht Mama.<br />
Nein, er nannte sie Anneliese. Auch ein schöner Name,<br />
aber eigentlich heißt sie Stefanie. Als meine Mutter Claudio<br />
abends von einer Party abholen wollte, flehte sein<br />
bester Freund: „Bitte nur noch eine Stunde, bitte, Anneliese.“<br />
Mama war leicht entsetzt. „Moruk, sie heißt Stefanie<br />
nicht Anneliese, wallah“, prustete Claudio. Sein Freund,<br />
sichtlich verlegen: „Çüş!“<br />
In der Tat „krass“, was alles passieren kann, wenn<br />
man keinen einzigen Satz mehr ohne türkische Begriffe<br />
sprechen möchte. Peinliche Verwechslungen sind dabei<br />
nicht mal das Schlimmste.<br />
Ist „Kiez-Dialekt“, „Türkenslang“ oder, wie ich es nenne,<br />
„Dönerdeutsch“ eine Bedrohung für die deutsche<br />
„Architektur ist eine Sprache mit der Disziplin einer<br />
Grammatik. Man kann Sprache im Alltag als<br />
Prosa benutzen und wenn man sehr gut ist, kann<br />
man ein Dichter sein.“ LUDWIG MIES VAN DER ROHE<br />
Sprache? Von vielen wird es als Ursprung fehlender Integration<br />
von Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft gedeutet<br />
und als Verfall des Deutschen angesehen. Anfangs<br />
hätte auch ich so gedacht. „Warum kannst du eigentlich<br />
nicht mal normal sprechen?“, fragte ich meinen Bruder<br />
beim Frühstück. „Habibi, tu ich doch“, trotzte er. „Hast du<br />
mich grad beleidigt? Ganz ehrlich, hör auf, immer solche<br />
Wörter zu verwenden!“ Obwohl… was genau bedeutete<br />
„Habibi“ eigentlich? Ich zückte also unauffällig mein<br />
Handy, Google Translate würde mir schon recht geben.<br />
Leicht verdutzt schaute ich Claudio an. „Habibi“ ist ein<br />
arabischer Ausdruck für „Liebling“. „Ohhhhh, du bist ja<br />
süß“, sagte ich und wollte ihn ganz feste drücken. „Siktir<br />
git lan, fass mich nicht an.“ Und so war der beinahe schöne<br />
Geschwistermoment zerstört.<br />
Ich dachte nach. Eigentlich ziemlich beeindruckend,<br />
dass viele deutsche Jugendliche neben Anglizismen<br />
auch die Bedeutung türkischer oder arabischer Wörter<br />
kennen und diese auch in ihre Ausdrucksweise miteinfließen<br />
lassen. Wir alle sprechen nicht nur ein Deutsch.<br />
Wir wechseln ständig zwischen formell und informell,<br />
zwischen Dialekt und Hochdeutsch und zwischen Englisch<br />
und Deutsch. Warum dann nicht auch zwischen<br />
Türkisch und Deutsch? Durch die sprachliche Kreativität<br />
der Jugendlichen fließen neue Fremdwörter ins Deutsche<br />
ein, die Grammatik wird vereinfacht und die Sprache dynamischer.<br />
Diese Art von Jugendsprache gibt es schon<br />
seit Mitte der 1990er Jahre und trägt seitdem, gerade in<br />
Gruppen von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund,<br />
zu einer besonderen sprachlichen Integration<br />
bei. „Dönerdeutsch“ als Bedrohung anzusehen, ist also<br />
kurzsichtig, wir sollten es eher als Geschenk betrachten.<br />
Ein türkisches Sprichwort sagt: „Bir lisan, bir insan. Iki<br />
lisan, iki Insan.“ – „Wer eine Sprache beherrscht, der ist<br />
nur ein Mensch; wer aber zwei Sprachen beherrscht, gilt<br />
als zwei Menschen.“ Na, dann sollte ich wohl schleunigst<br />
einen Türkischkurs bei meinem Bruder belegen. „Was<br />
heißt denn dieses Sektür ged lann?“ Doch er hatte mir<br />
schon den Rücken zugewandt und ich hörte nur sein verschmitztes,<br />
freches Lachen.
Freiheit<br />
802C<br />
38 39<br />
Linke Seite: Fließendes langes Kleid von<br />
Asos Design, um 80 Euro.<br />
Diese Seite: Organza-Bluse mit Schleife von<br />
Zara, um 50 Euro<br />
Was im Pantone-Farbfächer für Neongrün steht,<br />
steht hier für eine zeitgemäße Weiterentwicklung der<br />
Bauhaus-Farben: Pink und Grün statt Rot, Blau, Gelb<br />
FOTOS VON STEFANI MIJATOVIC<br />
STYLING VON ALINE GANGUIN, EVA KAPELLER, ROSSELLA LOFINO<br />
HAIR & MAKE-UP VON MARLENE FUCHS<br />
MODEL: AÏSSATOU ESTELLE NIANG, EMMANUEL EDIGIN
Freiheit<br />
Diese Seite: (Links) Oberteil in<br />
Netz-Optik von Asos Design,<br />
um 40 Euro. Eng angliegendes<br />
Trägerkleid von Asos Design,<br />
um 50 Euro. (Rechts) Organza-Bluse<br />
mit großer Schleife von<br />
Zara, um 50 Euro<br />
Rechte Seite: Minikleid aus Chiffon<br />
mit Pailletten von Retrofête,<br />
um 490 Euro. Sonnenbrille von<br />
Acne Studios, um 260 Euro
Freiheit<br />
43<br />
„Farbe ist eine Kraft, die die Seele direkt beeinflusst.“<br />
WASSILY KANDINSKY<br />
Linke Seite: One-Shoulder<br />
Kleid mit Ballonärmel von Asos<br />
Design, um 60 Euro. Ankle<br />
Boots aus Leder von Prada, um<br />
790 Euro<br />
Diese Seite: Blazer-Kleid von<br />
Nly by Nelly, um 50 Euro.<br />
Langes Slipdress von Essential<br />
Antwerp, um 165 Euro
Freiheit<br />
Welterweiterung<br />
48<br />
VON SONJA WUNDERLICH<br />
"Kunst ist nicht<br />
zum<br />
Anschauen -<br />
Kunst schaut<br />
uns an."<br />
- Josef Albers<br />
Sie wollen mehr über die Künstler<br />
und ihren Prozess bis zum fertien<br />
Plakat wissen? QR-Code scannen<br />
und auf formfollowsfuture.de lesen<br />
In Kooperation mit<br />
dem Studiengang Marken-<br />
und Kommunikationsdesign<br />
der AMD<br />
Düsseldorf haben wir<br />
die Möglichkeit, das<br />
Bauhaus zum Leben<br />
zu erwecken. Die Aufgabe<br />
der Künstler war<br />
es, mit den Adobe<br />
Bauhaus-Schriften multimediale<br />
Plakate mit<br />
Zitaten ausgewählter<br />
Bauhaus-Lehrer und<br />
-Schüler zu gestalten.<br />
Augmented Reality<br />
eröffnet dabei eine<br />
Ebene zwischen dem<br />
ausgedruckten Plakat<br />
und der virtuellen Animation<br />
auf dem Smartphone:<br />
Im App-Store<br />
die App Artivive laden,<br />
mit der Smartphone-<br />
Kamera auf das Plakat<br />
halten – und schon<br />
startet die Animation<br />
auf dem Handy. Unbedingt<br />
ausprobieren!<br />
LINKS: PLAKAT VON ANNA FRÖSE: DER BAUHAUS-JUNGMEISTER JOSEF ALBERS UND SEINE WICHTIGSTEN STATEMENTS<br />
RECHTS: PLAKAT VON LUKAS BÜRGELT: „RÄUME“ AUS WÖRTERN. ZITATE VON LUDWIG MIES VAN DER ROHE, FARKAS MOLNÁR, HANNES MEYER<br />
„BAUKUNST<br />
IST<br />
RAUMGEFASSTER<br />
LEBENDIG.<br />
ZEITWILLE.<br />
NICHT DAS<br />
GESTERN,<br />
WECHSELND.<br />
M<br />
GESTALTET<br />
N E U .<br />
DIE FORM AUS<br />
LUDWIG MIES VAN DER ROHE<br />
NICHT DAS<br />
MORGEN,<br />
NUR DAS HEUTE<br />
L<br />
NUR DIESES<br />
BAUEN GESTALTET.<br />
IST FORMBAR.<br />
DEM WESEN<br />
MIT DEN MITTELN<br />
UNSERER ZEIT.<br />
DAS IST<br />
UNSERE<br />
AUFGABE.“<br />
DER AUFGABE
Freiheit<br />
SCHLEMMER<br />
„Tell me how you party and I‘ll tell you who you are.“ OSKAR<br />
H<br />
A USPARTY<br />
P<br />
A RTYH A US<br />
Laute Musik, schrille<br />
Kostüme und viel<br />
Alkohol – so sahen<br />
die legendären<br />
Bauhaus-Partys in den<br />
1920ern aus. Wie<br />
wird heute gefeiert?<br />
Fünf Geschichten aus<br />
dem Nachtleben<br />
VON ALINE GANGUIN<br />
32<br />
LARA, 24<br />
DIE QUEER-FREUNDIN<br />
Meine neueste Party-Entdeckung sind Schwulenpartys. Ich habe einige<br />
homosexuelle Freunde, die mich schon ein paar Mal mitgenommen<br />
haben. Als Frau geht es mir in erster Linie darum, beim Feiern nicht blöd<br />
angemacht zu werden. Auf diesen Partys sind alle wahnsinnig aufmerksam<br />
und zuvorkommend. Es geht auch sehr zwanglos zu. Man kann sich<br />
anziehen, wie man will, weil es nur darum geht Spaß zu haben; man hat<br />
nicht das Gefühl, irgendeinen Typen im Club beeindrucken zu müssen.<br />
Das Wichtigste ist, dass man sich selbst gefällt und sich wohlfühlt. Lustigerweise<br />
ziehen sich die meisten Frauen freizügig an.<br />
Die Männer tanzen gerne oberkörperfrei in einer Reihe. Es ist ganz<br />
erfrischend mal mit Typen zu tanzen, die Taktgefühl haben und ihre<br />
Hüften bewegen können. Als Frau wird man jedes Mal mit Komplimenten<br />
überhäuft, die aber natürlich nicht auf sexueller Ebene basieren. Das tut<br />
gut. Den Männern geht es wiederum schon um körperlichen Kontakt zu<br />
anderen Homosexuellen. Es wird viel geflirtet, was aber nicht heißt, dass<br />
man später auch gemeinsam die Party verlässt. Ich denke, da geht es<br />
eher um Bestätigung. Viele Gäste sind auch in offenen Beziehungen.<br />
Lustige Nächte hatte ich zum Beispiel im „Rendezvous“, eine Schwulenbar<br />
in München. Da gehe ich gerne mit meinen männlichen Freunden<br />
hin, und sobald wir durch die Tür treten, sind die schon von Typen<br />
umringt. Für mich ist das kein Problem, denn auch als Frau findet man<br />
schnell interessante Gesprächspartner. Und ganz ehrlich, es ist auch<br />
schon unterhaltsam, den anderen einfach beim Flirten zuzusehen.<br />
NIK, 22<br />
DER FESTIVALGÄNGER<br />
Ich gehe zum Party machen am liebsten auf Festivals. Die Atmosphäre<br />
dort ist ganz anders als im Club. Alles ist kunterbunt, die Sonne scheint<br />
und man hat seine liebsten Menschen um sich herum. Meistens reisen<br />
wir in einer Gruppe an und übernachten auf dem Campingplatz. Wenn<br />
man dann gemeinsam draußen sitzt, freundet man sich schnell mit den<br />
anderen Festivalbesuchern an – das macht auch das Flirten einfacher. Im<br />
Club traue ich mich oft nicht, Mädels anzusprechen.<br />
Zudem geht es auf Festivals viel friedlicher zu. Die Leute sind alle sehr<br />
freundlich und wenn man jemanden aus Versehen anrempelt, muss man<br />
keine Angst haben blöd angemacht zu werden. Da man auf dem großen<br />
Gelände viel Platz hat, macht auch das Tanzen mehr Spaß. Man fühlt<br />
sich frei und spürt einfach nur noch die Musik. Wie man dabei aussieht,<br />
interessiert keinen. Auch Kleidung ist nicht so wichtig. Man wird nicht von<br />
den anderen verurteilt, deswegen sind viele Outfits sehr ausgefallen und<br />
farbenfroh. Im Club spüre ich oft die Blicke, wenn ich mich auffälliger<br />
anziehe oder anders tanze als die Menge.<br />
Ich habe das Privileg, als Influencer oft auf Outdoor-Events eingeladen<br />
zu werden. Ich mache dann Fotos und Videos von den Auftritten, manchmal<br />
kann ich auch Karten an meine Follower verlosen. An einem typischen<br />
Festival-Tag setzen wir uns nach dem Aufstehen erstmal in unsere<br />
Liegestühle und genießen die Sonne zu den Beats. Irgendwann öffnen<br />
wir dann das erste Bier und wir spielen Karten. Die besseren Künstler<br />
kommen erst gegen Abend, passend zum Sonnenuntergang. Nachdem<br />
wir die ganze Nacht getanzt haben, geht’s wieder zurück zum Campingplatz<br />
und wir lassen das Ganze ausklingen. Geschlafen wird meistens<br />
nicht so viel.
Freiheit<br />
35<br />
JUSTUS, 26<br />
DER JETSETTER<br />
JACK*, 25<br />
DER PARTYPROFI<br />
Ich verbringe gerne jedes Wochenende anders, verreise auch oft. Erst<br />
neulich war ich für ein kurzes aber intensives Party-Wochenende auf<br />
Ibiza. Drei Freunde von mir studieren dort und wir haben zusammen in<br />
einer Finca gewohnt. Das bedeutete: Jeden Tag gutes Wetter und „Daydrinking“.<br />
Einen Tag haben wir im „Ushuaia“ verbracht – ein Luxushotel<br />
mit Open-Air-Club, wo die Top-DJs aus aller Welt auflegen. Das Lineup<br />
und die Stimmung waren so gut, dass die Zeit super schnell verflogen ist<br />
und wir von vier Uhr nachmittags bis Mitternacht geblieben sind.<br />
Ich liebe es, bei Sonnenschein und entspannter Musik Party zu machen.<br />
Das ist ein großer Unterschied zu Deutschland, wo man ja hauptsächlich<br />
abends feiern geht. Außerdem kenne ich in meiner Stadt fast jeden Club<br />
und weiß: Unter der Woche passiert hier nichts. In anderen Ländern<br />
oder Städten ist das definitiv anders.<br />
Zwei Wochen nach dem Ibiza-Trip bin ich nach Barcelona geflogen, um<br />
zwei ehemalige Kommilitonen zu besuchen. Wir waren drei Tage hintereinander<br />
unterwegs und hatten den Spaß unseres Lebens. Das einzige<br />
Problem war, dass ich am Montagmorgen wieder pünktlich im Büro<br />
sitzen musste. Also ging es von der Party quasi direkt zum Flughafen.<br />
Weil ich sehr viel arbeite, könnte ich die Wochenenden natürlich besser<br />
nutzen, um mich zu erholen. Ich bin aber extrem rastlos und unternehme<br />
in meiner Freizeit gerne viel. Das ist mein Ausgleich.<br />
Ich arbeite vier Tage in der Woche im Club, das heißt ich habe immer<br />
Party um mich herum. Natürlich kommt es auch öfter vor, dass ich selber<br />
mittrinke, vor allem wenn mich Freunde besuchen. Wenn ich nach der<br />
Arbeit noch fit bin, ziehen wir gerne zur After Hour weiter. Entweder in<br />
einen anderen Club, der in den frühen Morgenstunden noch offen hat,<br />
oder wir feiern bei Freunden. Das ist meistens der Fall. Wir sind dann<br />
eine kleine Runde und machen Musik und trinken. Das geht bis mittags<br />
oder nachmittags, bevor ich mich dann gegen 20 Uhr wieder auf den<br />
Weg in die Arbeit mache.<br />
Montag und Dienstag sind bei mir entspannter. An diesen Tagen treffe<br />
ich mich gerne mit Freunden zum Essen oder in einer Bar; vor allem muss<br />
ich dann den Schlaf nachholen, den ich am Wochenende nicht bekomme.<br />
Es klingt vielleicht nicht so, aber ich bin viel ruhiger geworden als<br />
früher. Damals bin ich mehrere Tage die Woche privat feiern gegangen.<br />
Dennoch hatte ich vor kurzem mal wieder ein hartes Wochenende. Am<br />
Samstag bin ich nach der Arbeit direkt nach Berlin geflogen und dort<br />
ging es gleich weiter in den Club. In den Berliner Clubs gibt es so viele<br />
Angebote, dass man es locker ein paar Tage darin aushält. So kam ich<br />
erst am Dienstag wieder raus, habe dann nur schnell meinen Koffer gepackt<br />
und bin zurück Nachhause geflogen. Was die Partyszene angeht,<br />
mag ich Berlin viel lieber als München. Die Menschen sind so locker und<br />
man kann länger und vor allem extremer feiern.<br />
Finden Sie im Test heraus, wie viel<br />
Stubenhocker oder Partykanone in<br />
Ihnen steckt<br />
*Name geändert<br />
ZEYNEP, 22<br />
DIE ENTSPANNTE<br />
Abends treffe ich mich am liebsten mit meinen Mädels, um gemeinsam zu<br />
kochen und anschließend einen Film oder Serien zu schauen. Wir trinken<br />
zwar keinen Alkohol, aber ein bisschen Party muss schon sein. Also wird<br />
die Musik laut aufgedreht und dann tanzen wir bis wir total fertig auf<br />
die Couch fallen. Dafür brauchen wir keine Drinks oder verschwitzte<br />
Menschen um uns herum.<br />
Wenn wir am Wochenende ausgehen, dann am liebsten ins Kino. Im<br />
Club bin ich höchstens einmal im Jahr. Spaß habe ich dort natürlich<br />
schon, aber es ist einfach nicht dasselbe wie daheim, wo ich die Gäste<br />
und die Musik selbst bestimmten kann. Vor allem im Sommer will ich<br />
meine Abende nicht in stickigen Clubs verbringen. Da finde ich es am<br />
schönsten, mit meinen Freundinnen auf dem Balkon oder im Restaurant<br />
zu sitzen und zu quatschen.<br />
Wenn ich mal feiern gehe, brauche ich mittlerweile immer ein paar<br />
Tage, um mich davon zu erholen. Eine ganze Nacht im Club ist ziemlich<br />
anstrengend, wenn man es nicht gewohnt ist. Hinzu kommt noch mein<br />
Pharmazie-Studium, das viel Zeit zum Lernen verlangt. Ein paar Tage<br />
ausfallen geht da nicht.<br />
Viele meiner Bekannten können nicht verstehen, dass ich nicht feiern<br />
gehe. Ab und zu kommen dumme Kommentare oder Sprüche, aber das<br />
stört mich nicht. Jeder sollte das tun können, was ihm Spaß macht ohne<br />
verurteilt zu werden. Und langweilig ist es bei uns nie.
AN<br />
FANG<br />
–––– Ohne auf den<br />
Beginn einer Ge schichte<br />
zu blicken, kann man<br />
sie nicht weiterschreiben.<br />
Ein Grundbau stein der<br />
Kunstschule Bauhaus war<br />
das Handwerk. Wir<br />
greifen darauf zurück –<br />
mit aktuellen Perspektiven.<br />
FOTO: CHARLOTTE HABERSETZER
Anfang<br />
58<br />
Masken<br />
ball<br />
Als Fotografie-Pionierin machte sich Gertrud Arndt am Bauhaus<br />
einen Namen. Ihre Bilder waren schaurig genaue Blicke in<br />
die Zukunft, auf unsere heutige Zeit. Eine Zeit, in der Selfies die<br />
Grenzen zwischen Realität und Illusion auflösen VON LISA JAKOBS<br />
FOTO: BAUHAUS-ARCHIV BERLIN © VG BILD-KUNST,BONN 2019<br />
Das Maskenporträt Nr. 13, entstanden 1930 in Dessau
Anfang<br />
60<br />
Oft führt Langeweile zu den besten Ideen,<br />
so scheint es zumindest bei Gertrud Arndt<br />
gewesen zu sein. Nachdem sie 1927 am<br />
Bauhaus die Webereiklasse absolvierte<br />
und dort auch ihren späteren Ehemann<br />
Alfred Arndt kennenlernte, widmete sie sich ganz dem<br />
Hausfrauen- und Mutterdasein. Die Ausbildung in der Weberei<br />
war für sie ohnehin nur eine Notlösung. Die Architektur,<br />
ihr eigentliches Wahlfach, konnte zu diesem Zeitpunkt<br />
noch nicht am Bauhaus studiert werden. Als Alfred<br />
Arndt eine Stelle als Lehrer am Bauhaus bekam, stellte<br />
sich Gertrud Arndt selbst hinten an, auch wenn sich die<br />
beiden in ihrem Ehevertrag die „völlige Gleichheit der<br />
Frau neben dem Manne“ versprechen, aber Gleichberechtigung<br />
war und ist ja ohnehin ein weit dehnbarer Begriff.<br />
Trotzdem muss man fast schon von Glück sprechen,<br />
dass Getrud Arndt sich wohlwollend ihrem Schicksal als<br />
Heimchen und, wie sie selbst sagte, „Nichtstuerin“, hingegeben<br />
hat, denn ohne diese große Langeweile wären<br />
ihre ikonischen Maskenporträts wahrscheinlich nie entstanden.<br />
Ihre fotografischen Kenntnisse brachte sie sich<br />
alle selbst bei. So war es ihr sicher auch ein leichtes sich<br />
im Bad ihres Meisterhauses in Dessau eine Dunkelkammer<br />
einzurichten. Aus Besenstiel, Steinen, Zeitung und Zwirnfaden<br />
bastelte sie sich Stativ und Selbstauslöser und schuf<br />
damit ihre 43 Maskenfotos.<br />
Über 70 Jahre nach den Maskenporträts wurde 2002 das<br />
erste „Selfie“ gepostet. Es war kein Selfie im klassischen<br />
Sinne, denn zu sehen war nur eine angeschwollene Unterlippe.<br />
Der Australier Nathan Hope wollte das Ergebnis<br />
einer durchzechten Nacht mit der ganzen Welt teilen und<br />
gab dem Ganzen den Namen Selfie, dass er damit einen<br />
wahren Hype auslösen würde, war ihm zu diesem Zeitpunkt<br />
bestimmt nicht bewusst. Übrigens, gab es das erste<br />
Foto mit Selbstauslöser schon viel früher, nämlich 1839,<br />
als der amerikanische Chemiker Robert Cornelius seine<br />
selbstgebaute Kamera ausprobieren wollte. Was heute<br />
eine ganze Generation ausmacht, ist also eigentlich nur<br />
durch Zufälle entstanden. Im Jahr 2019 gilt das Selfie als<br />
eines der wichtigsten und auch umstrittensten Kommunikationsmittel.<br />
Arndts<br />
Maskenporträts haben auf den ersten Blick vielleicht nicht<br />
unbedingt etwas mit unserer heutigen Zeit zu tun, in der<br />
man von Contouring, Weichzeichner und Schmollmündern<br />
geradezu erschlagen wird. Schaut man aber genauer<br />
auf den Selfie-Wahn in den Sozialen Netzwerken,<br />
dann fallen sofort einige Parallelen auf. Mit ihren Bildern<br />
verfolgte die Künstlerin also damals schon einen wahnsinnig<br />
modernen Ansatz.<br />
„Was ist man? Vielleicht hat man immer eine Maske. Irgendwo<br />
hat man immer einen Ausdruck, den man haben<br />
will. Das könnte man doch Maske nennen, oder?“ In diesen<br />
Sätzen beschreibt Gertrud Arndt im Grunde genau<br />
das, was die heutige Selfie-Kultur bestimmt. Mit Filtern<br />
und Gesichtsausdrücken, die im normalen Leben niemals<br />
jemand machen würde, inszeniert man sich gekonnt oder<br />
auch weniger gekonnt auf Social Media. Keiner weiß<br />
eigentlich mehr so genau, ob eine Person wirklich so<br />
aussieht wie auf den Fotos. Das Internet ist geradezu ein<br />
virtueller Maskenball. Auch Gertrud Arndt maskiert sich<br />
auf ihren Bildern ganz bewusst mit Schminke, Gesichtsschleiern,<br />
opulenten Hüten oder mit extremen Grimassen.<br />
Der Fokus soll nicht auf ihrer Person liegen, es war nicht<br />
ihr Ziel, ihr Innerstes nach außen zu kehren, sondern viel<br />
mehr fand sie Gefallen daran, mit den unterschiedlichsten<br />
Identitäten zu kokettieren. Arndts Spiel mit Verkleidung<br />
und Mimik ist viel näher an den modernen Selfies als an<br />
den Selbstporträts der großen Meister der Kunst, die stets<br />
einen Blick in das Seelenleben des Künstlers offenbaren<br />
sollten.<br />
Den tiefen Blick ins Seelenleben gibt es in den Sozialen<br />
Medien auch nicht unbedingt. Der Kunsthistoriker Wolfgang<br />
Ullrich schreibt in seinem Essay „Selfies“: „Wer ein<br />
Selfie macht, macht sich selbst zum Bild. […] Ein Selfie ist<br />
also eigentlich ein Bild von einem Bild.“ Es geht bei Selfies<br />
nicht einfach nur darum, einen kurzen Schnappschuss von<br />
sich selbst zu machen. Durch sorgsam einstudierte Posen,<br />
das perfekte Licht, das perfekte Make-Up und den perfekten<br />
Gesichtsausdruck wird aus Natürlichkeit eine völlige<br />
Inszenierung. Die ständige Selbstdarstellung ist ein Problem,<br />
das eine ganze Generation betrifft. Ein Experiment<br />
„Was ist man? Vielleicht hat man immer eine Maske.<br />
Irgendwo hat man immer einen Ausdruck, den man haben<br />
will. Das könnte man doch Maske nennen, oder ?“ GERTRUD ARNDT<br />
FOTOS: BAUHAUS-ARCHIV BERLIN © VG BILD-KUNST,BONN 2019<br />
von Star-Fotograf Rankin zeigt, wie sehr Social Media<br />
das Selbstbild junger Menschen verändert. Für sein Projekt<br />
mit dem Titel „Selfie Harm“ fotografierte er Jugendliche<br />
und ließ diese dann ihr Bild so bearbeiten, dass sie<br />
es auf Instagram posten würden. Das Ergebnis: größere<br />
Augen, glattere Haut und schmalere Nasen – auf dem unbearbeiteten<br />
Porträt gefiel sich keiner der Teenager. Das<br />
Spiel mit der eigenen Identität, so wie es Getrud Arndt<br />
zelebrierte, lässt sich in diesem Perfektionswahn so gut<br />
wie gar nicht mehr finden. Schaut man sich einmal die<br />
Flut der Bilder auf Instagram an, die unter dem Hashtag<br />
Selfie aufpoppen, vermisst man jegliche Individualität. Es<br />
scheint, als würde jeder jeden kopieren und nach dem<br />
einen ganz bestimmten Schönheitsideal, à la Kylie Jenner,<br />
streben. Gertrud Arndt hat sich bei ihren Masken ganz<br />
auf ihr eigenes Gefühl und ihre Kreativität verlassen, es<br />
funktioniert also auch vollkommen ohne Influencer. Aber<br />
davon abgesehen sind Selfies auch für Viele Kommunikationsmittel<br />
und vor allem Ausdruck der Persönlichkeit, und<br />
das wäre Gertrud Arndt sicher mehr als recht.<br />
Mit Gesichtsschleiern, starker Schminke<br />
und Mimik, die von erschrocken bis<br />
traurig reicht, kreierte Gertrud Arndt ihre<br />
ganz individuellen Filter. Damit war sie<br />
den heutigen Weichzeichnern und dem<br />
perfekten Contouring schon weit voraus<br />
Die Sozialen Medien wären heute wohl ganz im Sinne<br />
der Bauhäusler. Alle können daran teilhaben, man kann<br />
also sagen, dass Selfies das Demokratischste überhaupt<br />
sind, denn es kann sich auch jeder so präsentieren wie<br />
er oder sie es gerne möchte. Ob das nun mit Filtern, Make-Up<br />
oder zur Abwechslung doch mal ganz natürlich<br />
ist – jeder kann seine persönliche Maske tragen. Getrud<br />
Arndt würde heute womöglich den umgekehrten Weg<br />
gehen und auf ihre Maskerade verzichten, sich stattdessen<br />
komplett natürlich zeigen. Oder das In-Szene-Setzen<br />
durch Filter und Make-up noch mehr ausreizen und auf<br />
die Spitze treiben. In jedem Fall hat die Künstlerin den<br />
Weg für eine ganz besondere Art der Inszenierung geebnet.<br />
Fotografinnen wie Cindy Sherman würde es ohne<br />
Gertrud Arndt heute vielleicht gar nicht geben - Frauen,<br />
die sich mit ihrer eigenen Identität auseinandersetzen,<br />
damit spielen und vor allem auf die Probe stellen, was damals<br />
und auch noch heute von Frauen erwartet wird, wie<br />
sie sich zu präsentieren haben. In diesem Fall hat Getrud<br />
Arndt schon Ende der Zwanziger Jahre sehr modern gedacht.<br />
Und mit Blick auf unsere heutige Zeit lohnt es sich,<br />
vielleicht manchmal auch einfach die Maske abzusetzen.
68<br />
Handwerkskunst<br />
aus Wolle: Eine<br />
<strong>Form</strong> der Kreativität,<br />
die von den Bauhaus-<br />
Frauen am Webstuhl vielfältig<br />
ausgelebt wurde. Natürliche<br />
Materialien in unterschiedlichen<br />
Variationen erinnern an diese Zeit.<br />
FOTOS VON KAJ LEHNER; STYLING VON ROSSELLA LOFINO, EVA KAPELLER, ALINE GANGUIN;<br />
MODELS: CARO SCHÄFFLER, HANNAH-SOPHIE WEBER; HAARE & MAKE-UP VON ALEXANDRA SALATINO<br />
Mantelkleid mit Stoff-Layering von<br />
Caroline Wolf, Preis auf Anfrage.
70<br />
Zweifarbiger Pullover mit Fransen von Zara Studio, um<br />
60 Euro. Karierter Schal von Drykorn, um 100 Euro
73<br />
accupturis re ipid et ipsusam re nobis<br />
sed most et qui sedit adis simus pro<br />
mod el il incient molor sunt rehenti<br />
onestionsed quatat rest que nis experu<br />
amm aritibus. Susant accupturis<br />
re ipid et ipsusam re nobis sed most<br />
et qui sedit adis simus pro mod el il<br />
incient molor sunt rehenti onest<br />
Caro (l.): Karierte Jacke mit Fransen<br />
von Springfield, um 60 Euro. Darunter<br />
ein Häkelkleid von Guess, um 140<br />
Euro. Pantoletten von Pier One, um<br />
50 Euro. Hannah (r.): Baumwollcardigan<br />
mit Jacquardmuster von Mango,<br />
um 60 Euro. Stoffhose in Oliv von By<br />
Malene Birger, 160 Euro<br />
accupturis re ipid et ipsusam re nobis<br />
sed most et qui sedit adis simus pro<br />
mod el il incient molor sunt rehenti<br />
onestionsed quatat rest que nis experu<br />
amm aritibus. Susant accupturis<br />
re ipid et ipsusam re nobis sed most<br />
et qui sedit adis simus pro mod el il<br />
incient molor sunt rehenti onest
74<br />
Diese Seite: Hannah (l.):Strick -<br />
weste in Weiß von Anna Field,<br />
um 40 Euro, knielanger Strickrock<br />
von Kiomo, um 40 Euro. Ohrringe<br />
von Pilgrim, um 15 Euro. Caro (r.):<br />
Strickkleid mit Fransen von Mango,<br />
um 50 Euro. Rock darüber von<br />
Vila, um 30 Euro. Häkeljacke von<br />
Anna Field, um 40 Euro. Ohrringe<br />
von Pieces, um 15 Euro<br />
Linke Seite: Beide Tops aus<br />
Strick, gestreift, mit Stehkragen,<br />
von Even & Odd, um 25 Euro.<br />
Hannah (l.): Ohrringe von Also,<br />
um 10 Euro. Armreife von Warehouse,<br />
um 25 Euro. Caro (r.):<br />
Ohrringe, um 15 Euro, Armeife,<br />
um 25 Euro, von Warehouse
„Wir alle müssen zum<br />
Handwerk zurück.“<br />
WALTER GROPIUS<br />
Oben: Hannah (l.): Bluse mit Lochspitze<br />
von Inwear, um 140 Euro.<br />
Kimono-Jacke: Vintage. Lederhose von<br />
Nobi Talai, Preis auf Anfrage. Pantoletten<br />
von Pier One, um 48 Euro. Caro<br />
(r.): Rollkragentop von Free People,<br />
um 50 Euro. Lederjacke von Selected<br />
Femme, um 200 Euro. Gehäkelte Hose<br />
von More & More, um 80 Euro. Clogs<br />
von Solftclox, um 125 Euro<br />
Links: Hannah (l.): Wickelkleid von<br />
Mango, um 80 Euro. Gestreiftes Top<br />
von Oysho, um 25 Euro. Braune Clogs<br />
von Softclox, um 125 Euro.<br />
Caro (r.): Häkelmantel von Zara Studio,<br />
um 80 Euro. Weißer Rock von Strenesse,<br />
um 300 Euro. Clogs von Musse &<br />
Cloud, um 50 Euro<br />
Gestreiftes Hemd von Zara Studio, um<br />
60 Euro. Darüber ein Lederkleid<br />
von Nobi Talai, Preis auf Anfrage. Weit<br />
geschnittene Stoffhose in Beige von<br />
Weekend Max Mara, um 195 Euro
Blindtext<br />
GARTEN FREIDORF<br />
In einer Genossenschaftssiedlung in der Schweiz wollten<br />
idealistische Städteplaner und Architekten einst eine<br />
Art Paradies auf Erden errichten VON MAXIMILIAN GRASSL | FOTOS VON ADRIAN HONSBERG<br />
Jetzt visuell in das Freidorf eintauchen!<br />
„Volksbedarf statt<br />
Luxusbedarf“<br />
HANNES MEYER
Anfang<br />
54<br />
damals Familienväter, Mütter und Kinder trafen, sind es<br />
heute überwiegend Angestellte verschiedenster Firmen.<br />
Sogar Yogakurse können dort besucht werden. Im unteren<br />
Stockwerk befindet sich ein Saal, in dem der Vorstand<br />
seine Sitzungen abhalten kann und der von den Siedlern<br />
gern für Festivitäten gemietet wird.<br />
ERST FREIDORF, DANN BAUHAUS<br />
Als alles anfing – vor rund einhundert Jahren – träumte<br />
man hier von einer neuen Welt, die ganz anders sein<br />
sollte als alles, was man bisher kannte. Ein Wunschbild<br />
einer fortschrittlichen Gesellschaft, in der jedem alles<br />
gehört. Über das Wirtschaftliche hinaus sollten auch<br />
andere Lebensbereiche wie gemeinsame Arbeit, Kinderbetreuung,<br />
Schulen, Kultur und Altenbetreuung mit<br />
einbezogen werden. Beflügelt von diesem Gedanken,<br />
machte sich eine Gruppe von gleichgesinnten Idealisten<br />
um den schweizer Politiker Bernhard Jäggi auf, um zum<br />
ersten und letzten Mal in der Schweizer Geschichte eine<br />
vollgenossenschaftliche Siedlung zu bauen. Man nannte<br />
sie Freidorf.<br />
Damals lag die kleine Siedlung noch mitten im Nirgendwo,<br />
zwischen Muttenz und Basel, auf einem 84.915<br />
Quadratkilometer großen Grundstück. Umsäumt war Freidorf<br />
von nicht viel mehr als grünen Feldern – heute sieht<br />
das ganz anders aus: Die Gemeinde ist dicht eingewoben<br />
in die Basler Agglomeration. Jenseits der Siedlung leben<br />
170 000 Menschen ihren Großstadtalltag. Die etwa<br />
eineinhalb Meter hohen Mauern, welche das Freidorf umzäunen,<br />
scheinen diesen urbanen Trubel fast vollständig<br />
abzuschirmen, denn in der Siedlung herrscht ein anderes,<br />
gemäßigteres Tempo.<br />
Es ist still an diesem sommerlichen Tag. Durch die von<br />
Nordost nach Südwest verlaufenden Häuserzeilen zieht<br />
ein Geruch von chemischen Pheromonen. Das Industriegebiet<br />
Schweizerhalle, in dem die beiden Chemiekonzerne<br />
Novartis und Clariant angesiedelt sind, ist nur wenige Kilometer<br />
entfernt. Vereinzelt hört man das Brummen der Autos,<br />
die die anliegende Sankt Jakob-Straße befahren und<br />
das viertelstündige Glockenspiel des Freidorfer Genossenschaftshauses;<br />
Gis1, fis1, e1, h0 – der Westminsterschlag.<br />
„Das Glockenspiel ist dem von Big Ben nachempfunden“,<br />
erklärt Reto Steib, der stellvertretende Vorstandsvorsitzende<br />
der Siedlungsgenossenschaft. Er steht vor dem Genossenschaftshaus<br />
inmitten der Siedlung. Früher wurde dieses<br />
große Haus noch anders genutzt. Es diente mit großen<br />
Versammlungssälen und zahlreichen Räumen vielfältigen<br />
Aktivitäten: Orchester- oder Volkschorproben, Kurse zur<br />
Erziehung, Verwaltung, Haushalt, Berufsbildung. Wo sich<br />
Der 1985 neu mit Kupfer verkleidete Glockenturm<br />
des Genossenschaftshauses<br />
Aus dem Archic: Luftaufnahme des Freidorfs, damals noch von Feldern umgeben<br />
Die Häuser sind identisch, die Gärten etwas individueller<br />
Eine Bilderreihe von Fritz Karl Zbinden aus dem Jahr<br />
1924 ziert den frisch renovierten Raum. Der Schweizer<br />
Maler inszenierte in den zwölf Werken eine damals Wirklichkeit<br />
gewordene Utopie, die nach den schrecklichen<br />
Vorfällen des Weltkrieges und der Nachkriegszeit eine<br />
verlockende und aussichtsreiche Alternative darstellte. In<br />
Auftrag gegeben wurden die Bilder vom Architekten des<br />
Freidorfes und späteren Bauhaus-Direktor Hannes Meyer<br />
für das avantgardistischeTheaterstück „Co-Op“. Bereits<br />
zur feierlichen Eröffnung des Genossenschaftshauses am<br />
21. Juni 1924 waren die Bewohner in den Genuss einer<br />
provisorischen „Teil-Uraufführung“ gekommen. Gespielt<br />
wurden in dem Stück zwei aus Pantomimeneinlagen bestehenden<br />
Serien.<br />
Eine davon behandelt das Problem der Lieferkette mit<br />
ihrn zahlreichen Gliedern zwischen Produzenten und Konsument.<br />
Ein Bauer und eine Hausfrau möchten sich vermählen.<br />
Das kann aber erst geschehen, nachdem sie die<br />
den Liebesbund verhindernden „Zwischenglieder“ – ein<br />
Spekulant, ein Grossist, ein Handelsreisender und eine<br />
Krämerin – ausgeschaltet haben. Die Aufführung provozierte<br />
negative Reaktionen von Kritikern der Genossenschaftsbewegung,<br />
die meinten, das Stück sei erklärungsbedürftig<br />
und in manchen Abschnitten allzu drastisch.<br />
Die dafür angefertigten bunten, plakativen Bilder zeigen<br />
jedoch keinerlei Konflikte, sondern nur das rege und<br />
fröhliche Treiben der Freidorf-Bewohner und seien in der<br />
Siedlung beliebt, erklärt Reto Steib, der stellvertretende<br />
Präsident der Siedlungsgenossenschaft. Auf einem ist ein<br />
zufrieden dreinblickender Mann zu sehen, der damalige<br />
Präsident der Verwaltungskommission des Verbands<br />
Schweizerischer Konsumvereine, Bernhard Jäggi. Er steht<br />
vor einem Tisch, auf dem ein Miniaturmodell des Freidorfes<br />
zu sehen ist, daneben ein Geldsack mit dem Aufdruck<br />
Die Vorstandmitglieder der Siedlungsgenossenschaft Adrian Johner (links) und Reto Steib
Anfang<br />
57<br />
„7.500.000 Fr.“. Das war der ungefähre Betrag, auf den<br />
sich die Gesamtbaukosten der 150 Häuser auf der Parzelle<br />
986 des Grundbuches Muttenz beliefen. Schulden<br />
mussten Jäggi und der VSK dafür nicht aufnehmen. Über<br />
die sieben Millionen Franken verfügte der Konsumverein,<br />
heute bekannt als Coop, weil ihm der Bund die Steuern<br />
von Mehreinnahmen, die man während des Krieges erwirtschaftet<br />
hatte, erließ. 1920, nach zweijähriger Bauzeit,<br />
konnten dann die ersten Bewohner einziehen. Vier<br />
Jahre später lebten bereits 625 Menschen im Freidorf.<br />
UNGEWOHNTER LUXUS<br />
Um den genossenschaftlichen Gedanken zu unterstreichen,<br />
sehen alle Häuser bis heute gleich aus. Sie sind eierschalengelb<br />
gestrichen und haben braune Fensterläden,<br />
einen großen Garten mit Gartenhütte, und den gleichen<br />
beigen Briefkasten an der gleichen Stelle rechts der Eingangstür.<br />
Trotz der Einheitlichkeit boten sie den Arbeitern<br />
des VSK einen für damals ungewohnten Luxus. Die Häuser<br />
waren mit Warmwasser, eigenen Sanitäranlagen und<br />
einer Heizung ausgestattet. Reto Steib erinnert sich, unter<br />
welchen Bedingungen seine Mutter in der Stadt lebte: Bei<br />
ihr befand sich die Toilette noch im Treppenhaus; und da<br />
nicht alle Mietskasernen Platznot in dem von geprägten<br />
Basel über entsprechende Einrichtungen verfügten, musste<br />
man zum Duschen in öffentliche Badehäuser gehen. „Da<br />
war das Freidorf 1921 schon revolutionär“, sagt er. Angestrebt<br />
wurde damals eine autonome Dorfgesellschaft –<br />
wirtschaftlich, sozial, kulturell. Die Kinder gingen in die<br />
eigene Schule. Die Bewohner mussten Freidorfgeld kaufen,<br />
um die Waren im Dorfladen erwerben zu können.<br />
Die Gärten waren zur Selbstversorgung gedacht, sogar<br />
Nutzvieh wurde gehalten. Laut der Basellandschaftlichen<br />
Zeitung waren die Genossenschafter so überzeugt von<br />
ihrer Lebensform, dass sie sogar Teile der Erträge in eine<br />
Stiftung einzahlten, um in Zukunft weitere Dörfer errichten<br />
zu können. Wäre dieser Plan aufgegangen, gäbe es heute<br />
fünf weitere Freidörfer. Dazu kam es aber nie.<br />
DAS ENDE DER VOLLGENOSSENSCHAFT<br />
Der Vollgenossenschaftsgedanke ging schlichtweg im<br />
Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit unter. Die Wende<br />
kam in den Sechzigerjahren, als der Generation der Erstbewohner<br />
keine weitere folgen wollte. Die Jüngeren empfanden<br />
die Prinzipien des Freidorfs als bevormundend,<br />
sie fühlten sich sozial eingeengt. Ansätze wie: „Die wahren<br />
Erziehungsarbeiten der Menschen kann nur in kleinen<br />
übersichtlichen Gruppen erfolgen, und vor allem Erfolg<br />
verspricht, wenn gleichzeitig jede Familie über ein Heim<br />
verfügt“, die Bernhard Jäggi einst verfolgte, wären heute<br />
undenkbar und nicht mehr zeitgemäß. Auch hätten sich<br />
die äußeren Bedingungen rund um das Freidorf geändert,<br />
erklärt Reto Steib. Ein derart enges soziales Zusammenleben<br />
innerhalb der Siedlung wie früher könne nicht<br />
mehr zustande kommen, da die Bewohner oft auswärts<br />
arbeiten und die Freizeitgestaltungsmöglichkeiten außerhalb<br />
der Freidorfmauern zu- und innerhalb abgenommen<br />
haben. Früher gab es hier zum Beispiel noch eine Bibliothek,<br />
ein Café, ein Restaurant und ein Reisebüro.<br />
Ähnlich klingt es bei Philip Potocki, dem „Freidorf-Lexikon“,<br />
wie ihn Reto Steib auf dem Weg zu seinem Haus nennt.<br />
Potocki bewohnt gemeinsam mit seiner Frau Regina das<br />
Haus mit der Nummer 142. Während sie im lichtdurchfluteten<br />
Nähatelier im ersten Stock schneidert, durchforstet<br />
er am liebsten alte Freidorf-Literatur und digitalisiert die<br />
Dokumente – Potocki ist der Archivar der Siedlung. Er hat<br />
sich intensiv damit beschäftigt, warum der Status der Vollgenossenschaft<br />
1967 aufgelöst wurde und Freidorf seitdem<br />
eine reine Wohnungsbaugenossenschaft ist. Für ihn<br />
habe das im Wesentlichen zwei wirtschaftliche Gründe:<br />
„Der Lieferant VSK, der damals alle lokalen Genossenschaften<br />
angefahren hat, musste optimieren. Es war für<br />
ihn nicht mehr möglich, dreihundert Genossenschaften<br />
individuell zu versorgen, und hat deshalb verlangt, dass<br />
sie sich gruppieren. Das hätte das Freidorf aber sehr viel<br />
Geld gekostet und eine Verschlechterung der Dienstleistungen<br />
mit sich gebracht“, so Potocki. „Der zweite, fast<br />
wichtigere Grund war, dass die Siedlung auf der grünen<br />
Wiese gebaut wurde und damals im Umkreis von zwei Kilometern<br />
nichts war.“ Das habe sich aber schon seit einiger<br />
Zeit verändert. Es wurden weitere Siedlungen gebaut,<br />
deren Bewohner ebenfalls Lebensmittel benötigten. Dies<br />
führte dazu, dass der Dorfladen nicht mehr die Kapazitäten<br />
hatte, um jeden versorgen zu können.<br />
GEMEINSAM, NICHT EINSAM<br />
Doch auch wenn die Regeln „abgespeckt“ wurden, gelten<br />
bis heute einige Vorgaben: So muss jede Familie, auch<br />
gleichgeschlechtlich, mindestens ein Kind haben. Ein Elternteil<br />
ist dazu verpflichtet, zu mindestens fünfzig Prozent<br />
bei Coop angestellt zu sein. Geblieben ist aber vor<br />
allem die Pflege der Gemeinschaft – die indes freiwillig<br />
stattfindet. Die Bewohner feiern gemeinsame Gartenfeste,<br />
ein älteres Ehepaar beglückwünscht bei einem Plausch<br />
am Zaun seine jungen Nachbarn zum vierten Nachwuchs<br />
und ein Vater spritzt sein kreischendes Kind mit Wasser<br />
ab, als er gerade seine Petunien gießt; Momentaufnahmen,<br />
die zeigen, dass das Miteinander immer noch einen<br />
hohen Stellenwert in der kleinen Siedlung hat - wenn auch<br />
nicht denselben wie früher. Potocki sagt: „Der Genossenschaftsgedanke<br />
ist nicht abhandengekommen, man hat<br />
nur die Größenordnung geändert.“<br />
Siedlungsarchivar Philipp Potocki in seinem Garten<br />
Regina Potocki in ihrem Nähatelier im Obergeschoss
Revolution<br />
80<br />
SIEBEN TAGE,<br />
SIEBEN FARBEN<br />
Damals schwer verdauliche Körnerdiät heute<br />
gelber Montag und grüner Dienstag. Wo<br />
fängt der Ernährungswahn an, wo hört er auf?<br />
VON MARIE-LOUISE WENZL-SYLVESTER<br />
Ein kurzer Blick in Deutschlands Kantinen zeigt meist<br />
opulente Gerichte, wie ein klassisches Schnitzel mit Pommes<br />
Frites, Nudeln und eine obligatorische Salatbar, die<br />
neben Wurstsalat und Dosenmais oftmals ungeschälte<br />
Gurken, sowie halbgereifte Tomaten hergibt. Immerhin.<br />
Freunde von herzhaften Mahlzeiten gingen in der<br />
Bauhaus-Mensa weitestgehend leer aus. Schon vor 100<br />
Jahren lag dort die vegane Ernährung im Trend. Exotisch<br />
klingende Gerichte wie „Isländisch-Moos-Pudding“, „Gefülltes<br />
Brot-Symposium“ und „Knoblauch-Kaltschale“ sorgten<br />
bei den Studierenden für starken Durchfall und regelmäßige<br />
Ohnmacht.<br />
In seinem Buch „Jenear Tischgeschichten“ widmet Autor<br />
Christian Hill den skurrilen Mazdaznan-Menüs eine<br />
ganze Seite.<br />
Initiator für diese durchaus spezielle Ernährungsform<br />
war der Schweizer Künstler und Lehrmeister Johannes Itten.<br />
Er brachte 1919 die Mazdaznan-Lehre, eine wild<br />
zusammengewürfelte Mixtur aus verschiedensten Religionen,<br />
ans Bauhaus. Bewusstes maßvolles Essen, Selbstbeherrschung<br />
und die richtige Atmung sollte die geistige<br />
und körperliche Kraft der Anhänger dieser Lebensphilosophie<br />
stärken. Schlemmen und daraus resultierendes Übergewicht<br />
waren tabu.<br />
Der amerikanische Schriftsteller Tom Wolfe kritisiert in<br />
seinem kurzweiligen Pamphlet „Mit dem Bauhaus leben“<br />
die strikte Ernährungsform:<br />
„Es gab in Weimar eine Phase, da bestand die Bauhaus-Diät<br />
ausschließlich aus einem Mus von rohem, frisch<br />
geernteten Gemüse. Das Mus war so schlaff und faserig,<br />
dass man Knoblauch beigeben musste, um irgendeinen<br />
Geschmack zu erzielen.“<br />
Doch hat sich seitdem wirklich so viel geändert? Im<br />
Zeitalter von sozialen Medien, in dem ein Food-Trend den<br />
nächsten jagt, sind wir heute vielleicht sogar noch extremer<br />
als Itten es uns vorlebte. Mal ehrlich, wer hat noch<br />
keine im Internet aufgeschnappte, erfolgversprechende<br />
Diät ausprobiert und nach spätestens einer Woche wieder<br />
aufgegeben?<br />
FOTOS: MARIE-LOUISE WENZL-SYLVESTER INSPIRIERT VON PHILIP KARLBERG
„Der Mensch ist<br />
nicht auf Erden, um<br />
alles, was Wald,<br />
Wiese, Feld oder<br />
Garten abwerfen,<br />
in seinem Magen<br />
wie in einer Art<br />
Futterspeicher zu<br />
sammeln, auch<br />
nicht dazu, um eine<br />
Art Kirchhof oder<br />
Friedhof für tote<br />
Tiere zu sein.“<br />
AUSZUG DER MAZDAZNAN-ERNÄHRUNGSKUNDE,<br />
DIE JOHANNES ITTEN AM BAUHAUS PRAKTIZIERTE<br />
82 83<br />
Wer sich, wie Schauspielerin Gwyneth Paltrow, beispielsweise<br />
glutenfrei ernährt, lässt Weizen, Gerste und<br />
Hafer weg. Doch es ist ein Trugschluss, dass für das Abnehmen<br />
das fehlende Gluten verantwortlich ist. Anhänger<br />
dieser Diät verzichten hierbei lediglich auf Kalorienbomben<br />
wie Kuchen, Kekse oder Knabbersachen. Eine<br />
dauerhaft glutenfreie Ernährung wird von Experten ausschließlich<br />
bei einer nachgewiesenen Unverträglichkeit<br />
empfohlen.<br />
Wesentlich kreativer klingt die bunte Ernährungsstrategie,<br />
auf die Stars wie Sängerin Christina Aguliera schwören:<br />
Richtet man sich nach der Sieben-Farben-Diät, wird<br />
jedem Wochentag eine andere Food-Farbe zugewiesen.<br />
Montag gibt es beispielsweise nur gelbe Kost, Dienstag<br />
kommt nur Grün auf den Teller und so weiter.<br />
Felix Pfeiffer ist bereits sein gesamtes Berufsleben in<br />
der Gastronomie tätig. In seiner aktuellen Position, als<br />
Restaurantleiter des Schloss-Hotels Ischgl, nimmt er eigenartige<br />
Entwicklungen seiner Gäste wahr: „Nach 15 Jahren<br />
Gastronomie habe ich so ziemlich alles erlebt. Mittlerweile<br />
wird bei so gut wie jeder Bestellung der Wunsch nach<br />
gluten – oder laktosefreien Varianten geäußert. Lebensmittelunverträglichkeiten<br />
oder Allergien sind meiner Meinung<br />
nach nichts weiter als eine neuzeitliche Erfindung.“<br />
Doch nicht nur die Extrawünsche nehmen zu, auch<br />
das Essverhalten hat sich deutlich verändert:<br />
„Nicht selten klettert schon mal der ein oder andere<br />
Gast auf seinen Stuhl, um seinen Teller mit dem Smartphone<br />
perfekt fotografieren zu können. Für mich persönlich<br />
ist das alles der totale Irrsinn.“<br />
Lassen wir uns in puncto Ernährung wirklich so sehr<br />
von Instagram und Co. beeinflussen? Ein kurzer Blick in<br />
die Foto-App mit Milliarden Nutzern zeigt: Das Hashtag<br />
#food alleine verzeichnet momentan über 300 Millionen<br />
Beiträge. Eine schwindelerregende Zahl, die den weltweiten<br />
Ernährungswahn recht gut verdeutlicht.<br />
Fast 50.000 Beiträge findet man unter dem Stichwort<br />
#mastercleanse. Die höchst umstrittene Schlankmacher-Strategie<br />
von Heilpraktiker Stanley Burroughs rät zu<br />
einer 10-tägigen Fastenkur, bei der man nichts als Zitronensaft,<br />
Cayenne-Pfeffer und Ahornsirup zu sich nimmt.<br />
Der Tiroler Jungunternehmer und Gastronom Stephan<br />
Mauracher ist in Tirol zwischen Bergen, Kühen und dem<br />
eigenen Gemüsebeet aufgewachsen. Mittlerweile führt er<br />
sein eigenes Hotel und setzt dort von Anfang an auf natürliche<br />
und regionale Kost. Ihn überzeugen die vermeintlichen<br />
Wunderdiäten daher nicht:<br />
„Der häufigste Grund für Krankheiten ist eine falsche<br />
Ernährung. Die Leute nehmen nur noch Produkte ohne<br />
Nährstoffe zu sich, weil sie an der falschen Stelle sparen.<br />
Dafür geben sie dann viel Geld für Medikamente oder<br />
Nahrungsergänzungsmittel aus.“<br />
Für sein Restaurant in Kufstein bezieht der 26-Jährige<br />
ausschließlich regionale Lebensmittel vom familieneigenen<br />
Hof.<br />
So könnte auch das Mazdaznan des 21. Jahrhunderts<br />
aussehen. Eine vernünftige Mischung aus regionalen Produkten<br />
aus eigenem Anbau und Fleisch erzeugt aus artgerechter<br />
Haltung von hoher Qualität (in Maßen). Und,<br />
wer weiß, vielleicht doch ab und zu eine stoffwechselfördernde<br />
Knoblauch-Kaltschale.<br />
accupturis re ipid et ipsusam re nobis sed most et qui sedit adis simus pro mod el il incient molor sunt<br />
rehenti onestionsed quatat rest que nis experu amm aritibus. Susant accupturis re ipid et ipsusam re
Anfang<br />
G<br />
Aus Müll werden plötzlich<br />
schimmernde Pailletten<br />
und auf den Kleidern<br />
von Michelle Obama<br />
L<br />
landen aufwendige<br />
Stickereien: Wieso<br />
das Handwerk<br />
heute wichtiger<br />
ist denn je<br />
A<br />
VON CARMEN JENNY<br />
64<br />
N<br />
Z<br />
LEISTUNG<br />
Elissa Brunato legt sich Pipette, Reagenzglas und<br />
Petrischale zurecht. Im zugeknöpften weißen<br />
Laborkittel sitzt sie vor einer rosaroten Mikrotitierplatte<br />
und hat ihre Augen konzentriert auf ihr<br />
„Projekt“ gerichtet. Es ist aber nicht etwa ein seltenes<br />
Insekt oder eine neu entdeckte Bakterienart, die sie<br />
unter dem Mikroskop betrachtet. Es sind Pailletten. Elissa<br />
Brunato macht Mode. Mode, die die Branche revolutionieren<br />
soll. Ihre Pailletten bestehen nicht aus mit Kunststoff<br />
beschichteten Metallplättchen, sondern – aus Cellulose.<br />
Die junge Australierin, die zurzeit am Central Saint<br />
Martins College in London ihr Masterstudium absolviert,<br />
könnte zu einer dieser Modedesignerinnen und Materialforscherinnen<br />
werden, von denen es laut Trendforscherin<br />
Lidewij Edelkoort immer weniger gibt. In ihrem „Anti Fashion<br />
Manifesto“ kritisierte sie, dass Modestudierende<br />
ihre Energie mit Unwichtigem verschwenden, ihre Zeit<br />
etwa in Shows, Marketing, Kommunikation und Fotografie<br />
investieren (müssen). „Dabei kommt nicht nur die<br />
Mode zu kurz, sondern auch das Wissen für Materialien,<br />
Stoffe und Designkompetenz“, so die Niederländerin, die<br />
den Modeschöpfer Azzedine Alaïa als letzten richtigen<br />
Modemacher sah. Wenn also die Modedesigner nichts<br />
mehr von ihrem Handwerk verstehen, wie sollten sie dann<br />
ein Gefühl von Wertschätzung für Materialien an die Gesellschaft<br />
weitergeben? In einer Zeit, in der die Fashion-Industrie<br />
wegen Überproduktion sowie billigen Materialien<br />
der stärkste Umweltverschmutzter nach der Ölindustrie<br />
ist und in einer wirtschaftlichen Krise steckt, ist die Frage<br />
wichtiger denn je.<br />
DER INDUSTRIE EINEN SCHRITT VORAUS<br />
Es gibt Hoffnung. Elissa Brunato bringt das Wissen nicht<br />
nur mit, sie will damit ein allgemeines Verständnis für<br />
Materialien schaffen, und dafür, wie wertvoll natürliche<br />
Ressourcen sind – und darüber hinaus eine ganz besondere<br />
Schönheit besitzen. „In der Mode steht die Ästhetik<br />
immer an erster Stelle. Bei nachhaltiger Mode denkt man<br />
BILDER: ELISSA BRUNATO<br />
Ein Prototyp der abbaubaren Paillette:<br />
Die „Bio Irisdescent Sequins“<br />
reflektieren das Licht in allen Farben.
hingegen zuerst an wenig originelle Beige- und Naturtöne“, sagt<br />
die Designerin. Niemand würde erwarten, dass kleine Pailletten<br />
einen großen Einfluss auf die Umwelt haben können. Zu Hunderten<br />
aufgenäht auf schillernden Tops und Abendroben landen sie<br />
jedoch, nachdem sie oft nach einmaligem Anziehen ihren Zweck<br />
erfüllt haben, mit vielen anderen Kleidern auf Mülldeponien. Dort<br />
dauert es über 200 Jahre, bis sie sich vollständig zersetzt haben.<br />
Mit ihrem Projekt der „Bio Iridescent Sequins“, bei dem sie mit der<br />
Modefirma Stella McCartney und dem Research Institute of Sweden<br />
(RISE) zusammengearbeitet, zeigt Brunato, dass man mit der<br />
Öko-Version einen genauso glänzenden Auftritt hinlegen könnte<br />
wie mit den umweltschädlichen Pendants – ohne dabei schlimme<br />
Spuren zu hinterlassen.<br />
66 67<br />
HINTER DEN TÜREN DES GLAMOURS<br />
Es gibt noch Orte, an denen mehr als vereinzelte Personen das<br />
Handwerk schätzen. In St. Gallen, einem schweizerischen Städtchen<br />
mit 80.000 Einwohnern, erwartet man wohl nicht unbedingt<br />
die Anfänge von Kleidern, die Geschichte schreiben. Ganz im Stillen<br />
beliefert das 1904 gegründete Stickerei-Unternehmen Forster<br />
Rohner jedoch tatsächlich die größten Modehäuser wie Chanel<br />
und Valentino. Was 1940 mit einer Zusammenarbeit mit Christian<br />
Dior begann und 2008 durch Miuccia Pradas Volute-Serie mit den<br />
berühmten Guipure-Stickereien einen erneuten Höhepunkt feierte,<br />
geht heute soweit, dass auch die amerikanische Ex-First Lady Michelle<br />
Obama Kleider aus den Stoffen des Traditionshauses trägt.<br />
Mit ihren automatisierten Stickerei-Prozessen zählt Forster Rohner<br />
zu den wenigen Hütern der berühmten St. Galler Stickerei und<br />
ist gleichzeitig Vordenker für neue, smarte Textilien mit leitfähigen<br />
Garnen, die zum Beispiel in Stoffe eingearbeitete LED-Lichter zum<br />
Leuchten bringen.<br />
Von Hand gemalt, maschinell vollendet: Forster Rohners Stickdesigns<br />
reichen von Blumen- bis zu Schmetterlingsmotiven.<br />
„Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen<br />
Künstler und dem Handwerker. Der Künstler ist<br />
es eine Steigerung des Handwerks“ BAUHAUS MANIFEST<br />
Auf die Frage, welche Relevanz ihre Stickereien für die Modeindustrie<br />
haben, antwortet Miriam Rüthemann, Assistentin<br />
der Geschäftsleitung und Produktmanagerin für Lingerie, auch<br />
eher cool: „Forster Rohner stellt auf modernsten Stickmaschinen<br />
hochwertige, modische Stickereien her.“ Die jahrelange<br />
Expertise fließe dabei in jedes der Produkte ein, sagt Rüthemann.<br />
„Was die Fast Fashion-Industrie anbietet, hat nichts mit<br />
Qualität zu tun, sondern ist eine billige Kopie unserer Dessins.“<br />
Sie spielt auf den Kopierwahn der Modeindustrie an. Dabei<br />
geben High Fashion Häuser zwar die Trends vor, gleichermaßen<br />
sind diese jedoch auch das Futter für Großkonzerne. In<br />
diesem Industriezweig gilt allerdings, so schnell wie möglich<br />
für die Masse zu produzieren. Dass qualitatives Handwerk in<br />
diesem Prozess keine große Rolle mehr spielt, spiegelt sich<br />
letztlich in den Preisen wider.<br />
So viel Arbeit auch in den Designs stecken mag, die wenigsten<br />
wissen wohl, ob die Stickereien auf ihrer Bluse aus St. Gallen<br />
kommen. Obwohl das Unternehmen mit der Automatisierung<br />
von hochwertigen Stickereien der Inbegriff von demokratisiertem<br />
Handwerk ist, erreicht ihre Bekanntheit nicht den Endkonsumenten.<br />
„In manchen Fällen dürfen wir es gar nicht öffentlich<br />
machen, dass die Textilien aus dem Haus Forster Rohner<br />
stammen“, sagt Rüthemann. Eine wirkliche Begründung gebe<br />
es dafür jedoch selten. Doch sollte sich die Wertschätzung eines<br />
Kleidungsstücks wirklich nur auf ein Chanel-Logo und die<br />
Werte eines Modelabels beschränken? Ohne Textilien, würde<br />
dieses Logo schließlich auch nicht das sein, wofür es heute<br />
steht. Sprich, die Anfänge der Textilien und dessen Urheber<br />
tragen genauso zum Erfolg eines Labels bei, wie die finalen<br />
Kollektionen und dessen Vermarktung.<br />
Für eine nachhaltige Zukunft: In Zusammenarbeit mit dem Research Institute of<br />
Sweden (RISE) ist es Elissa Brunato gelungen, die erste biologisch abbaubare<br />
Paillette herzustellen.<br />
BILDER: ELISSA BRUNATO; FORSTER ROHNER<br />
Aufwendige Details: Seit1904 arbeitet Forster Rohner mit Haute Couture Häusern zusammen.<br />
Die Entwicklungszyklen sind inzwischen deutlich kürzer geworden.<br />
WIESO KLEINE DINGE GROSSES BEWIRKEN<br />
Wenn also die Modehäuser die Ursprünge ihrer Kollektionen auf Moodboards und Inspirationen reduzieren und die Designer<br />
laut Branchen-Insiderin Lidewij Edelkoort sowieso immer weniger von Materialien verstehen, wie kann das grundlegende<br />
Problem der schwindenden Wertschätzung und die damit verbundene Wegwerfgesellschaft dann gelöst werden?<br />
Laut Juliane Kahl, Direktorin des Responsive Fashion Institutes, gibt es einen einfachen Lösungsansatz. „Wir leben in einem<br />
Zeitalter, in dem ständig Daten gesammelt werden“, so die Innovationsberaterin aus München. Was wäre, wenn man eine<br />
emotionale Bindung zu Produkten, zum Beispiel Kleidungsstücken, mittels visualisierter Daten schaffen könnte? „Kleidungsstücke<br />
und Textilien beinhalten Geschichten zu Fertigungstechniken und den Menschen, die sie hergestellt haben“, sagt Kahl.<br />
„Es ist wichtig, diese zu erzählen und das Wissen darüber zu erhalten.“<br />
Wenn diese Geschichten auch noch einen nachhaltigen Ursprung haben, könnte man also gleich zwei Probleme in einem<br />
angehen: Indem Unternehmen transparent sind und der Ursprung des umweltfreundlichen Materials klar kommunizieren,<br />
steigt im besten Fall auch die Wertschätzung des Produkts beim Konsumenten. Dass dabei schon wortwörtlich winzige<br />
Lösungen einen großen Effekt haben, zeigen Elissa Brunatos Pailletten aus der Pipette. Mit Cellulose als Ausgangsmaterial,<br />
das hier aus Holz gewonnen wird, ist es tatsächlich gelungen, den begehrten Schimmer-Effekt ohne Zusatz von jeglichen<br />
Chemikalien nachzuahmen. Die glänzenden kompostierbaren Plättchen sind im Moment noch Prototypen. Doch in Zukunft<br />
werden die Pailletten sogar aus Abfall oder Kompost gewonnen werden können – sie zählen ebenfalls als Hauptlieferant für<br />
Cellulose. Anfragen hat die Brunato auch schon genug. Ihr Ziel: „Nicht nur die Haute Couture soll meine Pailletten verwenden,<br />
sie sollen für alle zugänglich sein.“ Eine Einstellung, die wohl nicht besser beweisen könnte, dass man auch mit kleinen<br />
Dingen glänzen kann. Eben wie eine Paillette.<br />
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Anfang<br />
Hin und weg?<br />
Overtourism heißt das Phänomen, wenn zu viele Reisende denselben<br />
Tipps folgen. Sieben Beispiele, welche Auswirkungen das<br />
haben kann und wie es dem Bauhaus-Hotspot Dessau bisher erging<br />
62<br />
–––<br />
Dass Popstar Justin Bieber bei seinen Fans regelmäßig<br />
für Ausnahmezustände sorgt, ist ja nichts Neues.<br />
Seit der Veröffentlichung seines Musikvideos zu „I’ll show<br />
you“ im Jahr 2015 bekommt ein ganzes Land das Ausmaß<br />
des Bieber-Fiebers zu spüren: Die isländische Schlucht<br />
Fjaðrárgljúfur, Schauplatz des Clips, wird geradezu überrannt.<br />
Alle wollen wie Justin die saftig grünen Grashügel<br />
hinunterrollen. Der einzige Ausweg, um das Ökosystem<br />
des Canyons zu schützen, war seine Sperrung. Seit dem<br />
1. Juni 2019 ist er wieder zugänglich, aber das sollte<br />
man lieber nicht zu laut sagen.<br />
ISLAND<br />
VENEDIG<br />
VON SONJA MEINKE<br />
„Ein Jahr lang wird das Jubiläum dieser Geburtshelferin der Moderne gefeiert.“<br />
TRAVELGUIDE LONELY PLANET<br />
–––<br />
Dem Bauhaus hat Deutschland 2019 ganz schön<br />
viel Aufmerksamkeit zu verdanken. Nicht nur haben die<br />
Trendscouts von Lonely Planet Dessau, Weimar und Berlin<br />
zu den Top-Destinationen des Jahres erklärt, auch auf<br />
die „52 Places to go in 2019“-Liste der New York Times<br />
haben es die drei deutschen Städte geschafft. Vor allem<br />
Dessau gilt als besonders sehenswert. In der 82.000-Einwohner-Stadt<br />
lehrten Gropius & Co. die längste Zeit. Und<br />
hier steht nach wie vor das Bauhaus-Gebäude, das mittlerweile<br />
UNESCO-Welterbe ist. Wie sieht es in Dessau<br />
also im Jubiläumsjahr aus? Wer die Stadt in Sachsen-Anhalt<br />
ansteuert, wird zwar mit der eindrucksvollen Campus-Architektur<br />
belohnt, ansonsten aber herrscht nicht gerade<br />
Partystimmung. Pünktlich zum 100-Jährigen sollten<br />
Elektrobusse durch Dessau rollen, um die Besucher zu den<br />
Sehenswürdigkeiten zu bringen. Doch daraus wurde wegen<br />
zu hoher Kosten nichts – und auch mit den Touristen<br />
sieht es mau aus. Womöglich sind wir einfach sechs Jahre<br />
zu früh dran. Denn das Bauhaus ist erst im Jahr 1925<br />
nach Dessau gezogen.<br />
BARCELONA<br />
–––<br />
DESSAU<br />
Die katalanische Hauptstadt hat die Schnauze voll<br />
von Urlaubern. Die jährlich rund 30 Millionen Besucher<br />
treiben unter anderem die Mieten in die Höhe: Nur noch<br />
Außenbezirke sind für Einheimische bezahlbar. Mit Sprüchen<br />
wie „Tourismus tötet die Stadtteile“ machen sie bei<br />
regelmäßig stattfindenden Demonstrationen ihrem Unmut<br />
Luft. Die Tourismus-Gegner fürchten den Verlust der kulturellen<br />
Seele ihrer Stadt.<br />
BILDER: PIXABAY; SHUTTERSTOCK; UNSPLASH<br />
PARIS<br />
–––<br />
„Aufgrund gestiegener Besucherzahlen üben die<br />
Mitarbeiter der Louvre-Rezeption und das Sicherheitspersonal<br />
ihr Recht zu streiken aus. Deshalb wird das Museum<br />
heute den ganzen Tag geschlossen bleiben”, twitterte das<br />
Louvre am 27. Mai dieses Jahres. Die Mona Lisa blieb<br />
den Touristen volle zwei Tage verwehrt. Obwohl die Eintrittskarten<br />
vom Museum erstattet wurden, hatten die Besucher<br />
wenig Verständnis für den Entschluss der Mitarbeiter.<br />
–––<br />
–––<br />
Viereinhalb Millionen Touristen treffen jährlich auf<br />
genauso viele Einwohner in Neuseeland. Umgerechnet<br />
sind es etwa 20 Euro, die die Regierung bald von allen<br />
Urlaubern außer Australiern fordert. Ab Oktober 2019<br />
fällt die Touristensteuer automatisch mit Beantragung des<br />
Visums an. Mit der Zahlung sollen die Besuchermassen<br />
reguliert und so die Umwelt geschützt werden. Wer sich<br />
jedoch den teuren 25-Stunden-Flug leisten kann, wird wohl<br />
auch das nötige Kleingeld für die Steuer berappen können.<br />
Die Einheimischen sind frustriert: Wieder und wieder<br />
verschiebt die Stadt im Wasser die Einführung der<br />
Eintrittsgebühr für Tagestouristen. Nun sollen erst ab 2020<br />
sechs bis zehn Euro pro Kopf fällig werden. In der Hochsaison<br />
drängeln sich täglich 130.000 Besucher durch die<br />
Lagunenstadt. Auch der Kreuzfahrttourismus ist für die<br />
Venezianer eine Zumutung. Erst im Juni gab es einen Zusammenprall<br />
zwischen einem Kreuzfahrtschiff und einem<br />
kleineren Boot. Der Unfall hat die Stimmung angeheizt:<br />
„Raus mit den Monsterschiffen“, fordern die Bewohner.<br />
NEUSEELAND<br />
KALIFORNIEN<br />
–––<br />
Wie ein Heuschreckenschwarm fielen Touristen im<br />
kalifornischen Lake Elsinore über die blühenden Mohnfelder<br />
her. Zurück blieben zertrampelte Blüten, Müll und<br />
über 200.000 Posts auf Instagram unter dem Hashtag<br />
#superbloom. Als letzte Konsequenz sperrten die kalifornischen<br />
Behörden den Zugang zu den Blumenwiesen, um<br />
das Naturwunder und die Anwohner zu schützen. #Naturelove<br />
sieht eindeutig anders aus.
82<br />
M<br />
U<br />
T<br />
–––– Mut haben, heißt,<br />
etwas zu wagen, sich<br />
zu trauen, Stärke zu<br />
beweisen.Es bedeutet,<br />
für das zu kämpfen,<br />
was einem wichtig ist,<br />
und auch mal gegen<br />
den Strom zu schwimmen.<br />
Manchmal besteht Mut<br />
auch einfach nur darin,<br />
seine Meinung zu sagen.<br />
Mutig war Bauhaus<br />
damals und wir wollen<br />
es jetzt sein.<br />
FOTO: CHARLOTTE HABERSETZER
Mut<br />
PUNKT<br />
88<br />
PUNKT<br />
KOMMA<br />
STRICH<br />
Wenn sich Make-up von abstrakter Kunst<br />
inspirieren lässt, wird es alles andere als linientreu:<br />
Die Pinsel führen in zackigen Bewegungen<br />
über Augenbrauen, umrahmen Gesichter und<br />
lassen Lippen in satten Farben leuchten<br />
Der russische Maler Alexej von Jawlensky war der Meinung, Kunst sei nicht<br />
lehrbar. Mit dieser Begründung lehnte er, die ihm angebotene Professur am Bauhaus ab.<br />
„Morgenlicht (abstrakter Kopf)“ entstand 1923.
90
FOTOS VON QUIRIN SIEGERT<br />
HAIR & MAKE-UP VON MELANIE RIEBERER<br />
MODELS: CHARLOTTE KPONTON, VINCENT KPONTON<br />
PRODUKTION VON SONJA MEINKE, RAFFAELA HERRMANN,<br />
MARIE-LOUISE WENZL-SYLVESTER, NICOLE PANOWSKY<br />
92
Mut<br />
P I L L E<br />
Das Kondom ist bis jetzt das einzige<br />
Kontrazeptivum für Männer. Obwohl<br />
die Forschungen an Alternativmethoden laufen,<br />
bleibt Verhütung bisher Frauensache.<br />
Warum scheint das so vielen egal zu sein?<br />
P<br />
A<br />
L<br />
L<br />
E<br />
BILDER: ANTONIA BETZ<br />
95<br />
Übelkeit, Kopfschmerzen, psychische Verstimmungen<br />
– immer mehr Frauen lehnen die<br />
Verhütungspille aus genau diesen Gründen<br />
ab: Nebenwirkungen. Sie machen ihnen das<br />
Leben oft zur Hölle. Aber trotz zahlreicher<br />
Alternativmethoden scheint die Pille oft noch<br />
das geringere und gleichzeitig sicherste Übel<br />
zu sein. Selbstbestimmung über die eigene<br />
Gesundheit und generell mehr Verständnis<br />
von der Gesellschaft in puncto Verhütungsthematiken<br />
wünschen sich deshalb viele Frauen.<br />
Während sie seit der Erfindung der Pille in den<br />
Sechzigerjahren mit deren negativen<br />
Begleiterscheinungen kämpfen<br />
müssen, wurde die Entwicklung<br />
einer hormonellen Pille für den<br />
Mann aufgrund ähnlicher Nebenwirkungen<br />
eingestellt.<br />
Obwohl schon lange an verschiedenen<br />
alternativen Verhütungsmethoden<br />
für Männer geforscht wird,<br />
scheint es mit der Akzeptanz sowohl<br />
bei der Zielgruppe als auch<br />
in der Pharmaindustrie immer noch<br />
nicht sehr weit her zu sein. Im Gespräch<br />
über Verhütung ernten viele<br />
Frauen von ihren Partnern zunächst<br />
nur ein sehr aussagekräftiges<br />
Schweigen. Zwar beteiligen sich<br />
heute viel mehr Männer als früher<br />
aktiv am Familienleben, nehmen<br />
Vaterschaftsurlaub und kümmern<br />
sich um die Kinder, aber wenn es<br />
um die aktive Familiengründung<br />
oder eben Nicht-Gründung, geht,<br />
sind sie deutlich weniger involviert<br />
als Frauen. Warum nur bleibt, trotz<br />
ansteigendem Kondomverkauf und<br />
zunehmender Gleichberechtigung,<br />
die Verhütungsfrage meistens doch<br />
den Frauen überlassen?<br />
Dass ein Kondom bei jedem One-<br />
Night-Stand zur Grundausstattung<br />
gehört, versteht sich heute eigentlich<br />
von selbst. Eigentlich. Denn<br />
oft scheint der Umgang mit Präservativen<br />
selbst für Männer nicht so<br />
einfach zu sein. Jochen Rögelein,<br />
der in München als Systemischer Paar-, Familien-<br />
und Sexualtherapeut arbeitet, hört von vielen<br />
seiner männlichen Patienten, dass sie sich<br />
beim Geschlechtsverkehr regelrecht gestresst<br />
fühlen, wenn es um die Aufsetztechnik geht.<br />
Oft fangen die Probleme schon im Vorfeld an.<br />
Denn viele Männer hätten keine Ahnung von<br />
der für sie richtigen Marke oder Größe. Dabei<br />
ist es für den sicheren Einsatz eines Kondoms<br />
entscheidend, dass es weder zu groß ist noch<br />
zu eng sitzt.<br />
GLEICHE<br />
„GLEICHE<br />
PFLICHTEN“<br />
RECHTE,<br />
WALTER GROPIUS<br />
FEHLT DIE BEREITSCHAFT<br />
ODER FEHLT DER MUT?<br />
Da ist es natürlich praktischer und bequemer,<br />
wenn die Frau sich um die<br />
Verhütung kümmert, vor allem in einer<br />
längerfristigen sexuellen oder partnerschaftlichen<br />
Beziehung. Dass die Pille<br />
jedoch trotz ihres hohen Pearl Index<br />
(das Maß für die Wirksamkeit einer<br />
Verhütungsmethode) nicht zu hundert<br />
Prozent sicher ist, wissen allerdings<br />
die wenigsten Männer. „Ich kenne<br />
leider viele sogenannte Pillenversagerkinder,<br />
bei denen die Väter dann sogar<br />
oft den Müttern Vorwürfe machen<br />
“, sagt Paar-Experte Rögele.<br />
Auch die Gynäkologin Dr. Heike Anzenberger,<br />
mit eigener Frauenarzt-Praxis<br />
in Peißenberg, beobachtet, dass<br />
Männer immer noch zu wenig aufgeklärt<br />
werden. „Vielen Jungs wird<br />
in der Schule oder von den Eltern oft<br />
leider nur diese eine Botschaft mitgegeben:<br />
Verhütung ist Frauensache“.<br />
In vielen sozialen Umfeldern fehle zusätzlich<br />
die Bereitschaft, offen über<br />
Verhütungsthematiken zu sprechen.<br />
Paartherapeut Rögelein fasst das Phänomen<br />
so zusammen: „Alles in allem<br />
kann man sagen, dass Männer dieses<br />
Thema weitgehend ignorieren.<br />
Das belastet ihre Partnerinnen zwar<br />
oft schwer, führt aber leider trotzdem<br />
nicht dazu, dass die Paare offen und<br />
ehrlich über die Verantwortung in der<br />
Verhütungsfrage diskutieren. Viele<br />
Frauen geben dann irgendwann auf,<br />
vielleicht auch zu schnell.“<br />
Aber wurden die Nachforschungen für eine Verhütungspille<br />
für den Mann wirklich allein wegen der<br />
vielen Nebenwirkungen eingestellt, oder zweifelte<br />
die Pharmaindustrie schlicht an dem Erfolg eines<br />
solchen Produkts? „Ob Männer sich tatsächlich bereit<br />
erklären würden, eine Pille zu nehmen, war seit<br />
jeher fraglich“, sagt Rögelein – verweist aber auf<br />
aktuelle Entwicklungen: „Nachdem zum Beispiel die<br />
Anti-HIV-Pille unter homosexuellen Männern eine gro-<br />
VON ANTONIA BETZ
Mut<br />
97<br />
ße Nachfrage verzeichnet, kann es natürlich schon sein,<br />
dass inzwischen auch heterosexuelle Männer einer Verhütungspille<br />
gegenüber nicht zwingend abgeneigt wären“.<br />
Die Aussicht auf eine marktreife hormonelle Verhütungsmethode<br />
für Männer scheint jedoch trotz allem relativ<br />
aussichtslos. Zu hoch seien die Risiken, sagt die Weltgesundheitsorganisation<br />
(WHO). Vor allem in Bezug auf<br />
die längerfristige Potenz der Männer haben viele Wissenschaftler<br />
Bedenken. Da noch nicht so lange an der Pille für<br />
den Mann geforscht wird, sind Studien anspruchsvolleren<br />
Vorgaben ausgesetzt als einst beim weiblichen Pendant<br />
in den Sechzigerjahren. Wahrscheinlich will man gewisse<br />
Fehler aus der Vergangenheit einfach nicht wiederholen.<br />
Doch selbst wenn die hormonelle Pille für den Mann<br />
aus gesundheitlichen Gründen keine Option wäre:<br />
Schließlich gibt es für Frauen auch genug andere Verhütungsmittel.<br />
Warum also nicht auch für Männer?<br />
Woran scheitert die Entwicklung?<br />
SAMENLEITER-VENTIL<br />
ODER ENZYMPILLE?<br />
Von den verschiedenen Methoden, an denen derzeit<br />
geforscht wird, scheinen vier besonders vielversprechend.<br />
Bei der Polymergelmethode, beispielsweise,<br />
wird ein synthetisches Gel per Injektion in beide Samenleiter<br />
gespritzt. Dieses Gel setzt sich wie ein Filter<br />
fest und lässt zwar Ejakulationsflüssigkeit durch,<br />
jedoch keine Spermien. Obwohl das Gel zehn Jahre<br />
hält, kann es im Falle eines früheren Kinderwunschs<br />
durch eine erneute Spritze wieder aufgelöst werden.<br />
Wie gesichert die dauerhafte Spermienproduktion<br />
nach einem solchen Eingriff ist, ist jedoch noch unklar.<br />
Auch kann man nach heutigem Stand Entzündungsrisiken<br />
nicht völlig ausschließen.<br />
Ähnliche Schwierigkeiten scheint es mit einer anderen<br />
Methode, dem Samenleiterventil, zu geben. Das vom<br />
Berliner Handwerker Clemens Bimek erfundene und<br />
mit einem Münchner Urologen zusammen entwickelte<br />
Verhütungsimplantat kann direkt in den Hodensack<br />
transplantiert werden und funktioniert - beide Samenleiter<br />
umschließend - wie ein Ventil. Mittels eines durch<br />
die Haut zu ertastenden Schalters kann der Mann dieses<br />
Ventil am Samenleiter wie mit einem Kippschalter<br />
bedienen. Ventil auf, Ventil zu. Der Fluss der Spermien<br />
wird also von Hand reguliert. Obwohl das Implantat<br />
zuverlässige Ergebnisse vorweisen kann, sind viele in<br />
der Fachwelt skeptisch. Beim Hantieren mit lebendem<br />
Gewebe könnten zu leicht Entzündungen und Vernarbungen<br />
am empfindlichen Samenleiter entstehen. Das<br />
Risiko, die Fruchtbarkeit dabei dauerhaft zu verlieren,<br />
sei zu hoch. Dementsprechend müssten sich erstmal<br />
genügend Männer finden, die eine derart invasive<br />
Methode testen wollen würden.<br />
An einem weniger Invasiven Verfahren forschen derzeit<br />
Wissenschaftler in den USA. Das Medikament<br />
EP055 beeinträchtigt das im Hoden produzierte Enzym<br />
TSSK2, welches die Beweglichkeit der Spermien<br />
regelt. Somit sorgt der Wirkstoff für unzuverlässige<br />
„Schwimmer“, die dann die Eizelle nicht erreichen. In<br />
einer Studie wurde das Enzympräparat bereits an Affen<br />
getestet, hier stellte sich die Zeugungsfähigkeit der<br />
Tiere nach 18 Tagen komplett wieder her.<br />
Wissenschaftler der University of Washington wiederum<br />
stellten bei der 100. Jahrestagung der amerikanischen<br />
Endocrine Society in Chicago einen Wirkstoff<br />
aus synthetisch hergestellten Hormonen vor – Demthandrolon-Undecanoat<br />
oder kurz DMAU. Das bereits an<br />
mehreren Männern im Alter von 18 bis 50 Jahren getestete<br />
Präparat unterdrückt die Testosteron-Produktion in<br />
den Hoden und somit auch die der Spermien. Zwar rief<br />
das Medikament minimale Nebenwirkungen wie leichte<br />
Gewichtszunahme und Abnahme des HDL Cholesterins<br />
hervor, jedoch bestanden alle Probanden jegliche Sicherheitstests,<br />
wie zum Beispiel für Leber- und Nierenfunktionen.<br />
Zudem blieben die üblichen Symptome von<br />
Testosteronmangel bei Männern wie zum Beispiel erektile<br />
Dysfunktionen und Stimmungsschwankungen in jedem<br />
Fall aus.<br />
KONTROLLVERLUST ODER<br />
MEHR FREIHEITEN?<br />
Obwohl also einige Methoden mit zu hohen Risiken verbunden<br />
und daher nicht praktikabel sind, scheinen andere,<br />
weniger invasive Präparate wie EP055 und DMAU,<br />
vielversprechend. Bis jetzt ist jedoch noch keines der Verfahren<br />
ausreichend erforscht worden, um zur Marktreife<br />
zu gelangen.<br />
Bis das soweit ist, kann es noch einige Zeit dauern. Zwischenzeitlich<br />
lässt sich Gleichberechtigung in der Verhütungsfrage<br />
vermutlich nur durch folgende Varianten<br />
herstellen: Während laut Dr. Heike Anzenberger immer<br />
mehr Männer ab 40 mit abgeschlossener Familienplanung<br />
dazu tendieren, sich sterilisieren zu lassen, rät sie<br />
jungen Patientinnen dazu, ihre Partner aufzufordern, sich<br />
an den Kosten für die Pille zu beteiligen. Jungen Männern<br />
hingegen wird von Sterilisation abgeraten. Zwar sind Vasektomien<br />
grundsätzlich reversibel, der Eingriff ist jedoch<br />
massiv und kann nicht in jedem Fall eine vollkommene<br />
Wiederherstellung der Fruchtbarkeit garantieren. Und<br />
obwohl bereits vasektomierte Männer, laut Rögelein, regelrecht<br />
begeistert sind, scheint die Kostenaufteilung von<br />
Verhütungsmitteln im Vergleich bei jüngeren Paaren nicht<br />
so einfach zu sein. „Wenn ich vor allem jüngere Patientinnen<br />
dazu animiere, sich die Kosten mit ihrem Partner zu<br />
teilen, stoße ich oft auf irritierte Gesichter“, sagt Dr. Anzenberger.<br />
Während viele Frauen oft einfach nicht auf die<br />
Idee kommen, haben einige Angst, die ausschließliche<br />
Kontrolle und Sicherheit über ihren Körper zu verlieren.<br />
Es scheint also ein schwieriger Konflikt zu sein, in dem<br />
sich die Frauen hier befinden. Einerseits gibt es einige,<br />
die sich mehr männliches Engagement bezüglich Verhütung<br />
wünschen und gerne auf sämtliche Nebenwirkungen<br />
der Pille verzichten würden. Andererseits gibt es Frauen,<br />
die Angst haben, die Verantwortung für die Verhütung<br />
aus der Hand zu geben. Es ist noch unklar, ob die Verhütungspille<br />
für den Mann wirklich den kompletten Kontrollverlust<br />
der Frau bedeutet. In jedem Fall bedeutet sie aber<br />
mehr Freiheiten.<br />
Während Frauen sich<br />
oft angeregt über<br />
Verhütung unterhalten,<br />
kommen hier, in<br />
unserem Online-<br />
Beitrag, endlich auch<br />
mal Männer zu Wort.
Mut<br />
G<br />
Der Bauhaus-Gründer wurde einst gefeiert wie<br />
S<br />
Bowie, Britney und Co. Aber welche Star-Qualitäten<br />
brachte er wirklich mit? Ein Vergleich mit<br />
einigen der erfolgreichsten Musikern aus den<br />
R<br />
letzten Dekaden<br />
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VON VIVIAN HARRIS<br />
98 99<br />
FOTO: LOUIS HELD, UM 1919 | ILLUSTRATION: VIVIAN HARRIS<br />
AUF DIE BILDUNG PFEIFEN<br />
Sie tauschten Gleichungen gegen Gitarren, Dramenanalysen<br />
gegen Drums, Religionslehre gegen Rock’n’Roll: Jimi<br />
Hendrix und Mick Jagger sind nur zwei der Musiker, die<br />
es mit der schulischen Bildung nicht ganz so ernst genommen<br />
haben. Nicht so ernst zumindest wie mit der Musik.<br />
Während Jagger sein Studium an der London School of<br />
Economics als langweilig empfand, hatte Hendrix bereits<br />
in der High School aufgegeben und diese wegen schlechter<br />
Noten verlassen. Den Plan, Musiker zu werden, hatten<br />
beide aber bereits im Hinterkopf, als sie sich gegen den<br />
klassischen Bildungsweg entschieden. Wer rockt, rebelliert<br />
ja auch immer ein bisschen. Der Rebell in Walter<br />
Gropius kam 1907 auf, als er sein Architektur-Studium,<br />
das er 1903 in München begonnen und für zwei Jahre<br />
in Berlin weitergeführt hatte, abbrach. Zum einen konnte<br />
er nicht wirklich zeichnen (eigentlich eine Voraussetzung<br />
für diesen Beruf), zum anderen erschien ihm der Lehrplan<br />
an den Universitäten – ähnlich wie dem Stones-Frontmann<br />
– öde und realitätsfern. Der damals 24-Jährige entschied<br />
sich also gegen ein Studium. Für ihn, wie auch für Hendrix<br />
und Jagger, ein Schritt in Richtung Weltkarriere.<br />
DIE FAMILIE SCHÄTZEN<br />
Mutter Künstlerin, Vater Künstler, Tochter Künstlerin. Nicht<br />
immer entscheidet man selbst über die eigene berufliche<br />
Karriere. Was nicht unbedingt ein Nachteil sein muss.<br />
Billie Eilish, die gerade zu den beliebtesten Popstars<br />
der Welt zählt, wuchs in Los Angeles als Tochter zweier<br />
Schauspieler auf. Ihr großer Bruder ist selbst Musiker<br />
und half ihr schon vor ihrem Durchbruch dabei, Songs<br />
zu schreiben und zu vertonen. In einem kreativen Umfeld<br />
aufzuwachsen, inspirierte Billie zu einem neuartigen,<br />
düsteren Sound, der sich vom aktuellen Mainstream-Pop<br />
absetzt. (Er macht die 17-Jährige gerade zu einer der<br />
weltweit kommerziell erfolgreichsten Singer-Songwriterinnen).<br />
Vielleicht wurde auch in auch Walter Gropius‘<br />
Elternhaus der Grundstein für seine visionären Ideen gelegt:<br />
Er stammte aus einer großbürgerlichen Familie mit<br />
Hang zum Design: Sein Vater Walther war Architekt bei<br />
der Berliner Baupolizei, sein Großonkel Martin ein früherer<br />
Schüler des Städteplaners Karl Friedrich Schinkels,<br />
welcher wiederum ehemaliger Mitbewohner von Walters<br />
Großvater Carl war. Während Billies Sprungbrett der Online-Musikdienst<br />
Soundcloud war (dort veröffentlichte sie<br />
den Song „Ocean Eyes“, der es auf den Soundtrack der<br />
Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“ schaffte), waren<br />
es bei Walter eher familiäre Kontakte. Nachdem er die<br />
Universität ohne Abschluss verlassen hatte, verschaffte<br />
ihm sein Großonkel eine Anstellung im renommierten<br />
Architektenbüro Behrens, wo er zukünftige Partner wie Le<br />
Corbusier oder Mies Van der Rohe kennenlernte.<br />
AUF FREMDE HILFE VERTRAUEN<br />
Hört man „Jailhouse Rock”, denkt man an den jungen Elvis<br />
Presley, wie er mit verschmitztem Lächeln und im gestreiften<br />
Oberteil vor einer Gefängnis-Kulisse seine Hüften<br />
schwingt. Selten verbindet man einen Song so sehr mit<br />
seinem Interpreten. Dabei hat Presley das Stück nicht einmal<br />
selbst geschrieben. Tatsächlich schrieb Elvis Presley<br />
keines seiner Lieder selbst. Nein, „Suspicious Minds“ ist<br />
nicht von ihm, „Hound Dog“ auch nicht und auch „Heartbreak<br />
Hotel“ hat einen anderen Verfasser. Aber nicht nur<br />
der King of Rock’n’Roll hatte fremde Hilfe. Auch Walter<br />
Gropius, der King of Reduktion, hatte einen Ghostwriter,<br />
wenn man so will. Der Architekt zeichnete keinen seiner<br />
Entwürfe selbst: Das Fagus-Werk, UNESCO-Weltkulturerbe<br />
und das Projekt, das ihn zum Begründer der Modernen<br />
Architektur machte, stammte beispielsweise von<br />
seinem Partner Adolph Meyer. Das Bauhaus in Dessau<br />
vom Architekten Carl Fieger. Gropius war vielleicht der Visionär,<br />
umgesetzt – zeichnerisch und architektonisch – haben<br />
seine Visionen aber andere. Es heißt, Gropius konnte<br />
zwar nicht mit dem Stift in der Hand umgehen, war dafür<br />
aber in der Lage, seine Ideen so genau in Worte zu fassen,<br />
dass man als Zuhörender das Ergebnis schon vor<br />
sich sehen konnte. Auch noch zeichnen zu können, wäre<br />
da ja eh überflüssig.<br />
BEDINGUNGSLOS LIEBEN<br />
John liebte Yoko, Sonny liebte Cher, Justin liebte Britney<br />
(zumindest für eine kurze Zeit) und Walter liebte Alma.<br />
„Ich habe alles ausprobiert, und nichts ist besser, als von<br />
jemanden, den man liebt, gehalten zu werden“, sagte<br />
John Lennon mal über die Liebe seines Lebens, die japanisch-amerikanische<br />
Avantgarde-Künstlerin Yoko Ono.<br />
Mit ihr zierte er nackt das Albumcover zu „Two Virgins“,<br />
mit ihr kämpfte er Ende der Sechziger in <strong>Form</strong> der berühmten<br />
Bed-Ins in Amsterdam und Montreal, für Weltfrieden.<br />
Auch Walter Gropius hatte eine Muse. Alma Mahler,<br />
die ehemalige Ehefrau des Komponisten Gustav Mahler,<br />
wurde als verführerisch beschrieben, als unberechenbar<br />
und unzähmbar. In diese Femme fatale verliebte sich der<br />
27-jährige Walter, nachdem er sie 1910 während eines<br />
Kuraufenthalts in Südtirol kennen gelernt hatte. Zu der Zeit<br />
war die vier Jahre ältere Frau zwar noch mit Mahler verheiratet,<br />
die beiden gingen aber dennoch eine Affäre ein,<br />
fünf Jahre später heirateten sie. Yoko Ono inspirierte John<br />
Lennon zu dem Song „Woman“, und auch Alma weckte<br />
den Poeten in Gropius – nicht im positiven Sinne allerdings.<br />
In seinem Trennungsbrief nach sechseinhalb Jahren<br />
Ehe schrieb er höchst theatralisch: „Die Frau fehlte in ihr.<br />
Eine kurze Zeit warst du mir eine herrliche Geliebte und<br />
dann gingst Du fort, ohne die Krankheit meiner Kriegsverdorrung<br />
mit Liebe und Milde und Vertrauen überdauern<br />
zu können – das aber wäre eine Ehe gewesen.“ Nicht<br />
jede Liebe, und nicht jede Muse, ist für die Ewigkeit.<br />
KUNST UND KÖNNEN VERBINDEN<br />
Walter Gropius vertrat in seinen Designs den Standpunkt,<br />
dass jedes Bauwerk eine Symbiose aus Kunst und Handwerk<br />
sein sollte. Es war sein Traum, diese neue Art des<br />
Konstruierens und der Baukunst einzuführen. Unter diesem<br />
Leitsatz entstand beispielsweise das 1926 eröffnete<br />
Hochschulgebäude des Bauhauses in Dessau. Nachdem<br />
man vom Jugendstil prunkvolle Bauten mit dekorativen<br />
Elementen gewohnt war, empfanden viele das karge Gebäude<br />
mit Stahl- und Glasfassade als zu modern und es<br />
stieß daher auf wenig positive Resonanz. Ähnlich ging es<br />
Queen etwa 50 Jahre später: Mit „Bohemian Rhapsody“<br />
schrieb Freddie Mercury ein fast sechsminütiges Werk,<br />
das von Plattenbossen als zu kompliziert für den kommerziellen<br />
Musikmarkt abgetan wurde. Mercury vereinte in<br />
dem Song das musikalische Handwerk verschiedenster<br />
Gattungen – der Falsettgesang einer barocken Oper traf<br />
auf Gitarrenriffs aus dem Hardrock – und erschuf so ein<br />
neues Kunstwerk. Im Mainstream mag zu viel Handwerk,<br />
und vor allem zu viel künstlerischer Anspruch, nicht immer<br />
gefragt sein. Sowohl Walter Gropius als auch Freddie<br />
Mercury bewiesen aber, dass Regeln und Experimente zusammengehören<br />
– und dass beide eine perfekte Synthese<br />
bilden können.<br />
„Er selbst dagegen verabscheute jeden Starkult.“ JOURNALISTIN AYA BACH ÜBER WALTER GROPIUS<br />
KONSEQUENT SEIN<br />
„Die <strong>Form</strong> folgt der Funktion.“ Diesen Grundsatz<br />
haben Walter Gropius und das Bauhaus<br />
zum ersten Mal konsequent durchgezogen. Auf<br />
Schnörkel, Kitsch oder Verzierungen wurde dabei<br />
komplett verzichtet, außer diese hatten einen<br />
bestimmten Nutzen. Jeglicher Glamour ging<br />
auch in den Neunzigern verloren, als eine neue<br />
Musikgattung aufkam: Der Grunge, der von Seattle<br />
aus weltweit einen Hype auslöste, stellte<br />
den krassen Gegensatz zum Glamrock der Achtzigerjahre<br />
dar. Aus aufwendig toupierten Mähnen<br />
wurden fettige Haarsträhnen, glänzende<br />
Plateaustiefel wichen ausgelatschten Tennisschuhen,<br />
Pailettenbodys wurden durch verwaschene<br />
Holzfällerhemden ersetzt. Die Verkörperung<br />
und der berühmteste Protagonist der Bewegung<br />
war Kurt Cobain. Mit seiner Band Nirvana,<br />
die neben Pearl Jam, Soundgarden oder Alice<br />
in Chains zu den Hauptvertretern des Genres<br />
zählt, produzierte er Hits wie „All Apologies“<br />
oder „About A Girl“ und war bis zu seinem Tod<br />
1994 der Anti-Held einer Generation, die sich<br />
scheinbar um nichts scherte, und modisch so wenig<br />
Aufwand betreiben wollte, wie nur möglich.<br />
Die <strong>Form</strong> des Grunge, der Schmuddel-Look, hatte<br />
aber eine Funktion: auf die Null-Bock-Attitüde<br />
der Jugend aufmerksam zu machen – absichtlich<br />
oder nicht.<br />
POLARISIEREN UND PROVOZIEREN<br />
Provokation hat viele Facetten: Manchmal tritt<br />
sie als Mann in femininen Kostümen auf, manchmal<br />
in knappen Schulmädchen-Outfits. Sicherlich<br />
haben David Bowie und Britney Spears<br />
unterschiedliche Absichten verfolgt. Während<br />
manche Musiker nur der Provokation wegen provozieren,<br />
setzen sich andere damit für Gleichberechtigung<br />
und Toleranz ein. Als David Bowie<br />
beispielsweise sein Album „Space Oddity“ mit<br />
Langhaarfrisur und im Frauenkleid promotete,<br />
antwortete er auf einen beleidigenden Kommentar<br />
nur trocken: „Ich sehe wunderschön aus.“<br />
Maßgeblich provoziert hat auch Walter Gropius<br />
mit den Grundideen für seine staatliche Hochschule:<br />
Eine Universität für alle. Dieser liberale<br />
Ansatz kam im konservativen Deutschland nicht<br />
an. Die Bauwerke? Zu modern. Die Studierenden?<br />
Zu international. Die Haare der Frauen?<br />
Zu kurz. Überhaupt: Frauen, die studieren? Das<br />
Bauhaus stellte sich aber nicht nur gegen veraltete<br />
Normen, es stellte sich vor allem gegen alte<br />
Stilrichtungen, verweigerte den Kapitalismus,<br />
zeigte sich linksliberal. Es provozierte ganz offensichtlich<br />
und verfolgte damit den Zweck, die<br />
Gesellschaft zu einer offeneren zu erziehen, bis<br />
es von den Nationalsozialisten zur Selbstauflösung<br />
gezwungen wurde. Obwohl das Bauhaus<br />
damals vielleicht ein Mikrokosmos der Offenheit<br />
war, sind die Auswirkungen noch heute, von Bedeutung.<br />
Heute, wo sich Männer und Frauen in<br />
jeder Kleidung zeigen können sollten – ohne beleidigt<br />
zu werden.<br />
Hier kommen Sie zur<br />
Bauhaus-Playlist mit den<br />
Songs von Walter Gropius‘<br />
Superstar-Kollegen.
Mut<br />
85<br />
Kunst hat keine<br />
Nationalität<br />
Kreativität ist ein universelles<br />
Gut, doch in vielen Ländern<br />
gefährdet. Über die Wichtigkeit,<br />
von Krieg und Verfolgung<br />
bedrohten Künstlern sichere<br />
Räume für ihr Schaffen zu<br />
bieten VON NICOLE PANOWSKY<br />
Der Straßenkünstler Aeham<br />
Ahmad musiziert für Hoffnung.<br />
Heute begeistert er Menschen<br />
aus aller Welt mit seiner Musik<br />
AEHAM AHMAD/NIRAZ SAIED
Mut<br />
86<br />
„Jedes Kunstwerk entsteht technisch so, wie der Kosmos entstand -<br />
durch Katastrophen, die eine Symphonie bilden, die Sphärenmusik<br />
heißt. Werkschöpfung ist Weltschöpfung. WASSILY KANDINSKY<br />
Zu Zeiten des Nationalsozialismus wurden Bilder,<br />
Literaturwerke und Musikkompositionen<br />
vernichtet, die die Ideale der germanischen<br />
Rasse anzugreifen drohten. Künstler wie Emil<br />
Nolde, Ernst Ludwig Kirchner oder Otto Dix<br />
wurden aufgrund ihrer „entarteten Kunst“ an den Pranger<br />
gestellt. Zum Glück hat sich bis heute viel verändert: In<br />
Deutschland ist Kunst ein verfassungsrechtlich garantiertes<br />
Grundrecht. Der Staat darf also keine Eingrenzung<br />
von Methoden, Inhalten oder künstlerischen Tendenzen<br />
vornehmen. Das bedeutet, dass durch den offenen Kunstbegriff<br />
auch gesellschaftlich nicht anerkannte Kunstformen<br />
diesen Schutz des Grundrechts genießen. So kann Neues<br />
entstehen und es wird Raum für Umstürze und revolutionäre<br />
Denkansätze geboten. Doch diese Ausgangssituation<br />
ist nicht in allen Ländern gegeben. Künstler werden aus<br />
politischen oder rassistischen Gründen verfolgt und aus<br />
der Kulturszene ausgeschlossen - ihnen wird jegliche Freiheit<br />
genommen.<br />
„Was ich in meinem Leben nicht akzeptiere, sind Redeverbote!“<br />
So zitiert ihn die Berliner Zeitung 2017, wenige<br />
Monate vor seinem Tod. Der Kulturwissenschaftler und<br />
Kulturmanager Martin Roth hatte sich zu seinen Lebzeiten<br />
stets für verfolgte Künstler unterschiedlichster Herkunft eingesetzt.<br />
Martin Roth war ein bekannter Mann der Kunst:<br />
er war Direktor des Deutschen Hygiene Museums in Dresden,<br />
bevor er das Victoria and Albert Museum in London<br />
leitete. Zwischen 1995 und 2003 war er außerdem Präsident<br />
des Deutschen Museumsbundes. Der Vater von drei<br />
Kindern erlag 2017 im Alter von 62 Jahren einer schweren<br />
Krankheit. Nach ihm wurde die Martin Roth Initiative<br />
benannt, die zum Schutz Kunst- und Kulturschaffender im<br />
Ausland vom Goethe-Institut und Ifa (Institut für Auslandsbeziehungen)<br />
ins Leben gerufen wurde. Wenn Künstler<br />
von Zensur und Verfolgung bedroht sind, soll ihnen durch<br />
temporäre Schutzaufenthalte in Deutschland oder anderen<br />
Staaten Sicherheit geboten werden. Krisen nehmen<br />
weltweit zu und viele Menschen steigt die Gefahr für viele<br />
an -- unter ihnen eben auch viele Akteure aus Kultur und<br />
Kunst.<br />
„Was ich in meinem<br />
Leben nicht akzeptiere,<br />
sind Redeverbote!“<br />
So ähnlich war es auch für Aeham Ahmad. Er wurde in<br />
der Nähe von Damaskus geboren und schon früh zeigte<br />
sich sein außerordentliches Talent. Als es in seiner Heimat<br />
zum Krieg kam, verlor Aeham nicht den Mut. Mit seinem<br />
Klavier auf einem Rollwagen spielte der heute 31- Jährige<br />
in den Trümmern der zerstörten Stadt. Er wollte den Menschen<br />
und auch sich selbst Hoffnung geben. Irgendwann<br />
blieb ihm nur noch eine letzte Option: die Flucht. 2015<br />
kam er nach Deutschland, wohin ein Jahr später auch seine<br />
Familie nachkommen konnte. Mittlerweile gibt er Kon-<br />
zerte in ganz Deutschland, aber auch international, beispielsweise<br />
in England oder Italien. Seinen Lebenstraum,<br />
eine Karriere als Konzertpianist, wird er sich jedoch nie<br />
erfüllen können. Durch einen Granatsplitter hat er zwei<br />
Finger verloren. Trotzdem ist er seinen Weg gegangen -<br />
heute kennen ihn Menschen auf der ganzen Welt und er<br />
hat mit seiner Geschichte viele Leute bewegt.<br />
Deutschland ist Aufenthaltsort einiger kreativer Geflohener.<br />
Es ist keine leichte Aufgabe, sich in einem fremden<br />
Land neu zu orientieren und auch beruflich wieder Fuß<br />
zu fassen - gerade in der Kunstbranche. Ein Projekt an<br />
der Universität der Künste in Berlin, welches vor zwei<br />
Jahren noch „Refugee Class“ genannt wurde, trägt heute<br />
den Namen „Artist Training for Professionals“ und bietet<br />
Künstlern im Exil eine Möglichkeit zur Qualifizierung,<br />
Orientierung und Vernetzung. In den Modulen Musik, Bildende<br />
Kunst, Darstellende Kunst oder Film werden den<br />
Kreativen erste Kontaktmöglichkeiten hergestellt. Später<br />
erfolgt eine individuelle Beratung aufgrund der persönlichen<br />
Situation und einer möglichen Positionierung am<br />
Berliner Arbeitsmarkt. Vernetzung wird hier eine besondere<br />
Bedeutung zugeschrieben, denn die enge Zusammenarbeit<br />
mit Partnern aus der Branche ist für jeden Betroffenen<br />
unverzichtbar.<br />
Die Menschen, die in den Kursen aufeinander treffen,<br />
haben alle viel erlebt. Alle haben unterschiedliche Geschichten,<br />
aber meistens ähnliche Bedürfnisse und Wünsche.<br />
Einer davon ist Saman Aboutalebi. Er ist aus dem<br />
Iran geflüchtet und hat seine Familie zurückgelassen. Seit<br />
18 Monaten lebt er nun in Deutschland und wird hier<br />
auch bleiben, denn zurück in sein Heimatland möchte er<br />
nicht. Im Iran hat er als Musikkomponist, 2D-Animateur<br />
und Regisseur gearbeitet, heute versucht er, seine Möglichkeiten<br />
in Deutschland auszuschöpfen. Seine Musik<br />
hat sowohl einen persönlichen als auch einen politischen<br />
Bezug, erzählt er. In Deutschland möchte er in Zukunft<br />
Filme machen, ein eigenes Album veröffentlichen und<br />
sich künstlerisch weiterentwickeln. Sein Bestreben im „Artist<br />
Training for Professionals“-Programm ist es, sich „mit<br />
anderen Künstlern und Menschen zu verbinden.“ Das Gefühl<br />
der Zugehörigkeit ist nicht nur für kreative Prozesse<br />
wichtig, sondern auf für die persönliche Verarbeitung<br />
seiner Geschichte. Saman stehen noch einige Aufgaben<br />
und Herausforderungen bevor, ein wichtiges Ziel hat er<br />
allerdings schon erreicht - denn auf die Frage, ob er im<br />
Moment glücklich ist, antwortet er: „Ja, irgendwie schon!“<br />
ARTIST TRAINING, AUSSTELLUNG FINE ARTS, RUNDGANG UDK BERLIN 2017 KENAN MELHEM<br />
Bei der Ausstellung Fine Arts<br />
der Universität der Künste Berlin<br />
werden Werke der Kursbesucher<br />
des „Artist Training for<br />
Professionals“ gezeigt
Impressum<br />
LEHRREDAKTION MM18<br />
HERAUSGEBERIN<br />
Sabine Resch (V.i.S.d.P.)<br />
CHEFREDAKTION<br />
Sonja Meinke<br />
MANAGING EDITOR<br />
Carmen Jenny<br />
CHEFIN VOM DIENST<br />
Juliana Gutzmann<br />
ART DIRECTION<br />
Angela Gundolf<br />
Charlotte Habersetzer<br />
TEXT PRINT<br />
Vivian Harris<br />
Lisa Jakobs<br />
ONLINE CHEFREDAKTION<br />
Carmen Jenny<br />
CONTRIBUTORS<br />
FOTOS<br />
Kaj Lehner, Paul Meyer, Stefani Mijatovic,<br />
Quirin Siegert<br />
MODELS<br />
Emmanuel Edigin, Charlotte Kponton,<br />
Vincent Kponton, Aïssatou Estelle Niang,<br />
Caro Schäffler, Elli Schwenk,<br />
Hannah-Sophie Weber<br />
ILLUSTRATIONEN<br />
Nastasja Schefter, Patrick Simon,<br />
Philip Karlberg, Isabella Heinz<br />
EXTERNE SCHLUSSREDAKTION<br />
Angela Kreimeier<br />
SPONSOREN<br />
STELLV. ONLINE CHEFREDAKTION<br />
Raffaela Herrmann<br />
TEXT ONLINE<br />
Maximilian Grassl<br />
Marie-Louise Wenzl-Sylvester<br />
DANK<br />
WIR BEDANKEN UNS BEI…<br />
…Isabella Heinz, Studierende im 6. Semester Modedesign<br />
(B.A.), für die digitale Produktion des Schnittbogens von Ayzit<br />
Bostans Bauhaus-Kleid<br />
MODE<br />
Aline Ganguin<br />
Eva Kapeller<br />
Rossella Lofino<br />
BEAUTY<br />
Raffaela Herrmann<br />
Sonja Meinke<br />
FACT-CHECKING<br />
Maximilian Grassl<br />
Lisa Jakobs<br />
Nicole Panowsky<br />
SOCIAL MEDIA<br />
Raffaela Herrmann<br />
Sonja Wunderlich<br />
Charlotte Habersetzer<br />
…Anna Fröse und Lukas Bürgelt, Studierende im 3. Semester<br />
Marken- und Kommunikationsdesign (B.A.) der AMD Düsseldorf,<br />
für ihre Augmented Reality Plakate zum Thema Bauhaus<br />
…den Model- und PR Agenturen Munich Models, Louisa<br />
Models, Place Models Hamburg, We love PR, Häberlein &<br />
Maurer und Wilk PR für ihr Vertrauen und ihre Unterstützung<br />
…dem Kieswerk Obermayr GmbH & Co. KG und der MVG<br />
für die Möglichkeit, am Baggersee in Feldkirchen und in der<br />
U-Bahnstation München Westfriedhof zu fotografieren<br />
…dem Bauhaus-Archiv Berlin und der<br />
VG Bild-Kunst Bonn für die Bilder<br />
WIR DANKEN AUCH UNSEREN ANONYMEN<br />
UNTERSTÜTZERN VON LEETCHI.<br />
Bayerischer Journalisten-Verband<br />
MEDIENMARKETING<br />
Antonia Betz<br />
Sonja Wunderlich<br />
DOZIERENDE<br />
KONZEPTION/TEXT:<br />
Carolin Schuhler<br />
KONZEPTION/ART DIRECTION:<br />
Lutz Widmaier<br />
EDITORIALS<br />
Carola Niemann<br />
ONLINE JOURNALISMUS/<br />
DIGITAL PUBLISHING:<br />
Angelika Knop<br />
REDAKTIONSMANAGEMENT:<br />
Sabine Resch<br />
MEDIENMARKETING:<br />
Susanne Steiger<br />
VERLAG<br />
ANSCHRIFT VERLAG<br />
UND LEHRREDAKTION:<br />
AMD Akademie Mode & Design<br />
Infanteriestraße 11A, Haus E2<br />
80797 München<br />
ANSPRECHPARTNERIN:<br />
Sabine Resch (V.i.S.d.P.)<br />
Studienleitung Modejournalismus/<br />
Medienkommunikation<br />
Seit Wintersemester 2018/19<br />
Fashionjournalism and Communication (B.A.)<br />
DRUCK:<br />
Druckerei Vogl GmbH & Co. KG<br />
Georg-Wimmer-Ring 9<br />
85604 Zorneding<br />
MO:DE 11 – <strong>Form</strong> <strong>Follows</strong> <strong>Future</strong> ist eine crossmediale Magazinentwicklung<br />
der Lehrredaktion des Jahrgangs MM18 im<br />
Sommersemester 2019 von Modejournalismus / Medienkommunikation<br />
der AMD Akademie für Mode & Design<br />
München.<br />
ONLINE:<br />
Videos, Tests und mehr über MO:DE 11 gibt es online unter<br />
formfollowsfuture.de<br />
und auf Instagram @formfollowsfuture<br />
MIT WISSEN ÜBERZEUGEN,<br />
MIT PERSÖNLICHKEIT<br />
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auf höchstem Niveau und begleiten Sie in Ihrer<br />
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ENTWORFEN VON<br />
AYZIT BOSTAN.<br />
SCHNITTBOGEN<br />
IM HEFT