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Form Follows Future

Die Bauhausnummer

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Mode : 11 / Ein Magazin der Modejournalisten der AMD Akademie Mode & Design München<br />

/100<br />

FORM<br />

FOLLOWS<br />

FUTURE<br />

Die Bauhausnummer


Editorial<br />

FASHION JOURNALISM<br />

AND COMMUNICATION<br />

(B.A.)<br />

„DIE GANZE WELT<br />

EIN BAUHAUS“<br />

www.amdnet.de<br />

Damit bringt es Fritz Kuhr auf den Punkt. Was der ehemalige Bauhaus-Schüler und spätere Lehrer<br />

bereits im Jahr 1928 wusste, mussten wir erst herausfinden. Wir, das sind die Studierenden der<br />

Abschluss- Lehrredaktion Modejournalismus/Medienkommunikation der AMD München vom Kurs<br />

MM18.<br />

Das Bauhaus war 14 Jahre lang eine Hochschule für Kunst, Design und Architektur. Es prägt bis heute<br />

einen reduzierten Baustil und eine komplett neue Denkweise. Sogar einen gleichnamigen Baumarkt<br />

gibt es – mit dem unser Magazin aber nichts zu tun hat.<br />

In diesem Jahr feiern wir auf jeweils 100 Seiten mit einer Auflage von 100 Exemplaren 100 Jahre<br />

Bauhaus und fragen: Wie relevant ist die Stilrichtung in der Gegenwart und was bedeutet das für<br />

unsere Zukunft? Mut, Freiheit, Anfang und Revolution waren die entscheidenden Begriffe, die uns<br />

zum Bauhaus einfielen. Diese Schlagworte gliedern unser Magazin. Jede Geschichte wurde inspiriert<br />

von einer künstlerischen oder programmatischen Aussage über die Bauhaus-Philosophie. So finden<br />

Walter Gropius, Johannes Itten, Alfred und Gertrud Arndt sowie Alma Buscher ihren Platz in der Bauhausnummer.<br />

Die Bauhaus-Schüler arbeiteten in ihren Werkstätten nach dem Leitsatz von Louis Sullivan „<strong>Form</strong><br />

<strong>Follows</strong> Function“. Wir sagen im Jahr 2019: „<strong>Form</strong> <strong>Follows</strong> <strong>Future</strong>“. Im Jubiläumsjahr der Kunstschule<br />

bringen wir die elfte Ausgabe der MO:DE-Reihe heraus. Obwohl das Jahr nun bald zu Ende geht,<br />

können wir dem Bauhaus auch in Zukunft nicht entkommen. Das wollen wir auch gar nicht. Sie werden<br />

schon sehen – die ganze Welt ist Bauhaus!<br />

DIE ABSCHLUSS-LEHRREDAKTION DES 18. JAHRGANGS<br />

DER AMD AKADEMIE MODE & DESIGN MÜNCHEN<br />

Foto: Sammy Hart, Styling: Michaela Konz, Lydia Raaf-Dahaldian<br />

AK ADEMIE MODE & DESIGN<br />

AKADEMIE MODE DESIGN<br />

Mode · Medien · Management · Design<br />

Mode · Medien · Management · Design<br />

Fachbereich Design<br />

Ein Fachbereich Fachbereich Design der Hochschule Fresenius<br />

University Ein Fachbereich of Applied der Hochschule Sciences Fresenius<br />

University of Applied Sciences<br />

DER MO:DE 11 PODCAST<br />

Bitte gleich zu Beginn das Smartphone ans Ladekabel<br />

hängen, damit es später einsatzbereit ist. Denn <strong>Form</strong><br />

<strong>Follows</strong> <strong>Future</strong> – die Bauhausnummer ist mehr als ein<br />

Druckerzeugnis. Wer die QR-Codes im Magazin mit der<br />

Handykamera scannt, wird auf die Webseite geleitet und<br />

findet zusätzliche Inhalte wie Reportagevideos, Quizze<br />

und Behind-the-Scenes-Eindrücke von den Modeproduktionen.<br />

Auch der Besuch des Spotify-Kanals lohnt sich: Der<br />

FFF-Podcast versorgt die Hörer mit Hintergrundinformationen<br />

zu den Machern des Heftes. In jeder Folge stellt Moderatorin<br />

Marie-Louise Wenzl-Sylvester dieselben sechs<br />

Fragen an einen Contributor – und die Antworten könnten<br />

nicht unterschiedlicher sein. So verrät der Art Director<br />

Lutz Widmaier, wie ihn ein strenger Dozent in die richtige<br />

Richtung geschubst hat, und die Designerin und CEO des<br />

Responsive Fashion Institute Juliane Kahl spricht über die<br />

Gleichberechtigung in ihrer Branche. Um dieses Magazin<br />

in all seinen Facetten erleben zu können, ist es durchaus<br />

erwünscht, das Smartphone in der Hand zu haben.<br />

MO:DE 11 PINCODES<br />

Exklusive Inspirationen, zusätzliche Bilder und noch viel<br />

mehr Ideen: Auf Seite XX, XX und XX finden Sie Pincodes,<br />

die direkt auf das Pinterest Profil von <strong>Form</strong> <strong>Follows</strong> <strong>Future</strong><br />

führen. Zu erkennen sind sie an den Kreis-Symbolen aus<br />

schwarzen Punkten.<br />

So funktionieren die Pincodes:<br />

1. Die Pinterest-App auf Ihrem Smartphone downloaden.<br />

2. Auf das Kamera-Symbol in der Suchleiste tippen.<br />

3. Pincode scannen.<br />

MODE11_Anzeige.indd 1 10.07.19 09:04


INHALT<br />

52 GARTEN FREIDORF<br />

Die Wohngenossenschaft: Ein Paradies auf Erden?<br />

58 MASKENBALL<br />

So nah liegen Selfies und Bauhaus-Fotografie zusammen<br />

62 HIN UND WEG<br />

Sieben Reiseziele und der Umgang mit Overtourism<br />

ANFANG<br />

64 GLANZLEISTUNG<br />

Das neue Handwerk in der Mode<br />

REVOLUTION<br />

66 WIE VON HAND<br />

Gewebte Stoffe, zeitgenössisch interpretiert<br />

78 SIEBEN TAGE, SIEBEN FARBEN<br />

Wie Foodtrends unser Leben beeinflussen<br />

84 KUNST HAT KEINE NATIONALITÄT<br />

Verfolgte Musiker und Maler schöpfen neue Hoffnung<br />

88 PUNKT, PUNKT, KOMMA, STRICH<br />

So abstrakt kann Make-up sein<br />

94 PILLE PALLE<br />

Warum Verhütung beide Geschlechter angeht<br />

98 GROPIUS SUPERSTAR<br />

Walter im Vergleich mit Bowie, Britney und Co.<br />

06 ÜBER DEN WOLKEN<br />

Sieht so die Stadt der Zukunft aus?<br />

10 GEMEINSAM INTELLIGENT<br />

Warum wir uns vor Künstlicher Intelligenz nicht fürchten sollten<br />

12 VISUAL REALITY<br />

Wenn Technologie auf Mode trifft<br />

FREIHEIT<br />

24 SCHÖN IST, WAS FUNKTIONIERT<br />

Der Utility-Trend erobert die Laufstege<br />

26 „DIE KUNST IST, MIT WENIG WEITER ZU KOMMEN“<br />

Ein Gespräch mit Designerin Ayzit Bostan über Mode, Stil und das Bauhaus<br />

32 BAUHAUS / HAUSPARTY<br />

Fünf junge Menschen schildern ihren perfekten Abend<br />

36 TÜRKISCH FÜR ANFÄNGER<br />

Von der neuen Jugendsprache<br />

38 802C<br />

Neon: Die Bauhaus-Farben weitergedacht<br />

44 WIR SCHAFFEN DAS<br />

Wie unterstützt die Gesellschaft den Kinderwunsch berufstätiger Frauen?<br />

48 WELTERWEITERUNG<br />

Mit dem Smartphone in einen anderen Kosmos<br />

BILDER: BLINDER CREDIT LOREM IPSUM<br />

MUT<br />

COVERFOTO:<br />

KAJ LEHNER<br />

STYLING:<br />

ALINE GANGUIN<br />

EVA KAPELLER<br />

ROSSELLA LOFINO<br />

MODELS:<br />

CARO SCHÄFFLER<br />

HANNAH-SOPHIE WEBER<br />

HAARE & MAKE-UP:<br />

ALEXANDRA SALATINO


RE<br />

VOLU<br />

––– Stetige Ver änderung,<br />

vor allem<br />

im technischen<br />

Bereich, fordert<br />

uns heraus. Die<br />

Studierenden am<br />

Bauhaus waren<br />

Visionäre und<br />

wollten die Welt<br />

einfacher machen.<br />

Hundert Jahre<br />

später schauen<br />

wir, ganz in ihrem<br />

Stil, in die Zukunft.<br />

TION<br />

FOTO: CHARLOTTE HABERSETZER


Revolution<br />

26<br />

„Die Kunst ist, mit wenig<br />

weiterzukommen.“<br />

Designerin und Künstlerin Ayzit Bostan ist für ihre<br />

reduzierte Mode bekannt. Konsequenterweise<br />

hat sie jetzt ein Bauhaus-Kleid entworfen. Ein Gespräch<br />

über Styling, Stoff und Stilgefühl VON JULIANA GUTZMANN<br />

Hundert Jahre Bauhaus – ein tolles Jubiläum. Hat die<br />

revolutionäre Bildungsstätte Sie schon länger inspiriert<br />

oder haben Sie erst durch Ihre Designkooperationen<br />

2018/19 einen Bezug dazu gefunden?<br />

Ayzit Bostan: Bauhaus interessiert mich beruflich<br />

schon lange. Ich lehre an der Kunsthochschule Kassel<br />

Produktdesign. Dort hatten wir bereits im letzten Sommersemester<br />

das Thema „Why not Bauhaus!?“. Mir ging es<br />

aber nicht um eine Retrospektive, sondern auch darum<br />

das Bauhaus ein bisschen zu entthronen – den Hype zu<br />

durchbrechen. In der heutigen Zeit kann man das ruhig<br />

realistischer sehen und die Strenge ein wenig auflösen.<br />

ges T-Shirt, das die Trägerin nicht anstrengt, aber trotzdem<br />

cool und angezogen aussieht. Dann hat es Taschen – praktisch!<br />

Beim inneren Gürtel fand ich toll, dass man nur eine<br />

Stelle betont und hinten locker lassen kann. Vorne ist man<br />

fitted, hinten weit. Diese Silhouette verwende ich gern.<br />

Wie würden Sie das Kleid stylen?<br />

Es kommt auf den verwendeten Stoff an. Das Bauhaus-Kleid<br />

gibt es in vielen Variationen, die man festlich,<br />

sinnlich oder auch ein bisschen rougher kombinieren<br />

kann. Es ist eine moderne Interpretation – keine Retrospektive.<br />

Ayzit Bostan, 51, in New York. 2015 hat sie sich von der Weltstadt inspirieren lassen, in der Bauhaus-Studentin Anni Albers im Jahr 1949 als erste Textilkünstlerin überhaupt<br />

eine Ausstellung im MOMA bekam. Ayzit Bostan ist zurzeit Teil einer Exposition zum Thema Bauhaus: ihre Neuinterpretation des Lattenstuhls von Marcel Breuer ist in „Reflex Bauhaus.<br />

40 Objects – 5 Conversations “ zu sehen. Besucht werden kann die Ausstellung noch bis Februar 2020 in der Münchner Pinakothek der Moderne.<br />

FOTO: FABIAN FRINZEL<br />

Wie zum Beispiel?<br />

Bei der Designkooperation mit Philipp Bree habe ich<br />

einen Brustbeutel entworfen, dessen Gurt-Enden freie <strong>Form</strong>en<br />

sind und eben kein Quadrat oder Kreis. Ich fand<br />

diese Interpretation irgendwie netter und auch lustiger.<br />

Der Bauhaus-Wiedererkennungseffekt entstand trotzdem<br />

durch unsere Farbgebung in der Taschenkollektion. Danach<br />

war ich im Flow. Wenn man sich intensiv mit etwas<br />

beschäftigt, strahlt das auch in andere Bereiche aus.<br />

Ich bin froh, dass ich die Bauhaus Idee früh aufgegriffen<br />

habe. 2019 gibt es schon einen leichten Overload: Alles<br />

wird Bauhaus. Das Kleid, für MO:DE 11 ist daher mein<br />

letztes Projekt in dieser Richtung.<br />

Das Kleid ist sehr clean gehalten. Welche Elemente genau<br />

sind für Sie daran Bauhaus?<br />

Vor allem die Farbe und der Stoff! Ich wollte ein pures<br />

Kleid machen, das aber durch die Ausschnittgröße auch<br />

eine gewisse Sexiness bekommt. Meiner Meinung nach<br />

war das Bauhaus nämlich auch minimal prüde. Es ist unfair:<br />

wenig Frauen sind sichtbar geblieben oder geworden,<br />

weil die Hochschule männerdominiert war – obwohl<br />

sie ja offiziell sehr progressiv und modern sein wollten.<br />

Die Studentinnen haben mehr Produkte verkauft, da ihre<br />

Entwürfe viel angewandter waren. Trotzdem sind sie als<br />

Designerinnen nie so gefeiert worden wie die männlichen<br />

Studenten/Absolventen.<br />

Das Bauhaus-Kleid ist knöchellang und sehr luftig geschnitten.<br />

Hatten Sie beim Entwurf auch angewandtes<br />

Design im Sinn?<br />

Definitiv. Ich finde ein pures Kleid so wunderbar unkompliziert.<br />

Gerade im Sommer. Man ist angezogen, es<br />

engt einen nicht ein. Man muss nicht tausend Stunden<br />

überlegen, was man anzieht. Eine Basis, die zu allem<br />

passt: flache Schuhe, hohe Schuhe, eine Tasche oder nur<br />

ein Beutel… so etwas mag ich. Im Prinzip ist es wie ein lan-<br />

Wie kann man das Schnittmuster zuhause<br />

anwenden?<br />

Ganz individuell. Verschiedene Farben, verschiedene<br />

Stoffe oder Muster – auch die Ärmellängen können variiert<br />

werden. Wir arbeiten gerade an einer Version in<br />

Schwarz mit durchsichtigen Ärmeln. Das ist das Tolle am<br />

Basic-Schnitt: Man kann sich immer wieder neu inspirieren<br />

lassen.<br />

Wenn Sie in der damaligen Zeit gelebt hätten, wären<br />

Sie auch ans Bauhaus gegangen?<br />

Das hätte mich total interessiert. Man wusste ja, dass<br />

aufgeschlossene, modern eingestellte oder die Moderne<br />

suchende Leute ans Bauhaus gingen. In so einem Kontext<br />

zusammen zu wachsen, sich zusammen auszuprobieren<br />

und durch andere inspiriert zu werden – das ist eine große<br />

Chance. Es waren ja nicht nur lokale, sondern auch<br />

internationale Studenten und Dozenten dort. In einer Welt<br />

ohne Internet – keine alltäglichen Austauschpartner. Im<br />

Prinzip war es natürlich auch ein bisschen Name-Dropping,<br />

aber trotzdem: alles was neu ist und sich neu entwickelt<br />

ist total interessant. Wenn hier in München etwas<br />

so Spannendes aufmachen würde, wo sich wichtige und<br />

interessante Leute treffen... da würde man sich ja auch<br />

bewerben.<br />

Wo finden Sie stattdessen kreativen Input?<br />

In einen Beruf wie meinen wächst man durch diverse<br />

Einflüsse hinein. Modedesign war und ist eigentlich gar<br />

nicht mein Fokus im Alltag. Ich finde eher, dass man sich<br />

für viele Richtungen interessieren muss. Designer oder<br />

Künstler zu sein ist kein Nine-to-Five-Job – es ist eine Haltung.<br />

Ob Filme, Ausstellungen, Musik, Austausch - alles<br />

kann inspirieren! An manchem bleibt man hängen und<br />

nimmt es wahr, weil man mit anderen Augen, einem andere<br />

Blick durch die Welt läuft. Dann absorbieren sich die<br />

Eindrücke und am Ende kommt etwas Persönliches heraus.<br />

Isabella Heinz, zurzeit Modedesignstudentin<br />

der AMD München, hat den beigelegten<br />

Papierschnitt des Bauhaus-Kleides für MO:DE 11<br />

digitalisiert. Das Schnittmuster zum Ausdrucken<br />

und Nachschneidern findet man auch auf unserer<br />

Homepage www.formfollowsfuture.de


Revolution<br />

Was ist Ihnen als Designerin wichtig? Welche Aussagen<br />

möchten Sie transportieren?<br />

Mir ist wichtig, qualitativ hochwertige und im Design<br />

reduzierte Kleider und Accessoires mit essenziellen Details<br />

zu kreieren. Ich möchte ein souveränes Frauenbild<br />

zeigen. Außerdem arbeite ich oft mit Symbolen, die ich<br />

durch Intervention neu interpretiere. Dadurch entstehen<br />

humorvolle, nachdenkliche oder politische Botschaften.<br />

Wir ordnen in diesem Heft jede Geschichte einem Bauhaus-Zitat<br />

zu. Für Sie finde ich eines von Walter Gropius<br />

passend, das beinhaltet, dass Begrenzungen den<br />

menschlichen Geist erfindungsreicher machen. Denken<br />

Sie das auch?<br />

Auf jeden Fall. Grenzen zwingen einen kreativ zu<br />

werden. Wenn man nur wenig zur Verfügung hat, ist es<br />

eine wahnsinnige Herausforderung, daraus viel machen<br />

zu können.<br />

Wie ein guter Koch.<br />

Genau! Da kommt es neben der Kreativität aber auch<br />

auf die Zutaten an. Damit eine Arrabiata toll schmeckt<br />

braucht man gute Tomaten, gutes Olivenöl, guten Parmesan,<br />

gute Nudeln…<br />

Arbeiten Sie oft mit hochwertigen Stoffen?<br />

Hochwertig ja, aber es muss auch nicht immer Seide<br />

sein. Ich lege Wert auf Nachhaltigkeit. Fast alles ist bei<br />

mir made in Munich oder zumindest made in Germany.<br />

Schon immer. Als der Slow-Fashion-Trend aufkam, fand ich<br />

das sehr interessant: Auf einmal stand die Herkunft überall<br />

explizit dabei – ähnlich wie bei veganen Lebensmitteln,<br />

zum Beispiel einem Apfel. Aber zurück zum Thema:<br />

Eingrenzung macht definitiv kreativ. Und auch innovativ!<br />

Welche Innovation würden Sie gern in der Gesellschaft<br />

anstoßen?<br />

Diese Massen an Kleidung machen mich wahnsinnig.<br />

Wie die Leute mit Ware umgehen – als wären sie vorgefertigt<br />

vom Baum gefallen. Keine Wertschätzung des<br />

Handwerks! Zum Glück gibt es auch Gegentrends wie<br />

Minimalismus. Dieses Thema habe ich passenderweise<br />

direkt nach Bauhaus mit meinen Studenten behandelt. Es<br />

war für alle Bereiche anwendbar – sie konnten sich frei<br />

entfalten. Das war wirklich interessant.<br />

Was hat Ihnen am Besten gefallen?<br />

Alle Ideen waren cool: einer hat ein Magazin gemacht,<br />

ein paar haben selbst ausprobiert mit wenig zu leben.<br />

Dabei haben sie sich total strukturiert. Eine Studentin<br />

hatte einen Podcast, in dem sie Leute zu der Frage „Auf<br />

was kannst du verzichten und auf was nicht?“ interviewt<br />

hat.<br />

Worauf könnten Sie verzichten? Und worauf nicht?<br />

Ohne gutes Essen geht es nicht. Aber ich könnte auf<br />

jeden Fall auf mein Auto verzichten. Grade hier in München,<br />

weil ich viel und gerne Fahrrad fahre. Auf was<br />

könnten SIE denn verzichten?<br />

Auf keinen Fall auf meine Kaffeemaschine!<br />

Ja, das kenne ich! Die Kunst ist, mit wenig weiterzukommen.<br />

Es sammelt sich so viel an. Man muss seine<br />

eigene Haltung ändern, damit man eben auch mit wenig<br />

weiterleben will – nicht nur einmal aufräumt und das<br />

war’s.<br />

28<br />

„Limitations make the creative mind inventive“<br />

Walter Gropius<br />

Womit wir wieder bei den Basics wären...<br />

Basics sind eine gute Sache. Das wusste schließlich<br />

schon das Bauhaus.<br />

FOTOS:PAUL MEYER, MODEL:AISSA, H&M:MARLENA


Revolution<br />

12<br />

Visual<br />

Reality<br />

Reduzierte Schnitte treffen auf sportliche Teile<br />

und läuten das technologische Zeitalter ein.<br />

Mit gesellschaftlichen Statements wird<br />

diese Zurückhaltung laut<br />

FOTOS VON PAUL MEYER<br />

STYLING VON ALINE GANGUIN, EVA KAPELLER, ROSSELLA LOFINO<br />

HAIR & MAKE-UP VON MARLENE FUCHS<br />

MODELS: AÏSSATOU ESTELLE NIANG, EMMANUEL EDIGIN<br />

Boilersuit mit kurzen Ärmeln von<br />

H&M, um 60 Euro. Sweatshirt<br />

von Jack&Jones, um 40 Euro.<br />

Sneakers von Nike, um 180<br />

Euro. Bucket Hat von Carhartt,<br />

um 40 Euro


Blindtext<br />

14<br />

Revolution<br />

Links: Windbreaker von Under<br />

Armour, um 75 Euro. Daunenweste<br />

von The North Face, um<br />

190 Euro. Hose von Missguided,<br />

um 35 Euro. Sneaker von<br />

Umbro, um 120 Euro<br />

Rechts: Regencape mit Kapuze<br />

von Oysho Sport, um 50 Euro.<br />

Schmale Hose von Zara, um 40<br />

Euro. Sneaker von Pregis, um<br />

220 Euro<br />

Hemd mit Gummizug von<br />

Mango, um 40 Euro. Stoffhose<br />

mit Bundfalte von Mango, um<br />

50 Euro. Budapester von<br />

Bianco, um 100 Euro


Blindtext<br />

Revolution<br />

16<br />

Links: Trenchcoat von Uniqlo,<br />

um 100 Euro. Naturfarbenes<br />

Hemd von H&M, um 20 Euro.<br />

Stoffhose von Mango, um 50<br />

Euro. Sneaker von Pregis, um<br />

220 Euro<br />

Rechts: Kurze Jacke, um 30<br />

Euro, und Minirock, um 20<br />

Euro, von Bershka. Strümpfe<br />

von Adidas, um 10 Euro. Sneaker<br />

von Gabor, um 75 Euro.<br />

Sportliche Brille von Konstant,<br />

um 15 Euro


Revolution<br />

Linke Seite: Kapuzenpullover<br />

von Pull&Bear, um 20 Euro.<br />

Utility Weste von Night Addict,<br />

um 80 Euro. Latzhose von<br />

Puma, um 40 Euro. Sneaker<br />

von Nike, um 180 Euro. Bucket<br />

Hat von Carhartt, um 40 Euro.<br />

Sportliche Brille von Konstant,<br />

um 15 Euro<br />

Diese Seite: Rollkragenpullover<br />

von MAX&Co., um 100 Euro.<br />

Latzhose von Missguided, um<br />

40 Euro. Bucket Hat von<br />

Carhartt, um 40 Euro<br />

Revolution


Revolution<br />

20 21<br />

Kapuzenpullover von Asos<br />

Design, um 20 Euro.<br />

Sweatshorts von H&M, um 20<br />

Euro. Chinohose von Replay,<br />

um 100 Euro. Sneaker von<br />

Pregis, um 220 Euro


Revolution<br />

22 23<br />

Revolution<br />

T-Shirt mit Reißverschluss von<br />

Libertine-Libertine, um 110<br />

Euro. Nylonhose von Collusion,<br />

um 40 Euro. Transparenter<br />

Windbreaker von Calvin Klein,<br />

um 160 Euro. Sonnenbrille mit<br />

bunten Gläsern von Vintage<br />

Supply, um 15 Euro. Sneaker<br />

von Umbro, um 120 Euro


Revolution<br />

24<br />

25<br />

Schön ist,<br />

was funktioniert<br />

Diese Haltung vertraten nicht nur Schüler<br />

und Lehrende am Bauhaus – auch<br />

Designer von heute entwerfen die aktuelle<br />

Mode entsprechend. Eine Analyse des<br />

Utility-Trends VON ANGELA GUNDOLF<br />

Einen guten Fang macht man<br />

diese Saison mit Kleidung, die<br />

mehr kann als nur gut aussehen.<br />

Die Anglerweste von Oysho<br />

Sport vergüt über praktische<br />

Elemente wie aufgesetzte<br />

Taschen, einen verstellbaren<br />

Tunnelzug und versiegelte<br />

Zipper. Ein weiteres Plus: das<br />

atmungsaktive und wasserabweisende<br />

Material.<br />

Schnelllebigkeit ist ein prägender Teil unserer<br />

heutigen Gesellschaft. Oft haben weder Gebrauchsgegenstände<br />

noch Dinge mit einem<br />

persönlichen Bezug, wie zum Beispiel Beziehungen,<br />

eine langfristige Bedeutung für den<br />

Einzelnen. Doch derzeit scheinen sich genau danach die<br />

Menschen zu sehnen. Und das hat einen Grund: Die politisch<br />

kritische und instabile Lage bringt uns dazu, Einfachheit<br />

und Klarheit im Alltag zu schätzen.<br />

Diese Probleme greifen die Mode-Designer im<br />

Herbst/Winter 2019/20 in ihre Kollektionen auf. In <strong>Form</strong><br />

von funktioneller Mode kreieren sie Designs, die einen<br />

langfristigen Nutzen haben. Utility (Deutsch: Nützlichkeit)<br />

nennt sich der Trend, der Designelemente der funktionalen<br />

Outdoor-Bekleidung in den zeitgenössischen Kontext<br />

integriert. „Auf den Laufstegen wurden Jumpsuits, gegürtete<br />

Hosen und Jacken gezeigt [...] Der Trend liegt irgendwo<br />

zwischen schicker Safari und modernem Militär. Aber<br />

die allgemeine Botschaft ist klar: Mach dich nützlich“,<br />

schreibt Kerry Pieri in der amerikanische Harper‘s Bazaar<br />

über die Schauen.<br />

Ein Paradebeispiel für den Utility-Chic ist Stella Mc-<br />

Cartney. Gummistiefel, Cargo-Hosen und Outdoor-Jacken<br />

mit aufgesetzte Leistentaschen. Im Gegenzug dazu zeigt<br />

sie feminine Silhouetten und Materialien wie taillierte Blazer,<br />

Chiffon-Kleider und Fransen. Die britische Designerin<br />

vereint in ihrer Herbst-/Winterkollektion 2019/20 das<br />

Design der Jagd- und Militärkleidung mit der Eleganz der<br />

Powerfrau von heute: Ausgerechnet große aufgesetzte Taschen<br />

und Kellerfalten etwa – bislang eher als praktisch,<br />

weniger als schön angesehen – werden bei McCartney<br />

zu den Herzstücken ihrer Looks. „Funktion wird in <strong>Form</strong><br />

des Utility-Chic in die Mode aufgenommen“, beschreibt<br />

Elizabeth von der Goltz, Buying Director des Luxus-Händlers<br />

Net-à-Porter, das Phänomen.<br />

Ein Label, das schon seit seiner Gründung 2013 mit<br />

sportlichen Street-Styles und Elementen des Outdoor-Bereichs<br />

arbeitet, ist Off-White. In seiner Kollektion für<br />

Herbst/Winter 2019/20 zelebriert Chefdesigner Virgil<br />

Abloh vollkommene Funktionalität: Seine Models, die in<br />

übergroßen Daunenmänteln und Dufflecoats über den<br />

Runway liefen, könnten so auch eine Polarexpedition starten.<br />

„Virgil Abloh designt mit einem sehr hohen kreativen<br />

Anspruch und stellt gleichzeitig die Funktionalität in den<br />

Vordergrund“, sagt Theresa Pichler, Fashion Director der<br />

deutschen InStyle. Das Fleece-Material, das Abloh für<br />

die Kollektion bevorzugt, kommt aus dem Bereich der<br />

Outdoor-Bekleidung – es wärmt, ist formbeständig und<br />

trocknet schnell. Somit setzt der Designer nicht nur auf die<br />

Utility-Optik, sondern greift auch bei der Materialauswahl<br />

auf funktionale Stoffe zurück.<br />

FOTOS: PAUL MEYER<br />

Doch es ist nicht nur das Praktische, das den Trend so<br />

populär macht, sondern auch der vielfältige Einsatz im<br />

Alltag. Athleisure – ein Teil des Utility-Trends – ermöglicht<br />

es, ein Kleidungsstück sowohl im Büro, im Club, als auch<br />

beim Sport zu tragen. So wirkt ein Outfit zugleich schick<br />

und sportlich.<br />

Klassische Sport-Labels wie Adidas, Nike und Co.<br />

perfektionieren diese Verschmelzung längst. Durch Kooperationen<br />

mit High-Fashion-Labels bringen sie die<br />

Funktionalität des Sports auf die Laufstege. Zuletzt kollaborierte<br />

Nike mit dem amerikanischen Designer Matthew<br />

M. Williams, der 2009 durch die Zusammenarbeit mit<br />

Lady Gaga bekannt wurde. Williams entwarf 2018 eine<br />

Capsule-Kollektion für Nike und arbeitet nun vermehrt an<br />

Schuhen für das Label, die den Multifunktionalitätseffekt<br />

aufgreifen. Sein eigenes Label, 1017 ALYX 9SM, das<br />

in den letzen Saisonen eine der Newcomer-Brands auf<br />

den Pariser Modewochen war, zelebriert den Multifunktionalitätstrend<br />

noch mehr. Für Herbst/Winter 2019/20<br />

präsentiert Williams Cargo-Hosen, die man als elegant<br />

und sportlich zugleich bezeichnen kann, da sie schlicht<br />

und einfach beide Aspekte zu hundert Prozent erfüllen.<br />

Ebenfalls Multitalente sind seine Regenjacken, die sowohl<br />

die Funktion des gelben Paddington-Mantels erfüllen als<br />

auch mit moderner Optik überzeugen. Außerdem zeigt er<br />

klassische Rollkragen-Pullover, die durch ihren Schnitt und<br />

ihr atmungsaktives Material als Second Skin unter einen<br />

Blazer oder als Breathables bei der nächsten Jogging-Einheit<br />

getragen werden können. Kleidungsstücke, die zu jeder<br />

Uhrzeit, zu jedem Anlass und bei jedem Wetter zum<br />

Einsatz kommen.<br />

Die Gegenströmung CAMP dagegen – Eyecatcher<br />

und Motto der diesjährigen Met-Gala – zelebriert laut Susan<br />

Sontag die Liebe zum Unnatürlichen, zur Künstlichkeit<br />

und zur Übertreibung. Der Funktionalitätsgedanke aber<br />

ist es, der der Allgemeinheit einen zeitlosen, langfristigen<br />

Nutzen liefert: „Funktionskleidung ist gekommen, um zu<br />

bleiben. Seitdem sie bewusst entworfen wird, finden immer<br />

mehr Menschen Gefallen daran. Eine Regenjacke,<br />

ein Parka oder Track-Pants werden sich auch in ihrer<br />

Grundform nie ändern. Wer hier in gute Teile investiert,<br />

kann sie ein Leben lang tragen“, erklärt InStyle-Expertin<br />

Theresa Pichler.<br />

Die <strong>Form</strong> folgt also der Funktion. An dieses obligatorische<br />

Bauhaus-Credo von Architekt Louis O‘Sullivan knüpft<br />

heute die Utility-Mode an: Designs und Produkte werden<br />

langlebig, praktisch, modern und ästhetisch. Genau das<br />

wird in unserer Zeit, die von politischem Chaos geprägt<br />

ist, gebraucht. Denn schön ist am Ende, was funktioniert.<br />

Pinterest<br />

Stella McCartney, Off-White<br />

und Matthew M. Williams<br />

waren erst der Anfang:<br />

Durch das Scannen dieses<br />

Codes gelangen Sie in die<br />

ganze Welt von Utility,<br />

dem wohl praktischsten Modetrend<br />

diees Jahres.<br />

Lassen sie sich inspirieren!<br />

Wie beim Wandern wird diese<br />

Saison auch in der Stadt auf<br />

den praktikablen Lagen-Look<br />

gesetzt – links mit Regenjacke<br />

von Nike Performance und gepolsterter<br />

Weste von The North<br />

Face, unten mit einem leichten<br />

Cape von Nike als schützende<br />

und wasserabweisende Top-<br />

Schicht.<br />

WASSILY KANDINSKY<br />

Kunst und Technik – eine neue Einheit! –


Revolution<br />

Über den Wolken<br />

7<br />

Das Wohnen in superhohen Gebäuden wird in der Stadt<br />

der Zukunft Realität. Wie werden wir uns dort bewegen?<br />

Ein Ausblick auf die neue Urbane Mobilität. VON SONJA WUNDERLICH<br />

„The ultimate goal of all visual artistic activity is construction! Architects, painters and<br />

sculptors must learn again to know and understand the multi-faced form of building in<br />

its entirely as as its parts. Together let us call for, devise and create the construction<br />

of the future, compromising everything in one form: architecture, sculpture and painting.“<br />

WALTER GROPIUS<br />

Eine Kabine, etwa so groß wie eine Gondel beim Skifahren.<br />

Zu zweit oder zu dritt kann man noch angenehm<br />

nebeneinander stehen, bei sechs oder mehr Leuten wird<br />

es schon enger. Schwarze, polierte Kabinentüren gleiten<br />

auf und geben den Blick auf ein großes, rundes Touchpad<br />

frei. Zehn, zwanzig, dreißig Stockwerke werden<br />

angezeigt und verschiedene Tower können ausgewählt<br />

werden, die Skybridge oder eine digitale Wetteranzeige.<br />

„Welcome to Tower S, 30th floor“, grüßt eine Computer-generierte<br />

Stimme. Im Hintergrund läuft leise Musik<br />

und sorgt für eine entspannte Atmosphäre. Die unangenehme<br />

Frage „Führt man jetzt Smalltalk oder schaut man<br />

doch lieber konzentriert ins Handy“ kommt nicht auf,<br />

wenn man die Kabine des Aufzugssystems „Multi“ betritt.<br />

In der futuristischen Fahrstuhl-Kabine wechseln Lichtschienen<br />

ihre Farbe von Neonblau zu Rosa-Lila, die seitlichen<br />

Wände sind mit einem Art Wabennetz aus Aluminiumstangen<br />

überzogen, es gibt bodentiefe Fenster - soll man<br />

von hier schwindelfrei den Aufstieg bis in 2000 Meter<br />

hohe Gebäude mitverfolgen?<br />

Verschiedenen Prognosen zufolge werden 2050 nicht<br />

nur etwa zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben,<br />

sondern auch zwei bis drei Milliarden weitere Menschen<br />

in Städte ziehen. Der Wohnraum bleibt aber weiterhin<br />

begrenzt, wohin also mit all den Menschen? Asien, Indien<br />

und die Emirate wachsen zu den bevölkerungsreichsten<br />

Regionen heran, Auswirkungen der Überbevölkerung wie<br />

Kriminalität, Smog, Abgase und hohe Mietpreise sind<br />

hier schon lange deutlich zu spüren. Zwangsläufig müssen<br />

Gebäude wachsen, vor allem in die Höhe, um den<br />

Menschen Platz zum Wohnen, Arbeiten, Schlafen, Sport<br />

und Urlaub machen zu geben.<br />

ES WIRD ENG – NICHT NUR<br />

IN DEN STÄDTEN, SONDERN AUF DER<br />

GANZEN WELT<br />

Heute leben rund 30 Prozent der Weltbevölkerung in<br />

Städten, laut Stadtplanern wird sich diese Zahl nicht nur<br />

verdoppeln, sondern bis 2050 sogar auf 70 Prozent steigen.<br />

Es wird eng, bei wachsender Bevölkerungsdichte auf<br />

gleichem Raum - nicht nur in den Städten, sondern auf der<br />

ganzen Welt.<br />

Urbanisierung hat sich zu einem Megatrend entwickelt:<br />

Laut Zukunftsinstitut, eines der einflussreichsten<br />

Think Tanks der europäischen Trend- und Zukunftsforschung,<br />

bedeutet das aber viel mehr als der Wandel von<br />

Lebensräumen. Auch neue <strong>Form</strong>en der Vernetzung und<br />

Mobilität sind Teil davon, sowie eine komplett neue Lebens-<br />

und Denkweise. Für die Zukunft wird das Szenario<br />

von Städten, die sich zu Staaten entwickeln und immer<br />

einflussreicher werden, vorstellbar: Städte werden dabei<br />

zu den mächtigsten Akteuren in einer globalisierten Welt.<br />

Eine sogenannte „Global City“ ist eine Stadt, die zentrale<br />

Steuerungsfunktionen hat und regionale, nationale<br />

und internationale Finanz-, Dienstleistungs- und Warenströme<br />

verknüpft und somit auch einen zentralen Knotenpunkt<br />

der Globalisierung bildet. Häufig entwickeln sich<br />

aus Global Cities dann die Megacities: Das sind Städte<br />

mit mindestens zehn Millionen Einwohnern, die vor der<br />

Herausforderung stehen, Lebensqualität, Infrastruktur und<br />

Nachhaltigkeit zu vereinen. Heute lebt bereits jeder Achte<br />

in einer der rund dreißig Megacities – laut Prognose wird<br />

sich die Anzahl solcher Städte bis zum Jahr 2035 auf<br />

fünfzig erhöhen.<br />

Aber was zieht die Menschen denn in die Stadt? Für<br />

Benjamin Plank vom Mediaplanet Verlag bestehen die positiven<br />

Aspekte hauptsächlich in der kulturellen Vielfalt, im<br />

Nebeneinander der Gegensätze und im Abwechslungsreichtum<br />

des Alltags. Dabei sind vor allem europäische<br />

Städte Vorbilder für Megacities. Sie geben durch ihre<br />

hohe Lebensqualität die Tendenz in Richtung ökosoziale<br />

Stadt vor – eine Metropole als aktiver Sozialstaat, der<br />

sich mit einer weit entwickelten Infrastruktur für die Lösung<br />

von Umweltproblemen einsetzt. Und tatsächlich spielt die<br />

Infrastruktur eine entschiedene Rolle in der Stadtplanung.<br />

In der Zukunft werden Maschinen mit Künstlicher Intelligenz<br />

nicht nur die autonome Fahrgastbeförderung übernehmen,<br />

sondern auch die Verantwortung für die Steuerung<br />

der Straßenbeleuchtung und der Menschenströme<br />

innerhalb großer Gebäude.<br />

Im Fachjargon versteht man unter „Urban Mobility“<br />

neben der Fortbewegung auf den Straßen auch den Personen-Nahverkehr<br />

in großen Gebäuden. Statistisch gesehen,<br />

fährt heute im Durchschnitt jeder fünfte Mensch täglich<br />

Aufzug – was den Lift, in der Häufigkeit der Nutzung<br />

gemessen, zum wichtigsten Transportmittel macht. Der<br />

Aufzug wird als lebensbegleitend gesehen, er ist mittlerweile<br />

selbstverständlich, weshalb seine Funktionen für das<br />

Leben und die Fortbewegung in der Stadt nicht immer<br />

wahrgenommen werden.<br />

Dass ein Fahrstuhl unbedingt notwendig ist für 400,<br />

500, 1000 oder 2000 Meter hohe Gebäude, ist klar,<br />

aber andererseits schränkt er Architekten enorm in ihrer<br />

Freiheit bei der Gebäudegestaltung ein. Neben einem<br />

BILD: THYSSENKRUPP ELEVATORS<br />

Wohnen, Arbeiten, Schlafen, Sport und Urlaub machen – in der Zukunft soll das in superhohen Gebäuden vereint werden. Das „Multiple-Cabin-System“, kurz „Multi“, bringt einen dabei von A nach B, von Wolkenkratzer zu Wolkenkratzer.


Revolution<br />

9<br />

Schacht, der je nach Größe der Kabinen und Anzahl der<br />

zu transportierenden Menschen variiert, spielt das Gewicht<br />

des Seils eine tragende Rolle: Das Seil, das den<br />

Aufzug letztendlich hält, gewinnt entsprechend der Gebäudehöhe<br />

an Gewicht. Ab 300 bis 400 Metern würde<br />

es sich, aufgrund seiner Schwere, selbst zerreißen. Das<br />

Maximum ist bei dieser Höher also erreicht, ab dann muss<br />

mit mehreren verschiedenen Schächten und Aufzügen gearbeitet<br />

werden. Im Burj Khalifa, dem aktuell höchsten<br />

Bauwerk der Welt, sind es beispielsweise insgesamt vier<br />

verschiedene – die Fahrtzeit mit Umsteigen, Aus- und Zusteigen<br />

kann dann schon mal 40 Minuten betragen.<br />

Ein Gebäude wird also um die Liftanlage herum geplant<br />

und diese wird mit zunehmender Höhe des Gebäudes<br />

umfangreicherer. Mehr Höhe bedeutet mehr Menschen<br />

und mehr Aufzüge. Und das bedeutet wiederum<br />

für die Zukunft, dass Liftanlagen, die so viel potenziellen<br />

Wohn- und Lebensraum einnehmen, nicht mehr länger<br />

funktionieren. Dessen sind sich Ingenieure schon seit einiger<br />

Zeit bewusst geworden und beschäftigen sich daher<br />

mit Alternativen.<br />

Eine davon kommt aus Deutschland, aus Neuhausen<br />

auf den Fildern in Baden-Württemberg. Der kleine Ort mit<br />

gerade einmal 11.349 Einwohnern wirkt auf den ersten<br />

Blick so gar nicht wie die Millionenstadt der Zukunft –<br />

aber hier wird groß gedacht. Hier hat „Thyssenkrupp Elevators“,<br />

der Konzern, der sich mit der Mobilität der Städte<br />

von Morgen beschäftigt, „Multi“ entwickelt: Ein seilloses<br />

Mehr-Kabinen-Aufzugssystem, das angelehnt ist an das<br />

Konzept eines Paternosters, bei der mehrere, an zwei Ketten<br />

befestigte Einzelkabinen im ständigen Umlaufbetrieb<br />

verkehren. Dabei werden die Kabinen am oberen und<br />

unteren Wendepunkt über große Scheiben in den jeweils<br />

MULTI<br />

Elevator<br />

„Was bisher aber keiner geschafft hat, ist der Exchanger. Für mich ist dieses Drehelement deswegen<br />

das wichtigste Bauteil. Ihn so wie die Kollegen in Rottweil hinzubekommen, ist Schwermechanik:<br />

Etwas Großes, vier Tonnen Schweres, das sich bewegt, das mit einer Uhrmacherpräzision ausgeführt<br />

wurde und reibungslos funktioniert – das ist echte Ingenieurskunst.“<br />

MICHAEL RIDDER, THYSSENKRUPP ELEVATORS<br />

Und das steckt dahinter: Der Exchanger als Schlüsselelement in dem Aufzugsystem „Multi“. Er ermöglicht es, dass eine Aufzugskabine erstmals nicht nur horizontal, sondern auch vertikal fahren kann.<br />

anderen Lift-Schacht umgesetzt. Dieser Prozess wiederholt<br />

sich und kommt nie zum Stillstand.<br />

Bei einem modernen „Multi“ Aufzugssystem ermöglicht<br />

ein sich an Magneten entlangziehender Linearmotor<br />

das Fahren – ganz ohne Seil. Das Wenden übernimmt<br />

der sogenannte Exchanger: Dieser funktioniert, sobald<br />

die Kabine einfährt, als Drehkreuz im Zusammenspiel mit<br />

seinem Gegenstück, welches an der Rückseite der Kabine<br />

angebracht ist. Der Exchanger ermöglicht auch erstmals,<br />

dass ein Aufzug nicht nur vertikal fahren kann, sondern<br />

auch horizontal. Für Michael Ridder ist er das Schlüsselelement<br />

und letztendlich das, was „Multi“ von seiner<br />

Konkurrenz unterscheidet und worauf noch kein anderes<br />

Unternehmen gekommen ist. Diagonales oder geneigtes<br />

Fahren sei auch kein Problem, das liege bei den Architekten<br />

und Gebäudebauern. Der Exchanger ist letztendlich<br />

das Teil, das ihnen ganz neue Möglichkeiten und Freiheiten<br />

gibt, stellt der Marketingchef von „Thyssenkrupp<br />

Elevators“ fest. Vernetzte Häuser mit Verbindungsbrücken<br />

in der Höhe werden denkbar, man müsste gar nicht mehr<br />

auf den Boden der Tatsachen zurück, sondern kann von<br />

einem Wolkenkratzer zum nächsten fahren.<br />

Die ursprüngliche Idee hinter „Multi“ ist, Gebäude<br />

möglichst ökonomisch zu gestalten, das heißt, die Fläche,<br />

die durch den Aufzug im Gebäude in Anspruch genommen<br />

wird zu minimieren. Für einen modernen Aufzug, der<br />

mit mehreren Kabinen pro Schacht fährt, wurde versucht,<br />

das zu erreichen. Als Beispiel bezieht Michael Ridder<br />

sich auf das One World Trade Center in New York, in<br />

welchem 40 Prozent der Gesamtfläche durch Aufzugsschächte<br />

belegt ist: „Wenn man sich jetzt überlegt, wie<br />

hoch die Mieten in New York sind und bei einem ‚Multi‘<br />

bis zu 50 Prozent Schachtfläche eingespart werden<br />

können – es werden weniger Schächte benötigt werden,<br />

dadurch dass mehr Kabinen pro Schacht fahren können –<br />

kann sich bei einem System wie ‚Multi‘ schnell rechnen.“<br />

Beim One World Trade Centre wären das 14.000 eingesparte<br />

Quadratmeter. Hochgerechnet auf zehn Jahre<br />

Mieteinnahmen, sind das 150 Millionen Euro. Zahlen in<br />

schwindelerregender Höhe für ein System, das sich mit<br />

den über die Jahre gerechneten Mehr-Mieteinnahmen<br />

rechnen würde. Auch wenn einen „Multi“ in sein Gebäude<br />

zu integrieren, mehr Investition verlangt als für einen<br />

herkömmlichen Aufzug.<br />

HÖHER, SCHNELLER UND WEITER:<br />

DER AUFZUG DER ZUKUNFT<br />

Gerade in den letzten Jahren wurden immer strengere<br />

Sicherheitsvorschriften für Gebäude entwickelt. Beispielsweise<br />

zusätzliche Feuerwehraufzugsschächte nehmen<br />

noch mehr Fläche im Gebäude weg. Für den gewohnten<br />

Passagierfluss fehlt dann die Kapazität. Da Kabinen eines<br />

„Multi“-Aufzugssystem schmaler sind, als bisherige kann<br />

das System aber auch im Nachhinein eingebaut werden<br />

und etwaige Probleme lösen.<br />

BILD LINKS: THYSSENKRUPP ELEVATORS; RECHTS: SONJA WUNDELRICH<br />

Bei „Multi“ liegt der Fokus ganz in der Höhe und<br />

Weite, Schnelligkeit wird durch einen kontinuierlichen<br />

Kabinenfluss garantiert. Aufzüge, die möglichst schnell<br />

fahren, sind vor allem im Asiatischen Raum gefragt, sind<br />

aber weniger effizient als gedacht. Man kann es sich so<br />

vorstellen wie einen Ferrari im Stau auf der Autobahn.<br />

Durch das ständige Aus- und Zusteigen kann der Aufzug<br />

seine Kabine nie wirklich auf die Geschwindigkeit, die<br />

eigentliche Kapazität, bringen. Hinzukommt, dass durch<br />

das ständige Bremsen und Beschleunigen mehr Energie<br />

verbraucht wird als bei einer kontinuierlichen Rotation.<br />

Energieeffizienz wiederum spielt für Gebäude ein<br />

große Rolle: Morgens, mittags und abends herrscht Rushhour<br />

im Gebäude, das bedeutet einen größeren Energieverbrauch.<br />

„Multi“ arbeitet mit Intelligenten Algorithmen<br />

zusammen, die erkennen, wenn zum Beispiel in der Tiefgarage<br />

mehrere Reisebusse ankommen – und reagiert mit<br />

einer Bereitstellung von zusätzlichen Kabinen. Das gleiche<br />

gilt für die Hochzeiten: Sobald diese wieder vorbei<br />

sind, werden die zusätzlichen Kabinen wieder einberufen<br />

und in der Garage geparkt. Die Macher von „Multi“ wollen<br />

außerdem die Gesichtserkennung einführen, damit<br />

das System einen schon registriert und mit einer privaten<br />

Kabine auf einen wartet. Es gibt außerdem die Option für<br />

personalisierte und individuell gestaltete VIP-Kabinen, die<br />

Executive Suits anfahren und Scheichs und Prominente<br />

befördern. Wenn es um superhohe Gebäude geht, dann<br />

muss auch mit superreichen Leuten gerechnet werden, die<br />

sich abgrenzen wollen von ihren Mitbewohnern oder bei<br />

denen schneller gehen muss – und vor allem hoch Hinaus.<br />

Mit ganz anderen Konzepten beschäftigen sich vor<br />

allem Architekten, die nicht nur Wohngebäude im Kopf<br />

haben, sondern alles, was zu einer lebenswerten Stadt<br />

gehört, wie zum Beispiel Krankenhäuser oder Flughäfen.<br />

Eine Forschungsarbeit setzt sich mit einem „Multi“-System<br />

in einem Krankenhaus auseinander, bei dem einzelne<br />

Kabinen steril sein würden, also nur für den OP-Bereich<br />

zuständig, und andere, die sonstige Aufgaben wie zum<br />

Beispiel den Bettwäsche-Transport übernehmen könnten.<br />

Für das Mehr-Kabinen-System gibt es Anfragen von<br />

Flughäfen, ob es möglich sei, einzelne Kabinen so zu<br />

programmieren, dass sie Gäste, die ihren Boardingpass<br />

beim Einsteigen scannen, direkt zu ihrem Gate bringen,<br />

zum Ausgang oder zur Mietwagengarage.<br />

Doch gerade bei Gebäuden, in denen sich so viele<br />

Menschen aufhalten, bleibt die Frage nach Notfallprävention.<br />

WARTEN AUF DAS „GO“: 2020<br />

SOLL DER ERSTE SUPER-LIFT ZUM<br />

EINSATZ KOMMEN<br />

„Multi“ ist letztendlich ein zertifizierter Aufzug wie jeder<br />

andere, auch wenn viele Leute erst einmal irritiert sind,<br />

weil kein Seil mehr vorhanden ist. Ein Sicherheitssystem,<br />

automatische Bremsen, Notstromaggregate und Batterien<br />

sorgen im Notfall für genügend Energie, um die Kabine<br />

bis zur nächsten Etage zu bringen. Den einzelnen Linear-<br />

Einmal selbst in der futuristischen Aufzugkabine stehen? Das geht im „Thyssenkrupp“-Testturm in Rottweil<br />

motoren muss Strom geliefert werden, zum Anschubsen<br />

sozusagen, aber ab dann funktionieren sie wie Generatoren<br />

und produzieren selbst Energie, sobald eine Kabine<br />

wieder abwärts fährt. Diese Energie wird im Aufzugssystem<br />

gehalten und gibt „Multi“ zumindest noch so viel Reserven,<br />

dass Kabinen es bis zur nächsten Etage schaffen,<br />

die Türen öffnen und dann das Ganze heruntergefahren<br />

werden kann.<br />

Auch wenn eine Personenzertifizierung noch aussteht,<br />

alles andere wäre bereit und man wartet nur noch auf<br />

das finale „Go“. Der erste „Multi“ wird 2020, vermutlich<br />

entgegen aller Erwartungen nicht in China oder Japan<br />

gebaut, sondern im East Side Tower in Berlin. Bis es 2050<br />

dann soweit ist, dass Aufzüge quasi lebensnotwendig<br />

werden, forschen weiterhin rund vierzig Ingenieure allein<br />

bei „Thyssenkrupp Elevators“ an Verbesserungs- und weiteren<br />

Einsatzmöglichkeiten.<br />

Die Entwicklung der Weltbevölkerung<br />

und die der Aufzugskabine haben Ihr<br />

Interesse geweckt? Mehr dazu gibt es<br />

auf formfollowsfuture.de


Revolution<br />

GEMEINSAM INTELLIGENT<br />

Wenn wir so weitermachen, wird uns die Skepsis gegenüber<br />

Künstlicher Intelligenz bald zum Verhängnis. Eine<br />

Streitschrift über die Zukunft des Menschen und wieso<br />

diese eigentlich schon lange begonnen hat VON CARMEN JENNY<br />

Die Hälfte der Deutschen fürchtet sich vor einem Kontrollverlust<br />

durch den verstärkten Einsatz von Künstlicher Intelligenz<br />

(KI). Das ergab eine Studie des Bundesverbands Digitale<br />

Wirtschaft (BvDW). Verständlich, aber auch irgendwie lustig.<br />

Lustig deshalb, da es ein ziemlich schroffes Urteil über<br />

eine Entwicklung ist, die schon viel mehr Gegenwarts- als Zukunftsmusik<br />

ist. Da uns Angst und Nichtstun aber selten weitergebracht haben, sollte<br />

man dieser Blauäugigkeit etwas entgegenhalten und sich gegenüber<br />

dem technischen Fortschritt doch ein wenig optimistisch zeigen. Denn<br />

nur, wenn wir den Nutzen der KI rechtzeitig erkennen, kann sie sinnvoll<br />

genutzt werden – bevor sie in falsche Hände gerät.<br />

Moment. Eigentlich sind wir doch schon längst Optimisten. In einer Zeit,<br />

in der wir gefühlt täglich irgendwelchen Allgemeinen Geschäftsbedingungen<br />

zustimmen, ohne sie davor zu lesen. In der wir Musik hören und<br />

Filme schauen, die uns Streaming-Dienste vorschlagen. In der uns persönliche<br />

Vorschläge auf Online-Shops die Kaufentscheidungen erleichtern.<br />

Wir setzen den Haken, klicken auf Play, geben die Bestellung auf<br />

und lehnen uns zurück – mit der Erwartung, dass schon alles gut gehen<br />

wird.<br />

Wir stimmen der Künstlichen Intelligenz und der damit verbundenen<br />

Sammlung von Daten also sowohl bewusst als auch aus reiner Gewohnheit<br />

und Bequemlichkeit zu. Gleichzeitig, und das ist eigentlich das Lustige<br />

dabei, gibt es eine extrem starke Abneigung gegenüber Künstlicher<br />

Intelligenz. Gern wird in diesem Zusammenhang das Schreckgespenst<br />

moderner Überwachung und Steuerung beschworen. Dabei ist die KI<br />

keine neue Erscheinung. Bereits in den Fünfzigerjahren begannen die Forschungen<br />

zu einer Technologie, bei der sich künstliche neuronale Netze<br />

basierend auf gesammelten Daten selbst weiterentwickeln, im Dartmouth<br />

College in Hanover, New Hampshire. Der Stand heute: Man möchte seine<br />

Daten nicht teilen, weil man Angst hat, beobachtet zu werden. Man<br />

fühlt sich ertappt, wenn auf Social Media eine Werbung für die neuesten<br />

Sneakers angezeigt wird, über die man gerade mit seinen Freunden gesprochen<br />

hat. Ob man nun aber will oder nicht, der Einsatz von KI wird<br />

immer stärker. Dafür braucht es Daten, die ständig gesammelt werden<br />

und die – siehe oben – ständig von uns geliefert werden.<br />

JE FRÜHER, DESTO BESSER<br />

Bis zu einem gewissen Grad kann die Entwicklung mit der industriellen<br />

Revolution im 20. Jahrhundert verglichen werden. Wer sich damals<br />

rechtzeitig damit auseinandergesetzt hatte, konnte den Nutzen und die<br />

Effizienz-Steigerung durch Technologien erkennen. Allerdings wurden<br />

„Züge, Elektrizität, Radio, Telefon sowohl für kommunistische Diktaturen<br />

und faschistische Regime eingesetzt als auch für die Erschaffung von liberalen<br />

Demokratien“, so der Historiker Yuval Noah Harari, der in seinen<br />

Büchern wie „Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen“ ein eher dystopisches<br />

Zukunftsszenario der KI beschreibt. Ob dieses eintritt, liegt letztendlich<br />

am Einsatz und dem Verständnis für neue Leistungen durch die KI.<br />

Kurzum, es liegt an uns. Doch wie soll dieses Gespür geschaffen werden?<br />

Die Dringlichkeit, diese Frage zu beantworten, liegt im entscheidenden<br />

Unterschied zur industriellen Revolution. Noch nie waren Algorithmen<br />

und die damit verbundenen maschinellen Anwendungen so eng mit Entscheidungsprozessen<br />

der Menschen verbunden. Wenn es also irgendwann<br />

um weitaus ernstere Anwendungen als die Filmauswahl auf Netflix<br />

geht, ist es für unserer Selbstwillen essentiell, dass wir uns vor möglichen<br />

Manipulationen schützen.<br />

Myriam Locher, Gründerin und CEO von Bettermind und Unternehmensberaterin<br />

für digitale Transformation, lieferte in einem Interview eine einfache<br />

Erklärung: „Wir reden davon, dass wir in den kommenden 20<br />

Jahren den gleichen Entwicklungssprung sehen werden, wie wir ihn in<br />

den letzten 1000 Jahren vollzogen haben.“ Es gehe darum, maximal<br />

agil zu sein und eine herausragende Fehlerkultur zu etablieren. „Das ist<br />

die notwendige Basis, um in dieser Zeit schnell genug lernen zu können.“<br />

Was hindert uns eigentlich daran, uns nicht so schnell wie möglich damit<br />

auseinanderzusetzen? Woher kommt diese „allgemein mittelgute Wahrnehmung<br />

von Künstlicher Intelligenz“, wie sie Volker Darius, Experte für<br />

die KI und Innovationen von Capgemini Invent, beschreibt? Der Unternehmensstrategie-Berater<br />

im Bereich Künstliche Intelligenz erklärt dieses gesellschaftliche<br />

Phänomen anhand zweier Ursprünge: „Wenn der Mensch<br />

Dinge nicht versteht, versucht er, sie frei zu interpretieren.“ Das liege zum<br />

einen daran, dass zu wenig oder falsche Aufklärung betrieben wird – sowohl<br />

von den Medien als auch innerhalb von Unternehmen. Zum anderen<br />

spitze sich die Angst vor einer der Menschheit überlegenen Super-Intelligenz<br />

durch die verzerrte Wahrnehmung nur noch weiter zu. Dabei sind<br />

wir doch noch lange nicht am Punkt der Verschmelzung von Menschen<br />

und Robotern. Algorithmen kontrollieren auch nicht die Welt. Zumindest<br />

nicht in näherer Zukunft. Wenn Sie aber noch weiter rumtrödeln und in<br />

der gemütlichen Vergangenheit leben, könnten das bald diejenigen unter<br />

uns tun, die sich früh genug mit der Technik auseinandersetzen.<br />

DIE RICHTIGEN HELFER<br />

Aktuell geht es jedoch vielmehr um kognitive virtuelle Assistenten wie Siri<br />

und Alexa. Oder intelligente Dienste wie in der Landwirtschaft, wo die<br />

KI basierend auf gesammelten Daten bisheriger Ernten und äußeren Umständen<br />

wie klimatischer Verhältnisse oder der geografischen Lage vorschlägt,<br />

wie viel Dünger für einen höchstmöglichen Ernteertrag optimal<br />

sind. Dass die KI jedoch selbst einen Bauernhof führen kann, ist im Moment<br />

noch außer Reichweite. Ein weiteres kooperatives Beispiel ist Watson<br />

von IBM, ein auf der KI basierendes Programm, das Unternehmen in<br />

unterschiedlichsten Bereichen assistiert. Ein Anwendungsbereich ist die<br />

Medizin, wo Watson schnelle Vorschläge für Arzneimittel bereitstellt, indem<br />

hunderte von Fällen in Rekordzeit analysiert und darauf basierend<br />

Empfehlungen ausgesprochen werden.<br />

„Sinn und Zweck der Übungen sollte sein, die Studierenden<br />

zu veranlassen, sich selbst, eine Anschauung der Welt, und zwar<br />

von heute zu bilden“ OSKAR SCHLEMMER<br />

10<br />

ILLUSTRATION: NASTASJA SCHEFTER<br />

Übertragen auf andere Branchen bedeutet das, dass die KI im Zusammenhang<br />

mit technischen Entwicklungen in der nächsten Dekade die<br />

Menschen von sinnfreien, monotonen Arbeiten befreien kann, die uns<br />

doch sowieso langweilen. Bevor Sie sich jetzt um den Untergang der<br />

Arbeitskultur sorgen und vielleicht sogar die eigene Entlassung fürchten<br />

– keine Angst, Sie werden nicht nutzlos sein. Im Gegenteil, Sie werden<br />

sogar wichtiger.<br />

Diese Erfahrung machte auch Sven Galla, wie er der Süddeutschen Zeitung<br />

erzählte. Mit seiner Legal-Tech-Kanzlei Ratis setzte er als erster Jurist<br />

in Deutschland auf einen autonomen Chat-Bot. Dieser ersetzt den Anwalt<br />

in Routine-Arbeiten wie der Einordnung von Mandanten oder der Anfertigung<br />

der Abwicklungsvereinbarung. Die Vision: den Algorithmus dort<br />

einsetzen, wo er eben einfach besser und effizienter arbeitet als der<br />

Mensch. Somit kann Galla sein ganzes Wissen, das er in seiner juristischen<br />

Erfahrung angesammelt hat, auf tausende Klienten übertragen.<br />

Das Resultat: Der Anwalt aus Passau beschäftigt heute so viele Mitarbeiter<br />

wie noch nie. Deren Gehälter sind übrigens auch gestiegen. Mit dem<br />

rund um die Uhr arbeitenden Ratis-Bot will er bald die 30-Stunden-Woche<br />

einführen.<br />

ES ERGIBT ALLES SINN<br />

Es ist also nicht zu leugnen, dass die KI viele Arbeiten übernehmen wird.<br />

„Sie ist somit aber auch eine Chance, darüber nachzudenken, welche<br />

Arbeiten wirklich noch sinnvoll sind und wie man Prozesse zeitgemäßer<br />

machen kann“, plädiert Juliane Kahl, Gründerin des Responsive Fashion<br />

Institutes, das Projekte zu der Förderung von Digitalisierung, Nachhaltigkeit<br />

und Mode durchführt.<br />

Überlegen wir mal einfach: Trägt ein Kassierer von H&M wirklich zum<br />

Wohl der Welt bei, wenn er pro Tag Hunderte von Artikeln scannt und<br />

einsortiert? Oder würde es mehr dem Zeitgeist entsprechen, die Transparenz<br />

des Unternehmens fördern und den Kunden einen Mehrwert bieten,<br />

wenn er den Konsumenten fundiert über die Herstellungskette eines<br />

T-Shirts Auskunft geben könnte? Ja, Jobs und Aufgaben fallen weg, wie<br />

sie es schon zu Zeiten der Einführung der Dampfmaschine taten. Es entstehen<br />

aber auch laufend neue, für die man nicht automatisch programmieren<br />

können muss – Stichworte Influencer, Feel Good Manager und<br />

Drohnen-Piloten.<br />

Vielleicht sollten wir auch generell unsere allgemeine Einstellung zur<br />

Arbeit überdenken? Volker Darius greift bei seiner Argumentation auf die<br />

logische Konsequenz der Technologisierung zurück: „Sobald die Automatisierung<br />

steigt, wächst der Lebensstandard und Freiraum der Gesellschaft.“<br />

Besonders Letzterer wird wohl eine neue Bedeutung erfahren.<br />

Wir haben doch sowieso immer zu wenig Zeit für, naja, alles. Wenn uns<br />

dann also endlich mal mehr Freiraum zur Verfügung stünde, wofür könnte<br />

dieser genutzt werden? Eigentlich ist es ganz einfach: entweder für mehr<br />

Freizeit oder aber für eine andere Art von Arbeit. Dabei ist es doch heute<br />

schon spannend zu sehen, dass Menschen oft arbeiten, obwohl sie nicht<br />

müssten – sei es für eine gemeinnützige Organisation oder für die Umsetzung<br />

einer eigenen Idee. Vielleicht ist die KI also eine Chance, unsere<br />

Zeit in diese Arbeiten zu investieren, die unsere Gesellschaft aus sozialer<br />

Sicht vorantreiben<br />

Wir halten fest: Die KI unterstützt die Menschen da, wo sie effizienter<br />

arbeitet. Dafür braucht sie unsere Daten. Damit diese jedoch nicht gegen<br />

die Gesellschaft verwendet werden und, genau, weil immer noch wir<br />

Menschen die Algorithmen zu unserem Besten programmieren sollen,<br />

ist es entscheidend, jetzt zu handeln. KI-Experte Darius weist in diesem<br />

Zusammenhang darauf hin, dass politische sowie gesellschaftliche Ambitionen<br />

darauf abzielen müssen, dass Unternehmen mit ihren erhobenen<br />

Daten transparent umgehen. Hinzu kommen Initiativen wie das von Kanada<br />

und Frankreich gegründete Panel on Artifical Intelligence (IPAI), das<br />

internationale Standards für den Einsatz der KI schaffen will. Um mit der<br />

KI eine sinnvolle Zukunft und den potenziellen Missbrauch unter Kontrolle<br />

zu haben, sind transparenter Umgang und klare Regeln unumgänglich.<br />

Was das für jeden Einzelnen bedeutet? Zeigen Sie Interesse und Neugier<br />

statt Ablehnung und Skepsis. Die Politik soll auf diese Weise gerade noch<br />

rechtzeitig merken, dass in Aufklärung und Qualifikationen langfristig<br />

investiert werden muss. Wenn alle dabei mitmachen, wäre die Basis<br />

also nicht allzu schlecht. Was fehlt, ist Verständnis sowie Vertrauen. Und<br />

letztlich ist es doch genau das, was wir der KI voraushaben: Intuition und<br />

Empathie. Und vielleicht auch etwas Optimismus.<br />

Jetzt den Test machen:<br />

Wie optimistisch sind Sie gegenüber<br />

der Künstlichen Intelligenz?


FOTO: CHARLOTTE HABERSETZER<br />

FREI<br />

HEIT<br />

––– Jeder möchte<br />

sich frei fühlen.<br />

In jedem Lebensbereich<br />

– kreativ,<br />

politisch, körperlich.<br />

Das Bauhaus war<br />

es im Nazi-Deutschland<br />

leider nicht.<br />

Sind wir es heute?


Freiheit<br />

Wir schaffen<br />

das!<br />

44<br />

„WÄHREND DES STUDIUMS SCHWANGER<br />

ZU WERDEN, WAR EIN SEGEN.“<br />

YVONNE (33), ARCHITEKTIN, IN EINER PARTNERSCHAFT, ZWEI KINDER<br />

Das erste Kind mit 23 zu bekommen, ist nicht unbedingt<br />

ungewöhnlich. Manche stehen da seit Jahren im Beruf,<br />

haben Sicherheiten, Routine und vielleicht einfach Lust,<br />

ihren Alltag mit einer neuen Aufgabe und Herausforderung<br />

zu bereichern. Befindet man sich mit 23 allerdings<br />

noch im Studium, sieht die Sache mit dem Baby ganz<br />

anders aus: Der Plan von der großen Karriere, von Unabhängigkeit<br />

und davon, die Welt zu bereisen, wird – auf<br />

unbestimmte Zeit – verschoben. Nur sechs Prozent der<br />

Studentinnen in Deutschland sind Mutter. Zu dieser Randgruppe<br />

zählte Yvonne, nachdem sie 2009 ungeplant mit<br />

ihrem Sohn Noah schwanger wurde. Damals steckte sie<br />

mitten im Architektur-Studium. Sie war mit ihrem Kommilitonen<br />

Michael zusammen, hatte zwar den Wunsch nach<br />

eigenen Kindern – aber doch bitte zu einem viel späteren<br />

Zeitpunkt! „Rückblickend“, sagt Yvonne, „war es aber<br />

genau der richtige. Eigentlich ein Segen.“ Trotz anfänglicher<br />

Befürchtungen, Lehrplan und Familienzeiten nicht<br />

unter einen Hut bringen zu können, ließ sich der Alltag<br />

mit Uni und Baby doch einfacher gestalten als erwartet.<br />

Bei der Betreuung tagsüber wechselte sich Yvonne mit Michael<br />

ab; wenn Noah schlief, konnte sie an Uniprojekten<br />

arbeiten oder Vorlesungen online nachholen. Das Ende<br />

ihres Studiums bedeutete auch das Ende dieser liebgewonnenen<br />

Flexibilität: Yvonne fing an, zu festen Zeiten in<br />

einem Architekturbüro zu arbeiten. Als sie erneut schwanger<br />

wurde, stand für sie zwar von Anfang an fest, bald<br />

nach der Geburt wieder ins Berufsleben zurückkehren<br />

zu wollen, allerdings wusste sie, dass das nur in Teilzeit<br />

möglich sein würde. Aktuell sind Tochter Greta und Sohn<br />

Noah bis nachmittags bei der Tagesmutter, anschließend<br />

kümmert sich Yvonne um sie. Ihr Partner Michael arbeitet<br />

in Vollzeit, absolviert außerdem die Ausbildung zum Ziviltechniker. Die ist in ihrer neuen Wahlheimat,<br />

Dornbirn in Österreich, nämlich Voraussetzung für das nächste Projekt des Paares: Die<br />

jungen Eltern wollen sich als Architekten selbstständig machen. Yvonne fehlt diese Voraussetzung<br />

bislang. Um diese Qualifikation zu erhalten, müsste sie drei Jahre als Vollzeitkraft arbeiten – für<br />

junge Mütter fast unmöglich. Eine Hürde, die laut Yvonne sofort abgebaut werden muss! Schließlich<br />

setze sich Arbeitserfahrung aus mehr als nur abgeleisteten Stunden zusammen. Irgendwie,<br />

das hat sie ihr Leben als junge Mutter gelehrt, wird sie auch dieses Problem meistern. Es gibt ja nur<br />

zwei Wege, sagt sie: „Entweder richtet man sein Leben nach dem Kind aus – oder man integriert<br />

das Kind in sein Leben.“ Yvonne hat sich für letztere Variante entscheiden und möchte sich keine<br />

andere vorstellen müssen.<br />

Für die Frauen am<br />

Bauhaus bedeutete ein<br />

Kind meist das Ende der<br />

Karriere. Wie sieht das<br />

100 Jahre später aus?<br />

Vier Frauen über ihren<br />

individuellen Plan Familie<br />

VON EVA KAPELLER UND ROSSELLA LOFINO<br />

ILLUSTRATIONEN VON PATRICK SIMON<br />

„ICH MÖCHTE MEINE<br />

EIGENEN REGELN<br />

AUFSTELLEN.“<br />

LISA (30), UNTERNEHMERIN, IN EINER<br />

PARTNERSCHAFT, KEINE KINDER<br />

Lisa gründete 2013 mit ihrer Geschäftspartnerin die Kreativagentur<br />

Blogger Bazaar, die heute ihren Sitz in Berlin<br />

hat. Ein voller Terminplan mit Events und Businessmeetings<br />

gehört seither zu ihrem Alltag. Freie Tage oder Wochenenden<br />

konnte sie die letzten Jahre nur selten genießen.<br />

Trotz ihrer Verpflichtungen hat sie der Wunsch von eigenen<br />

Kindern schon früh begleitet. Da ihr Job nicht die Sicherheiten<br />

garantiert, die eine klassische Festanstellung<br />

mit sich bringt, musste die Familienplanung hintenangestellt<br />

werden. „Als Selbstständige hatte ich immer das<br />

Gefühl, dass ich nicht ausreichend abgesichert bin“, so<br />

Lisa. Diese Furcht habe in den letzten Jahren abgenommen,<br />

das Kinderthema rückte wieder in den Vordergrund.<br />

Um auch ihren Mitarbeiterinnen entsprechende Ängste zu<br />

nehmen, legt Lisa großen Wert auf eine Arbeitskultur, die<br />

sehr emphatisch und ehrlich ist und auf individuelle Bedürfnisse<br />

der anderen eingeht. Gerade bei Minderheiten,<br />

sagt sie, solle es generell so sein, dass man sich unterstützt<br />

und gegenseitig stark macht. Vor allem in männerdominierten<br />

Strukturen werde Müttern oftmals mit Intoleranz<br />

begegnet, die durch den Zusammenhalt unter Frauen verhindert<br />

werden könne. Neben der Karriere gibt es für Lisa<br />

noch einen weiteren Grund, weshalb sich Frauen oftmals<br />

gegen ein Kind entscheiden. In Berlin sieht sie neben den beruflichen Zwängen vor allem einen<br />

„Lifestyle-Druck“. Überall dabei zu sein und nach dem Motto „Sehen und gesehen werden“ zu<br />

leben, habe Priorität, weshalb für viele ein Kind erstmal nicht in Frage käme. Bei Freunden außerhalb<br />

der Szene beobachtet sie, dass Familie früher ein Thema wird. Wenn die 30-Jährige sich<br />

demnächst für Nachwuchs entscheidet: Wie möchte sie dann die Balance zwischen Job und<br />

Familie finden? „Ich kann mir vorstellen, mein Kind mit zu Meetings zu nehmen und es vielleicht<br />

sogar währenddessen zu stillen.“ Lisa gibt sich da sehr zuversichtlich, weil sie – als ihr eigener<br />

Boss – ihre Rolle selbst definieren und anpassen kann. Die Agenturleiterin möchte ihre eigenen<br />

Regeln aufstellen, bestehende Grenzen durchbrechen und Menschen so mit einer neuen Realität<br />

konfrontieren, die irgendwann Normalität werden soll. Es gehe ihr darum, zu sagen: „Hey, ich<br />

bin zwar Mutter, aber ich bin noch immer Lisa, ich bin noch immer dieselbe Person und noch<br />

immer ein aktives Mitglied der Gesellschaft“. Wichtig sei es ihr auch, dass beide Elternteile<br />

gleichwertig involviert und engagiert dabei sind. Dass eine intensiv gelebte Vaterrolle für Männer<br />

in der heutigen Zeit immer wichtiger ist, sei eine positive Entwicklung für eine moderne und<br />

gleichberechtigte Elternschaft. Allerdings sieht Lisa große Lücken im System: fehlende Kita-Plätze,<br />

ein Mangel an Tagesmüttern und ein veraltetes Schulwesen sind Probleme, die bestimmt auch für<br />

sie eine Herausforderung darstellen werden. Um nachhaltig etwas zu verändern, müsse erst einmal<br />

das Muttersein in der Gesellschaft anerkannt werden. „Denn auch das Muttersein ist eine Art<br />

Beruf, der viel Energie kostet und bei dem es darum geht, der nächsten Generation die besten<br />

Entwicklungschancen zu bieten.“


Freiheit<br />

„ICH MUSSTE LERNEN, AUFGABEN ABZUGEBEN“<br />

FRANZISKA (45), STELLV. CHEFREDAKTEURIN, IN EINER PARTNERSCHAFT, EIN KIND<br />

Franziska arbeitet nun schon seit mehr als 20 Jahren<br />

für die deutsche Ausgabe des Modemagazins Elle. Trotz<br />

ihres zeitintensiven Jobs investiert sie auch in ihr Familienleben<br />

mit Tochter und Partner viel Energie. Zwei unterschiedliche<br />

Bereiche ihres Lebens, die ihr gleichermaßen<br />

Freiheit geben und sie wachsen lassen. In ihrer Berufslaufbahn<br />

ist Franziska nie an den Punkt gekommen, sich<br />

entweder für den Job oder die Familie entscheiden zu<br />

müssen. Für sie sei es immer klar gewesen, konstant<br />

arbeiten zu wollen und selbstständig zu leben. Um diese<br />

zwei Komponenten zu vereinen, musste sie jedoch<br />

lernen, Kompromisse einzugehen, was ihre eigenen Ansprüche<br />

angeht. „Frauen wollen in allem hundertprozentig<br />

gut sein und alles geben. Ganz ohne Abstriche geht<br />

es jedoch nicht, wenn man Familie und Karriere unter<br />

einen Hut kriegen möchte“, sagt Franziska. Da sowohl<br />

ihr Mann als auch sie selbst beruflich sehr eingespannt<br />

sind, waren sie von Anfang an auf die Hilfe von Anderen<br />

angewiesen. Das Vertrauen und das Abgeben von<br />

Verantwortung sei also ein wichtiger Bestandteil ihres<br />

Familienlebens. Veränderung kann laut Franziska nur<br />

stattfinden, wenn Frauen mehr Dinge einfordern, den<br />

Männern mehr abverlangen und anfangen, „auch mal<br />

ihren Stiefel durchzuziehen“. Um eine gewisse Selbstverständlichkeit<br />

nach außen zu repräsentieren, sei das<br />

Selbstbewusstsein der Frauen ein wichtiger Faktor. Nur<br />

so könne ein gesellschaftliches Umdenken entstehen. Als<br />

Führungskraft ist ihr auch klar, dass die Doppelbelastung<br />

Job und Familie oftmals zu Konflikten führen kann. Mit<br />

diesem Thema sollte daher sehr sensibel umgegangen<br />

„ICH MÖCHTE KEINE<br />

AUFFÜHRUNG MEINES<br />

KINDES VERPASSEN“<br />

SARAH (27), VISUAL COMMERICIAL<br />

MANAGER, IN EINER PARTNERSCHAFT,<br />

KEINE KINDER<br />

werden: Es dürften für niemandem im Team Nachteile entstehen, auch nicht für Frauen ohne<br />

Kinder. „Wenn eine Mutter früher los muss, um ihr Kind abzuholen, sollte den kinderlosen<br />

Kolleginnen ein Ausgleich gewährt werden“, erklärt Franziska. Man könne nicht immer nur<br />

von den „armen Müttern“ sprechen, sondern müsse das gesamte Bild betrachten. In der<br />

Gesellschaft beobachtet Franziska eine Renaissance des Biedermeier, wie sie sagt: die Rückbesinnung<br />

auf die Familie und traditionelle Werte, begleitet von einer großen Sehnsucht nach<br />

Stabilität. Ein sehr klassisches Familienideal, das sie selbst nie hatte. Sie sei von einem sehr<br />

gleichberechtigten Rollenbild geprägt worden, weshalb ihr dies auch in der Erziehung ihrer<br />

Tochter besonders wichtig ist. Jeder Elternteil solle nach seinen Stärken eingesetzt werden,<br />

um das Bestmögliche herauszuholen. In Bezug auf Gleichberechtigung fordert Franziska eine<br />

größere Wertschätzung der Männer und gegenseitigen Respekt: „Es ist kein Kampf. Es sollte<br />

keiner sein, aber momentan ist es noch einer.“<br />

Wenn Sarah einmal Kinder hat, möchte sie ihnen bei<br />

den Hausaufgaben helfen, nachmittags mit ihnen ins<br />

Schwimmbad gehen und keine ihrer Musikaufführungen<br />

verpassen. Schließlich sind das die Ereignisse, die eine<br />

Mutter nicht verpassen sollte, findet sie. Sie ist aber der<br />

Meinung, dass das nur funktionieren kann, wenn sie<br />

Abstriche im Beruf machen würde. Eigentlich bietet ihr<br />

Job als Visual Commercial Manager bei Zara, wo sie<br />

für die Gestaltung der Verkaufsflächen zuständig ist, die<br />

idealen Arbeitszeiten für Mütter. Länger als 15:00 Uhr<br />

muss sie selten arbeiten. Sarah möchte sich jedoch noch<br />

weiterbilden, Seminare und Workshops sowie Filialen<br />

auf der ganzen Welt besuchen. Mit einem Kind wäre<br />

das für sie, die rund um die Uhr für ihre Familie da sein<br />

möchte, unmöglich. Daher hat sie dieses Thema erstmal<br />

auf Eis gelegt. Eigentlich so gar nicht, was sie sich einmal<br />

vorgestellt hat: „Mit 27 wollte ich längst in einem<br />

Haus mit Garten leben, mich hingebungsvoll um zwei<br />

Kindern kümmern und das Dasein als Familienmutter<br />

genießen.“ Zwar hat sie seit zehn Jahren eine stabile<br />

Beziehung, wohnt aber in einer gemütlichen Altbauwohnung<br />

und plant Kinder frühestens mit 30. Warum hat sich ihre Wunschvorstellung in Sachen<br />

Familie so verändert? Das liegt unter anderem an ihrem beruflichen Aufstieg, der ihr ganz<br />

neue Möglichkeiten aufzeigte. Angefangen hatte sie als gelernte Einzelhandelskauffrau. Das<br />

hieß: wechselnde Schichten, lange Arbeitszeiten und Einsätze auch an Samstagen - nicht<br />

gerade familienfreundlich. Viele Mütter mit Kindern arbeiten daher in Teilzeit und müssen<br />

trotzdem um freie Wochenenden kämpfen, da auch bei einer 25-Stunden-Woche nicht jeder<br />

Wunsch erfüllt werden kann. Jene Kolleginnen, die Vollzeit arbeiteten, waren oft gelangweilt<br />

und ausgebrannt, viele sahen in der Familienplanung den einzigen Ausweg. Doch Sarah<br />

merkte: ich möchte mich noch nicht aufs Private konzentrieren, sondern mich beruflich neuen<br />

Herausforderungen stellen! Deshalb bewarb sie sich als Visual Commercial Manager, wurde<br />

genommen - und sammelt seitdem Erfahrungen, die mit einem Kind schwierig wären. Wenn<br />

der richtige Zeitpunkt gekommen ist, sagt sie, werde es ihr besonders wichtig sein, dass ihr<br />

Partner nicht nur beim Kinderwunsch, sondern auch bei der Erziehung hundert Prozent hinter<br />

ihr steht. Schließlich opfere die Frau doch einiges für eine Familie. Daher ist es für Sarah nicht<br />

abwegig, dass der Partner nach der Geburt in Elternzeit geht - mindestens zwei Monate. Um<br />

das zu klären, sei aber noch genügend Zeit. Gerade lebt sie sehr gern im Hier und Jetzt.<br />

46<br />

UND SEI ES NUR ZUM ZEITVERTREIB“<br />

„WO WOLLE IST, IST AUCH EIN WEIB, DAS WEBT,<br />

OSKAR SCHLEMMER<br />

Bilder der Frauen und die Gedanken<br />

über ihre Zukunft finden Sie hier.


Freiheit<br />

36<br />

ürkisch<br />

Hören Sie, wie man<br />

„haydi“ und Co. richtig<br />

ausspricht und was die<br />

Begriffe wirklich bedeuten.<br />

für<br />

Anfänger<br />

Moruk, wallah, habibi – verstehen Sie nicht?<br />

Unsere Autorin auch nicht VON RAFFAELA HERRMANN<br />

BILD: UNSPLASH<br />

„Annnnnnnneee!“, ruft mein jüngerer Bruder Claudio lautstark<br />

durch den ganzen Rewe. Sechs Mütter drehen sich<br />

um. Nur nicht unsere. „Annee?“, fragt er. Keine Reaktion.<br />

„Lan, warum hört sie denn nicht? Maaaammmmaaa?“.<br />

„Ja, mein Schatz?“, antwortet unsere Mutter schließlich<br />

mit ruhiger Stimme. „Und nenn mich nie wieder Anne!“,<br />

folgt darauf mit Nachdruck. „Okay haydi, lassma gehen.<br />

Yallah!“, erwidert Claudio – genervt, dass scheinbar<br />

niemand aus der Familie das türkische Wort für Mutter<br />

(Anne) zu kennen scheint.<br />

Sie müssen wissen, dass wir in einem Dorf außerhalb<br />

von München wohnen. In der Nähe der Autobahn,<br />

nicht weit vom Flughafen entfernt. Zwei Rewe, ein Aldi,<br />

ein Netto. Daneben der „Yilmaz“ Supermarkt, eine Dönerbude<br />

und ein türkischer Brautmodenladen. Genau in<br />

diesem Laden kaufe ich Kleider für besondere Anlässe,<br />

mittags gehe ich Manti (türkische Maultaschen) essen und<br />

während des Ramadans zu meiner Freundin zum Fastenbrechen<br />

– ich faste zwar nie, das Festmahl lasse ich<br />

mir aber trotzdem nicht entgehen. Türkisch kann ich kein<br />

Wort. Denn wie Sie wahrscheinlich aus den Namen von<br />

mir (21) und meinem Bruder (18) schließen können (ich<br />

entschuldige mich im Voraus für die Stereotypisierung),<br />

sind wir keine Türken, aber auch keine Italiener. Wir sind<br />

Deutsche.<br />

Mein Bruder nannte unsere Mutter nach dem Supermarkt-Vorfall<br />

nicht mehr Anne. Jedoch auch nicht Mama.<br />

Nein, er nannte sie Anneliese. Auch ein schöner Name,<br />

aber eigentlich heißt sie Stefanie. Als meine Mutter Claudio<br />

abends von einer Party abholen wollte, flehte sein<br />

bester Freund: „Bitte nur noch eine Stunde, bitte, Anneliese.“<br />

Mama war leicht entsetzt. „Moruk, sie heißt Stefanie<br />

nicht Anneliese, wallah“, prustete Claudio. Sein Freund,<br />

sichtlich verlegen: „Çüş!“<br />

In der Tat „krass“, was alles passieren kann, wenn<br />

man keinen einzigen Satz mehr ohne türkische Begriffe<br />

sprechen möchte. Peinliche Verwechslungen sind dabei<br />

nicht mal das Schlimmste.<br />

Ist „Kiez-Dialekt“, „Türkenslang“ oder, wie ich es nenne,<br />

„Dönerdeutsch“ eine Bedrohung für die deutsche<br />

„Architektur ist eine Sprache mit der Disziplin einer<br />

Grammatik. Man kann Sprache im Alltag als<br />

Prosa benutzen und wenn man sehr gut ist, kann<br />

man ein Dichter sein.“ LUDWIG MIES VAN DER ROHE<br />

Sprache? Von vielen wird es als Ursprung fehlender Integration<br />

von Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft gedeutet<br />

und als Verfall des Deutschen angesehen. Anfangs<br />

hätte auch ich so gedacht. „Warum kannst du eigentlich<br />

nicht mal normal sprechen?“, fragte ich meinen Bruder<br />

beim Frühstück. „Habibi, tu ich doch“, trotzte er. „Hast du<br />

mich grad beleidigt? Ganz ehrlich, hör auf, immer solche<br />

Wörter zu verwenden!“ Obwohl… was genau bedeutete<br />

„Habibi“ eigentlich? Ich zückte also unauffällig mein<br />

Handy, Google Translate würde mir schon recht geben.<br />

Leicht verdutzt schaute ich Claudio an. „Habibi“ ist ein<br />

arabischer Ausdruck für „Liebling“. „Ohhhhh, du bist ja<br />

süß“, sagte ich und wollte ihn ganz feste drücken. „Siktir<br />

git lan, fass mich nicht an.“ Und so war der beinahe schöne<br />

Geschwistermoment zerstört.<br />

Ich dachte nach. Eigentlich ziemlich beeindruckend,<br />

dass viele deutsche Jugendliche neben Anglizismen<br />

auch die Bedeutung türkischer oder arabischer Wörter<br />

kennen und diese auch in ihre Ausdrucksweise miteinfließen<br />

lassen. Wir alle sprechen nicht nur ein Deutsch.<br />

Wir wechseln ständig zwischen formell und informell,<br />

zwischen Dialekt und Hochdeutsch und zwischen Englisch<br />

und Deutsch. Warum dann nicht auch zwischen<br />

Türkisch und Deutsch? Durch die sprachliche Kreativität<br />

der Jugendlichen fließen neue Fremdwörter ins Deutsche<br />

ein, die Grammatik wird vereinfacht und die Sprache dynamischer.<br />

Diese Art von Jugendsprache gibt es schon<br />

seit Mitte der 1990er Jahre und trägt seitdem, gerade in<br />

Gruppen von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund,<br />

zu einer besonderen sprachlichen Integration<br />

bei. „Dönerdeutsch“ als Bedrohung anzusehen, ist also<br />

kurzsichtig, wir sollten es eher als Geschenk betrachten.<br />

Ein türkisches Sprichwort sagt: „Bir lisan, bir insan. Iki<br />

lisan, iki Insan.“ – „Wer eine Sprache beherrscht, der ist<br />

nur ein Mensch; wer aber zwei Sprachen beherrscht, gilt<br />

als zwei Menschen.“ Na, dann sollte ich wohl schleunigst<br />

einen Türkischkurs bei meinem Bruder belegen. „Was<br />

heißt denn dieses Sektür ged lann?“ Doch er hatte mir<br />

schon den Rücken zugewandt und ich hörte nur sein verschmitztes,<br />

freches Lachen.


Freiheit<br />

802C<br />

38 39<br />

Linke Seite: Fließendes langes Kleid von<br />

Asos Design, um 80 Euro.<br />

Diese Seite: Organza-Bluse mit Schleife von<br />

Zara, um 50 Euro<br />

Was im Pantone-Farbfächer für Neongrün steht,<br />

steht hier für eine zeitgemäße Weiterentwicklung der<br />

Bauhaus-Farben: Pink und Grün statt Rot, Blau, Gelb<br />

FOTOS VON STEFANI MIJATOVIC<br />

STYLING VON ALINE GANGUIN, EVA KAPELLER, ROSSELLA LOFINO<br />

HAIR & MAKE-UP VON MARLENE FUCHS<br />

MODEL: AÏSSATOU ESTELLE NIANG, EMMANUEL EDIGIN


Freiheit<br />

Diese Seite: (Links) Oberteil in<br />

Netz-Optik von Asos Design,<br />

um 40 Euro. Eng angliegendes<br />

Trägerkleid von Asos Design,<br />

um 50 Euro. (Rechts) Organza-Bluse<br />

mit großer Schleife von<br />

Zara, um 50 Euro<br />

Rechte Seite: Minikleid aus Chiffon<br />

mit Pailletten von Retrofête,<br />

um 490 Euro. Sonnenbrille von<br />

Acne Studios, um 260 Euro


Freiheit<br />

43<br />

„Farbe ist eine Kraft, die die Seele direkt beeinflusst.“<br />

WASSILY KANDINSKY<br />

Linke Seite: One-Shoulder<br />

Kleid mit Ballonärmel von Asos<br />

Design, um 60 Euro. Ankle<br />

Boots aus Leder von Prada, um<br />

790 Euro<br />

Diese Seite: Blazer-Kleid von<br />

Nly by Nelly, um 50 Euro.<br />

Langes Slipdress von Essential<br />

Antwerp, um 165 Euro


Freiheit<br />

Welterweiterung<br />

48<br />

VON SONJA WUNDERLICH<br />

"Kunst ist nicht<br />

zum<br />

Anschauen -<br />

Kunst schaut<br />

uns an."<br />

- Josef Albers<br />

Sie wollen mehr über die Künstler<br />

und ihren Prozess bis zum fertien<br />

Plakat wissen? QR-Code scannen<br />

und auf formfollowsfuture.de lesen<br />

In Kooperation mit<br />

dem Studiengang Marken-<br />

und Kommunikationsdesign<br />

der AMD<br />

Düsseldorf haben wir<br />

die Möglichkeit, das<br />

Bauhaus zum Leben<br />

zu erwecken. Die Aufgabe<br />

der Künstler war<br />

es, mit den Adobe<br />

Bauhaus-Schriften multimediale<br />

Plakate mit<br />

Zitaten ausgewählter<br />

Bauhaus-Lehrer und<br />

-Schüler zu gestalten.<br />

Augmented Reality<br />

eröffnet dabei eine<br />

Ebene zwischen dem<br />

ausgedruckten Plakat<br />

und der virtuellen Animation<br />

auf dem Smartphone:<br />

Im App-Store<br />

die App Artivive laden,<br />

mit der Smartphone-<br />

Kamera auf das Plakat<br />

halten – und schon<br />

startet die Animation<br />

auf dem Handy. Unbedingt<br />

ausprobieren!<br />

LINKS: PLAKAT VON ANNA FRÖSE: DER BAUHAUS-JUNGMEISTER JOSEF ALBERS UND SEINE WICHTIGSTEN STATEMENTS<br />

RECHTS: PLAKAT VON LUKAS BÜRGELT: „RÄUME“ AUS WÖRTERN. ZITATE VON LUDWIG MIES VAN DER ROHE, FARKAS MOLNÁR, HANNES MEYER<br />

„BAUKUNST<br />

IST<br />

RAUMGEFASSTER<br />

LEBENDIG.<br />

ZEITWILLE.<br />

NICHT DAS<br />

GESTERN,<br />

WECHSELND.<br />

M<br />

GESTALTET<br />

N E U .<br />

DIE FORM AUS<br />

LUDWIG MIES VAN DER ROHE<br />

NICHT DAS<br />

MORGEN,<br />

NUR DAS HEUTE<br />

L<br />

NUR DIESES<br />

BAUEN GESTALTET.<br />

IST FORMBAR.<br />

DEM WESEN<br />

MIT DEN MITTELN<br />

UNSERER ZEIT.<br />

DAS IST<br />

UNSERE<br />

AUFGABE.“<br />

DER AUFGABE


Freiheit<br />

SCHLEMMER<br />

„Tell me how you party and I‘ll tell you who you are.“ OSKAR<br />

H<br />

A USPARTY<br />

P<br />

A RTYH A US<br />

Laute Musik, schrille<br />

Kostüme und viel<br />

Alkohol – so sahen<br />

die legendären<br />

Bauhaus-Partys in den<br />

1920ern aus. Wie<br />

wird heute gefeiert?<br />

Fünf Geschichten aus<br />

dem Nachtleben<br />

VON ALINE GANGUIN<br />

32<br />

LARA, 24<br />

DIE QUEER-FREUNDIN<br />

Meine neueste Party-Entdeckung sind Schwulenpartys. Ich habe einige<br />

homosexuelle Freunde, die mich schon ein paar Mal mitgenommen<br />

haben. Als Frau geht es mir in erster Linie darum, beim Feiern nicht blöd<br />

angemacht zu werden. Auf diesen Partys sind alle wahnsinnig aufmerksam<br />

und zuvorkommend. Es geht auch sehr zwanglos zu. Man kann sich<br />

anziehen, wie man will, weil es nur darum geht Spaß zu haben; man hat<br />

nicht das Gefühl, irgendeinen Typen im Club beeindrucken zu müssen.<br />

Das Wichtigste ist, dass man sich selbst gefällt und sich wohlfühlt. Lustigerweise<br />

ziehen sich die meisten Frauen freizügig an.<br />

Die Männer tanzen gerne oberkörperfrei in einer Reihe. Es ist ganz<br />

erfrischend mal mit Typen zu tanzen, die Taktgefühl haben und ihre<br />

Hüften bewegen können. Als Frau wird man jedes Mal mit Komplimenten<br />

überhäuft, die aber natürlich nicht auf sexueller Ebene basieren. Das tut<br />

gut. Den Männern geht es wiederum schon um körperlichen Kontakt zu<br />

anderen Homosexuellen. Es wird viel geflirtet, was aber nicht heißt, dass<br />

man später auch gemeinsam die Party verlässt. Ich denke, da geht es<br />

eher um Bestätigung. Viele Gäste sind auch in offenen Beziehungen.<br />

Lustige Nächte hatte ich zum Beispiel im „Rendezvous“, eine Schwulenbar<br />

in München. Da gehe ich gerne mit meinen männlichen Freunden<br />

hin, und sobald wir durch die Tür treten, sind die schon von Typen<br />

umringt. Für mich ist das kein Problem, denn auch als Frau findet man<br />

schnell interessante Gesprächspartner. Und ganz ehrlich, es ist auch<br />

schon unterhaltsam, den anderen einfach beim Flirten zuzusehen.<br />

NIK, 22<br />

DER FESTIVALGÄNGER<br />

Ich gehe zum Party machen am liebsten auf Festivals. Die Atmosphäre<br />

dort ist ganz anders als im Club. Alles ist kunterbunt, die Sonne scheint<br />

und man hat seine liebsten Menschen um sich herum. Meistens reisen<br />

wir in einer Gruppe an und übernachten auf dem Campingplatz. Wenn<br />

man dann gemeinsam draußen sitzt, freundet man sich schnell mit den<br />

anderen Festivalbesuchern an – das macht auch das Flirten einfacher. Im<br />

Club traue ich mich oft nicht, Mädels anzusprechen.<br />

Zudem geht es auf Festivals viel friedlicher zu. Die Leute sind alle sehr<br />

freundlich und wenn man jemanden aus Versehen anrempelt, muss man<br />

keine Angst haben blöd angemacht zu werden. Da man auf dem großen<br />

Gelände viel Platz hat, macht auch das Tanzen mehr Spaß. Man fühlt<br />

sich frei und spürt einfach nur noch die Musik. Wie man dabei aussieht,<br />

interessiert keinen. Auch Kleidung ist nicht so wichtig. Man wird nicht von<br />

den anderen verurteilt, deswegen sind viele Outfits sehr ausgefallen und<br />

farbenfroh. Im Club spüre ich oft die Blicke, wenn ich mich auffälliger<br />

anziehe oder anders tanze als die Menge.<br />

Ich habe das Privileg, als Influencer oft auf Outdoor-Events eingeladen<br />

zu werden. Ich mache dann Fotos und Videos von den Auftritten, manchmal<br />

kann ich auch Karten an meine Follower verlosen. An einem typischen<br />

Festival-Tag setzen wir uns nach dem Aufstehen erstmal in unsere<br />

Liegestühle und genießen die Sonne zu den Beats. Irgendwann öffnen<br />

wir dann das erste Bier und wir spielen Karten. Die besseren Künstler<br />

kommen erst gegen Abend, passend zum Sonnenuntergang. Nachdem<br />

wir die ganze Nacht getanzt haben, geht’s wieder zurück zum Campingplatz<br />

und wir lassen das Ganze ausklingen. Geschlafen wird meistens<br />

nicht so viel.


Freiheit<br />

35<br />

JUSTUS, 26<br />

DER JETSETTER<br />

JACK*, 25<br />

DER PARTYPROFI<br />

Ich verbringe gerne jedes Wochenende anders, verreise auch oft. Erst<br />

neulich war ich für ein kurzes aber intensives Party-Wochenende auf<br />

Ibiza. Drei Freunde von mir studieren dort und wir haben zusammen in<br />

einer Finca gewohnt. Das bedeutete: Jeden Tag gutes Wetter und „Daydrinking“.<br />

Einen Tag haben wir im „Ushuaia“ verbracht – ein Luxushotel<br />

mit Open-Air-Club, wo die Top-DJs aus aller Welt auflegen. Das Lineup<br />

und die Stimmung waren so gut, dass die Zeit super schnell verflogen ist<br />

und wir von vier Uhr nachmittags bis Mitternacht geblieben sind.<br />

Ich liebe es, bei Sonnenschein und entspannter Musik Party zu machen.<br />

Das ist ein großer Unterschied zu Deutschland, wo man ja hauptsächlich<br />

abends feiern geht. Außerdem kenne ich in meiner Stadt fast jeden Club<br />

und weiß: Unter der Woche passiert hier nichts. In anderen Ländern<br />

oder Städten ist das definitiv anders.<br />

Zwei Wochen nach dem Ibiza-Trip bin ich nach Barcelona geflogen, um<br />

zwei ehemalige Kommilitonen zu besuchen. Wir waren drei Tage hintereinander<br />

unterwegs und hatten den Spaß unseres Lebens. Das einzige<br />

Problem war, dass ich am Montagmorgen wieder pünktlich im Büro<br />

sitzen musste. Also ging es von der Party quasi direkt zum Flughafen.<br />

Weil ich sehr viel arbeite, könnte ich die Wochenenden natürlich besser<br />

nutzen, um mich zu erholen. Ich bin aber extrem rastlos und unternehme<br />

in meiner Freizeit gerne viel. Das ist mein Ausgleich.<br />

Ich arbeite vier Tage in der Woche im Club, das heißt ich habe immer<br />

Party um mich herum. Natürlich kommt es auch öfter vor, dass ich selber<br />

mittrinke, vor allem wenn mich Freunde besuchen. Wenn ich nach der<br />

Arbeit noch fit bin, ziehen wir gerne zur After Hour weiter. Entweder in<br />

einen anderen Club, der in den frühen Morgenstunden noch offen hat,<br />

oder wir feiern bei Freunden. Das ist meistens der Fall. Wir sind dann<br />

eine kleine Runde und machen Musik und trinken. Das geht bis mittags<br />

oder nachmittags, bevor ich mich dann gegen 20 Uhr wieder auf den<br />

Weg in die Arbeit mache.<br />

Montag und Dienstag sind bei mir entspannter. An diesen Tagen treffe<br />

ich mich gerne mit Freunden zum Essen oder in einer Bar; vor allem muss<br />

ich dann den Schlaf nachholen, den ich am Wochenende nicht bekomme.<br />

Es klingt vielleicht nicht so, aber ich bin viel ruhiger geworden als<br />

früher. Damals bin ich mehrere Tage die Woche privat feiern gegangen.<br />

Dennoch hatte ich vor kurzem mal wieder ein hartes Wochenende. Am<br />

Samstag bin ich nach der Arbeit direkt nach Berlin geflogen und dort<br />

ging es gleich weiter in den Club. In den Berliner Clubs gibt es so viele<br />

Angebote, dass man es locker ein paar Tage darin aushält. So kam ich<br />

erst am Dienstag wieder raus, habe dann nur schnell meinen Koffer gepackt<br />

und bin zurück Nachhause geflogen. Was die Partyszene angeht,<br />

mag ich Berlin viel lieber als München. Die Menschen sind so locker und<br />

man kann länger und vor allem extremer feiern.<br />

Finden Sie im Test heraus, wie viel<br />

Stubenhocker oder Partykanone in<br />

Ihnen steckt<br />

*Name geändert<br />

ZEYNEP, 22<br />

DIE ENTSPANNTE<br />

Abends treffe ich mich am liebsten mit meinen Mädels, um gemeinsam zu<br />

kochen und anschließend einen Film oder Serien zu schauen. Wir trinken<br />

zwar keinen Alkohol, aber ein bisschen Party muss schon sein. Also wird<br />

die Musik laut aufgedreht und dann tanzen wir bis wir total fertig auf<br />

die Couch fallen. Dafür brauchen wir keine Drinks oder verschwitzte<br />

Menschen um uns herum.<br />

Wenn wir am Wochenende ausgehen, dann am liebsten ins Kino. Im<br />

Club bin ich höchstens einmal im Jahr. Spaß habe ich dort natürlich<br />

schon, aber es ist einfach nicht dasselbe wie daheim, wo ich die Gäste<br />

und die Musik selbst bestimmten kann. Vor allem im Sommer will ich<br />

meine Abende nicht in stickigen Clubs verbringen. Da finde ich es am<br />

schönsten, mit meinen Freundinnen auf dem Balkon oder im Restaurant<br />

zu sitzen und zu quatschen.<br />

Wenn ich mal feiern gehe, brauche ich mittlerweile immer ein paar<br />

Tage, um mich davon zu erholen. Eine ganze Nacht im Club ist ziemlich<br />

anstrengend, wenn man es nicht gewohnt ist. Hinzu kommt noch mein<br />

Pharmazie-Studium, das viel Zeit zum Lernen verlangt. Ein paar Tage<br />

ausfallen geht da nicht.<br />

Viele meiner Bekannten können nicht verstehen, dass ich nicht feiern<br />

gehe. Ab und zu kommen dumme Kommentare oder Sprüche, aber das<br />

stört mich nicht. Jeder sollte das tun können, was ihm Spaß macht ohne<br />

verurteilt zu werden. Und langweilig ist es bei uns nie.


AN<br />

FANG<br />

–––– Ohne auf den<br />

Beginn einer Ge schichte<br />

zu blicken, kann man<br />

sie nicht weiterschreiben.<br />

Ein Grundbau stein der<br />

Kunstschule Bauhaus war<br />

das Handwerk. Wir<br />

greifen darauf zurück –<br />

mit aktuellen Perspektiven.<br />

FOTO: CHARLOTTE HABERSETZER


Anfang<br />

58<br />

Masken<br />

ball<br />

Als Fotografie-Pionierin machte sich Gertrud Arndt am Bauhaus<br />

einen Namen. Ihre Bilder waren schaurig genaue Blicke in<br />

die Zukunft, auf unsere heutige Zeit. Eine Zeit, in der Selfies die<br />

Grenzen zwischen Realität und Illusion auflösen VON LISA JAKOBS<br />

FOTO: BAUHAUS-ARCHIV BERLIN © VG BILD-KUNST,BONN 2019<br />

Das Maskenporträt Nr. 13, entstanden 1930 in Dessau


Anfang<br />

60<br />

Oft führt Langeweile zu den besten Ideen,<br />

so scheint es zumindest bei Gertrud Arndt<br />

gewesen zu sein. Nachdem sie 1927 am<br />

Bauhaus die Webereiklasse absolvierte<br />

und dort auch ihren späteren Ehemann<br />

Alfred Arndt kennenlernte, widmete sie sich ganz dem<br />

Hausfrauen- und Mutterdasein. Die Ausbildung in der Weberei<br />

war für sie ohnehin nur eine Notlösung. Die Architektur,<br />

ihr eigentliches Wahlfach, konnte zu diesem Zeitpunkt<br />

noch nicht am Bauhaus studiert werden. Als Alfred<br />

Arndt eine Stelle als Lehrer am Bauhaus bekam, stellte<br />

sich Gertrud Arndt selbst hinten an, auch wenn sich die<br />

beiden in ihrem Ehevertrag die „völlige Gleichheit der<br />

Frau neben dem Manne“ versprechen, aber Gleichberechtigung<br />

war und ist ja ohnehin ein weit dehnbarer Begriff.<br />

Trotzdem muss man fast schon von Glück sprechen,<br />

dass Getrud Arndt sich wohlwollend ihrem Schicksal als<br />

Heimchen und, wie sie selbst sagte, „Nichtstuerin“, hingegeben<br />

hat, denn ohne diese große Langeweile wären<br />

ihre ikonischen Maskenporträts wahrscheinlich nie entstanden.<br />

Ihre fotografischen Kenntnisse brachte sie sich<br />

alle selbst bei. So war es ihr sicher auch ein leichtes sich<br />

im Bad ihres Meisterhauses in Dessau eine Dunkelkammer<br />

einzurichten. Aus Besenstiel, Steinen, Zeitung und Zwirnfaden<br />

bastelte sie sich Stativ und Selbstauslöser und schuf<br />

damit ihre 43 Maskenfotos.<br />

Über 70 Jahre nach den Maskenporträts wurde 2002 das<br />

erste „Selfie“ gepostet. Es war kein Selfie im klassischen<br />

Sinne, denn zu sehen war nur eine angeschwollene Unterlippe.<br />

Der Australier Nathan Hope wollte das Ergebnis<br />

einer durchzechten Nacht mit der ganzen Welt teilen und<br />

gab dem Ganzen den Namen Selfie, dass er damit einen<br />

wahren Hype auslösen würde, war ihm zu diesem Zeitpunkt<br />

bestimmt nicht bewusst. Übrigens, gab es das erste<br />

Foto mit Selbstauslöser schon viel früher, nämlich 1839,<br />

als der amerikanische Chemiker Robert Cornelius seine<br />

selbstgebaute Kamera ausprobieren wollte. Was heute<br />

eine ganze Generation ausmacht, ist also eigentlich nur<br />

durch Zufälle entstanden. Im Jahr 2019 gilt das Selfie als<br />

eines der wichtigsten und auch umstrittensten Kommunikationsmittel.<br />

Arndts<br />

Maskenporträts haben auf den ersten Blick vielleicht nicht<br />

unbedingt etwas mit unserer heutigen Zeit zu tun, in der<br />

man von Contouring, Weichzeichner und Schmollmündern<br />

geradezu erschlagen wird. Schaut man aber genauer<br />

auf den Selfie-Wahn in den Sozialen Netzwerken,<br />

dann fallen sofort einige Parallelen auf. Mit ihren Bildern<br />

verfolgte die Künstlerin also damals schon einen wahnsinnig<br />

modernen Ansatz.<br />

„Was ist man? Vielleicht hat man immer eine Maske. Irgendwo<br />

hat man immer einen Ausdruck, den man haben<br />

will. Das könnte man doch Maske nennen, oder?“ In diesen<br />

Sätzen beschreibt Gertrud Arndt im Grunde genau<br />

das, was die heutige Selfie-Kultur bestimmt. Mit Filtern<br />

und Gesichtsausdrücken, die im normalen Leben niemals<br />

jemand machen würde, inszeniert man sich gekonnt oder<br />

auch weniger gekonnt auf Social Media. Keiner weiß<br />

eigentlich mehr so genau, ob eine Person wirklich so<br />

aussieht wie auf den Fotos. Das Internet ist geradezu ein<br />

virtueller Maskenball. Auch Gertrud Arndt maskiert sich<br />

auf ihren Bildern ganz bewusst mit Schminke, Gesichtsschleiern,<br />

opulenten Hüten oder mit extremen Grimassen.<br />

Der Fokus soll nicht auf ihrer Person liegen, es war nicht<br />

ihr Ziel, ihr Innerstes nach außen zu kehren, sondern viel<br />

mehr fand sie Gefallen daran, mit den unterschiedlichsten<br />

Identitäten zu kokettieren. Arndts Spiel mit Verkleidung<br />

und Mimik ist viel näher an den modernen Selfies als an<br />

den Selbstporträts der großen Meister der Kunst, die stets<br />

einen Blick in das Seelenleben des Künstlers offenbaren<br />

sollten.<br />

Den tiefen Blick ins Seelenleben gibt es in den Sozialen<br />

Medien auch nicht unbedingt. Der Kunsthistoriker Wolfgang<br />

Ullrich schreibt in seinem Essay „Selfies“: „Wer ein<br />

Selfie macht, macht sich selbst zum Bild. […] Ein Selfie ist<br />

also eigentlich ein Bild von einem Bild.“ Es geht bei Selfies<br />

nicht einfach nur darum, einen kurzen Schnappschuss von<br />

sich selbst zu machen. Durch sorgsam einstudierte Posen,<br />

das perfekte Licht, das perfekte Make-Up und den perfekten<br />

Gesichtsausdruck wird aus Natürlichkeit eine völlige<br />

Inszenierung. Die ständige Selbstdarstellung ist ein Problem,<br />

das eine ganze Generation betrifft. Ein Experiment<br />

„Was ist man? Vielleicht hat man immer eine Maske.<br />

Irgendwo hat man immer einen Ausdruck, den man haben<br />

will. Das könnte man doch Maske nennen, oder ?“ GERTRUD ARNDT<br />

FOTOS: BAUHAUS-ARCHIV BERLIN © VG BILD-KUNST,BONN 2019<br />

von Star-Fotograf Rankin zeigt, wie sehr Social Media<br />

das Selbstbild junger Menschen verändert. Für sein Projekt<br />

mit dem Titel „Selfie Harm“ fotografierte er Jugendliche<br />

und ließ diese dann ihr Bild so bearbeiten, dass sie<br />

es auf Instagram posten würden. Das Ergebnis: größere<br />

Augen, glattere Haut und schmalere Nasen – auf dem unbearbeiteten<br />

Porträt gefiel sich keiner der Teenager. Das<br />

Spiel mit der eigenen Identität, so wie es Getrud Arndt<br />

zelebrierte, lässt sich in diesem Perfektionswahn so gut<br />

wie gar nicht mehr finden. Schaut man sich einmal die<br />

Flut der Bilder auf Instagram an, die unter dem Hashtag<br />

Selfie aufpoppen, vermisst man jegliche Individualität. Es<br />

scheint, als würde jeder jeden kopieren und nach dem<br />

einen ganz bestimmten Schönheitsideal, à la Kylie Jenner,<br />

streben. Gertrud Arndt hat sich bei ihren Masken ganz<br />

auf ihr eigenes Gefühl und ihre Kreativität verlassen, es<br />

funktioniert also auch vollkommen ohne Influencer. Aber<br />

davon abgesehen sind Selfies auch für Viele Kommunikationsmittel<br />

und vor allem Ausdruck der Persönlichkeit, und<br />

das wäre Gertrud Arndt sicher mehr als recht.<br />

Mit Gesichtsschleiern, starker Schminke<br />

und Mimik, die von erschrocken bis<br />

traurig reicht, kreierte Gertrud Arndt ihre<br />

ganz individuellen Filter. Damit war sie<br />

den heutigen Weichzeichnern und dem<br />

perfekten Contouring schon weit voraus<br />

Die Sozialen Medien wären heute wohl ganz im Sinne<br />

der Bauhäusler. Alle können daran teilhaben, man kann<br />

also sagen, dass Selfies das Demokratischste überhaupt<br />

sind, denn es kann sich auch jeder so präsentieren wie<br />

er oder sie es gerne möchte. Ob das nun mit Filtern, Make-Up<br />

oder zur Abwechslung doch mal ganz natürlich<br />

ist – jeder kann seine persönliche Maske tragen. Getrud<br />

Arndt würde heute womöglich den umgekehrten Weg<br />

gehen und auf ihre Maskerade verzichten, sich stattdessen<br />

komplett natürlich zeigen. Oder das In-Szene-Setzen<br />

durch Filter und Make-up noch mehr ausreizen und auf<br />

die Spitze treiben. In jedem Fall hat die Künstlerin den<br />

Weg für eine ganz besondere Art der Inszenierung geebnet.<br />

Fotografinnen wie Cindy Sherman würde es ohne<br />

Gertrud Arndt heute vielleicht gar nicht geben - Frauen,<br />

die sich mit ihrer eigenen Identität auseinandersetzen,<br />

damit spielen und vor allem auf die Probe stellen, was damals<br />

und auch noch heute von Frauen erwartet wird, wie<br />

sie sich zu präsentieren haben. In diesem Fall hat Getrud<br />

Arndt schon Ende der Zwanziger Jahre sehr modern gedacht.<br />

Und mit Blick auf unsere heutige Zeit lohnt es sich,<br />

vielleicht manchmal auch einfach die Maske abzusetzen.


68<br />

Handwerkskunst<br />

aus Wolle: Eine<br />

<strong>Form</strong> der Kreativität,<br />

die von den Bauhaus-<br />

Frauen am Webstuhl vielfältig<br />

ausgelebt wurde. Natürliche<br />

Materialien in unterschiedlichen<br />

Variationen erinnern an diese Zeit.<br />

FOTOS VON KAJ LEHNER; STYLING VON ROSSELLA LOFINO, EVA KAPELLER, ALINE GANGUIN;<br />

MODELS: CARO SCHÄFFLER, HANNAH-SOPHIE WEBER; HAARE & MAKE-UP VON ALEXANDRA SALATINO<br />

Mantelkleid mit Stoff-Layering von<br />

Caroline Wolf, Preis auf Anfrage.


70<br />

Zweifarbiger Pullover mit Fransen von Zara Studio, um<br />

60 Euro. Karierter Schal von Drykorn, um 100 Euro


73<br />

accupturis re ipid et ipsusam re nobis<br />

sed most et qui sedit adis simus pro<br />

mod el il incient molor sunt rehenti<br />

onestionsed quatat rest que nis experu<br />

amm aritibus. Susant accupturis<br />

re ipid et ipsusam re nobis sed most<br />

et qui sedit adis simus pro mod el il<br />

incient molor sunt rehenti onest<br />

Caro (l.): Karierte Jacke mit Fransen<br />

von Springfield, um 60 Euro. Darunter<br />

ein Häkelkleid von Guess, um 140<br />

Euro. Pantoletten von Pier One, um<br />

50 Euro. Hannah (r.): Baumwollcardigan<br />

mit Jacquardmuster von Mango,<br />

um 60 Euro. Stoffhose in Oliv von By<br />

Malene Birger, 160 Euro<br />

accupturis re ipid et ipsusam re nobis<br />

sed most et qui sedit adis simus pro<br />

mod el il incient molor sunt rehenti<br />

onestionsed quatat rest que nis experu<br />

amm aritibus. Susant accupturis<br />

re ipid et ipsusam re nobis sed most<br />

et qui sedit adis simus pro mod el il<br />

incient molor sunt rehenti onest


74<br />

Diese Seite: Hannah (l.):Strick -<br />

weste in Weiß von Anna Field,<br />

um 40 Euro, knielanger Strickrock<br />

von Kiomo, um 40 Euro. Ohrringe<br />

von Pilgrim, um 15 Euro. Caro (r.):<br />

Strickkleid mit Fransen von Mango,<br />

um 50 Euro. Rock darüber von<br />

Vila, um 30 Euro. Häkeljacke von<br />

Anna Field, um 40 Euro. Ohrringe<br />

von Pieces, um 15 Euro<br />

Linke Seite: Beide Tops aus<br />

Strick, gestreift, mit Stehkragen,<br />

von Even & Odd, um 25 Euro.<br />

Hannah (l.): Ohrringe von Also,<br />

um 10 Euro. Armreife von Warehouse,<br />

um 25 Euro. Caro (r.):<br />

Ohrringe, um 15 Euro, Armeife,<br />

um 25 Euro, von Warehouse


„Wir alle müssen zum<br />

Handwerk zurück.“<br />

WALTER GROPIUS<br />

Oben: Hannah (l.): Bluse mit Lochspitze<br />

von Inwear, um 140 Euro.<br />

Kimono-Jacke: Vintage. Lederhose von<br />

Nobi Talai, Preis auf Anfrage. Pantoletten<br />

von Pier One, um 48 Euro. Caro<br />

(r.): Rollkragentop von Free People,<br />

um 50 Euro. Lederjacke von Selected<br />

Femme, um 200 Euro. Gehäkelte Hose<br />

von More & More, um 80 Euro. Clogs<br />

von Solftclox, um 125 Euro<br />

Links: Hannah (l.): Wickelkleid von<br />

Mango, um 80 Euro. Gestreiftes Top<br />

von Oysho, um 25 Euro. Braune Clogs<br />

von Softclox, um 125 Euro.<br />

Caro (r.): Häkelmantel von Zara Studio,<br />

um 80 Euro. Weißer Rock von Strenesse,<br />

um 300 Euro. Clogs von Musse &<br />

Cloud, um 50 Euro<br />

Gestreiftes Hemd von Zara Studio, um<br />

60 Euro. Darüber ein Lederkleid<br />

von Nobi Talai, Preis auf Anfrage. Weit<br />

geschnittene Stoffhose in Beige von<br />

Weekend Max Mara, um 195 Euro


Blindtext<br />

GARTEN FREIDORF<br />

In einer Genossenschaftssiedlung in der Schweiz wollten<br />

idealistische Städteplaner und Architekten einst eine<br />

Art Paradies auf Erden errichten VON MAXIMILIAN GRASSL | FOTOS VON ADRIAN HONSBERG<br />

Jetzt visuell in das Freidorf eintauchen!<br />

„Volksbedarf statt<br />

Luxusbedarf“<br />

HANNES MEYER


Anfang<br />

54<br />

damals Familienväter, Mütter und Kinder trafen, sind es<br />

heute überwiegend Angestellte verschiedenster Firmen.<br />

Sogar Yogakurse können dort besucht werden. Im unteren<br />

Stockwerk befindet sich ein Saal, in dem der Vorstand<br />

seine Sitzungen abhalten kann und der von den Siedlern<br />

gern für Festivitäten gemietet wird.<br />

ERST FREIDORF, DANN BAUHAUS<br />

Als alles anfing – vor rund einhundert Jahren – träumte<br />

man hier von einer neuen Welt, die ganz anders sein<br />

sollte als alles, was man bisher kannte. Ein Wunschbild<br />

einer fortschrittlichen Gesellschaft, in der jedem alles<br />

gehört. Über das Wirtschaftliche hinaus sollten auch<br />

andere Lebensbereiche wie gemeinsame Arbeit, Kinderbetreuung,<br />

Schulen, Kultur und Altenbetreuung mit<br />

einbezogen werden. Beflügelt von diesem Gedanken,<br />

machte sich eine Gruppe von gleichgesinnten Idealisten<br />

um den schweizer Politiker Bernhard Jäggi auf, um zum<br />

ersten und letzten Mal in der Schweizer Geschichte eine<br />

vollgenossenschaftliche Siedlung zu bauen. Man nannte<br />

sie Freidorf.<br />

Damals lag die kleine Siedlung noch mitten im Nirgendwo,<br />

zwischen Muttenz und Basel, auf einem 84.915<br />

Quadratkilometer großen Grundstück. Umsäumt war Freidorf<br />

von nicht viel mehr als grünen Feldern – heute sieht<br />

das ganz anders aus: Die Gemeinde ist dicht eingewoben<br />

in die Basler Agglomeration. Jenseits der Siedlung leben<br />

170 000 Menschen ihren Großstadtalltag. Die etwa<br />

eineinhalb Meter hohen Mauern, welche das Freidorf umzäunen,<br />

scheinen diesen urbanen Trubel fast vollständig<br />

abzuschirmen, denn in der Siedlung herrscht ein anderes,<br />

gemäßigteres Tempo.<br />

Es ist still an diesem sommerlichen Tag. Durch die von<br />

Nordost nach Südwest verlaufenden Häuserzeilen zieht<br />

ein Geruch von chemischen Pheromonen. Das Industriegebiet<br />

Schweizerhalle, in dem die beiden Chemiekonzerne<br />

Novartis und Clariant angesiedelt sind, ist nur wenige Kilometer<br />

entfernt. Vereinzelt hört man das Brummen der Autos,<br />

die die anliegende Sankt Jakob-Straße befahren und<br />

das viertelstündige Glockenspiel des Freidorfer Genossenschaftshauses;<br />

Gis1, fis1, e1, h0 – der Westminsterschlag.<br />

„Das Glockenspiel ist dem von Big Ben nachempfunden“,<br />

erklärt Reto Steib, der stellvertretende Vorstandsvorsitzende<br />

der Siedlungsgenossenschaft. Er steht vor dem Genossenschaftshaus<br />

inmitten der Siedlung. Früher wurde dieses<br />

große Haus noch anders genutzt. Es diente mit großen<br />

Versammlungssälen und zahlreichen Räumen vielfältigen<br />

Aktivitäten: Orchester- oder Volkschorproben, Kurse zur<br />

Erziehung, Verwaltung, Haushalt, Berufsbildung. Wo sich<br />

Der 1985 neu mit Kupfer verkleidete Glockenturm<br />

des Genossenschaftshauses<br />

Aus dem Archic: Luftaufnahme des Freidorfs, damals noch von Feldern umgeben<br />

Die Häuser sind identisch, die Gärten etwas individueller<br />

Eine Bilderreihe von Fritz Karl Zbinden aus dem Jahr<br />

1924 ziert den frisch renovierten Raum. Der Schweizer<br />

Maler inszenierte in den zwölf Werken eine damals Wirklichkeit<br />

gewordene Utopie, die nach den schrecklichen<br />

Vorfällen des Weltkrieges und der Nachkriegszeit eine<br />

verlockende und aussichtsreiche Alternative darstellte. In<br />

Auftrag gegeben wurden die Bilder vom Architekten des<br />

Freidorfes und späteren Bauhaus-Direktor Hannes Meyer<br />

für das avantgardistischeTheaterstück „Co-Op“. Bereits<br />

zur feierlichen Eröffnung des Genossenschaftshauses am<br />

21. Juni 1924 waren die Bewohner in den Genuss einer<br />

provisorischen „Teil-Uraufführung“ gekommen. Gespielt<br />

wurden in dem Stück zwei aus Pantomimeneinlagen bestehenden<br />

Serien.<br />

Eine davon behandelt das Problem der Lieferkette mit<br />

ihrn zahlreichen Gliedern zwischen Produzenten und Konsument.<br />

Ein Bauer und eine Hausfrau möchten sich vermählen.<br />

Das kann aber erst geschehen, nachdem sie die<br />

den Liebesbund verhindernden „Zwischenglieder“ – ein<br />

Spekulant, ein Grossist, ein Handelsreisender und eine<br />

Krämerin – ausgeschaltet haben. Die Aufführung provozierte<br />

negative Reaktionen von Kritikern der Genossenschaftsbewegung,<br />

die meinten, das Stück sei erklärungsbedürftig<br />

und in manchen Abschnitten allzu drastisch.<br />

Die dafür angefertigten bunten, plakativen Bilder zeigen<br />

jedoch keinerlei Konflikte, sondern nur das rege und<br />

fröhliche Treiben der Freidorf-Bewohner und seien in der<br />

Siedlung beliebt, erklärt Reto Steib, der stellvertretende<br />

Präsident der Siedlungsgenossenschaft. Auf einem ist ein<br />

zufrieden dreinblickender Mann zu sehen, der damalige<br />

Präsident der Verwaltungskommission des Verbands<br />

Schweizerischer Konsumvereine, Bernhard Jäggi. Er steht<br />

vor einem Tisch, auf dem ein Miniaturmodell des Freidorfes<br />

zu sehen ist, daneben ein Geldsack mit dem Aufdruck<br />

Die Vorstandmitglieder der Siedlungsgenossenschaft Adrian Johner (links) und Reto Steib


Anfang<br />

57<br />

„7.500.000 Fr.“. Das war der ungefähre Betrag, auf den<br />

sich die Gesamtbaukosten der 150 Häuser auf der Parzelle<br />

986 des Grundbuches Muttenz beliefen. Schulden<br />

mussten Jäggi und der VSK dafür nicht aufnehmen. Über<br />

die sieben Millionen Franken verfügte der Konsumverein,<br />

heute bekannt als Coop, weil ihm der Bund die Steuern<br />

von Mehreinnahmen, die man während des Krieges erwirtschaftet<br />

hatte, erließ. 1920, nach zweijähriger Bauzeit,<br />

konnten dann die ersten Bewohner einziehen. Vier<br />

Jahre später lebten bereits 625 Menschen im Freidorf.<br />

UNGEWOHNTER LUXUS<br />

Um den genossenschaftlichen Gedanken zu unterstreichen,<br />

sehen alle Häuser bis heute gleich aus. Sie sind eierschalengelb<br />

gestrichen und haben braune Fensterläden,<br />

einen großen Garten mit Gartenhütte, und den gleichen<br />

beigen Briefkasten an der gleichen Stelle rechts der Eingangstür.<br />

Trotz der Einheitlichkeit boten sie den Arbeitern<br />

des VSK einen für damals ungewohnten Luxus. Die Häuser<br />

waren mit Warmwasser, eigenen Sanitäranlagen und<br />

einer Heizung ausgestattet. Reto Steib erinnert sich, unter<br />

welchen Bedingungen seine Mutter in der Stadt lebte: Bei<br />

ihr befand sich die Toilette noch im Treppenhaus; und da<br />

nicht alle Mietskasernen Platznot in dem von geprägten<br />

Basel über entsprechende Einrichtungen verfügten, musste<br />

man zum Duschen in öffentliche Badehäuser gehen. „Da<br />

war das Freidorf 1921 schon revolutionär“, sagt er. Angestrebt<br />

wurde damals eine autonome Dorfgesellschaft –<br />

wirtschaftlich, sozial, kulturell. Die Kinder gingen in die<br />

eigene Schule. Die Bewohner mussten Freidorfgeld kaufen,<br />

um die Waren im Dorfladen erwerben zu können.<br />

Die Gärten waren zur Selbstversorgung gedacht, sogar<br />

Nutzvieh wurde gehalten. Laut der Basellandschaftlichen<br />

Zeitung waren die Genossenschafter so überzeugt von<br />

ihrer Lebensform, dass sie sogar Teile der Erträge in eine<br />

Stiftung einzahlten, um in Zukunft weitere Dörfer errichten<br />

zu können. Wäre dieser Plan aufgegangen, gäbe es heute<br />

fünf weitere Freidörfer. Dazu kam es aber nie.<br />

DAS ENDE DER VOLLGENOSSENSCHAFT<br />

Der Vollgenossenschaftsgedanke ging schlichtweg im<br />

Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit unter. Die Wende<br />

kam in den Sechzigerjahren, als der Generation der Erstbewohner<br />

keine weitere folgen wollte. Die Jüngeren empfanden<br />

die Prinzipien des Freidorfs als bevormundend,<br />

sie fühlten sich sozial eingeengt. Ansätze wie: „Die wahren<br />

Erziehungsarbeiten der Menschen kann nur in kleinen<br />

übersichtlichen Gruppen erfolgen, und vor allem Erfolg<br />

verspricht, wenn gleichzeitig jede Familie über ein Heim<br />

verfügt“, die Bernhard Jäggi einst verfolgte, wären heute<br />

undenkbar und nicht mehr zeitgemäß. Auch hätten sich<br />

die äußeren Bedingungen rund um das Freidorf geändert,<br />

erklärt Reto Steib. Ein derart enges soziales Zusammenleben<br />

innerhalb der Siedlung wie früher könne nicht<br />

mehr zustande kommen, da die Bewohner oft auswärts<br />

arbeiten und die Freizeitgestaltungsmöglichkeiten außerhalb<br />

der Freidorfmauern zu- und innerhalb abgenommen<br />

haben. Früher gab es hier zum Beispiel noch eine Bibliothek,<br />

ein Café, ein Restaurant und ein Reisebüro.<br />

Ähnlich klingt es bei Philip Potocki, dem „Freidorf-Lexikon“,<br />

wie ihn Reto Steib auf dem Weg zu seinem Haus nennt.<br />

Potocki bewohnt gemeinsam mit seiner Frau Regina das<br />

Haus mit der Nummer 142. Während sie im lichtdurchfluteten<br />

Nähatelier im ersten Stock schneidert, durchforstet<br />

er am liebsten alte Freidorf-Literatur und digitalisiert die<br />

Dokumente – Potocki ist der Archivar der Siedlung. Er hat<br />

sich intensiv damit beschäftigt, warum der Status der Vollgenossenschaft<br />

1967 aufgelöst wurde und Freidorf seitdem<br />

eine reine Wohnungsbaugenossenschaft ist. Für ihn<br />

habe das im Wesentlichen zwei wirtschaftliche Gründe:<br />

„Der Lieferant VSK, der damals alle lokalen Genossenschaften<br />

angefahren hat, musste optimieren. Es war für<br />

ihn nicht mehr möglich, dreihundert Genossenschaften<br />

individuell zu versorgen, und hat deshalb verlangt, dass<br />

sie sich gruppieren. Das hätte das Freidorf aber sehr viel<br />

Geld gekostet und eine Verschlechterung der Dienstleistungen<br />

mit sich gebracht“, so Potocki. „Der zweite, fast<br />

wichtigere Grund war, dass die Siedlung auf der grünen<br />

Wiese gebaut wurde und damals im Umkreis von zwei Kilometern<br />

nichts war.“ Das habe sich aber schon seit einiger<br />

Zeit verändert. Es wurden weitere Siedlungen gebaut,<br />

deren Bewohner ebenfalls Lebensmittel benötigten. Dies<br />

führte dazu, dass der Dorfladen nicht mehr die Kapazitäten<br />

hatte, um jeden versorgen zu können.<br />

GEMEINSAM, NICHT EINSAM<br />

Doch auch wenn die Regeln „abgespeckt“ wurden, gelten<br />

bis heute einige Vorgaben: So muss jede Familie, auch<br />

gleichgeschlechtlich, mindestens ein Kind haben. Ein Elternteil<br />

ist dazu verpflichtet, zu mindestens fünfzig Prozent<br />

bei Coop angestellt zu sein. Geblieben ist aber vor<br />

allem die Pflege der Gemeinschaft – die indes freiwillig<br />

stattfindet. Die Bewohner feiern gemeinsame Gartenfeste,<br />

ein älteres Ehepaar beglückwünscht bei einem Plausch<br />

am Zaun seine jungen Nachbarn zum vierten Nachwuchs<br />

und ein Vater spritzt sein kreischendes Kind mit Wasser<br />

ab, als er gerade seine Petunien gießt; Momentaufnahmen,<br />

die zeigen, dass das Miteinander immer noch einen<br />

hohen Stellenwert in der kleinen Siedlung hat - wenn auch<br />

nicht denselben wie früher. Potocki sagt: „Der Genossenschaftsgedanke<br />

ist nicht abhandengekommen, man hat<br />

nur die Größenordnung geändert.“<br />

Siedlungsarchivar Philipp Potocki in seinem Garten<br />

Regina Potocki in ihrem Nähatelier im Obergeschoss


Revolution<br />

80<br />

SIEBEN TAGE,<br />

SIEBEN FARBEN<br />

Damals schwer verdauliche Körnerdiät heute<br />

gelber Montag und grüner Dienstag. Wo<br />

fängt der Ernährungswahn an, wo hört er auf?<br />

VON MARIE-LOUISE WENZL-SYLVESTER<br />

Ein kurzer Blick in Deutschlands Kantinen zeigt meist<br />

opulente Gerichte, wie ein klassisches Schnitzel mit Pommes<br />

Frites, Nudeln und eine obligatorische Salatbar, die<br />

neben Wurstsalat und Dosenmais oftmals ungeschälte<br />

Gurken, sowie halbgereifte Tomaten hergibt. Immerhin.<br />

Freunde von herzhaften Mahlzeiten gingen in der<br />

Bauhaus-Mensa weitestgehend leer aus. Schon vor 100<br />

Jahren lag dort die vegane Ernährung im Trend. Exotisch<br />

klingende Gerichte wie „Isländisch-Moos-Pudding“, „Gefülltes<br />

Brot-Symposium“ und „Knoblauch-Kaltschale“ sorgten<br />

bei den Studierenden für starken Durchfall und regelmäßige<br />

Ohnmacht.<br />

In seinem Buch „Jenear Tischgeschichten“ widmet Autor<br />

Christian Hill den skurrilen Mazdaznan-Menüs eine<br />

ganze Seite.<br />

Initiator für diese durchaus spezielle Ernährungsform<br />

war der Schweizer Künstler und Lehrmeister Johannes Itten.<br />

Er brachte 1919 die Mazdaznan-Lehre, eine wild<br />

zusammengewürfelte Mixtur aus verschiedensten Religionen,<br />

ans Bauhaus. Bewusstes maßvolles Essen, Selbstbeherrschung<br />

und die richtige Atmung sollte die geistige<br />

und körperliche Kraft der Anhänger dieser Lebensphilosophie<br />

stärken. Schlemmen und daraus resultierendes Übergewicht<br />

waren tabu.<br />

Der amerikanische Schriftsteller Tom Wolfe kritisiert in<br />

seinem kurzweiligen Pamphlet „Mit dem Bauhaus leben“<br />

die strikte Ernährungsform:<br />

„Es gab in Weimar eine Phase, da bestand die Bauhaus-Diät<br />

ausschließlich aus einem Mus von rohem, frisch<br />

geernteten Gemüse. Das Mus war so schlaff und faserig,<br />

dass man Knoblauch beigeben musste, um irgendeinen<br />

Geschmack zu erzielen.“<br />

Doch hat sich seitdem wirklich so viel geändert? Im<br />

Zeitalter von sozialen Medien, in dem ein Food-Trend den<br />

nächsten jagt, sind wir heute vielleicht sogar noch extremer<br />

als Itten es uns vorlebte. Mal ehrlich, wer hat noch<br />

keine im Internet aufgeschnappte, erfolgversprechende<br />

Diät ausprobiert und nach spätestens einer Woche wieder<br />

aufgegeben?<br />

FOTOS: MARIE-LOUISE WENZL-SYLVESTER INSPIRIERT VON PHILIP KARLBERG


„Der Mensch ist<br />

nicht auf Erden, um<br />

alles, was Wald,<br />

Wiese, Feld oder<br />

Garten abwerfen,<br />

in seinem Magen<br />

wie in einer Art<br />

Futterspeicher zu<br />

sammeln, auch<br />

nicht dazu, um eine<br />

Art Kirchhof oder<br />

Friedhof für tote<br />

Tiere zu sein.“<br />

AUSZUG DER MAZDAZNAN-ERNÄHRUNGSKUNDE,<br />

DIE JOHANNES ITTEN AM BAUHAUS PRAKTIZIERTE<br />

82 83<br />

Wer sich, wie Schauspielerin Gwyneth Paltrow, beispielsweise<br />

glutenfrei ernährt, lässt Weizen, Gerste und<br />

Hafer weg. Doch es ist ein Trugschluss, dass für das Abnehmen<br />

das fehlende Gluten verantwortlich ist. Anhänger<br />

dieser Diät verzichten hierbei lediglich auf Kalorienbomben<br />

wie Kuchen, Kekse oder Knabbersachen. Eine<br />

dauerhaft glutenfreie Ernährung wird von Experten ausschließlich<br />

bei einer nachgewiesenen Unverträglichkeit<br />

empfohlen.<br />

Wesentlich kreativer klingt die bunte Ernährungsstrategie,<br />

auf die Stars wie Sängerin Christina Aguliera schwören:<br />

Richtet man sich nach der Sieben-Farben-Diät, wird<br />

jedem Wochentag eine andere Food-Farbe zugewiesen.<br />

Montag gibt es beispielsweise nur gelbe Kost, Dienstag<br />

kommt nur Grün auf den Teller und so weiter.<br />

Felix Pfeiffer ist bereits sein gesamtes Berufsleben in<br />

der Gastronomie tätig. In seiner aktuellen Position, als<br />

Restaurantleiter des Schloss-Hotels Ischgl, nimmt er eigenartige<br />

Entwicklungen seiner Gäste wahr: „Nach 15 Jahren<br />

Gastronomie habe ich so ziemlich alles erlebt. Mittlerweile<br />

wird bei so gut wie jeder Bestellung der Wunsch nach<br />

gluten – oder laktosefreien Varianten geäußert. Lebensmittelunverträglichkeiten<br />

oder Allergien sind meiner Meinung<br />

nach nichts weiter als eine neuzeitliche Erfindung.“<br />

Doch nicht nur die Extrawünsche nehmen zu, auch<br />

das Essverhalten hat sich deutlich verändert:<br />

„Nicht selten klettert schon mal der ein oder andere<br />

Gast auf seinen Stuhl, um seinen Teller mit dem Smartphone<br />

perfekt fotografieren zu können. Für mich persönlich<br />

ist das alles der totale Irrsinn.“<br />

Lassen wir uns in puncto Ernährung wirklich so sehr<br />

von Instagram und Co. beeinflussen? Ein kurzer Blick in<br />

die Foto-App mit Milliarden Nutzern zeigt: Das Hashtag<br />

#food alleine verzeichnet momentan über 300 Millionen<br />

Beiträge. Eine schwindelerregende Zahl, die den weltweiten<br />

Ernährungswahn recht gut verdeutlicht.<br />

Fast 50.000 Beiträge findet man unter dem Stichwort<br />

#mastercleanse. Die höchst umstrittene Schlankmacher-Strategie<br />

von Heilpraktiker Stanley Burroughs rät zu<br />

einer 10-tägigen Fastenkur, bei der man nichts als Zitronensaft,<br />

Cayenne-Pfeffer und Ahornsirup zu sich nimmt.<br />

Der Tiroler Jungunternehmer und Gastronom Stephan<br />

Mauracher ist in Tirol zwischen Bergen, Kühen und dem<br />

eigenen Gemüsebeet aufgewachsen. Mittlerweile führt er<br />

sein eigenes Hotel und setzt dort von Anfang an auf natürliche<br />

und regionale Kost. Ihn überzeugen die vermeintlichen<br />

Wunderdiäten daher nicht:<br />

„Der häufigste Grund für Krankheiten ist eine falsche<br />

Ernährung. Die Leute nehmen nur noch Produkte ohne<br />

Nährstoffe zu sich, weil sie an der falschen Stelle sparen.<br />

Dafür geben sie dann viel Geld für Medikamente oder<br />

Nahrungsergänzungsmittel aus.“<br />

Für sein Restaurant in Kufstein bezieht der 26-Jährige<br />

ausschließlich regionale Lebensmittel vom familieneigenen<br />

Hof.<br />

So könnte auch das Mazdaznan des 21. Jahrhunderts<br />

aussehen. Eine vernünftige Mischung aus regionalen Produkten<br />

aus eigenem Anbau und Fleisch erzeugt aus artgerechter<br />

Haltung von hoher Qualität (in Maßen). Und,<br />

wer weiß, vielleicht doch ab und zu eine stoffwechselfördernde<br />

Knoblauch-Kaltschale.<br />

accupturis re ipid et ipsusam re nobis sed most et qui sedit adis simus pro mod el il incient molor sunt<br />

rehenti onestionsed quatat rest que nis experu amm aritibus. Susant accupturis re ipid et ipsusam re


Anfang<br />

G<br />

Aus Müll werden plötzlich<br />

schimmernde Pailletten<br />

und auf den Kleidern<br />

von Michelle Obama<br />

L<br />

landen aufwendige<br />

Stickereien: Wieso<br />

das Handwerk<br />

heute wichtiger<br />

ist denn je<br />

A<br />

VON CARMEN JENNY<br />

64<br />

N<br />

Z<br />

LEISTUNG<br />

Elissa Brunato legt sich Pipette, Reagenzglas und<br />

Petrischale zurecht. Im zugeknöpften weißen<br />

Laborkittel sitzt sie vor einer rosaroten Mikrotitierplatte<br />

und hat ihre Augen konzentriert auf ihr<br />

„Projekt“ gerichtet. Es ist aber nicht etwa ein seltenes<br />

Insekt oder eine neu entdeckte Bakterienart, die sie<br />

unter dem Mikroskop betrachtet. Es sind Pailletten. Elissa<br />

Brunato macht Mode. Mode, die die Branche revolutionieren<br />

soll. Ihre Pailletten bestehen nicht aus mit Kunststoff<br />

beschichteten Metallplättchen, sondern – aus Cellulose.<br />

Die junge Australierin, die zurzeit am Central Saint<br />

Martins College in London ihr Masterstudium absolviert,<br />

könnte zu einer dieser Modedesignerinnen und Materialforscherinnen<br />

werden, von denen es laut Trendforscherin<br />

Lidewij Edelkoort immer weniger gibt. In ihrem „Anti Fashion<br />

Manifesto“ kritisierte sie, dass Modestudierende<br />

ihre Energie mit Unwichtigem verschwenden, ihre Zeit<br />

etwa in Shows, Marketing, Kommunikation und Fotografie<br />

investieren (müssen). „Dabei kommt nicht nur die<br />

Mode zu kurz, sondern auch das Wissen für Materialien,<br />

Stoffe und Designkompetenz“, so die Niederländerin, die<br />

den Modeschöpfer Azzedine Alaïa als letzten richtigen<br />

Modemacher sah. Wenn also die Modedesigner nichts<br />

mehr von ihrem Handwerk verstehen, wie sollten sie dann<br />

ein Gefühl von Wertschätzung für Materialien an die Gesellschaft<br />

weitergeben? In einer Zeit, in der die Fashion-Industrie<br />

wegen Überproduktion sowie billigen Materialien<br />

der stärkste Umweltverschmutzter nach der Ölindustrie<br />

ist und in einer wirtschaftlichen Krise steckt, ist die Frage<br />

wichtiger denn je.<br />

DER INDUSTRIE EINEN SCHRITT VORAUS<br />

Es gibt Hoffnung. Elissa Brunato bringt das Wissen nicht<br />

nur mit, sie will damit ein allgemeines Verständnis für<br />

Materialien schaffen, und dafür, wie wertvoll natürliche<br />

Ressourcen sind – und darüber hinaus eine ganz besondere<br />

Schönheit besitzen. „In der Mode steht die Ästhetik<br />

immer an erster Stelle. Bei nachhaltiger Mode denkt man<br />

BILDER: ELISSA BRUNATO<br />

Ein Prototyp der abbaubaren Paillette:<br />

Die „Bio Irisdescent Sequins“<br />

reflektieren das Licht in allen Farben.


hingegen zuerst an wenig originelle Beige- und Naturtöne“, sagt<br />

die Designerin. Niemand würde erwarten, dass kleine Pailletten<br />

einen großen Einfluss auf die Umwelt haben können. Zu Hunderten<br />

aufgenäht auf schillernden Tops und Abendroben landen sie<br />

jedoch, nachdem sie oft nach einmaligem Anziehen ihren Zweck<br />

erfüllt haben, mit vielen anderen Kleidern auf Mülldeponien. Dort<br />

dauert es über 200 Jahre, bis sie sich vollständig zersetzt haben.<br />

Mit ihrem Projekt der „Bio Iridescent Sequins“, bei dem sie mit der<br />

Modefirma Stella McCartney und dem Research Institute of Sweden<br />

(RISE) zusammengearbeitet, zeigt Brunato, dass man mit der<br />

Öko-Version einen genauso glänzenden Auftritt hinlegen könnte<br />

wie mit den umweltschädlichen Pendants – ohne dabei schlimme<br />

Spuren zu hinterlassen.<br />

66 67<br />

HINTER DEN TÜREN DES GLAMOURS<br />

Es gibt noch Orte, an denen mehr als vereinzelte Personen das<br />

Handwerk schätzen. In St. Gallen, einem schweizerischen Städtchen<br />

mit 80.000 Einwohnern, erwartet man wohl nicht unbedingt<br />

die Anfänge von Kleidern, die Geschichte schreiben. Ganz im Stillen<br />

beliefert das 1904 gegründete Stickerei-Unternehmen Forster<br />

Rohner jedoch tatsächlich die größten Modehäuser wie Chanel<br />

und Valentino. Was 1940 mit einer Zusammenarbeit mit Christian<br />

Dior begann und 2008 durch Miuccia Pradas Volute-Serie mit den<br />

berühmten Guipure-Stickereien einen erneuten Höhepunkt feierte,<br />

geht heute soweit, dass auch die amerikanische Ex-First Lady Michelle<br />

Obama Kleider aus den Stoffen des Traditionshauses trägt.<br />

Mit ihren automatisierten Stickerei-Prozessen zählt Forster Rohner<br />

zu den wenigen Hütern der berühmten St. Galler Stickerei und<br />

ist gleichzeitig Vordenker für neue, smarte Textilien mit leitfähigen<br />

Garnen, die zum Beispiel in Stoffe eingearbeitete LED-Lichter zum<br />

Leuchten bringen.<br />

Von Hand gemalt, maschinell vollendet: Forster Rohners Stickdesigns<br />

reichen von Blumen- bis zu Schmetterlingsmotiven.<br />

„Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen<br />

Künstler und dem Handwerker. Der Künstler ist<br />

es eine Steigerung des Handwerks“ BAUHAUS MANIFEST<br />

Auf die Frage, welche Relevanz ihre Stickereien für die Modeindustrie<br />

haben, antwortet Miriam Rüthemann, Assistentin<br />

der Geschäftsleitung und Produktmanagerin für Lingerie, auch<br />

eher cool: „Forster Rohner stellt auf modernsten Stickmaschinen<br />

hochwertige, modische Stickereien her.“ Die jahrelange<br />

Expertise fließe dabei in jedes der Produkte ein, sagt Rüthemann.<br />

„Was die Fast Fashion-Industrie anbietet, hat nichts mit<br />

Qualität zu tun, sondern ist eine billige Kopie unserer Dessins.“<br />

Sie spielt auf den Kopierwahn der Modeindustrie an. Dabei<br />

geben High Fashion Häuser zwar die Trends vor, gleichermaßen<br />

sind diese jedoch auch das Futter für Großkonzerne. In<br />

diesem Industriezweig gilt allerdings, so schnell wie möglich<br />

für die Masse zu produzieren. Dass qualitatives Handwerk in<br />

diesem Prozess keine große Rolle mehr spielt, spiegelt sich<br />

letztlich in den Preisen wider.<br />

So viel Arbeit auch in den Designs stecken mag, die wenigsten<br />

wissen wohl, ob die Stickereien auf ihrer Bluse aus St. Gallen<br />

kommen. Obwohl das Unternehmen mit der Automatisierung<br />

von hochwertigen Stickereien der Inbegriff von demokratisiertem<br />

Handwerk ist, erreicht ihre Bekanntheit nicht den Endkonsumenten.<br />

„In manchen Fällen dürfen wir es gar nicht öffentlich<br />

machen, dass die Textilien aus dem Haus Forster Rohner<br />

stammen“, sagt Rüthemann. Eine wirkliche Begründung gebe<br />

es dafür jedoch selten. Doch sollte sich die Wertschätzung eines<br />

Kleidungsstücks wirklich nur auf ein Chanel-Logo und die<br />

Werte eines Modelabels beschränken? Ohne Textilien, würde<br />

dieses Logo schließlich auch nicht das sein, wofür es heute<br />

steht. Sprich, die Anfänge der Textilien und dessen Urheber<br />

tragen genauso zum Erfolg eines Labels bei, wie die finalen<br />

Kollektionen und dessen Vermarktung.<br />

Für eine nachhaltige Zukunft: In Zusammenarbeit mit dem Research Institute of<br />

Sweden (RISE) ist es Elissa Brunato gelungen, die erste biologisch abbaubare<br />

Paillette herzustellen.<br />

BILDER: ELISSA BRUNATO; FORSTER ROHNER<br />

Aufwendige Details: Seit1904 arbeitet Forster Rohner mit Haute Couture Häusern zusammen.<br />

Die Entwicklungszyklen sind inzwischen deutlich kürzer geworden.<br />

WIESO KLEINE DINGE GROSSES BEWIRKEN<br />

Wenn also die Modehäuser die Ursprünge ihrer Kollektionen auf Moodboards und Inspirationen reduzieren und die Designer<br />

laut Branchen-Insiderin Lidewij Edelkoort sowieso immer weniger von Materialien verstehen, wie kann das grundlegende<br />

Problem der schwindenden Wertschätzung und die damit verbundene Wegwerfgesellschaft dann gelöst werden?<br />

Laut Juliane Kahl, Direktorin des Responsive Fashion Institutes, gibt es einen einfachen Lösungsansatz. „Wir leben in einem<br />

Zeitalter, in dem ständig Daten gesammelt werden“, so die Innovationsberaterin aus München. Was wäre, wenn man eine<br />

emotionale Bindung zu Produkten, zum Beispiel Kleidungsstücken, mittels visualisierter Daten schaffen könnte? „Kleidungsstücke<br />

und Textilien beinhalten Geschichten zu Fertigungstechniken und den Menschen, die sie hergestellt haben“, sagt Kahl.<br />

„Es ist wichtig, diese zu erzählen und das Wissen darüber zu erhalten.“<br />

Wenn diese Geschichten auch noch einen nachhaltigen Ursprung haben, könnte man also gleich zwei Probleme in einem<br />

angehen: Indem Unternehmen transparent sind und der Ursprung des umweltfreundlichen Materials klar kommunizieren,<br />

steigt im besten Fall auch die Wertschätzung des Produkts beim Konsumenten. Dass dabei schon wortwörtlich winzige<br />

Lösungen einen großen Effekt haben, zeigen Elissa Brunatos Pailletten aus der Pipette. Mit Cellulose als Ausgangsmaterial,<br />

das hier aus Holz gewonnen wird, ist es tatsächlich gelungen, den begehrten Schimmer-Effekt ohne Zusatz von jeglichen<br />

Chemikalien nachzuahmen. Die glänzenden kompostierbaren Plättchen sind im Moment noch Prototypen. Doch in Zukunft<br />

werden die Pailletten sogar aus Abfall oder Kompost gewonnen werden können – sie zählen ebenfalls als Hauptlieferant für<br />

Cellulose. Anfragen hat die Brunato auch schon genug. Ihr Ziel: „Nicht nur die Haute Couture soll meine Pailletten verwenden,<br />

sie sollen für alle zugänglich sein.“ Eine Einstellung, die wohl nicht besser beweisen könnte, dass man auch mit kleinen<br />

Dingen glänzen kann. Eben wie eine Paillette.<br />

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für nachhaltige Mode mit Zukunft.


Anfang<br />

Hin und weg?<br />

Overtourism heißt das Phänomen, wenn zu viele Reisende denselben<br />

Tipps folgen. Sieben Beispiele, welche Auswirkungen das<br />

haben kann und wie es dem Bauhaus-Hotspot Dessau bisher erging<br />

62<br />

–––<br />

Dass Popstar Justin Bieber bei seinen Fans regelmäßig<br />

für Ausnahmezustände sorgt, ist ja nichts Neues.<br />

Seit der Veröffentlichung seines Musikvideos zu „I’ll show<br />

you“ im Jahr 2015 bekommt ein ganzes Land das Ausmaß<br />

des Bieber-Fiebers zu spüren: Die isländische Schlucht<br />

Fjaðrárgljúfur, Schauplatz des Clips, wird geradezu überrannt.<br />

Alle wollen wie Justin die saftig grünen Grashügel<br />

hinunterrollen. Der einzige Ausweg, um das Ökosystem<br />

des Canyons zu schützen, war seine Sperrung. Seit dem<br />

1. Juni 2019 ist er wieder zugänglich, aber das sollte<br />

man lieber nicht zu laut sagen.<br />

ISLAND<br />

VENEDIG<br />

VON SONJA MEINKE<br />

„Ein Jahr lang wird das Jubiläum dieser Geburtshelferin der Moderne gefeiert.“<br />

TRAVELGUIDE LONELY PLANET<br />

–––<br />

Dem Bauhaus hat Deutschland 2019 ganz schön<br />

viel Aufmerksamkeit zu verdanken. Nicht nur haben die<br />

Trendscouts von Lonely Planet Dessau, Weimar und Berlin<br />

zu den Top-Destinationen des Jahres erklärt, auch auf<br />

die „52 Places to go in 2019“-Liste der New York Times<br />

haben es die drei deutschen Städte geschafft. Vor allem<br />

Dessau gilt als besonders sehenswert. In der 82.000-Einwohner-Stadt<br />

lehrten Gropius & Co. die längste Zeit. Und<br />

hier steht nach wie vor das Bauhaus-Gebäude, das mittlerweile<br />

UNESCO-Welterbe ist. Wie sieht es in Dessau<br />

also im Jubiläumsjahr aus? Wer die Stadt in Sachsen-Anhalt<br />

ansteuert, wird zwar mit der eindrucksvollen Campus-Architektur<br />

belohnt, ansonsten aber herrscht nicht gerade<br />

Partystimmung. Pünktlich zum 100-Jährigen sollten<br />

Elektrobusse durch Dessau rollen, um die Besucher zu den<br />

Sehenswürdigkeiten zu bringen. Doch daraus wurde wegen<br />

zu hoher Kosten nichts – und auch mit den Touristen<br />

sieht es mau aus. Womöglich sind wir einfach sechs Jahre<br />

zu früh dran. Denn das Bauhaus ist erst im Jahr 1925<br />

nach Dessau gezogen.<br />

BARCELONA<br />

–––<br />

DESSAU<br />

Die katalanische Hauptstadt hat die Schnauze voll<br />

von Urlaubern. Die jährlich rund 30 Millionen Besucher<br />

treiben unter anderem die Mieten in die Höhe: Nur noch<br />

Außenbezirke sind für Einheimische bezahlbar. Mit Sprüchen<br />

wie „Tourismus tötet die Stadtteile“ machen sie bei<br />

regelmäßig stattfindenden Demonstrationen ihrem Unmut<br />

Luft. Die Tourismus-Gegner fürchten den Verlust der kulturellen<br />

Seele ihrer Stadt.<br />

BILDER: PIXABAY; SHUTTERSTOCK; UNSPLASH<br />

PARIS<br />

–––<br />

„Aufgrund gestiegener Besucherzahlen üben die<br />

Mitarbeiter der Louvre-Rezeption und das Sicherheitspersonal<br />

ihr Recht zu streiken aus. Deshalb wird das Museum<br />

heute den ganzen Tag geschlossen bleiben”, twitterte das<br />

Louvre am 27. Mai dieses Jahres. Die Mona Lisa blieb<br />

den Touristen volle zwei Tage verwehrt. Obwohl die Eintrittskarten<br />

vom Museum erstattet wurden, hatten die Besucher<br />

wenig Verständnis für den Entschluss der Mitarbeiter.<br />

–––<br />

–––<br />

Viereinhalb Millionen Touristen treffen jährlich auf<br />

genauso viele Einwohner in Neuseeland. Umgerechnet<br />

sind es etwa 20 Euro, die die Regierung bald von allen<br />

Urlaubern außer Australiern fordert. Ab Oktober 2019<br />

fällt die Touristensteuer automatisch mit Beantragung des<br />

Visums an. Mit der Zahlung sollen die Besuchermassen<br />

reguliert und so die Umwelt geschützt werden. Wer sich<br />

jedoch den teuren 25-Stunden-Flug leisten kann, wird wohl<br />

auch das nötige Kleingeld für die Steuer berappen können.<br />

Die Einheimischen sind frustriert: Wieder und wieder<br />

verschiebt die Stadt im Wasser die Einführung der<br />

Eintrittsgebühr für Tagestouristen. Nun sollen erst ab 2020<br />

sechs bis zehn Euro pro Kopf fällig werden. In der Hochsaison<br />

drängeln sich täglich 130.000 Besucher durch die<br />

Lagunenstadt. Auch der Kreuzfahrttourismus ist für die<br />

Venezianer eine Zumutung. Erst im Juni gab es einen Zusammenprall<br />

zwischen einem Kreuzfahrtschiff und einem<br />

kleineren Boot. Der Unfall hat die Stimmung angeheizt:<br />

„Raus mit den Monsterschiffen“, fordern die Bewohner.<br />

NEUSEELAND<br />

KALIFORNIEN<br />

–––<br />

Wie ein Heuschreckenschwarm fielen Touristen im<br />

kalifornischen Lake Elsinore über die blühenden Mohnfelder<br />

her. Zurück blieben zertrampelte Blüten, Müll und<br />

über 200.000 Posts auf Instagram unter dem Hashtag<br />

#superbloom. Als letzte Konsequenz sperrten die kalifornischen<br />

Behörden den Zugang zu den Blumenwiesen, um<br />

das Naturwunder und die Anwohner zu schützen. #Naturelove<br />

sieht eindeutig anders aus.


82<br />

M<br />

U<br />

T<br />

–––– Mut haben, heißt,<br />

etwas zu wagen, sich<br />

zu trauen, Stärke zu<br />

beweisen.Es bedeutet,<br />

für das zu kämpfen,<br />

was einem wichtig ist,<br />

und auch mal gegen<br />

den Strom zu schwimmen.<br />

Manchmal besteht Mut<br />

auch einfach nur darin,<br />

seine Meinung zu sagen.<br />

Mutig war Bauhaus<br />

damals und wir wollen<br />

es jetzt sein.<br />

FOTO: CHARLOTTE HABERSETZER


Mut<br />

PUNKT<br />

88<br />

PUNKT<br />

KOMMA<br />

STRICH<br />

Wenn sich Make-up von abstrakter Kunst<br />

inspirieren lässt, wird es alles andere als linientreu:<br />

Die Pinsel führen in zackigen Bewegungen<br />

über Augenbrauen, umrahmen Gesichter und<br />

lassen Lippen in satten Farben leuchten<br />

Der russische Maler Alexej von Jawlensky war der Meinung, Kunst sei nicht<br />

lehrbar. Mit dieser Begründung lehnte er, die ihm angebotene Professur am Bauhaus ab.<br />

„Morgenlicht (abstrakter Kopf)“ entstand 1923.


90


FOTOS VON QUIRIN SIEGERT<br />

HAIR & MAKE-UP VON MELANIE RIEBERER<br />

MODELS: CHARLOTTE KPONTON, VINCENT KPONTON<br />

PRODUKTION VON SONJA MEINKE, RAFFAELA HERRMANN,<br />

MARIE-LOUISE WENZL-SYLVESTER, NICOLE PANOWSKY<br />

92


Mut<br />

P I L L E<br />

Das Kondom ist bis jetzt das einzige<br />

Kontrazeptivum für Männer. Obwohl<br />

die Forschungen an Alternativmethoden laufen,<br />

bleibt Verhütung bisher Frauensache.<br />

Warum scheint das so vielen egal zu sein?<br />

P<br />

A<br />

L<br />

L<br />

E<br />

BILDER: ANTONIA BETZ<br />

95<br />

Übelkeit, Kopfschmerzen, psychische Verstimmungen<br />

– immer mehr Frauen lehnen die<br />

Verhütungspille aus genau diesen Gründen<br />

ab: Nebenwirkungen. Sie machen ihnen das<br />

Leben oft zur Hölle. Aber trotz zahlreicher<br />

Alternativmethoden scheint die Pille oft noch<br />

das geringere und gleichzeitig sicherste Übel<br />

zu sein. Selbstbestimmung über die eigene<br />

Gesundheit und generell mehr Verständnis<br />

von der Gesellschaft in puncto Verhütungsthematiken<br />

wünschen sich deshalb viele Frauen.<br />

Während sie seit der Erfindung der Pille in den<br />

Sechzigerjahren mit deren negativen<br />

Begleiterscheinungen kämpfen<br />

müssen, wurde die Entwicklung<br />

einer hormonellen Pille für den<br />

Mann aufgrund ähnlicher Nebenwirkungen<br />

eingestellt.<br />

Obwohl schon lange an verschiedenen<br />

alternativen Verhütungsmethoden<br />

für Männer geforscht wird,<br />

scheint es mit der Akzeptanz sowohl<br />

bei der Zielgruppe als auch<br />

in der Pharmaindustrie immer noch<br />

nicht sehr weit her zu sein. Im Gespräch<br />

über Verhütung ernten viele<br />

Frauen von ihren Partnern zunächst<br />

nur ein sehr aussagekräftiges<br />

Schweigen. Zwar beteiligen sich<br />

heute viel mehr Männer als früher<br />

aktiv am Familienleben, nehmen<br />

Vaterschaftsurlaub und kümmern<br />

sich um die Kinder, aber wenn es<br />

um die aktive Familiengründung<br />

oder eben Nicht-Gründung, geht,<br />

sind sie deutlich weniger involviert<br />

als Frauen. Warum nur bleibt, trotz<br />

ansteigendem Kondomverkauf und<br />

zunehmender Gleichberechtigung,<br />

die Verhütungsfrage meistens doch<br />

den Frauen überlassen?<br />

Dass ein Kondom bei jedem One-<br />

Night-Stand zur Grundausstattung<br />

gehört, versteht sich heute eigentlich<br />

von selbst. Eigentlich. Denn<br />

oft scheint der Umgang mit Präservativen<br />

selbst für Männer nicht so<br />

einfach zu sein. Jochen Rögelein,<br />

der in München als Systemischer Paar-, Familien-<br />

und Sexualtherapeut arbeitet, hört von vielen<br />

seiner männlichen Patienten, dass sie sich<br />

beim Geschlechtsverkehr regelrecht gestresst<br />

fühlen, wenn es um die Aufsetztechnik geht.<br />

Oft fangen die Probleme schon im Vorfeld an.<br />

Denn viele Männer hätten keine Ahnung von<br />

der für sie richtigen Marke oder Größe. Dabei<br />

ist es für den sicheren Einsatz eines Kondoms<br />

entscheidend, dass es weder zu groß ist noch<br />

zu eng sitzt.<br />

GLEICHE<br />

„GLEICHE<br />

PFLICHTEN“<br />

RECHTE,<br />

WALTER GROPIUS<br />

FEHLT DIE BEREITSCHAFT<br />

ODER FEHLT DER MUT?<br />

Da ist es natürlich praktischer und bequemer,<br />

wenn die Frau sich um die<br />

Verhütung kümmert, vor allem in einer<br />

längerfristigen sexuellen oder partnerschaftlichen<br />

Beziehung. Dass die Pille<br />

jedoch trotz ihres hohen Pearl Index<br />

(das Maß für die Wirksamkeit einer<br />

Verhütungsmethode) nicht zu hundert<br />

Prozent sicher ist, wissen allerdings<br />

die wenigsten Männer. „Ich kenne<br />

leider viele sogenannte Pillenversagerkinder,<br />

bei denen die Väter dann sogar<br />

oft den Müttern Vorwürfe machen<br />

“, sagt Paar-Experte Rögele.<br />

Auch die Gynäkologin Dr. Heike Anzenberger,<br />

mit eigener Frauenarzt-Praxis<br />

in Peißenberg, beobachtet, dass<br />

Männer immer noch zu wenig aufgeklärt<br />

werden. „Vielen Jungs wird<br />

in der Schule oder von den Eltern oft<br />

leider nur diese eine Botschaft mitgegeben:<br />

Verhütung ist Frauensache“.<br />

In vielen sozialen Umfeldern fehle zusätzlich<br />

die Bereitschaft, offen über<br />

Verhütungsthematiken zu sprechen.<br />

Paartherapeut Rögelein fasst das Phänomen<br />

so zusammen: „Alles in allem<br />

kann man sagen, dass Männer dieses<br />

Thema weitgehend ignorieren.<br />

Das belastet ihre Partnerinnen zwar<br />

oft schwer, führt aber leider trotzdem<br />

nicht dazu, dass die Paare offen und<br />

ehrlich über die Verantwortung in der<br />

Verhütungsfrage diskutieren. Viele<br />

Frauen geben dann irgendwann auf,<br />

vielleicht auch zu schnell.“<br />

Aber wurden die Nachforschungen für eine Verhütungspille<br />

für den Mann wirklich allein wegen der<br />

vielen Nebenwirkungen eingestellt, oder zweifelte<br />

die Pharmaindustrie schlicht an dem Erfolg eines<br />

solchen Produkts? „Ob Männer sich tatsächlich bereit<br />

erklären würden, eine Pille zu nehmen, war seit<br />

jeher fraglich“, sagt Rögelein – verweist aber auf<br />

aktuelle Entwicklungen: „Nachdem zum Beispiel die<br />

Anti-HIV-Pille unter homosexuellen Männern eine gro-<br />

VON ANTONIA BETZ


Mut<br />

97<br />

ße Nachfrage verzeichnet, kann es natürlich schon sein,<br />

dass inzwischen auch heterosexuelle Männer einer Verhütungspille<br />

gegenüber nicht zwingend abgeneigt wären“.<br />

Die Aussicht auf eine marktreife hormonelle Verhütungsmethode<br />

für Männer scheint jedoch trotz allem relativ<br />

aussichtslos. Zu hoch seien die Risiken, sagt die Weltgesundheitsorganisation<br />

(WHO). Vor allem in Bezug auf<br />

die längerfristige Potenz der Männer haben viele Wissenschaftler<br />

Bedenken. Da noch nicht so lange an der Pille für<br />

den Mann geforscht wird, sind Studien anspruchsvolleren<br />

Vorgaben ausgesetzt als einst beim weiblichen Pendant<br />

in den Sechzigerjahren. Wahrscheinlich will man gewisse<br />

Fehler aus der Vergangenheit einfach nicht wiederholen.<br />

Doch selbst wenn die hormonelle Pille für den Mann<br />

aus gesundheitlichen Gründen keine Option wäre:<br />

Schließlich gibt es für Frauen auch genug andere Verhütungsmittel.<br />

Warum also nicht auch für Männer?<br />

Woran scheitert die Entwicklung?<br />

SAMENLEITER-VENTIL<br />

ODER ENZYMPILLE?<br />

Von den verschiedenen Methoden, an denen derzeit<br />

geforscht wird, scheinen vier besonders vielversprechend.<br />

Bei der Polymergelmethode, beispielsweise,<br />

wird ein synthetisches Gel per Injektion in beide Samenleiter<br />

gespritzt. Dieses Gel setzt sich wie ein Filter<br />

fest und lässt zwar Ejakulationsflüssigkeit durch,<br />

jedoch keine Spermien. Obwohl das Gel zehn Jahre<br />

hält, kann es im Falle eines früheren Kinderwunschs<br />

durch eine erneute Spritze wieder aufgelöst werden.<br />

Wie gesichert die dauerhafte Spermienproduktion<br />

nach einem solchen Eingriff ist, ist jedoch noch unklar.<br />

Auch kann man nach heutigem Stand Entzündungsrisiken<br />

nicht völlig ausschließen.<br />

Ähnliche Schwierigkeiten scheint es mit einer anderen<br />

Methode, dem Samenleiterventil, zu geben. Das vom<br />

Berliner Handwerker Clemens Bimek erfundene und<br />

mit einem Münchner Urologen zusammen entwickelte<br />

Verhütungsimplantat kann direkt in den Hodensack<br />

transplantiert werden und funktioniert - beide Samenleiter<br />

umschließend - wie ein Ventil. Mittels eines durch<br />

die Haut zu ertastenden Schalters kann der Mann dieses<br />

Ventil am Samenleiter wie mit einem Kippschalter<br />

bedienen. Ventil auf, Ventil zu. Der Fluss der Spermien<br />

wird also von Hand reguliert. Obwohl das Implantat<br />

zuverlässige Ergebnisse vorweisen kann, sind viele in<br />

der Fachwelt skeptisch. Beim Hantieren mit lebendem<br />

Gewebe könnten zu leicht Entzündungen und Vernarbungen<br />

am empfindlichen Samenleiter entstehen. Das<br />

Risiko, die Fruchtbarkeit dabei dauerhaft zu verlieren,<br />

sei zu hoch. Dementsprechend müssten sich erstmal<br />

genügend Männer finden, die eine derart invasive<br />

Methode testen wollen würden.<br />

An einem weniger Invasiven Verfahren forschen derzeit<br />

Wissenschaftler in den USA. Das Medikament<br />

EP055 beeinträchtigt das im Hoden produzierte Enzym<br />

TSSK2, welches die Beweglichkeit der Spermien<br />

regelt. Somit sorgt der Wirkstoff für unzuverlässige<br />

„Schwimmer“, die dann die Eizelle nicht erreichen. In<br />

einer Studie wurde das Enzympräparat bereits an Affen<br />

getestet, hier stellte sich die Zeugungsfähigkeit der<br />

Tiere nach 18 Tagen komplett wieder her.<br />

Wissenschaftler der University of Washington wiederum<br />

stellten bei der 100. Jahrestagung der amerikanischen<br />

Endocrine Society in Chicago einen Wirkstoff<br />

aus synthetisch hergestellten Hormonen vor – Demthandrolon-Undecanoat<br />

oder kurz DMAU. Das bereits an<br />

mehreren Männern im Alter von 18 bis 50 Jahren getestete<br />

Präparat unterdrückt die Testosteron-Produktion in<br />

den Hoden und somit auch die der Spermien. Zwar rief<br />

das Medikament minimale Nebenwirkungen wie leichte<br />

Gewichtszunahme und Abnahme des HDL Cholesterins<br />

hervor, jedoch bestanden alle Probanden jegliche Sicherheitstests,<br />

wie zum Beispiel für Leber- und Nierenfunktionen.<br />

Zudem blieben die üblichen Symptome von<br />

Testosteronmangel bei Männern wie zum Beispiel erektile<br />

Dysfunktionen und Stimmungsschwankungen in jedem<br />

Fall aus.<br />

KONTROLLVERLUST ODER<br />

MEHR FREIHEITEN?<br />

Obwohl also einige Methoden mit zu hohen Risiken verbunden<br />

und daher nicht praktikabel sind, scheinen andere,<br />

weniger invasive Präparate wie EP055 und DMAU,<br />

vielversprechend. Bis jetzt ist jedoch noch keines der Verfahren<br />

ausreichend erforscht worden, um zur Marktreife<br />

zu gelangen.<br />

Bis das soweit ist, kann es noch einige Zeit dauern. Zwischenzeitlich<br />

lässt sich Gleichberechtigung in der Verhütungsfrage<br />

vermutlich nur durch folgende Varianten<br />

herstellen: Während laut Dr. Heike Anzenberger immer<br />

mehr Männer ab 40 mit abgeschlossener Familienplanung<br />

dazu tendieren, sich sterilisieren zu lassen, rät sie<br />

jungen Patientinnen dazu, ihre Partner aufzufordern, sich<br />

an den Kosten für die Pille zu beteiligen. Jungen Männern<br />

hingegen wird von Sterilisation abgeraten. Zwar sind Vasektomien<br />

grundsätzlich reversibel, der Eingriff ist jedoch<br />

massiv und kann nicht in jedem Fall eine vollkommene<br />

Wiederherstellung der Fruchtbarkeit garantieren. Und<br />

obwohl bereits vasektomierte Männer, laut Rögelein, regelrecht<br />

begeistert sind, scheint die Kostenaufteilung von<br />

Verhütungsmitteln im Vergleich bei jüngeren Paaren nicht<br />

so einfach zu sein. „Wenn ich vor allem jüngere Patientinnen<br />

dazu animiere, sich die Kosten mit ihrem Partner zu<br />

teilen, stoße ich oft auf irritierte Gesichter“, sagt Dr. Anzenberger.<br />

Während viele Frauen oft einfach nicht auf die<br />

Idee kommen, haben einige Angst, die ausschließliche<br />

Kontrolle und Sicherheit über ihren Körper zu verlieren.<br />

Es scheint also ein schwieriger Konflikt zu sein, in dem<br />

sich die Frauen hier befinden. Einerseits gibt es einige,<br />

die sich mehr männliches Engagement bezüglich Verhütung<br />

wünschen und gerne auf sämtliche Nebenwirkungen<br />

der Pille verzichten würden. Andererseits gibt es Frauen,<br />

die Angst haben, die Verantwortung für die Verhütung<br />

aus der Hand zu geben. Es ist noch unklar, ob die Verhütungspille<br />

für den Mann wirklich den kompletten Kontrollverlust<br />

der Frau bedeutet. In jedem Fall bedeutet sie aber<br />

mehr Freiheiten.<br />

Während Frauen sich<br />

oft angeregt über<br />

Verhütung unterhalten,<br />

kommen hier, in<br />

unserem Online-<br />

Beitrag, endlich auch<br />

mal Männer zu Wort.


Mut<br />

G<br />

Der Bauhaus-Gründer wurde einst gefeiert wie<br />

S<br />

Bowie, Britney und Co. Aber welche Star-Qualitäten<br />

brachte er wirklich mit? Ein Vergleich mit<br />

einigen der erfolgreichsten Musikern aus den<br />

R<br />

letzten Dekaden<br />

U P<br />

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R<br />

VON VIVIAN HARRIS<br />

98 99<br />

FOTO: LOUIS HELD, UM 1919 | ILLUSTRATION: VIVIAN HARRIS<br />

AUF DIE BILDUNG PFEIFEN<br />

Sie tauschten Gleichungen gegen Gitarren, Dramenanalysen<br />

gegen Drums, Religionslehre gegen Rock’n’Roll: Jimi<br />

Hendrix und Mick Jagger sind nur zwei der Musiker, die<br />

es mit der schulischen Bildung nicht ganz so ernst genommen<br />

haben. Nicht so ernst zumindest wie mit der Musik.<br />

Während Jagger sein Studium an der London School of<br />

Economics als langweilig empfand, hatte Hendrix bereits<br />

in der High School aufgegeben und diese wegen schlechter<br />

Noten verlassen. Den Plan, Musiker zu werden, hatten<br />

beide aber bereits im Hinterkopf, als sie sich gegen den<br />

klassischen Bildungsweg entschieden. Wer rockt, rebelliert<br />

ja auch immer ein bisschen. Der Rebell in Walter<br />

Gropius kam 1907 auf, als er sein Architektur-Studium,<br />

das er 1903 in München begonnen und für zwei Jahre<br />

in Berlin weitergeführt hatte, abbrach. Zum einen konnte<br />

er nicht wirklich zeichnen (eigentlich eine Voraussetzung<br />

für diesen Beruf), zum anderen erschien ihm der Lehrplan<br />

an den Universitäten – ähnlich wie dem Stones-Frontmann<br />

– öde und realitätsfern. Der damals 24-Jährige entschied<br />

sich also gegen ein Studium. Für ihn, wie auch für Hendrix<br />

und Jagger, ein Schritt in Richtung Weltkarriere.<br />

DIE FAMILIE SCHÄTZEN<br />

Mutter Künstlerin, Vater Künstler, Tochter Künstlerin. Nicht<br />

immer entscheidet man selbst über die eigene berufliche<br />

Karriere. Was nicht unbedingt ein Nachteil sein muss.<br />

Billie Eilish, die gerade zu den beliebtesten Popstars<br />

der Welt zählt, wuchs in Los Angeles als Tochter zweier<br />

Schauspieler auf. Ihr großer Bruder ist selbst Musiker<br />

und half ihr schon vor ihrem Durchbruch dabei, Songs<br />

zu schreiben und zu vertonen. In einem kreativen Umfeld<br />

aufzuwachsen, inspirierte Billie zu einem neuartigen,<br />

düsteren Sound, der sich vom aktuellen Mainstream-Pop<br />

absetzt. (Er macht die 17-Jährige gerade zu einer der<br />

weltweit kommerziell erfolgreichsten Singer-Songwriterinnen).<br />

Vielleicht wurde auch in auch Walter Gropius‘<br />

Elternhaus der Grundstein für seine visionären Ideen gelegt:<br />

Er stammte aus einer großbürgerlichen Familie mit<br />

Hang zum Design: Sein Vater Walther war Architekt bei<br />

der Berliner Baupolizei, sein Großonkel Martin ein früherer<br />

Schüler des Städteplaners Karl Friedrich Schinkels,<br />

welcher wiederum ehemaliger Mitbewohner von Walters<br />

Großvater Carl war. Während Billies Sprungbrett der Online-Musikdienst<br />

Soundcloud war (dort veröffentlichte sie<br />

den Song „Ocean Eyes“, der es auf den Soundtrack der<br />

Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“ schaffte), waren<br />

es bei Walter eher familiäre Kontakte. Nachdem er die<br />

Universität ohne Abschluss verlassen hatte, verschaffte<br />

ihm sein Großonkel eine Anstellung im renommierten<br />

Architektenbüro Behrens, wo er zukünftige Partner wie Le<br />

Corbusier oder Mies Van der Rohe kennenlernte.<br />

AUF FREMDE HILFE VERTRAUEN<br />

Hört man „Jailhouse Rock”, denkt man an den jungen Elvis<br />

Presley, wie er mit verschmitztem Lächeln und im gestreiften<br />

Oberteil vor einer Gefängnis-Kulisse seine Hüften<br />

schwingt. Selten verbindet man einen Song so sehr mit<br />

seinem Interpreten. Dabei hat Presley das Stück nicht einmal<br />

selbst geschrieben. Tatsächlich schrieb Elvis Presley<br />

keines seiner Lieder selbst. Nein, „Suspicious Minds“ ist<br />

nicht von ihm, „Hound Dog“ auch nicht und auch „Heartbreak<br />

Hotel“ hat einen anderen Verfasser. Aber nicht nur<br />

der King of Rock’n’Roll hatte fremde Hilfe. Auch Walter<br />

Gropius, der King of Reduktion, hatte einen Ghostwriter,<br />

wenn man so will. Der Architekt zeichnete keinen seiner<br />

Entwürfe selbst: Das Fagus-Werk, UNESCO-Weltkulturerbe<br />

und das Projekt, das ihn zum Begründer der Modernen<br />

Architektur machte, stammte beispielsweise von<br />

seinem Partner Adolph Meyer. Das Bauhaus in Dessau<br />

vom Architekten Carl Fieger. Gropius war vielleicht der Visionär,<br />

umgesetzt – zeichnerisch und architektonisch – haben<br />

seine Visionen aber andere. Es heißt, Gropius konnte<br />

zwar nicht mit dem Stift in der Hand umgehen, war dafür<br />

aber in der Lage, seine Ideen so genau in Worte zu fassen,<br />

dass man als Zuhörender das Ergebnis schon vor<br />

sich sehen konnte. Auch noch zeichnen zu können, wäre<br />

da ja eh überflüssig.<br />

BEDINGUNGSLOS LIEBEN<br />

John liebte Yoko, Sonny liebte Cher, Justin liebte Britney<br />

(zumindest für eine kurze Zeit) und Walter liebte Alma.<br />

„Ich habe alles ausprobiert, und nichts ist besser, als von<br />

jemanden, den man liebt, gehalten zu werden“, sagte<br />

John Lennon mal über die Liebe seines Lebens, die japanisch-amerikanische<br />

Avantgarde-Künstlerin Yoko Ono.<br />

Mit ihr zierte er nackt das Albumcover zu „Two Virgins“,<br />

mit ihr kämpfte er Ende der Sechziger in <strong>Form</strong> der berühmten<br />

Bed-Ins in Amsterdam und Montreal, für Weltfrieden.<br />

Auch Walter Gropius hatte eine Muse. Alma Mahler,<br />

die ehemalige Ehefrau des Komponisten Gustav Mahler,<br />

wurde als verführerisch beschrieben, als unberechenbar<br />

und unzähmbar. In diese Femme fatale verliebte sich der<br />

27-jährige Walter, nachdem er sie 1910 während eines<br />

Kuraufenthalts in Südtirol kennen gelernt hatte. Zu der Zeit<br />

war die vier Jahre ältere Frau zwar noch mit Mahler verheiratet,<br />

die beiden gingen aber dennoch eine Affäre ein,<br />

fünf Jahre später heirateten sie. Yoko Ono inspirierte John<br />

Lennon zu dem Song „Woman“, und auch Alma weckte<br />

den Poeten in Gropius – nicht im positiven Sinne allerdings.<br />

In seinem Trennungsbrief nach sechseinhalb Jahren<br />

Ehe schrieb er höchst theatralisch: „Die Frau fehlte in ihr.<br />

Eine kurze Zeit warst du mir eine herrliche Geliebte und<br />

dann gingst Du fort, ohne die Krankheit meiner Kriegsverdorrung<br />

mit Liebe und Milde und Vertrauen überdauern<br />

zu können – das aber wäre eine Ehe gewesen.“ Nicht<br />

jede Liebe, und nicht jede Muse, ist für die Ewigkeit.<br />

KUNST UND KÖNNEN VERBINDEN<br />

Walter Gropius vertrat in seinen Designs den Standpunkt,<br />

dass jedes Bauwerk eine Symbiose aus Kunst und Handwerk<br />

sein sollte. Es war sein Traum, diese neue Art des<br />

Konstruierens und der Baukunst einzuführen. Unter diesem<br />

Leitsatz entstand beispielsweise das 1926 eröffnete<br />

Hochschulgebäude des Bauhauses in Dessau. Nachdem<br />

man vom Jugendstil prunkvolle Bauten mit dekorativen<br />

Elementen gewohnt war, empfanden viele das karge Gebäude<br />

mit Stahl- und Glasfassade als zu modern und es<br />

stieß daher auf wenig positive Resonanz. Ähnlich ging es<br />

Queen etwa 50 Jahre später: Mit „Bohemian Rhapsody“<br />

schrieb Freddie Mercury ein fast sechsminütiges Werk,<br />

das von Plattenbossen als zu kompliziert für den kommerziellen<br />

Musikmarkt abgetan wurde. Mercury vereinte in<br />

dem Song das musikalische Handwerk verschiedenster<br />

Gattungen – der Falsettgesang einer barocken Oper traf<br />

auf Gitarrenriffs aus dem Hardrock – und erschuf so ein<br />

neues Kunstwerk. Im Mainstream mag zu viel Handwerk,<br />

und vor allem zu viel künstlerischer Anspruch, nicht immer<br />

gefragt sein. Sowohl Walter Gropius als auch Freddie<br />

Mercury bewiesen aber, dass Regeln und Experimente zusammengehören<br />

– und dass beide eine perfekte Synthese<br />

bilden können.<br />

„Er selbst dagegen verabscheute jeden Starkult.“ JOURNALISTIN AYA BACH ÜBER WALTER GROPIUS<br />

KONSEQUENT SEIN<br />

„Die <strong>Form</strong> folgt der Funktion.“ Diesen Grundsatz<br />

haben Walter Gropius und das Bauhaus<br />

zum ersten Mal konsequent durchgezogen. Auf<br />

Schnörkel, Kitsch oder Verzierungen wurde dabei<br />

komplett verzichtet, außer diese hatten einen<br />

bestimmten Nutzen. Jeglicher Glamour ging<br />

auch in den Neunzigern verloren, als eine neue<br />

Musikgattung aufkam: Der Grunge, der von Seattle<br />

aus weltweit einen Hype auslöste, stellte<br />

den krassen Gegensatz zum Glamrock der Achtzigerjahre<br />

dar. Aus aufwendig toupierten Mähnen<br />

wurden fettige Haarsträhnen, glänzende<br />

Plateaustiefel wichen ausgelatschten Tennisschuhen,<br />

Pailettenbodys wurden durch verwaschene<br />

Holzfällerhemden ersetzt. Die Verkörperung<br />

und der berühmteste Protagonist der Bewegung<br />

war Kurt Cobain. Mit seiner Band Nirvana,<br />

die neben Pearl Jam, Soundgarden oder Alice<br />

in Chains zu den Hauptvertretern des Genres<br />

zählt, produzierte er Hits wie „All Apologies“<br />

oder „About A Girl“ und war bis zu seinem Tod<br />

1994 der Anti-Held einer Generation, die sich<br />

scheinbar um nichts scherte, und modisch so wenig<br />

Aufwand betreiben wollte, wie nur möglich.<br />

Die <strong>Form</strong> des Grunge, der Schmuddel-Look, hatte<br />

aber eine Funktion: auf die Null-Bock-Attitüde<br />

der Jugend aufmerksam zu machen – absichtlich<br />

oder nicht.<br />

POLARISIEREN UND PROVOZIEREN<br />

Provokation hat viele Facetten: Manchmal tritt<br />

sie als Mann in femininen Kostümen auf, manchmal<br />

in knappen Schulmädchen-Outfits. Sicherlich<br />

haben David Bowie und Britney Spears<br />

unterschiedliche Absichten verfolgt. Während<br />

manche Musiker nur der Provokation wegen provozieren,<br />

setzen sich andere damit für Gleichberechtigung<br />

und Toleranz ein. Als David Bowie<br />

beispielsweise sein Album „Space Oddity“ mit<br />

Langhaarfrisur und im Frauenkleid promotete,<br />

antwortete er auf einen beleidigenden Kommentar<br />

nur trocken: „Ich sehe wunderschön aus.“<br />

Maßgeblich provoziert hat auch Walter Gropius<br />

mit den Grundideen für seine staatliche Hochschule:<br />

Eine Universität für alle. Dieser liberale<br />

Ansatz kam im konservativen Deutschland nicht<br />

an. Die Bauwerke? Zu modern. Die Studierenden?<br />

Zu international. Die Haare der Frauen?<br />

Zu kurz. Überhaupt: Frauen, die studieren? Das<br />

Bauhaus stellte sich aber nicht nur gegen veraltete<br />

Normen, es stellte sich vor allem gegen alte<br />

Stilrichtungen, verweigerte den Kapitalismus,<br />

zeigte sich linksliberal. Es provozierte ganz offensichtlich<br />

und verfolgte damit den Zweck, die<br />

Gesellschaft zu einer offeneren zu erziehen, bis<br />

es von den Nationalsozialisten zur Selbstauflösung<br />

gezwungen wurde. Obwohl das Bauhaus<br />

damals vielleicht ein Mikrokosmos der Offenheit<br />

war, sind die Auswirkungen noch heute, von Bedeutung.<br />

Heute, wo sich Männer und Frauen in<br />

jeder Kleidung zeigen können sollten – ohne beleidigt<br />

zu werden.<br />

Hier kommen Sie zur<br />

Bauhaus-Playlist mit den<br />

Songs von Walter Gropius‘<br />

Superstar-Kollegen.


Mut<br />

85<br />

Kunst hat keine<br />

Nationalität<br />

Kreativität ist ein universelles<br />

Gut, doch in vielen Ländern<br />

gefährdet. Über die Wichtigkeit,<br />

von Krieg und Verfolgung<br />

bedrohten Künstlern sichere<br />

Räume für ihr Schaffen zu<br />

bieten VON NICOLE PANOWSKY<br />

Der Straßenkünstler Aeham<br />

Ahmad musiziert für Hoffnung.<br />

Heute begeistert er Menschen<br />

aus aller Welt mit seiner Musik<br />

AEHAM AHMAD/NIRAZ SAIED


Mut<br />

86<br />

„Jedes Kunstwerk entsteht technisch so, wie der Kosmos entstand -<br />

durch Katastrophen, die eine Symphonie bilden, die Sphärenmusik<br />

heißt. Werkschöpfung ist Weltschöpfung. WASSILY KANDINSKY<br />

Zu Zeiten des Nationalsozialismus wurden Bilder,<br />

Literaturwerke und Musikkompositionen<br />

vernichtet, die die Ideale der germanischen<br />

Rasse anzugreifen drohten. Künstler wie Emil<br />

Nolde, Ernst Ludwig Kirchner oder Otto Dix<br />

wurden aufgrund ihrer „entarteten Kunst“ an den Pranger<br />

gestellt. Zum Glück hat sich bis heute viel verändert: In<br />

Deutschland ist Kunst ein verfassungsrechtlich garantiertes<br />

Grundrecht. Der Staat darf also keine Eingrenzung<br />

von Methoden, Inhalten oder künstlerischen Tendenzen<br />

vornehmen. Das bedeutet, dass durch den offenen Kunstbegriff<br />

auch gesellschaftlich nicht anerkannte Kunstformen<br />

diesen Schutz des Grundrechts genießen. So kann Neues<br />

entstehen und es wird Raum für Umstürze und revolutionäre<br />

Denkansätze geboten. Doch diese Ausgangssituation<br />

ist nicht in allen Ländern gegeben. Künstler werden aus<br />

politischen oder rassistischen Gründen verfolgt und aus<br />

der Kulturszene ausgeschlossen - ihnen wird jegliche Freiheit<br />

genommen.<br />

„Was ich in meinem Leben nicht akzeptiere, sind Redeverbote!“<br />

So zitiert ihn die Berliner Zeitung 2017, wenige<br />

Monate vor seinem Tod. Der Kulturwissenschaftler und<br />

Kulturmanager Martin Roth hatte sich zu seinen Lebzeiten<br />

stets für verfolgte Künstler unterschiedlichster Herkunft eingesetzt.<br />

Martin Roth war ein bekannter Mann der Kunst:<br />

er war Direktor des Deutschen Hygiene Museums in Dresden,<br />

bevor er das Victoria and Albert Museum in London<br />

leitete. Zwischen 1995 und 2003 war er außerdem Präsident<br />

des Deutschen Museumsbundes. Der Vater von drei<br />

Kindern erlag 2017 im Alter von 62 Jahren einer schweren<br />

Krankheit. Nach ihm wurde die Martin Roth Initiative<br />

benannt, die zum Schutz Kunst- und Kulturschaffender im<br />

Ausland vom Goethe-Institut und Ifa (Institut für Auslandsbeziehungen)<br />

ins Leben gerufen wurde. Wenn Künstler<br />

von Zensur und Verfolgung bedroht sind, soll ihnen durch<br />

temporäre Schutzaufenthalte in Deutschland oder anderen<br />

Staaten Sicherheit geboten werden. Krisen nehmen<br />

weltweit zu und viele Menschen steigt die Gefahr für viele<br />

an -- unter ihnen eben auch viele Akteure aus Kultur und<br />

Kunst.<br />

„Was ich in meinem<br />

Leben nicht akzeptiere,<br />

sind Redeverbote!“<br />

So ähnlich war es auch für Aeham Ahmad. Er wurde in<br />

der Nähe von Damaskus geboren und schon früh zeigte<br />

sich sein außerordentliches Talent. Als es in seiner Heimat<br />

zum Krieg kam, verlor Aeham nicht den Mut. Mit seinem<br />

Klavier auf einem Rollwagen spielte der heute 31- Jährige<br />

in den Trümmern der zerstörten Stadt. Er wollte den Menschen<br />

und auch sich selbst Hoffnung geben. Irgendwann<br />

blieb ihm nur noch eine letzte Option: die Flucht. 2015<br />

kam er nach Deutschland, wohin ein Jahr später auch seine<br />

Familie nachkommen konnte. Mittlerweile gibt er Kon-<br />

zerte in ganz Deutschland, aber auch international, beispielsweise<br />

in England oder Italien. Seinen Lebenstraum,<br />

eine Karriere als Konzertpianist, wird er sich jedoch nie<br />

erfüllen können. Durch einen Granatsplitter hat er zwei<br />

Finger verloren. Trotzdem ist er seinen Weg gegangen -<br />

heute kennen ihn Menschen auf der ganzen Welt und er<br />

hat mit seiner Geschichte viele Leute bewegt.<br />

Deutschland ist Aufenthaltsort einiger kreativer Geflohener.<br />

Es ist keine leichte Aufgabe, sich in einem fremden<br />

Land neu zu orientieren und auch beruflich wieder Fuß<br />

zu fassen - gerade in der Kunstbranche. Ein Projekt an<br />

der Universität der Künste in Berlin, welches vor zwei<br />

Jahren noch „Refugee Class“ genannt wurde, trägt heute<br />

den Namen „Artist Training for Professionals“ und bietet<br />

Künstlern im Exil eine Möglichkeit zur Qualifizierung,<br />

Orientierung und Vernetzung. In den Modulen Musik, Bildende<br />

Kunst, Darstellende Kunst oder Film werden den<br />

Kreativen erste Kontaktmöglichkeiten hergestellt. Später<br />

erfolgt eine individuelle Beratung aufgrund der persönlichen<br />

Situation und einer möglichen Positionierung am<br />

Berliner Arbeitsmarkt. Vernetzung wird hier eine besondere<br />

Bedeutung zugeschrieben, denn die enge Zusammenarbeit<br />

mit Partnern aus der Branche ist für jeden Betroffenen<br />

unverzichtbar.<br />

Die Menschen, die in den Kursen aufeinander treffen,<br />

haben alle viel erlebt. Alle haben unterschiedliche Geschichten,<br />

aber meistens ähnliche Bedürfnisse und Wünsche.<br />

Einer davon ist Saman Aboutalebi. Er ist aus dem<br />

Iran geflüchtet und hat seine Familie zurückgelassen. Seit<br />

18 Monaten lebt er nun in Deutschland und wird hier<br />

auch bleiben, denn zurück in sein Heimatland möchte er<br />

nicht. Im Iran hat er als Musikkomponist, 2D-Animateur<br />

und Regisseur gearbeitet, heute versucht er, seine Möglichkeiten<br />

in Deutschland auszuschöpfen. Seine Musik<br />

hat sowohl einen persönlichen als auch einen politischen<br />

Bezug, erzählt er. In Deutschland möchte er in Zukunft<br />

Filme machen, ein eigenes Album veröffentlichen und<br />

sich künstlerisch weiterentwickeln. Sein Bestreben im „Artist<br />

Training for Professionals“-Programm ist es, sich „mit<br />

anderen Künstlern und Menschen zu verbinden.“ Das Gefühl<br />

der Zugehörigkeit ist nicht nur für kreative Prozesse<br />

wichtig, sondern auf für die persönliche Verarbeitung<br />

seiner Geschichte. Saman stehen noch einige Aufgaben<br />

und Herausforderungen bevor, ein wichtiges Ziel hat er<br />

allerdings schon erreicht - denn auf die Frage, ob er im<br />

Moment glücklich ist, antwortet er: „Ja, irgendwie schon!“<br />

ARTIST TRAINING, AUSSTELLUNG FINE ARTS, RUNDGANG UDK BERLIN 2017 KENAN MELHEM<br />

Bei der Ausstellung Fine Arts<br />

der Universität der Künste Berlin<br />

werden Werke der Kursbesucher<br />

des „Artist Training for<br />

Professionals“ gezeigt


Impressum<br />

LEHRREDAKTION MM18<br />

HERAUSGEBERIN<br />

Sabine Resch (V.i.S.d.P.)<br />

CHEFREDAKTION<br />

Sonja Meinke<br />

MANAGING EDITOR<br />

Carmen Jenny<br />

CHEFIN VOM DIENST<br />

Juliana Gutzmann<br />

ART DIRECTION<br />

Angela Gundolf<br />

Charlotte Habersetzer<br />

TEXT PRINT<br />

Vivian Harris<br />

Lisa Jakobs<br />

ONLINE CHEFREDAKTION<br />

Carmen Jenny<br />

CONTRIBUTORS<br />

FOTOS<br />

Kaj Lehner, Paul Meyer, Stefani Mijatovic,<br />

Quirin Siegert<br />

MODELS<br />

Emmanuel Edigin, Charlotte Kponton,<br />

Vincent Kponton, Aïssatou Estelle Niang,<br />

Caro Schäffler, Elli Schwenk,<br />

Hannah-Sophie Weber<br />

ILLUSTRATIONEN<br />

Nastasja Schefter, Patrick Simon,<br />

Philip Karlberg, Isabella Heinz<br />

EXTERNE SCHLUSSREDAKTION<br />

Angela Kreimeier<br />

SPONSOREN<br />

STELLV. ONLINE CHEFREDAKTION<br />

Raffaela Herrmann<br />

TEXT ONLINE<br />

Maximilian Grassl<br />

Marie-Louise Wenzl-Sylvester<br />

DANK<br />

WIR BEDANKEN UNS BEI…<br />

…Isabella Heinz, Studierende im 6. Semester Modedesign<br />

(B.A.), für die digitale Produktion des Schnittbogens von Ayzit<br />

Bostans Bauhaus-Kleid<br />

MODE<br />

Aline Ganguin<br />

Eva Kapeller<br />

Rossella Lofino<br />

BEAUTY<br />

Raffaela Herrmann<br />

Sonja Meinke<br />

FACT-CHECKING<br />

Maximilian Grassl<br />

Lisa Jakobs<br />

Nicole Panowsky<br />

SOCIAL MEDIA<br />

Raffaela Herrmann<br />

Sonja Wunderlich<br />

Charlotte Habersetzer<br />

…Anna Fröse und Lukas Bürgelt, Studierende im 3. Semester<br />

Marken- und Kommunikationsdesign (B.A.) der AMD Düsseldorf,<br />

für ihre Augmented Reality Plakate zum Thema Bauhaus<br />

…den Model- und PR Agenturen Munich Models, Louisa<br />

Models, Place Models Hamburg, We love PR, Häberlein &<br />

Maurer und Wilk PR für ihr Vertrauen und ihre Unterstützung<br />

…dem Kieswerk Obermayr GmbH & Co. KG und der MVG<br />

für die Möglichkeit, am Baggersee in Feldkirchen und in der<br />

U-Bahnstation München Westfriedhof zu fotografieren<br />

…dem Bauhaus-Archiv Berlin und der<br />

VG Bild-Kunst Bonn für die Bilder<br />

WIR DANKEN AUCH UNSEREN ANONYMEN<br />

UNTERSTÜTZERN VON LEETCHI.<br />

Bayerischer Journalisten-Verband<br />

MEDIENMARKETING<br />

Antonia Betz<br />

Sonja Wunderlich<br />

DOZIERENDE<br />

KONZEPTION/TEXT:<br />

Carolin Schuhler<br />

KONZEPTION/ART DIRECTION:<br />

Lutz Widmaier<br />

EDITORIALS<br />

Carola Niemann<br />

ONLINE JOURNALISMUS/<br />

DIGITAL PUBLISHING:<br />

Angelika Knop<br />

REDAKTIONSMANAGEMENT:<br />

Sabine Resch<br />

MEDIENMARKETING:<br />

Susanne Steiger<br />

VERLAG<br />

ANSCHRIFT VERLAG<br />

UND LEHRREDAKTION:<br />

AMD Akademie Mode & Design<br />

Infanteriestraße 11A, Haus E2<br />

80797 München<br />

ANSPRECHPARTNERIN:<br />

Sabine Resch (V.i.S.d.P.)<br />

Studienleitung Modejournalismus/<br />

Medienkommunikation<br />

Seit Wintersemester 2018/19<br />

Fashionjournalism and Communication (B.A.)<br />

DRUCK:<br />

Druckerei Vogl GmbH & Co. KG<br />

Georg-Wimmer-Ring 9<br />

85604 Zorneding<br />

MO:DE 11 – <strong>Form</strong> <strong>Follows</strong> <strong>Future</strong> ist eine crossmediale Magazinentwicklung<br />

der Lehrredaktion des Jahrgangs MM18 im<br />

Sommersemester 2019 von Modejournalismus / Medienkommunikation<br />

der AMD Akademie für Mode & Design<br />

München.<br />

ONLINE:<br />

Videos, Tests und mehr über MO:DE 11 gibt es online unter<br />

formfollowsfuture.de<br />

und auf Instagram @formfollowsfuture<br />

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