ZAP-2019-22
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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
<strong>22</strong> <strong>2019</strong><br />
20. November<br />
31. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />
BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />
Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />
Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />
Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
Das anwaltliche Empfangsbekenntnis und die Eintragung von Fristen (S. 1155)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Maßnahmenpaket gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität (S. 1158) • Experten‐Diskussion<br />
über geplante PKH‐Änderungen (S. 1160) • Anwaltliche Hinweispflicht (S. 1161)<br />
Aufsätze<br />
Horst, Negative, ideelle und ähnliche Einwirkungen durch Zustand und Beschaffenheit des<br />
Nachbargrundstücks (S. 1171)<br />
Andrick, Rechtsprechungsübersicht zum öffentlichen Recht (S. 1191)<br />
Bleckat, Auslegung des Begriffs „tätlicher Angriff“ (S. 1207)<br />
Eilnachrichten<br />
BGH: Mietspiegel einer Nachbargemeinde (S. 1163)<br />
BGH: Musterfeststellungsklage (S. 1166)<br />
BVerfG: Rechtsschutzbedürfnis für Organstreitverfahren (S. 1168)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 1155–1156<br />
Anwaltsmagazin – – 1157–1162<br />
Eilnachrichten 1 167–174 1163–1170<br />
Horst, Negative, ideelle und ähnliche Einwirkungen<br />
durch Zustand und Beschaffenheit des Nachbargrundstücks<br />
7 531–550 1171–1190<br />
Andrick, Rechtsprechungsübersicht zum öffentlichen<br />
Recht – 1. Halbjahr <strong>2019</strong> 19 R 511–526 1191–1206<br />
Bleckat, Auslegung des Begriffs „tätlicher Angriff“ 21 323–326 1207–1210<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, <strong>22</strong>, <strong>22</strong>R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />
Gelsenkirchen • RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert,<br />
Düsseldorf • Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald,<br />
Vallendar • RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA<br />
Dr. Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst,<br />
Hannover/Solingen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund<br />
• RA Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn •<br />
RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />
Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RiOLG a.D. Heinrich Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr.<br />
Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt, Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />
PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />
RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
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service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Peggy von Schoenebeck –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
Das anwaltliche Empfangsbekenntnis und die Eintragung von Fristen<br />
In der Praxis werden (auch) durch die Gerichte<br />
Schriftstücke häufig gegen Empfangsbekenntnis<br />
des Anwalts zugestellt (§§ 172, 174, 195 ZPO). Der IX.<br />
Zivilsenat des BGH hat am 12.9.<strong>2019</strong> (IX ZB 13/19)<br />
entschieden (s. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 675/<strong>2019</strong> [in dieser<br />
Ausgabe] = NJW <strong>2019</strong>, 3234): „Der Rechtsanwalt darf<br />
das Empfangsbekenntnis für eine Urteilszustellung erst<br />
unterzeichnen, wenn in den Handakten die Rechtsmittelfrist<br />
festgehalten und vermerkt ist, dass die Frist im<br />
Fristenkalender notiert worden ist (Rn 13).“<br />
Damit bestätigt der IX. Zivilsenat die bereits vom<br />
VI. Senat im Jahre 1996 etablierte Rechtsprechung<br />
(BGH, Beschl. v. 26.3.1996 – VI ZB 1/96, 2/96,<br />
NJW 1996, 1900, vgl. dazu REINELT, Kolumne in<br />
<strong>ZAP</strong> 20/2014, S. 1097). Auch der VI. Senat hatte<br />
damals festhalten:<br />
„Der Rechtsanwalt darf das Empfangsbekenntnis über<br />
eine Urteilszustellung erst unterzeichnen und zurückgeben,<br />
wenn in den Handakten die Rechtsmittelfrist<br />
festgehalten, sowie vermerkt worden ist, dass die Frist<br />
im Fristenkalender notiert worden ist.“<br />
Aber: Welche Frist soll vor Unterzeichnung und<br />
Absendung des Empfangsbekenntnisses im Kalender<br />
eingetragen worden sein und vor Unterzeichnung<br />
des Empfangsbekenntnisses überprüft werden?<br />
Das Sekretariat des Anwalts könnte allenfalls<br />
den Tag des Zugangs notieren. Das mag sinnvoll<br />
sein, weil der Rechtsanwalt nach § 14 BORA<br />
verpflichtet ist, Zustellungen unverzüglich entgegenzunehmen.<br />
Die nach dem Zugang berechnete<br />
Frist ist aber prozessual nicht die maßgebende.<br />
Zugang bedeutet hier nicht Zustellung. Denn<br />
die endgültige Berechnung dieser Frist ergibt sich<br />
erst mit der Unterzeichnung und Datierung des<br />
Empfangsbekenntnisses durch den Anwalt. Diesen<br />
Termin kann das Büro jedoch nicht im Wege der<br />
prévoyance eintragen, bevor der Rechtsanwalt unterzeichnet<br />
und datiert hat.<br />
Die Vorgabe der Entscheidungen des VI. und des<br />
IX. Zivilsenats verkehrt – wie ich bereits in der<br />
Kolumne in <strong>ZAP</strong> 20/2014 ausgeführt habe – die in<br />
der Praxis richtige und notwendige Reihenfolge.<br />
Sie steht nach meiner Überzeugung weder mit<br />
der Bedeutung des Empfangsbekenntnisses noch<br />
mit den üblichen und notwendigen Kanzleiabläufen<br />
in Einklang. Nicht etwa der Eingang der<br />
Schriftstücke bei der Anwaltskanzlei, sondern<br />
erst die Unterzeichnung und Abgabe des unterzeichneten<br />
Dokuments „Empfangsbekenntnis“<br />
löst die (Rechtsmittel-)Frist aus. Erst vom Datum<br />
der Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses<br />
an ist diese zu berechnen. Das Büro kann<br />
diese erst dann durch den Anwalt bestimmte Frist<br />
nicht im Wege der spekulativen Vorausschau<br />
ermitteln.<br />
Wenn man sich also exakt an das Postulat des BGH<br />
hält, müsste der Anwalt bei Meidung einer Haftung<br />
zunächst eine für den prozessualen Fristenlauf<br />
unzutreffende, vom Zugang berechnete Frist<br />
eintragen und diese dann anschließend korrigieren<br />
lassen mit dem Datum der Unterzeichnung des<br />
Empfangsbekenntnisses. Ist das sinnvoll und gar –<br />
bei Meidung einer Haftung des Anwalts – notwendig?<br />
In der Praxis kommt es häufig vor, dass Schriftstücke<br />
in Anwaltskanzleien eingehen und der<br />
Rechtsanwalt wegen kurzfristiger Abwesenheit<br />
das Empfangsbekenntnis nicht sofort unterzeichnen<br />
kann oder will, weil er vom Inhalt des<br />
Schriftstücks erst noch Kenntnis nehmen muss.<br />
Die maßgebende Frist wird ja nicht durch den<br />
Eingangsstempel und den Zugang in der Kanzlei<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1155
Kolumne<br />
<strong>ZAP</strong><br />
ausgelöst, sondern erst durch das Empfangsbekenntnis<br />
und dessen Datierung. Wenn der BGH<br />
den Anwaltskanzleien die Verpflichtung auferlegt,<br />
vor Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses<br />
eine Frist einzutragen, steht das nach meiner<br />
Überzeugung mit Sinn und Bedeutung des Empfangsbekenntnisses<br />
nicht in Einklang. Denn erst<br />
dessen Unterzeichnung und Datierung durch den<br />
Anwalt bestimmt den maßgeblichen Zeitpunkt<br />
und löst den Fristenlauf aus.<br />
Das bedeutet aber: Der Fristablauf kann vom<br />
Sekretariat vorher gar nicht berechnet werden.<br />
Das Sekretariat des Anwalts kann erst nach<br />
Datierung und Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses<br />
durch den Anwalt ermitteln, wann<br />
der Anwalt sich zum Empfang bekannt hat und<br />
wann demgemäß die Fristen laufen. Die Auffassung<br />
des IX. und des VI. Senats, wonach der<br />
Rechtsanwalt das Empfangsbekenntnis für eine<br />
Urteilszustellung erst unterzeichnen darf, wenn<br />
die Rechtsmittelfrist vorher festgehalten ist, geht<br />
nicht nur an der Praxis der Anwaltskanzleien,<br />
sondern auch an der Bedeutung des Empfangsbekenntnisses<br />
und dessen Wirkung für die Zustellung<br />
(§ 195 ZPO) vorbei.<br />
Anders als der IX. und der VI. Senat meinen kann der<br />
vom BGH postulierte Ablauf (erst Fristeintragung,<br />
dann Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses)<br />
nicht eingehalten werden. Notwendig und der gesetzlichen<br />
Bedeutung des Empfangsbekenntnisses<br />
nach § 195 ZPO entsprechend ist vielmehr folgender<br />
Ablauf:<br />
Datierung und Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses<br />
durch den Anwalt selbst, dann<br />
Eintragung der maßgebenden Frist durch das<br />
Sekretariat ab dem Zeitpunkt und Datum der<br />
Unterzeichnung und Datierung des Empfangsbekenntnisses,<br />
Versendung des Empfangsbekenntnisses.<br />
Erst ab dem Zeitpunkt der Datierung des Empfangsbekenntnisses<br />
können die Fristen im Kalender<br />
durch das Sekretariat notiert werden. Wie der<br />
IX. Senat in seiner Entscheidung zutreffend ausführt<br />
(Rn 13), kommt es für den Fristbeginn darauf<br />
an, wann der Rechtsanwalt das Empfangsbekenntnis<br />
unterzeichnet hat. Zu einem vorherigen<br />
Zeitpunkt lässt sich die Rechtsmittelfrist nicht<br />
zutreffend berechnen und im Kalender eintragen.<br />
Der bloße Vermerk über die Zustellung im Büro<br />
des Anwalts mag sinnvoll sein, für den Fristenlauf<br />
ist er aber nicht entscheidend.<br />
Dass natürlich nach der Unterzeichnung des<br />
Empfangsbekenntnisses die Fristen korrekt nach<br />
der Datierung des Empfangsbekenntnisses im<br />
Kalender zu vermerken sind, steht auf einem<br />
anderen Blatt. Die Kanzleiorganisation und/oder<br />
eine Einzelweisung müssen das sicherstellen. Das<br />
bedeutet aber: Zur ordnungsgemäßen Büroorganisation<br />
im Sinne der Ausführungen des IX. Senats<br />
gehört eine klare Anweisung an das Sekretariat,<br />
dass stets und unter allen Umständen die Fristen<br />
im Kalender eingetragen werden, sobald der<br />
Rechtsanwalt das Empfangsbekenntnis mit einem<br />
bestimmten Datum unterzeichnet hat und<br />
zur Absendung freigibt.<br />
Das von BGH aufgestellte Postulat sollte also aus<br />
meiner Sicht richtigerweise lauten: Der Rechtsanwalt<br />
darf und muss das Empfangsbekenntnis<br />
auch ohne vorherige Fristeneintragung im Kalender<br />
datieren und unterzeichnen. Vor Versendung<br />
muss allerdings im Rahmen der Büroorganisation<br />
sichergestellt sein, dass die durch Datierung des<br />
Empfangsbekenntnisses ausgelöste Frist (vom Sekretariat)<br />
im Kalender eingetragen wurde. Diese<br />
Kontrolle kann dem gut ausgebildeten Sekretariat<br />
im Rahmen einer Organisationsanweisung überlassen<br />
werden.<br />
Prof. Dr. EKKEHART REINELT, Rechtsanwalt beim<br />
Bundesgerichtshof, Karlsruhe<br />
1156 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Anwaltsmagazin<br />
Zukunftsthemen beschäftigten<br />
Hauptversammlung<br />
In Düsseldorf trafen sich Ende Oktober die Präsidentinnen<br />
und Präsidenten der Rechtsanwaltskammern<br />
zu ihrer diesjährigen Herbstversammlung,<br />
um sich mit den Herausforderungen der<br />
kommenden Jahre zu beschäftigen. Auf der Tagesordnung<br />
standen u.a. die Themen Legal Tech,<br />
Fremdkapitalbeteiligungen und das Berufsrecht<br />
der Insolvenzverwalter.<br />
Zu Letzterem, dem Berufsrecht für Insolvenzverwalter,<br />
beschloss die Hauptversammlung nach<br />
intensiver Diskussion eines Eckpunktepapiers mit<br />
23 Ja-Stimmen, den BRAO-Ausschuss und den<br />
Ausschuss Insolvenzrecht zu beauftragen, einen<br />
bereits bestehenden Vorschlag noch konkreter<br />
auszuarbeiten und insb. Details zur Zulassung<br />
und zur Ausgestaltung der Berufspflichten niederzulegen.<br />
95 % der Insolvenzverfahren werden<br />
derzeit von Mitgliedern der Rechtsanwaltskammern<br />
betreut. Das aktuelle Eckpunktepapier sieht<br />
vor, die Berufsaufsicht über die Insolvenzverwalter<br />
in ein effektives und etabliertes Selbstverwaltungssystem<br />
zu integrieren, das von Erfahrung und<br />
Kompetenz geprägt ist und dadurch Segmentierung<br />
effektiv verhindert. Die guten Erfahrungen<br />
mit der unabhängigen – und staatsfernen –<br />
Selbstverwaltung einerseits und der funktionierenden<br />
Anwaltsgerichtsbarkeit andererseits sollen<br />
auch bei der Regulierung des Berufsrechts der<br />
Insolvenzverwalter eingebracht werden.<br />
Einen weiteren Themenschwerpunkt bildete das<br />
Eckpunktepapier des Bundesministeriums der Justiz<br />
und für Verbraucherschutz (BMJV) zur Neuregelung<br />
des Berufsrechts der anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaften<br />
(vgl. dazu zuletzt<br />
<strong>ZAP</strong>-Anwaltsmagazin 18/<strong>2019</strong>, S. 941). Hier begrüßte<br />
der zuständige BRAK-Aussschuss, dass den<br />
Berufsausübungsgesellschaften künftig grds. alle<br />
nationalen und europäischen Rechtsformen zur<br />
Verfügung gestellt werden sollen. Abzulehnen sei<br />
dagegen, dass allen ausländischen Gesellschaftsformen<br />
aus allen Ländern die Befugnis zur Rechtsdienstleistung<br />
und entsprechende Postulationsfähigkeit<br />
eingeräumt werden soll. Eine solche<br />
Öffnung des Rechtsmarkts sei mit der „Büchse der<br />
Pandora“ zu vergleichen. Es fehlten selbst rudimentäre<br />
Regeln für die Einhaltung der originären<br />
in anderen Ländern bestehenden Berufspflichten.<br />
Dies könne keine Zustimmung finden.<br />
Auch eine Öffnung des Fremdkapitalverbots – z.B.<br />
für Wagniskapital – sei strikt abzulehnen. Jedwede<br />
Einschränkung des Verbotes der Fremdbeteiligung<br />
sei inkohärent und gefährlich. Die beabsichtigte<br />
„Verbesserung interprofessioneller Zusammenarbeit“<br />
lehnte der Ausschuss ebenfalls nachdrücklich<br />
ab. Zum einen definiere das Papier nicht, was unter<br />
„vereinbar“ zu verstehen sei. Zum anderen gefährde<br />
der Vorschlag den Schutz des Mandanten, dem die<br />
anwaltlichen Berufspflichten dienen. Ein rechtspolitisches<br />
Bedürfnis nach derartiger Zusammenarbeit<br />
bestehe in keinerlei Hinsicht. Kritisiert wurde<br />
auch, dass das Eckpunktepapier zur Unabhängigkeit<br />
der Anwaltschaft, zur Verschwiegenheitspflicht<br />
und zum Verbot der Vertretung widerstreitender<br />
Interessen schweige, obwohl es sich<br />
um Kernwerte des Anwaltsberufes handele.<br />
Intensiv befasste sich die Hauptversammlung<br />
ferner mit den Entwicklungen im Bereich Legal<br />
Tech. Eine ausschussübergreifende Arbeitsgruppe<br />
der BRAK hat sich intensiv mit dem Thema befasst<br />
und kam zu der auch vom BRAK-Präsidium<br />
vertretenen Auffassung, dass kein Regulierungsbedarf<br />
im Rechtsdienstleistungsgesetz bestehe.<br />
Auch wenn jeder neue technische Fortschritt zu<br />
begrüßen sei, müsse im Rahmen der digitalen<br />
Entwicklungen sichergestellt werden, dass eine<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1157
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
qualifizierte Rechtsberatung erfolge. Es dürfe, so<br />
der zuständige Referent, keine Rechtsdienstleistung<br />
„unterhalb der Anwaltschaft“ geben. Dies sei im<br />
Allgemeinwohlinteresse der Bürger. Die 28 Rechtsanwaltskammern<br />
wollen das Thema jedoch noch<br />
weiter in den Vorständen erörtern.<br />
BRAK-Präsident Rechtsanwalt und Notar Dr.<br />
ULRICH WESSELS betonte zum Ende der Veranstaltung,<br />
dass sich der Anwaltsberuf im Umbruch<br />
befinde und vor vielen spannenden Herausforderungen<br />
stehe. Die Anwaltschaft sei auf jeden Fall<br />
zukunftsorientiert. Dies stimme ihn zuversichtlich.<br />
[Quelle: BRAK]<br />
Maßnahmenpaket gegen Rechtsextremismus<br />
und Hasskriminalität<br />
Ende Oktober hat das Bundeskabinett ein umfangreiches<br />
Maßnahmenpaket beschlossen, mit<br />
dem Hass, Rechtsextremismus, Antisemitismus<br />
und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit<br />
bekämpft werden sollen. Es<br />
basiert auf einem gemeinsamen Entwurf von<br />
Bundesinnenministerium und Bundesjustizministerium<br />
und soll nun Zug um Zug in konkrete<br />
gesetzgeberische Schritte umgesetzt werden. Im<br />
Einzelnen zielen die Maßnahmen auf folgende<br />
Bereiche:<br />
• Erweiterte Strafbarkeit bei Hetze und Beleidigung<br />
Bereits jetzt ist die Anstiftung zu konkreten<br />
Straftaten und die sog. Volksverhetzung strafbar.<br />
Das Maßnahmenpaket sieht nunmehr im<br />
Hinblick auf die besonderen Erscheinungsformen<br />
im Internet eine Erweiterung der unter<br />
Strafe gestellten Handlungen vor. Die Strafverfolgungsbehörden<br />
sollen so eine bessere Handhabe<br />
gegen das Phänomen der Hasskriminalität<br />
im Internet bekommen. Konkret geplant ist in<br />
diesem Zusammenhang beispielsweise eine Anpassung<br />
des Tatbestands der Beleidigung.<br />
• Meldepflichten der Provider<br />
Betreiber von Online-Plattformen sollen strafrechtlich<br />
relevante Beiträge wie Morddrohungen<br />
oder volksverhetzende Inhalte künftig<br />
zentral melden müssen. Dazu soll eine spezielle<br />
Stelle im Bundeskriminalamt eingerichtet<br />
werden. Dabei werden die Provider mittels<br />
Änderung im Netzwerkdurchsetzungsgesetz<br />
dazu verpflichtet, auch die IP-Adressen der<br />
Absender solcher Postings zu übermitteln.<br />
• Schutz von Kommunalpolitikern<br />
Der bereits bestehende Schutz für Politiker soll<br />
auch auf politisch ehrenamtlich tätige Personen<br />
auf kommunaler Ebene erweitert werden.<br />
Dazu soll der im StGB enthaltene Tatbestand<br />
der üblen Nachrede gegen Personen<br />
des politischen Lebens angepasst werden.<br />
• Schutz von Ärzten und Sanitätern<br />
In der Vergangenheit waren Notärzte und<br />
Sanitäter vielfach Opfer von Gewalttaten. Um<br />
sie besser zu schützen, soll das Strafgesetzbuch<br />
entsprechend angepasst werden. Bereits heute<br />
gibt es Regelungen zum besonderen Schutz von<br />
Vollstreckungsbeamten, Feuerwehrleuten, Hilfskräften<br />
des Katastrophenschutzes oder eines<br />
Rettungsdienstes. Dieser Schutz soll nun auf<br />
medizinisches Personal ausgeweitet werden.<br />
• Verschärfung des Waffenrechts<br />
Bevor Waffenbehörden einen Waffenschein<br />
ausstellen, müssen sie künftig bei den Verfassungsschutzbehörden<br />
anfragen, ob diesen Erkenntnisse<br />
zu der Person vorliegen, die dagegen<br />
sprechen. Dadurch soll sichergestellt<br />
werden, dass Mitglieder von verfassungsfeindlichen<br />
Vereinigungen keine Waffen mehr erhalten.<br />
Auch soll Extremisten, die bereits im<br />
Besitz einer Waffe sind, die Waffe aufgrund der<br />
Erkenntnisse des Verfassungsschutzes entzogen<br />
werden können.<br />
• Verbesserte Präventionsarbeit<br />
Neben der Änderung strafrechtlicher und strafprozessualer<br />
Vorschriften setzt die Bundesregierung<br />
auch auf Prävention, um gegen Rechtsextremismus,<br />
Antisemitismus, Rassismus und<br />
Menschenfeindlichkeit vorzugehen. Bereits 2016<br />
wurde die „Strategie zur Extremismusprävention<br />
und Demokratieförderung“ vorgelegt, die zum<br />
Ziel hat, diejenigen zu fördern und zu stärken, die<br />
sich vor Ort aktiv für die Demokratie einsetzen<br />
und sich damit gegen Extremismus jeglicher Art<br />
wenden. Diese Präventionsarbeit soll nun verstetigt<br />
und ausweitet werden.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Abschlussbericht zu Kinderrechten<br />
Bereits im Koalitionsvertrag war vereinbart worden,<br />
Kinderrechte ausdrücklich im Grundgesetz zu<br />
1158 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
verankern. Wie das Bundesministerium der Justiz<br />
und für Verbraucherschutz (BMJV) am 25.10.<strong>2019</strong><br />
mitteilte, hat die hierzu eingesetzte Bund-Länder-<br />
Arbeitsgruppe nun ihren Abschlussbericht vorgelegt.<br />
Die Arbeitsgruppe war im Sommer 2018<br />
eingesetzt worden und hat seither sieben Mal<br />
getagt. Den Vorsitz führte das BMJV gemeinsam<br />
mit dem nordrhein-westfälischen Ministerium für<br />
Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration (MKFFI<br />
NRW).<br />
Die Arbeitsgruppe hat sich mit vier möglichen<br />
Regelungselementen eines Kindesgrundrechts<br />
befasst:<br />
1. Grundrechtssubjektivität von Kindern einschließlich<br />
eines Entwicklungsgrundrechts,<br />
2. Verankerung des Kindeswohlprinzips,<br />
3. Beteiligungsrechte des Kindes,<br />
4. Ergänzendes Staatsziel der Schaffung kindgerechter<br />
Lebensbedingungen.<br />
In ihrem Bericht gibt die Arbeitsgruppe der Politik<br />
mehrere Varianten an die Hand, mit welchen<br />
Formulierungen Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen<br />
werden könnten. Die Arbeitsgruppe<br />
spricht sich für Artikel 6 GG als Standort für die<br />
Kinderrechte aus. Hier sind bereits aktuell das<br />
Eltern- und das Familiengrundrecht geregelt, mit<br />
denen die Kinderrechte in einem engen Zusammenhang<br />
stehen.<br />
Bei der Präsentation des Berichts erklärte Bundesjustizministerin<br />
LAMBRECHT: „Basierend auf den<br />
Empfehlungen der Arbeitsgruppe werde ich noch in<br />
diesem Jahr einen Gesetzentwurf zur ausdrücklichen<br />
Aufnahme von Kindesgrundrechten in Art. 6 GG<br />
vorlegen. Hierdurch senden wir ein ganz wichtiges<br />
Signal aus, denn das Grundgesetz ist die Basis der<br />
Werteordnung unserer Gesellschaft. Wir wollen damit<br />
verdeutlichen, welchen hohen Stellenwert Kinder und<br />
ihre Rechte für uns haben.“<br />
Der Bericht der Arbeitsgruppe kann auf der<br />
Internetseite des Ministeriums unter https://<br />
www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/PM/<br />
102519_Abschlussbericht_Kinderrechte.html eingesehen<br />
und heruntergeladen werden.<br />
[Quelle: BMJV]<br />
Thomas Cook-Pleite beschäftigt<br />
auch die Politik<br />
Mit der Pleite des Reiseanbieters Thomas Cook (s.<br />
dazu <strong>ZAP</strong>-Anwaltsmagazin 20/<strong>2019</strong>, S. 1049) befasst<br />
sich jetzt auch die Bundesregierung. Diese<br />
Insolvenz stelle das System der Risikoabsicherung<br />
für Pauschalreisende in Deutschland vor<br />
eine bislang nie dagewesene Herausforderung,<br />
vermerkt ein Bericht der Bundesregierung, den<br />
die Vertreter der federführenden Ministerien für<br />
Justiz und Verbraucherschutz sowie Wirtschaft<br />
im Oktober dem Bundestagsausschuss für Tourismus<br />
vorstellten.<br />
Absehbar sei, so der Bericht, dass die gesetzlich<br />
festgelegte Haftungsobergrenze von jährlich<br />
110 Mio. € durch Erstattungsansprüche von Betroffenen<br />
deutlich überschritten werde. Über die<br />
Zahl der Geschädigten und die Höhe der Verluste<br />
werde voraussichtlich erst Ende des Jahres Klarheit<br />
bestehen. Die Frage, ob ggf. der Staat einspringen<br />
muss, stehe im Raum.<br />
Mittlerweile seien alle deutschen Thomas Cook-<br />
Urlauber, die von der Pleite überrascht wurden<br />
und am Ferienort gestrandet waren, zurückgeholt<br />
worden. Dafür seien Kosten von 80 Mio. € angefallen.<br />
Sollte dieser Betrag auf die Gesamthaftungssumme<br />
angerechnet werden, müssten freilich<br />
jene Thomas-Cook-Kunden, die eine Reise<br />
gebucht und zumindest angezahlt, aber noch nicht<br />
angetreten haben, mit dem verbleibenden Rest<br />
Vorlieb nehmen und damit rechnen, nur für einen<br />
Bruchteil ihres Verlusts entschädigt zu werden. Ob<br />
eine solche Verrechnung zulässig ist, sei zwischen<br />
der Bundesregierung und dem Versicherer umstritten.<br />
Im zuständigen Justizministerium besteht<br />
die Ansicht, dass Repatriierungskosten von sonstigen<br />
Ansprüchen getrennt zu behandeln seien.<br />
Die Entschädigungsregelung geht auf die seit<br />
1990 mehrfach novellierte Pauschalreise-Richtlinie<br />
der Europäischen Union zurück. Unter anderem<br />
ist hier davon die Rede, dass ggf. auch der<br />
Staat für gravierende Versäumnisse haftbar ist,<br />
wenn etwa „qualifizierte Verstöße“ gegen die Richtlinie<br />
vorliegen. Ob davon im Fall Thomas Cook die<br />
Rede sein kann, ist nach Ansicht der Bundesregierung<br />
noch zu prüfen. Die Richtlinie lasse<br />
einigen „Gestaltungsspielraum“.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1159
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Aus den Oppositionsparteien wird argumentiert,<br />
dass die Politik es versäumt habe, die Haftungsobergrenze<br />
von jährlich 110 Mio. € rechtzeitig<br />
den absehbar steigenden Risiken anzupassen.<br />
Regierungsvertreter hielten dem jedoch entgegen,<br />
dass mit einer Insolvenz von der Dimension<br />
der Thomas Cook-Pleite niemand habe rechnen<br />
können. Der größte bislang zu deckende Schadensfall<br />
habe bei 30 Mio. € gelegen. Es habe auch<br />
nur wenige Kritiker gegeben, die an der geltenden<br />
Haftungsobergrenze etwas auszusetzen hatten.<br />
Das System habe „wunderbar funktioniert“. Erst<br />
jetzt habe sich diese Ansicht als Fehleinschätzung<br />
erwiesen.<br />
Die Regierung ist der Auffassung, dass eine<br />
Anhebung der Garantiesumme auf 300 Mio. €,<br />
wie von Oppositionsvertretern gefordert, zur<br />
Folge hätte, dass sich Pauschalreisen verteuerten<br />
und kleinere Anbieter in Schwierigkeiten geraten<br />
könnten. Es sei außerdem nicht ausgemacht, dass<br />
sich Versicherer bereitfänden, ein so hohes Risiko<br />
abzudecken. Gleichwohl will die Bundesregierung<br />
jetzt alternative Modelle des Insolvenzschutzes<br />
für Pauschalreisende untersuchen.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Experten-Diskussion über geplante<br />
PKH-Änderungen<br />
Die Umsetzung der EU-Richtlinie 2016/1919 über<br />
Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte<br />
Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte<br />
Personen in Verfahren zur Vollstreckung<br />
eines Europäischen Haftbefehls war Ende Oktober<br />
Gegenstand einer Expertenanhörung im Bundestagsausschuss<br />
für Recht und Verbraucherschutz.<br />
Die EU-Richtlinie wäre eigentlich schon<br />
bis zum 5.5.<strong>2019</strong> in deutsches Recht umzusetzen<br />
gewesen. Ein entsprechender Regierungsentwurf<br />
liegt allerdings erst seit Kurzem vor.<br />
Die EU-Vorgaben wollen das Recht auf Zugang zu<br />
einem Rechtsbeistand effektiver ausgestalten. In<br />
diesem Zusammenhang legen sie auch Mindestvorschriften<br />
über das Recht auf Prozesskostenhilfe<br />
fest und stehen in engem Zusammenhang mit dem<br />
ebenfalls zu novellierenden Recht der notwendigen<br />
Verteidigung (s. zuletzt <strong>ZAP</strong>-Anwaltsmagazin<br />
18/<strong>2019</strong>, S. 943). Die geplante Umsetzung in<br />
deutsches Recht wurde von den Sachverständigen<br />
aber überwiegend kritisch beurteilt. So bezeichnete<br />
etwa der Vertreter des Deutschen Anwaltvereins<br />
(DAV) die Gesetzesvorlage als einen Rückschritt<br />
ggü. dem Referentenentwurf, der noch eine behutsame<br />
Erweiterung des bisherigen Systems der<br />
Pflichtverteidigung in Aussicht genommen habe.<br />
Der Referentenentwurf habe einen Fall notwendiger<br />
Verteidigung und anwaltlicher Beiordnung zum<br />
Zeitpunkt der erstmaligen polizeilichen Vernehmung<br />
einer beschuldigten Person indiziert. Jetzt<br />
solle eine entsprechende Feststellung und Beiordnung<br />
grds. von einer entsprechenden Antragstellung<br />
des Beschuldigten abhängig gemacht werden.<br />
Dies bedeute einen Bruch im bisherigen System der<br />
notwendigen Verteidigung.<br />
Der Vertreter der Vereinigung Berliner Strafverteidiger<br />
sprach von einem Abbau von Verfahrensgarantien<br />
für Beschuldigte in Strafverfahren. Notwendige<br />
Verteidigung diene nicht nur dem Schutz<br />
des Beschuldigten. Sie liege im gesellschaftlichen<br />
Interesse und dürfe nicht allein von einem Antrag<br />
des Beschuldigten abhängig gemacht werden.<br />
Ein geladener Rechtsanwalt und Honorarprofessor<br />
war der Ansicht, der Regierungsentwurf<br />
verfolge in europarechtswidriger Weise eine<br />
Minimierung und Aushöhlung der notwendigen<br />
Verteidigung, „verschlimmbessere“ den ursprünglichen<br />
Referentenentwurf und mache Korrekturund<br />
Ergänzungsbedarf bei einzelnen neuen Regelungen<br />
erforderlich. Der Zugang zum Recht<br />
müsse für diejenigen abgesichert werden, die dies<br />
aus eigenen Kräften nicht könnten oder wollten.<br />
Er merkte auch an, dass die frühe Verteidigung<br />
generell keine unzuträgliche Verzögerung von<br />
Strafverfahren bewirke, sondern, ganz im Gegenteil,<br />
nicht selten eine Beschleunigung.<br />
Aber auch die Vertreter der Ermittlerseite hatten<br />
Bedenken gegen den Entwurf, allerdings aus einer<br />
anderen Perspektive. Ein Generalstaatsanwalt<br />
war der Meinung, dass die Vorlage abzulehnen<br />
sei, da sie in weiten Teilen nicht dem Regelungsgehalt<br />
der PKH-Richtlinie entspreche und deren<br />
Vorgaben zum Teil zuwiderlaufe. Da sich Beschuldigte<br />
bereits nach geltendem Recht in jeder<br />
Lage des Verfahrens eines Verteidigers bedienen<br />
könnten, entspreche die Ausweitung der notwendigen<br />
Verteidigung im Regierungsentwurf<br />
nicht dem Regelungsgehalt der PKH-Richtlinie.<br />
Dort sei ein Anspruch auf finanzielle Hilfe, keine<br />
zwangsweise Beiordnung – auch nicht im Ermittlungsverfahren<br />
– vorgesehen. Sie dürfe nicht<br />
1160 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
losgelöst von der EU-Richtlinie 2013/48 betrachtet<br />
werden, die allein den Zugang zum Rechtsbeistand<br />
regele und die von der PKH-Richtlinie<br />
nur insoweit ergänzt werde, als dass der Zugang<br />
zu einem Rechtsbeistand nicht an mangelnden<br />
finanziellen Mitteln scheitern solle. Auch werde<br />
die Umsetzung des Regierungsentwurfs, etwa<br />
bereits bei der ersten Beschuldigtenvernehmung<br />
durch die Polizei, erhebliche negative Auswirkungen<br />
auf die Strafverfolgung haben.<br />
Auch eine Oberstaatsanwältin sah das so. Oberstes<br />
Regelungsanliegen solle sein, in das bisherige<br />
System nur insoweit einzugreifen, als Anpassungen<br />
europarechtlich zwingend notwendig seien.<br />
Der derzeitige Gesetzentwurf sehe jedoch eine<br />
weitgehende Ausweitung der Pflichtverteidigung<br />
auf das Ermittlungsverfahren vor, die von der<br />
Richtlinie nicht gefordert und angesichts der<br />
bestehenden Belehrungs- und Beiordnungsvorschriften<br />
auch nicht geboten sei. Es bestehe keine<br />
Veranlassung für eine „überobligatorische“ Umsetzung<br />
der EU-Vorgaben.<br />
Der stellvertretende Bundesvorsitzende des Bundes<br />
Deutscher Kriminalbeamter (BDK) erwartet<br />
von einer Umsetzung des Entwurfs in der vorgelegten<br />
Fassung eine nachhaltige Veränderung<br />
der polizeilichen und justiziellen Praxis, deren<br />
Folgen im Hinblick auf die Aufklärung schwerer<br />
Straftaten noch nicht absehbar seien. Aufgrund<br />
der beabsichtigten Vorverlagerung der Pflichtverteidigerbestellung<br />
auf den Zeitpunkt vor der ersten<br />
polizeilichen Vernehmung stehe eine wesentliche<br />
Abkehr von der bisherigen Rechtspraxis an, die<br />
diese Entscheidung bislang erst zum Zeitpunkt der<br />
richterlichen Vorführung für erforderlich erachtet<br />
habe. Auch die Erläuterungen zum Gesetzentwurf<br />
seien für die Rechtsanwendung aus Sicht der<br />
polizeilichen Praxis wenig hilfreich.<br />
Ein Professor des Instituts für Kriminalwissenschaften<br />
und Rechtsphilosophie der Goethe-Universität<br />
Frankfurt und gleichzeitig Richter am OLG<br />
Frankfurt, begrüßte die Vorlage insgesamt, sah<br />
einige Punkte aber auch kritisch. Er erklärte mit<br />
Blick auf die längst abgelaufene Umsetzungsfrist<br />
der PKH-Richtlinie, dass das Gesetzgebungsverfahren<br />
auf der Basis des vorliegenden Gesetzentwurfs,<br />
aber mit Nachbesserungen, zügig seinen<br />
Fortgang nehmen sollte. Dem Gesetzgeber sei anzuraten,<br />
die Feststellung der Notwendigkeit der<br />
Verteidigung zeitlich vorzuverlagern, um eine Beiordnung<br />
vor einer ersten verantwortlichen polizeilichen<br />
Vernehmung in allen relevanten Fällen<br />
sicherzustellen, wie es in anderen Mitgliedstaaten<br />
der EU und in der Schweiz längst gelebte Rechtspraxis<br />
sei.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
Anwaltliche Hinweispflicht<br />
Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hat darauf<br />
aufmerksam gemacht, dass die gesetzliche<br />
Hinweispflicht auf die Verbraucherstreitbeilegung<br />
auch für Anwältinnen und Anwälte gilt. Hierbei<br />
müsse die auf einer Anwaltswebsite und/oder in<br />
den AGB enthaltene Erklärung zur Teilnahmebereitschaft<br />
an Verbraucherstreitbeilegungsverfahren<br />
klar und verständlich sein. Die Aussage „im<br />
Einzelfall zu einer Teilnahme bereit“ genüge nicht. Die<br />
BRAK verweist auf eine jüngst ergangene Entscheidung<br />
des BGH (Urt. v. 21.8.<strong>2019</strong> – VIII ZR<br />
265/18). Diese betraf zwar einen Online-Shop für<br />
Lebensmittel; die BRAK betont jedoch, dass die<br />
dort bekräftigten Hinweispflichten gem. §§ 36, 37<br />
VSBG auch für Anwälte gelten.<br />
Die vorvertragliche Information nach § 36 Abs. 1<br />
VSBG müsse, so entschied der BGH, klar und verständlich<br />
sein. Die Teilnahmebereitschaft könne<br />
verneint, bejaht oder teilweise bejaht werden.<br />
Dies ergebe sich aus dem Begriff „inwieweit“.<br />
Wegen der in der Phase der Vertragsanbahnung<br />
bestehenden Vielfalt möglicher künftiger Streitigkeiten<br />
müsse der Unternehmer sich festlegen, bei<br />
welchen abstrakt bestimmbaren Fallgestaltungen<br />
er sich auf ein Schlichtungsverfahren einlassen<br />
werde. Die erfassten Fälle müssten so klar umschrieben<br />
werden, dass zuverlässig beurteilt werden<br />
könne, auf welche Fallgestaltungen sich die<br />
Bereitschaft erstrecke.<br />
In dem Fall ging es um folgenden Hinweis: „Der<br />
Anbieter ist nicht verpflichtet, an Streitbeilegungsverfahren<br />
vor einer Verbraucherschlichtungsstelle teilzunehmen.<br />
Die Bereitschaft dazu kann jedoch im<br />
Einzelfall erklärt werden.“ Dies, so der BGH, genüge<br />
nicht dem Transparenzgebot und zwinge Verbraucher<br />
zu Nachfragen. Der BGH hat deshalb<br />
den geltend gemachten Unterlassungsanspruch<br />
und die Erstattungspflicht der Abmahnkosten<br />
gemäß UKlaG bejaht. Damit dürften nach Ansicht<br />
des BGH auch Aussagen wie „ … sind grds. bereit, an<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1161
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Verbraucherstreitbeilegungsverfahren teilzunehmen“,<br />
unklar und damit unzulässig sein.<br />
[Quelle: BRAK]<br />
beA: Ältere Signaturkarten teilweise<br />
nicht mehr nutzbar<br />
Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hat<br />
darauf hingewiesen, dass ab dem 20. November<br />
die Signaturkarten einiger Hersteller nicht mehr<br />
für eine Anmeldung (Authentisierung) am beA<br />
verwendet werden können. Hintergrund ist die<br />
Umstellung auf neue Verschlüsselungsverfahren,<br />
die nicht mehr oder nicht mehr vollständig von<br />
allen Herstellern unterstützt werden.<br />
Danach können künftig noch folgende Karten<br />
nach (anderweitiger) Anmeldung am beA (z.B.<br />
mit einer beA-Karte Basis) weiterhin für das<br />
Anbringen einer qualifizierten elektronischen<br />
Signatur im beA genutzt werden:<br />
• D-Trust GmbH (Bundesdruckerei) sowie<br />
• DGN Deutsches Gesundheitsnetz GmbH.<br />
Die Signaturkarten des nachfolgenden Herstellers<br />
können hingegen künftig weder für die Anmeldung<br />
noch für die Anbringung einer qualifizierten elektronischen<br />
Signatur im beA verwendet werden:<br />
• T-Systems International GmbH.<br />
Die meisten Kollegen dürften davon jedoch nicht<br />
betroffen sein. Denn die beA-Karten und Signaturkarten<br />
der Bundesnotarkammer (BNotK)<br />
unterstützen die Umstellung der Verschlüsselungsverfahren.<br />
Sie können deshalb ohne Einschränkung<br />
weiterverwendet werden.<br />
[Quelle: BRAK]<br />
Personalia<br />
Auf der letzten Hauptversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer<br />
(BRAK) im Oktober (vgl.<br />
dazu auch oben <strong>ZAP</strong> <strong>22</strong>/<strong>2019</strong>, S. 1159) haben die<br />
Präsidentinnen und Präsidenten der 28 Rechtsanwaltskammern<br />
(RAK) auch das Präsidium der<br />
BRAK neu gewählt. Dabei wurde Rechtsanwalt<br />
und Notar Dr. ULRICH WESSELS in seinem Amt als<br />
Präsident bestätigt. WESSELS, Fachanwalt für Verwaltungs-<br />
und Familienrecht, war bereits seit<br />
September 2015 als Vizepräsident Mitglied des<br />
Präsidiums und ist seit September 2018 Präsident<br />
der BRAK. Als Vizepräsidenten gewählt bzw. im<br />
Amt bestätigt wurden der Präsident der RAK<br />
Celle, Rechtsanwalt und Notar Dr. THOMAS REM-<br />
MERS, Rechtsanwalt ANDRÉ HAUG, Präsident der RAK<br />
Karlsruhe, Rechtsanwältin ULRIKE PAUL, Präsidentin<br />
der RAK Stuttgart sowie der Präsident der RAK<br />
Hamburg, Rechtsanwalt Dr. CHRISTIAN LEMKE.<br />
Am 26. Oktober ist der ehemalige Präsident des<br />
Bundesfinanzhofs (BFH), Prof. Dr. KLAUS OFFER-<br />
HAUS, im Alter von 85 Jahren verstorben. OFFERHAUS<br />
wurde 1975 zum Richter am BFH gewählt. 1988<br />
wurde er zum Vorsitzenden des V. Senats<br />
ernannt. Zwei Jahre später wurde ihm das Amt<br />
des Vizepräsidenten und im Oktober 1994 das des<br />
Präsidenten des Bundesfinanzhofs übertragen.<br />
Ende Oktober 1999 trat er nach Erreichen der<br />
Altersgrenze in den Ruhestand. In seiner fast 25-<br />
jährigen Tätigkeit als Bundesrichter hat KLAUS<br />
OFFERHAUS wie kaum ein anderer das Wirken des<br />
BFH beeinflusst und sich immer wieder für die<br />
Vereinfachung des Steuerrechts und dessen<br />
Transparenz eingesetzt. Sein besonderes Augenmerk<br />
galt dabei der effektiven Rechtsschutzgewährung.<br />
Einen bleibenden Namen machte er<br />
sich nicht nur als Richterpersönlichkeit, sondern<br />
auch als anerkannter Steuerrechtswissenschaftler.<br />
Davon zeugen eine kaum überschaubare<br />
Anzahl von Beiträgen in der steuerrechtlichen<br />
Fachliteratur sowie seine Honorarprofessur an<br />
der Universität Augsburg. Sein Wirken wurde<br />
durch die Verleihung des Großen Verdienstkreuzes<br />
mit Stern und Schulterband des Verdienstordens<br />
der Bundesrepublik Deutschland und des<br />
Bayerischen Verdienstordens gewürdigt.<br />
[Quellen: BRAK/BFH]<br />
1162 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 167<br />
Eilnachrichten<br />
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Allgemeines Zivilrecht<br />
Geführte Segway-Tour: Verkehrssicherungspflichten<br />
(OLG Dresden, Beschl. v. 8.4.<strong>2019</strong> – 4 U 455/19) • Dem Veranstalter einer geführten „Segway-Tour“<br />
obliegen Verkehrssicherungspflichten auch gegenüber den Teilnehmern. Hierzu gehört, die Teilnehmer<br />
vor Fahrtantritt in die Bedienung des Geräts einzuweisen, sich vorab einen Überblick über die unterschiedlichen<br />
Vorkenntnisse der Teilnehmer zu verschaffen, eine Übungsfahrt außerhalb des allgemeinen<br />
Straßenverkehrs vorzunehmen und sich anschließend zu vergewissern, dass jeder Teilnehmer<br />
das Gerät ausreichend sicher beherrscht, insb. einen Nothalt durchführen und absteigen kann. Hinweis:<br />
Dem Veranstalter oblagen gegenüber den Teilnehmern neben vertraglichen auch deliktische Verkehrssicherungspflichten.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 648/<strong>2019</strong><br />
Kaufvertragsrecht<br />
Dieselskandal: Rücktritt vom Kaufvertrag eines Neufahrzeugs<br />
(LG Stuttgart, Urt. v. 17.10.<strong>2019</strong> – 30 O 28/19) • Auch bei einem aufgrund einer unzulässigen Abschalteinrichtung<br />
mangelhaften Kraftfahrzeug ist die Fristsetzung zur Nacherfüllung (§ 439 BGB) nicht ohne<br />
Weiteres nach §§ 326 Abs. 5, 323 Abs. 2 oder 440 BGB entbehrlich. Das Vorhandensein einer unzulässigen<br />
Abschalteinrichtung begründet nicht ohne Weiteres eine Haftung des Fahrzeugherstellers gegenüber dem<br />
Käufer wegen sittenwidriger Schädigung nach § 826 BGB. Hinweis: Das LG äußert sich in dieser Entscheidung<br />
auch zu den (herabgesetzten) Substantiierungsanforderungen an die Darlegung unzulässiger<br />
Abschalteinrichtungen i.S.v. Art. 5 Abs. 2 VO 715/2007/EG bei Vorliegen eines Rückrufs des Kraftfahrtbundesamts.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 649/<strong>2019</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Mieterhöhung: Mietspiegel einer Nachbargemeinde<br />
(BGH, Urt. v. 21.8.<strong>2019</strong> – VIII ZR 255/18) • Der Mietspiegel einer anderen Gemeinde ist gem. § 558a Abs. 4<br />
S. 2 BGB nur dann ein taugliches Mittel zur Begründung des Mieterhöhungsverlangens, wenn es sich um<br />
den Mietspiegel einer vergleichbaren Gemeinde handelt. Die Beantwortung der Frage, ob es sich bei<br />
verschiedenen Städten um vergleichbare Gemeinden i.S.v. § 558a Abs. 4 S. 2 BGB handelt, obliegt in<br />
erster Linie der Beurteilung durch den Tatrichter. Hinweis: Die Städte Stein und Fürth sind nach dieser<br />
Entscheidung keine vergleichbaren Gemeinden, insb. wegen der unterschiedlichen Größe auch bezogen<br />
auf die Einwohnerzahl. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 650/<strong>2019</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1163
Fach 1, Seite 168 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />
Rückzahlung überzahlter Betriebskosten: Angabe des Umlageschlüssels<br />
(OLG Dresden, Beschl. v. 9.8.<strong>2019</strong> – 5 U 936/19) • Eine Betriebskostenabrechnung ist formell ordnungsgemäß,<br />
wenn sie den allgemeinen Anforderungen des § 259 BGB entspricht. Mindestens sind in<br />
diese eine Zusammenstellung der Gesamtkosten, die Angabe und Erläuterung der zugrunde gelegten<br />
Verteilerschlüssel, die Berechnung des Anteils des Mieters und der Abzug seiner Vorauszahlungen aufzunehmen.<br />
Die Abgrenzung zwischen formeller Wirksamkeit einer Betriebskostenabrechnung einerseits<br />
und deren inhaltlicher Richtigkeit andererseits richtet sich danach, ob der Mieter in der Lage ist, die Art<br />
des Verteilungsschlüssels der einzelnen Kostenpositionen zu erkennen und den auf ihn entfallenden<br />
Anteil an den Gesamtkosten rechnerisch nachzuprüfen. Gibt eine Betriebskostenabrechnung nicht den<br />
Umlageschlüssel an, genügt sie – im gewerblichen Mietrecht – nicht den dargestellten Mindestanforderungen<br />
und ist deshalb formell unwirksam. Dies gilt jedenfalls dann, wenn auch die Umlagevereinbarung<br />
im Mietvertrag einen Umlageschlüssel nicht bestimmt. Hinweis: Auch wenn in dem Beschluss<br />
auf das gewerbliche Mietrecht verwiesen wird, dürfte für das Wohnraummietrecht nichts<br />
anderes gelten. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 651/<strong>2019</strong><br />
Mietsicherheit: Keine Befugnis einer vermieterseitigen Verwertung<br />
(LG Berlin, Beschl. v. 1.10.<strong>2019</strong> – 67 T 107/19) • Wird der Mieter nicht im Rahmen einer Individualvereinbarung,<br />
sondern durch eine vom Vermieter gestellte Formularklausel zur Erbringung einer „Mietsicherheit“<br />
verpflichtet, ohne dass die Klausel die Befugnis einer vermieterseitigen Verwertung während<br />
oder nach Beendigung des Mietverhältnisses näher regelt, ist der Kaution in Anwendung der Unklarheitenregel<br />
des § 305c Abs. 2 BGB lediglich eine auf den Wortlaut der Sicherungsabrede beschränkte<br />
Funktion einer bloßen Sicherung des Vermieters vor einer möglichen Insolvenz des Mieters beizumessen,<br />
die ihm auch nach Beendigung des Mietverhältnisses ausschließlich für unstreitige oder rechtskräftig<br />
festgestellte Ansprüche das Recht zur Verwertung eröffnet. Hinweis: Abgrenzung zu BGH, Urt. v.<br />
24.7.<strong>2019</strong> – VIII ZR 141/17, WuM <strong>2019</strong>, 542 = <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 482/<strong>2019</strong> (LS). Bei der Mietvertragsgestaltung<br />
sollte die Verwertungsmöglichkeit eingehend ausformuliert werden, um die in diesem Beschluss ausgesprochene<br />
Beschränkung zu vermeiden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 652/<strong>2019</strong><br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Vertretung in einer Eigentümerversammlung: Juristische Person<br />
(BGH, Urt. v. 28.6.<strong>2019</strong> – V ZR 250/18) • Eine Bestimmung in der Teilungserklärung, nach der Wohnungseigentümer<br />
sich in der Eigentümerversammlung nur durch den Ehegatten, einen Wohnungseigentümer<br />
oder den Verwalter vertreten lassen können, ist regelmäßig dahin ergänzend auszulegen, dass<br />
sie auch für juristische Personen gilt und dass diese sich nicht nur durch ihre organschaftlichen Vertreter,<br />
sondern auch durch einen ihrer Mitarbeiter vertreten lassen können. Eine solche Vertretungsklausel ist<br />
ferner regelmäßig ergänzend dahin auszulegen, dass sich eine juristische Person in der Eigentümerversammlung<br />
jedenfalls auch von einem Mitarbeiter einer zu demselben Konzern gehörenden (weiteren)<br />
Tochtergesellschaft vertreten lassen darf, wenn diese für die Verwaltung der Sondereigentumseinheiten<br />
zuständig ist. Hinweis: Gerade bei zerstrittenen Wohnungseigentümergemeinschaften ist die Frage der<br />
Vertretungsbefugnis häufig ein Thema. Die BGH-Entscheidung bringt nunmehr Klarheit in Bezug auf die<br />
Vertretung durch juristische Personen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 653/<strong>2019</strong><br />
Nichtrückgabe von überlassenen Schlüsseln: Schadenersatzanspruch<br />
(OLG Dresden, Urt. v. 20.8.<strong>2019</strong> – 4 U 665/19) • Beim Schlüsselverlust einer Wohnungsanlage kann der<br />
Geschädigte sowohl Kosten für den Austausch der Schlüsselanlage als auch für provisorische Sicherungsmaßnahmen<br />
verlangen, sofern die konkrete Gefahr eines Missbrauchs des verlorenen Schlüssels<br />
durch Dritte besteht. Hinweis: Schließanlagen unterliegen einer mechanischen Abnutzung und deshalb<br />
ist stets ein Abzug „Neu für Alt“ bei den Anschaffungskosten vorzunehmen; dieser kann gem. § 287 ZPO<br />
geschätzt werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 654/<strong>2019</strong><br />
1164 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 169<br />
Bank- und Kreditwesen<br />
Darlehensvertrag: Fehlerhafte Widerrufsinformation<br />
(LG Ravensburg, Urt. v. 30.7. <strong>2019</strong> – 2 O 90/19) • Eine Widerrufsinformation bei einem Darlehensvertrag,<br />
der mit einem Kaufvertrag verbunden ist, ist unrichtig, wenn dem Darlehensnehmer mitgeteilt wird, er<br />
müsse für den Zeitraum zwischen Auszahlung und Rückzahlung des Darlehens den vereinbarten Sollzins<br />
entrichten. Hinweis: Bei einer fehlerhaften Widerrufsinformation ist ein Wertersatzanspruch nach § 357<br />
Abs. 7 Nr. 2 BGB ausgeschlossen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 655/<strong>2019</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Alleinhaftung bei Verkehrsunfall: Geschwindigkeit innerorts über 100 km/h<br />
(KG, Urt. v. 2.8.<strong>2019</strong> – <strong>22</strong> U 33/18) • Wird die höchstzulässige Geschwindigkeit um mehr als das Doppelte<br />
überschritten und liegt die Geschwindigkeit innerorts absolut über 100 km/h, ist ein besonders schwerer<br />
Verkehrsverstoß gegeben, der i.d.R. zu einer Alleinhaftung führt, auch wenn der Handelnde an sich die<br />
Vorfahrt hat. Hinweis: Grundsätzlich verliert der Entgegenkommende auch durch eine Geschwindigkeitsüberschreitung<br />
seinen Vorrang gegenüber einem Linksabbiegenden nicht. Der Abbiegende hat nur<br />
mit möglichen mäßigen, wenngleich nicht unvernünftig hohen Geschwindigkeitsüberschreitungen des<br />
Entgegenkommenden zu rechnen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 656/<strong>2019</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
Versicherung für Kfz-Handel und -Handwerk: Rennstreckenveranstaltung<br />
(OLG Dresden, Urt. v. 20.8.<strong>2019</strong> – 4 U 1385/18) • Der in der Kraftfahrzeugversicherung für Handel- und<br />
Handwerker (KfzSBHH) auf „fremde“ Fahrzeuge beschränkte Versicherungsschutz umfasst auch<br />
Ansprüche eines GbR-Gesellschafters für Schäden an seinem Privatfahrzeug. Die Werkstattobhut<br />
gemäß A 1.2.3 KfzSBHH erstreckt sich auch auf Probefahrten. Die Teilnahme an der Veranstaltung eines<br />
Autohauses auf einer Rennstrecke stellt aber jedenfalls dann keine Probefahrt mehr dar, wenn der<br />
Charakter einer „Spaßfahrt“ sowie das Austesten des Fahrzeugs in Grenzbereichen gleichrangig neben<br />
der Erprobung von dessen Funktionsfähigkeit stehen. Hinweis: Das OLG ging davon aus, dass es bei der<br />
Veranstaltung darauf ankam, Höchstgeschwindigkeiten zu erzielen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 657/<strong>2019</strong><br />
Familienrecht<br />
Vorsorgebevollmächtigter: Fehlende Beschwerdeberechtigung<br />
(BGH, Beschl. v. 21.8.<strong>2019</strong> – XII ZB 156/19) • Der Vorsorgebevollmächtigte ist nicht berechtigt, im eigenen<br />
Namen gegen einen die Einrichtung einer Betreuung ablehnenden Beschluss Beschwerde einzulegen.<br />
Hinweis: Dem Sohn der 95-jährigen, an einer fortschreitenden Demenz leidenden Betroffenen war eine<br />
Vorsorgevollmacht erteilt worden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 658/<strong>2019</strong><br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Testamentserrichtung während der NS-Zeit: Jüdischer Erblasser<br />
(OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.9.<strong>2019</strong> – 11 W 114/17 (Wx)) • Bei der Auslegung eines durch einen jüdischen<br />
Erblasser in der Zeit des Nationalsozialismus errichteten Testaments kann die nicht vorhergesehene<br />
Änderung der Rechtslage durch den Wegfall diskriminierender gesetzlicher Regelungen nach Ende des<br />
Zweiten Weltkriegs eine für eine ergänzende Testamentsauslegung hinreichende Lücke darstellen.<br />
Hinweis: In diesem Fall änderte der Erblasser sein Testament, weil der zunächst eingesetzte Erbe nach<br />
seiner Emigration in die USA nicht in den Genuss der Erbschaft kommen konnte.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 659/<strong>2019</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1165
Fach 1, Seite 170 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />
Zivilprozessrecht<br />
Berufungsverfahren: Zweite Tatsacheninstanz<br />
(BGH, Beschl. v. 4.9.<strong>2019</strong> – VII ZR 69/17) • Das Berufungsgericht hat die erstinstanzliche Überzeugungsbildung<br />
nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Zweifel i.S.v. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO liegen schon dann<br />
vor, wenn aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende<br />
– Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche<br />
Feststellung keinen Bestand haben wird, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt. Bei der Berufungsinstanz<br />
handelt es sich um eine zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz, deren Aufgabe<br />
in der Gewinnung einer fehlerfreien und überzeugenden und damit richtigen Entscheidung des Einzelfalls<br />
besteht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 660/<strong>2019</strong><br />
Musterfeststellungsklage: Mehrere Feststellungsziele<br />
(BGH, Beschl. v. 30.7.<strong>2019</strong> – VI ZB 59/18) • Bei mehreren Feststellungszielen einer Musterfeststellungsklage<br />
ist das Erfordernis des § 606 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 2 ZPO für jedes Feststellungsziel zu erfüllen.<br />
Hinweis: Hier geht es um das Erfordernis der Glaubhaftmachung in der Klageschrift, dass von den Feststellungszielen<br />
die Ansprüche oder Rechtsverhältnisse von mindestens zehn Verbrauchern abhängen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 661/<strong>2019</strong><br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Insolvenzverwalter: Vergütung für Beauftragung Dritter<br />
(BGH, Beschl. v. 12.9.<strong>2019</strong> – IX ZB 1/17) • Überträgt der Insolvenzverwalter eine ihm obliegende Aufgabe, die<br />
ein Verwalter ohne volljuristische Ausbildung nicht lösen kann, einem Rechtsanwalt und entnimmt er die<br />
dadurch entstehenden Auslagen der Insolvenzmasse, ist bei der Entscheidung über einen beantragten<br />
Zuschlag zur Vergütung zu berücksichtigen, dass dem Verwalter im Umfang der Delegation kein Mehraufwand<br />
entstanden ist. Hinweis: Die Abwicklung von Arbeitsverhältnissen gehört zu den Aufgaben eines<br />
Insolvenzverwalters. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 662/<strong>2019</strong><br />
Zwangsverwalter: Prozessführungsbefugnis<br />
(BGH, Beschl. v. 27.6.<strong>2019</strong> – V ZB 27/18) • Enthält ein vollstreckbarer Titel eine Kostengrundentscheidung<br />
zugunsten oder zu Lasten des Zwangsverwalters, ist der Zwangsverwalter in dem nachfolgenden Kostenfestsetzungsverfahren<br />
ohne Weiteres (aktiv oder passiv) prozessführungsbefugt, und zwar auch<br />
dann, wenn die Zwangsverwaltung vor Einleitung des Rechtsstreits, während des laufenden Prozesses<br />
oder nach Abschluss des Erkenntnisverfahrens aufgehoben worden ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 663/<strong>2019</strong><br />
Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />
Gewinnabführungsvertrag: Leistungstreuepflicht<br />
(BGH, Urt. v. 16.7.<strong>2019</strong> – II ZR 426/17) • Die Veräußerung von betriebsnotwendigem Vermögen durch<br />
eine GmbH, die aufgrund eines Teilgewinnabführungsvertrags verpflichtet ist, 20 % ihres Jahresüberschusses<br />
abzuführen, an eine Gesellschaft mit im Wesentlichen gleichen Gesellschaftern gegen eine<br />
angemessene Gegenleistung begründet nicht ohne Weiteres eine den Vorwurf der Sittenwidrigkeit<br />
begründende Verletzung der Leistungstreuepflicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 664/<strong>2019</strong><br />
Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />
Verbraucherschlichtungsstelle: Unklare Bereitschaftserklärung<br />
(BGH, Urt. v. 21.8.<strong>2019</strong> – VIII ZR 263/18) • Die Regelung des § 36 Abs. 1 Nr. 2 VSBG verlangt Informationen<br />
über die zuständige Verbraucherschlichtungsstelle nur von einem Unternehmer, der sich zur Teilnahme<br />
1166 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 171<br />
an einem Streitbeilegungsverfahren verpflichtet hat oder aufgrund einer Rechtsvorschrift hierzu verpflichtet<br />
ist. Dagegen ist ein Unternehmer, der sich lediglich zu einer Teilnahme an einem Streitbeilegungsverfahren<br />
bereit erklärt hat, von diesen Angaben befreit. Die nach § 36 Abs. 1 Nr. 2 VSBG für<br />
das Entstehen der Hinweispflicht erforderliche Teilnahmeverpflichtung des Unternehmers wird nicht<br />
bereits durch die Mitteilung des Unternehmers nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 VSBG ausgelöst, zur Teilnahme an<br />
einem Streitbeilegungsverfahren vor einer Verbraucherschlichtungsstelle bereit zu sein. Hinweis: Aus<br />
einer Unklarheit der Bereitschaftserklärung folgt nicht, dass der Unternehmer eine Teilnahmeverpflichtung<br />
i.S.v. § 36 Abs. 1 Nr. 2 VSBG eingeht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 665/<strong>2019</strong><br />
Persönlichkeitsrecht: Verbreitung einer Bild- und Tonaufnahme<br />
(OLG Dresden, Urt. v. 24.9.<strong>2019</strong> – 4 U 1401/19) • Voraussetzung für die Beeinträchtigung des<br />
Persönlichkeitsrechts durch die Verbreitung einer Bild- und Tonaufnahme ist die Erkennbarkeit der<br />
Person. Ob die Herstellung heimlicher Tonaufnahmen zu journalistischen Zwecken eine Verletzung des<br />
Persönlichkeitsrechts darstellt, kann nur aufgrund einer umfassenden Abwägung aller Umstände des<br />
Einzelfalls entschieden werden. Die verdeckte Gabe von Medikamenten in einem Pflegeheim ist ein<br />
erheblicher Missstand, an dessen Aufdeckung ein gewichtiges öffentliches Interesse besteht; sie kann im<br />
Rahmen dieser Abwägung die Verbreitung einer heimlichen Tonaufnahme rechtfertigen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 666/<strong>2019</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Kündigung eines Chefarztes: Ungleichbehandlung aufgrund der Religionszugehörigkeit<br />
(BAG, Urt. v. 20.2.<strong>2019</strong> – 2 AZR 746/14) • § 9 Abs. 2 AGG ist aufgrund von unionsrechtlichen Vorgaben<br />
dahin auszulegen, dass eine der Kirche zugeordnete Einrichtung nicht das Recht hat, bei einem<br />
Verlangen an das loyale und aufrichtige Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses<br />
Beschäftigte in leitender Stellung je nach deren Konfession oder Konfessionslosigkeit unterschiedlich zu<br />
behandeln, wenn nicht die Religion oder die Weltanschauung im Hinblick auf die Art der betreffenden<br />
beruflichen Tätigkeiten oder die Umstände ihrer Ausübung eine berufliche Anforderung ist, die angesichts<br />
des Ethos der in Rede stehenden Einrichtung wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt ist und<br />
dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 667/<strong>2019</strong><br />
Einstweilige Verfügung: Zwangsvollstreckung<br />
(LAG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 1.10.<strong>2019</strong> – 26 Ta 1701/19) • Im Beschlussverfahren ergangene<br />
einstweilige Verfügungen (§ 85 Abs. 2 ArbGG) sind sofort vollstreckbar, da § 85 Abs. 1 S. 2 ArbGG, wonach<br />
die Zwangsvollstreckung in nichtvermögensrechtlichen Angelegenheiten nur aus rechtskräftigen<br />
Beschlüssen des Arbeitsgerichts stattfindet, auf einstweilige Verfügungen im Beschlussverfahren keine<br />
Anwendung findet (DÜWELL/LIPKE-REINFELDER 5. Aufl. <strong>2019</strong> § 85 Rn 8). Grundsätzlich setzt die Zwangsvollstreckung<br />
eine mit der Klausel versehene Ausfertigung des Titels voraus. Eine Ausnahme hiervon<br />
macht § 929 Abs. 1 ZPO, der über § 936 ZPO auf einstweilige Verfügungen entsprechend anzuwenden<br />
ist. Hinweis: Eine Klauselerinnerung mit der Begründung, die Klausel hätte nicht erteilt werden dürfen,<br />
obwohl es i.R.d. Vollstreckungsverfahrens darauf nicht ankommt, ist unzulässig.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 668/<strong>2019</strong><br />
Sozialrecht<br />
Erstangegangener Rehabilitationsträger: Zuständigkeitswechsel<br />
(BSG, Urt. v. 11.9.<strong>2019</strong> – B 1 KR 6/18 R) • Bewilligt ein erstangegangener Rehabilitationsträger in Bejahung<br />
seiner Zuständigkeit einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe, bleibt er im Außenverhältnis zum<br />
Leistungsberechtigten jedenfalls bis zur vollständigen Erfüllung der Leistungspflicht hierfür zuständig,<br />
auch wenn sich danach die Innenzuständigkeit im Erstattungsverhältnis zu einem anderen Träger än-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1167
Fach 1, Seite 172 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />
dert. Bewilligt ein erstangegangener Rehabilitationsträger einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe und<br />
verliert er danach vor Erfüllung der Leistungspflicht im Innenverhältnis zu einem anderen Träger seine<br />
Primärzuständigkeit, begründet dies im Erstattungsverhältnis zum anderen Träger eine nachrangige<br />
Zuständigkeit. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 669/<strong>2019</strong><br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Organstreitverfahren: Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis<br />
(BVerfG, Beschl. v. 17.9.<strong>2019</strong> – 2 BvE 2/18) • Das Rechtsschutzbedürfnis für ein Organstreitverfahren<br />
kann fehlen, wenn ein Antragsteller völlig untätig geblieben ist, obwohl er in der Lage gewesen wäre,<br />
die gerügte Rechtsverletzung durch eigenes Handeln rechtzeitig zu vermeiden. Zwar soll einem Antragsteller<br />
nicht unter pauschalem Hinweis auf allgemeine politische Handlungsalternativen der Zugang<br />
zu einem verfassungsgerichtlichen Verfahren abgeschnitten werden. Von derartigen diffusen<br />
Handlungsmöglichkeiten sind aber diejenigen Handlungsoptionen abzugrenzen, die nicht politisch,<br />
sondern normativ vorgesehen sind, gerade um ein Verfassungsrechtsverhältnis erst zu konkretisieren,<br />
zu gestalten und ggf. zu klären. Von einem Antragsteller ist zu verlangen, gegen die durch den Sitzungspräsidenten<br />
des Bundestags verhängten parlamentarischen Ordnungsmaßnahmen Ordnungsruf,<br />
Ordnungsgeld und Sitzungsausschluss vor Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zunächst<br />
erfolglos das von der Geschäftsordnung des Bundestags vorgesehene Einspruchsverfahren durchzuführen.<br />
Hinweis: In diesem Fall ging es um den AfD-Bundestagsabgeordneten PETR BYSTRON. Das<br />
BVerfG verwarf seinen Antrag gegen Bundestagspräsident WOLFGANG SCHÄUBLE als unzulässig. BYSTRON<br />
hatte in der Sitzung vom 14.3.2018 ein Ordnungsgeld i.H.v. 1.000 € kassiert. An diesem Tag wählte der<br />
Bundestag ANGELA MERKEL abermals zur Kanzlerin. In der Wahlkabine machte BYSTRON ein Foto von<br />
seinem Stimmzettel mit angekreuztem „Nein“. Das Bild verbreitete er auf Twitter und schrieb dazu:<br />
„Nicht meine Kanzlerin“ (FAZ-online v. 8.10.<strong>2019</strong>). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 670/<strong>2019</strong><br />
Steuerrecht<br />
Zuwendungen einer Schweizer Stiftung: Schenkungsteuer<br />
(BFH, Urt. v. 3.7.<strong>2019</strong> – II R 6/16) • Zuwendungen einer ausländischen Stiftung sind nur dann nach § 7<br />
Abs. 1 Nr. 1 ErbStG steuerbar, wenn sie eindeutig gegen den Satzungszweck verstoßen. Zwischenberechtigter<br />
i.S.d. § 7 Abs. 1 Nr. 9 S. 2 Halbs. 2 ErbStG ist, wer unabhängig von einem konkreten<br />
Ausschüttungsbeschluss über Rechte an dem Vermögen und/oder den Erträgen der Vermögensmasse<br />
ausländischen Rechts verfügt. Der Zuwendungsempfänger, der keinen Anspruch auf Zuwendungen<br />
besitzt, gehört nicht dazu. Hinweis: Hier hatte eine Schweizer Familienstiftung einem in Deutschland<br />
ansässigen 29-jährigen Begünstigten (Destinatär) eine Einmalzahlung zugewandt.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 671/<strong>2019</strong><br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />
Notwehr: Einsatz eines Messers<br />
(BGH, Beschl. v. 17.4.<strong>2019</strong> – 2 StR 363/18) • Wird eine Person rechtswidrig angegriffen, ist sie grds.<br />
berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet.<br />
Auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz eines Messers kann durch<br />
Notwehr gerechtfertigt sein. Gegenüber einem unbewaffneten Angreifer ist der Gebrauch eines Messers<br />
jedoch i.d.R. anzudrohen, wenn die Drohung unter den konkreten Umständen eine so hohe Erfolgsaussicht<br />
hat, dass dem Angegriffenen das Risiko eines Fehlschlags und der damit verbundenen<br />
Verkürzung seiner Verteidigungsmöglichkeiten zugemutet werden kann. Dies ist auf der Grundlage<br />
einer objektiven ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungs-<br />
1168 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 173<br />
handlung zu beurteilen. Angesichts der geringen Kalkulierbarkeit des Fehlschlagrisikos dürfen an die in<br />
einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungshandlung<br />
keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 672/<strong>2019</strong><br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Pflichtverteidigerwechsel: Vollzug der Sicherungsverwahrung<br />
(KG, Beschl. v. 27.8.<strong>2019</strong> – 2 Ws 135/19) • Die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 463 Abs. 8 StPO gilt<br />
auch für jedes weitere Verfahren, solange sie nicht aufgehoben wird. Die Zulässigkeit eines Pflichtverteidigerwechsels<br />
i.R.d. § 463 Abs. 8 StPO ist außerhalb der Fallgestaltungen der Rücknahme der<br />
Bestellung nach § 143 StPO nicht allein daran zu messen, ob ein „wichtiger Grund“ vorliegt oder nicht. Für<br />
einen neuen Vollstreckungsabschnitt rechtfertigen – anders als in einem laufenden Abschnitt – weder<br />
Kostengesichtspunkte noch Gründe der Prozessökonomie die Ablehnung eines Beiordnungsantrags eines<br />
neuen Verteidigers. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 673/<strong>2019</strong><br />
Berufungsverfahren: Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch<br />
(OLG Hamburg, Beschl. v. 13.8.<strong>2019</strong> – 2 Rev 39/18) • Eine Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch<br />
scheidet aus, wenn die erstgerichtlichen Urteilsgründe – und mit ihnen die darin enthaltenen<br />
tatsächlichen Feststellungen zum Schuldspruch – gänzlich fehlen. Dem völligen Fehlen der Urteilsgründe<br />
steht es gleich, wenn die Urteilsgründe entgegen § 275 Abs. 2 S. 1 StPO überhaupt nicht oder nur in<br />
ungenügender Weise unterschrieben sind und eine Nachholung der Unterschrift wegen Ablaufs der Frist<br />
aus § 275 Abs. 1 StPO ausscheidet. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 674/<strong>2019</strong><br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Anwaltliches Organisationsverschulden: Empfangsbekenntniss und Führen des Fristenkalenders<br />
(BGH, Beschl. v. 12.9.<strong>2019</strong> – IX ZB 13/19) • Der Rechtsanwalt darf das Empfangsbekenntnis für eine<br />
Urteilszustellung erst unterzeichnen, wenn in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und<br />
vermerkt ist, dass die Frist im Fristenkalender notiert worden ist. Rechtsmittel- und Rechtsmittelbegründungsfristen<br />
müssen so notiert werden, dass sie sich von gewöhnlichen Wiedervorlagefristen<br />
deutlich abheben (Hinweis s. dazu Kolumne von REINELT, <strong>ZAP</strong> <strong>22</strong>/<strong>2019</strong>, S. 1155 [in dieser Ausgabe]).<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 675/<strong>2019</strong><br />
Eigenvertretung eines Rechtsanwalts: Verfahren bei Krankheit<br />
(BGH, Beschl. v. 21.8.<strong>2019</strong> – XII ZB 93/19) • Auch ein sich selbst vertretender Rechtsanwalt hat Vorkehrungen<br />
dafür zu treffen, dass im Falle seiner Erkrankung ein Vertreter die notwendigen Verfahrenshandlungen<br />
vornimmt. Hinweis: Auf einen krankheitsbedingten Ausfall muss sich der Rechtsanwalt<br />
aber nur dann durch konkrete Maßnahmen vorbereiten, wenn er eine solche Situation vorhersehen<br />
kann. Wird er dagegen unvorhergesehen krank, gereicht ihm eine unterbleibende Einschaltung eines<br />
Vertreters nicht zum Verschulden, wenn ihm diese weder möglich noch zumutbar war.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 676/<strong>2019</strong><br />
Ablauf einer Berufungsbegründungsfrist: Erkrankung eines Einzelanwalts<br />
(BGH, Beschl. v. 8.8.<strong>2019</strong> – VII ZB 35/17) • Der Einzelanwalt, der am Tag des Ablaufs der Berufungsbegründungsfrist<br />
unvorhergesehen erkrankt und deshalb nicht mehr in der Lage ist, die Berufungsbegründung<br />
rechtzeitig fertigzustellen, genügt seinen Sorgfaltspflichten regelmäßig dann, wenn er einen<br />
Vertreter beauftragt, der einen Fristverlängerungsantrag stellt. Erteilt die Gegenseite in diesem Fall die<br />
zur Fristverlängerung gem. § 520 Abs. 2 ZPO erforderliche Einwilligung nicht und wird die Frist deshalb<br />
nicht verlängert, ist dem Berufungsführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung<br />
der Berufungsbegründungsfrist zu gewähren. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 677/<strong>2019</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1169
Fach 1, Seite 174 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />
Gebührenrecht<br />
Gebührenstreitwertfestsetzung: Hochverweisung an ein LG<br />
(OLG Köln, Beschl. v. 9.9.<strong>2019</strong> – 12 W 35/19) • Eine Zuständigkeitsbestimmung durch das Oberlandesgericht<br />
im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO ist zwar für die Zuständigkeit des zur<br />
Sachentscheidung berufenen Gerichts bindend, nicht jedoch für die abschließende Festsetzung des<br />
Gebührenstreitwerts nach § 48 GKG. Für die Wertfestsetzung einer positiven Feststellungsklage ist<br />
regelmäßig zwar ein Abschlag von 20 % gegenüber dem Wert einer entsprechenden Leistungsklage<br />
vorzunehmen. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn es um die Feststellung der Pflicht zum Ersatz<br />
künftigen Schadens geht, denn dann bemisst sich das konkrete wirtschaftliche Interesse der Klagepartei<br />
nicht allein an der Höhe des drohenden Schadens, sondern auch daran, wie hoch oder wie<br />
gering das Risiko eines Schadenseintritts und einer tatsächlichen Inanspruchnahme durch den<br />
Feststellungskläger ist. Denn die Bedeutung eines solchen Feststellungsausspruchs ist zwangsläufig<br />
größer, wenn der Schaden in absehbarer Zeit erkennbar droht als dann, wenn es sich nur um eine<br />
entfernt liegende, mehr theoretische, aber nicht völlig auszuschließende Möglichkeit handelt.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 678/<strong>2019</strong><br />
Klage und Widerklage: Gebührenrechtliche Bewertung<br />
(OLG Nürnberg, Beschl. v. 27.8.<strong>2019</strong> – 13 W 2775/19) • Die Klage auf Herausgabe des Kraftfahrzeugs und<br />
die Widerklage auf Herausgabe der Fahrzeugpapiere betreffen gebührenrechtlich denselben Gegenstand.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 679/<strong>2019</strong><br />
EU-Recht/IPR<br />
Gehaltseinstufung für eine Lehrtätigkeit: Anrechnung früherer Berufserfahrung<br />
(EuGH, Urt. v. 10.10.<strong>2019</strong> – C-703/17) • Artikel 45 Abs. 1 AEUV (Arbeitnehmerfreizügigkeit) ist dahin<br />
auszulegen, dass er einer Regelung einer Universität eines Mitgliedstaats, nach der, wenn es um die<br />
Festlegung der Gehaltseinstufung eines Arbeitnehmers als Senior Lecturer/Postdoc an dieser Universität<br />
geht, dessen in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegte Vordienstzeiten nur im Ausmaß von<br />
insgesamt höchstens vier Jahren angerechnet werden, entgegensteht, wenn die betreffende Betätigung<br />
gleichwertig oder gar identisch mit derjenigen war, zu der der Arbeitnehmer im Rahmen<br />
dieser Tätigkeit als Senior Lecturer/Postdoc gehalten ist. Artikel 45 AEUV und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung<br />
(EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.4.2011 über die Freizügigkeit<br />
der Arbeitnehmer innerhalb der Union sind dahin auszulegen, dass sie einer solchen Regelung<br />
nicht entgegenstehen, wenn die frühere Betätigung in diesem anderen Mitgliedstaat nicht<br />
gleichwertig war, sondern für die Ausübung der fraglichen Tätigkeit eines Senior Lecturers/Postdocs<br />
schlicht nützlich ist. Hinweis: In diesem Fall ging es um die Gehaltseinstufung eines deutschen Senior<br />
Lecturers/Postdocs an der Universität Wien. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 680/<strong>2019</strong><br />
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1170 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 531<br />
Negative Einwirkungen<br />
Nachbarrecht<br />
Negative, ideelle und ähnliche Einwirkungen durch Zustand und Beschaffenheit<br />
des Nachbargrundstücks<br />
Von Rechtsanwalt Dr. HANS REINOLD HORST, Hannover/Solingen<br />
Inhalt<br />
I. Negative und ideelle Einwirkungen –<br />
Überblick<br />
II. Einzelfälle<br />
1. Entziehung von Licht und Luft<br />
2. Blendungen<br />
3. Bordellbetrieb<br />
4. Drogenhilfezentrum<br />
5. Verwildernlassen des Grundstücks<br />
6. Abstellen von Schrott<br />
7. Lagerung von Müll und Aufstellen von<br />
Müllbehältern<br />
8. Lagern von Baumaterial, Baugeräten,<br />
Altfahrzeugen und Gerümpel<br />
9. Abschattungen des Rundfunk- und Fernsehempfangs<br />
10. Ungestörte Aussicht<br />
11. Störende Einblicke des Nachbarn<br />
und Videoüberwachung<br />
12. Hässliche Hausansicht<br />
13. Hässliche Einfriedung<br />
14. Entziehung von Zugluft<br />
15. Ergebniskorrekturen<br />
III. Ähnliche Einwirkungen – Überblick<br />
1. Immissionen von Bäumen<br />
2. Giftige Pflanzen<br />
3. Unkrautsamen<br />
4. Eindringen fester Stoffe<br />
5. Elektromagnetische Strahlung,<br />
Funkwellen<br />
6. Chemikalien<br />
7. Kälte<br />
IV. Fazit<br />
I. Negative und ideelle Einwirkungen – Überblick<br />
Unter negativen Einwirkungen versteht man Handlungen auf dem eigenen Grundstück des Nachbarn,<br />
die natürliche Vorteile oder Zuführungen von dessen Nachbargrundstücken abhalten oder die<br />
das ästhetische sittliche Empfinden des Nachbarn verletzen oder schließlich den Verkehrswert des<br />
Nachbargrundstücks mindern (BGH, Urt. v. 11.7.2003 – V ZR 199/02, NZM 2003, 727 = NJW-RR 2003,<br />
1313). Dabei überschreitet der Nachbar nicht die Grenzen des Grundstücks. Einwirkungen auf das<br />
betroffene Nachbargrundstück i.S.d. §§ 1004 Abs. 1, 906 Abs. 1, 862 Abs. 1 S. 1 BGB liegen nicht vor, weil<br />
es sich nicht um die Zuführung von störenden Einflüssen über die eigenen Grundstücksgrenzen hinaus<br />
auf das Grundstück des betroffenen Nachbarn handelt. Aus diesem Grund sind sie nach den<br />
genannten Vorschriften nicht abwehrbar. Beseitigungs- und Abwehransprüche bestehen daher grds.<br />
nicht (vgl. HERDER, in: PALANDT, Kurzkommentar zum BGB, 77. Aufl. 2018, § 903 BGB Rn 9 und 10; § 906<br />
BGB Rn 5; zu Extremfällen vgl. BORRMANN/GRECK ZMR 1989, 130, 131 f.).<br />
Im zivilrechtlichen Bereich hat die Rechtsprechung zwischen den unten niedergelegten Fallgruppen<br />
unterschieden und bis auf wenige Grenzfälle zivilrechtliche Abwehransprüche aus §§ 1004 Abs. 1, 906<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1171
Fach 7, Seite 532<br />
Negative Einwirkungen<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Abs. 1, 862 Abs. 1 S. 1 BGB gegen negative und ideelle Einwirkungen verworfen – ein Ergebnis, das in der<br />
notwendigen Gesamtbetrachtung in vielen Fällen „nachbarlich zwischenmenschlichen Verhaltens“ nicht<br />
befriedigen kann. Die Abhandlung verfolgt daher das Ziel, Wege aus dem Dilemma zivilrechtlicher<br />
Anspruchslosigkeit aufzuzeigen, und die zunächst behandelten Fälle von anspruchsauslösenden ähnlichen<br />
Einwirkungen abzugrenzen.<br />
II.<br />
Einzelfälle<br />
1. Entziehung von Licht und Luft<br />
Da es sich durch die Entziehung von Licht (Verschattung) und Luft durch Bäume, Sträucher, Hecken,<br />
Gebäude oder Umzäunungen um negative Einwirkungen handelt, ist sie grds. nicht abwehrbar (so die<br />
weitaus h.M., vgl. BGH, Urt. v. 10.7.2015 – V ZR <strong>22</strong>9/14, NZM 2015, 793 f; BGH, Urt. v. 14.11.2003 – VZR<br />
102/03, NZM 2004, 115 f; OLG Brandenburg, Urt. v. 17.8.2015 – 5 U 109/13, NZM 2015, 798; OLG Hamm,<br />
Urt. v. 1.9.2014 – 5 U <strong>22</strong>9/13; OLG München, Urt. v. 27.6.2012 – 20 U 4726/11; LG Bielefeld, Urt. v.<br />
26.11.2013 – 1 O 307/12; und die Nachw. bei HORST DWW 1997, 361 ff; vgl. zur entschädigungslosen<br />
Duldungspflicht einer Verschattung durch Entzug von Licht und Luft: BGH, Urt. v. 27.10.2017 – VZR<br />
8/17, NZM 2018, 241).<br />
Ausnahmsweise kann sich im Falle ganz erheblicher Beeinträchtigungen – so bei kompletter<br />
Abschattung des gesamten Grundstücks während der größten Zeit des Tages – aus dem nachbarlichen<br />
Gemeinschaftsverhältnis nach Treu und Glauben ein Anspruch auf Zurückschneiden der lichtbeeinträchtigenden<br />
Bäume und Sträucher oder Hecken ergeben (OLG Hamm, Urt. v. 1.9.2014 – 5 U <strong>22</strong>9/13;<br />
OLG München, Urt. v. 27.6.2012 – 20 U 4726/11; OLG Hamm, Urt. v. 28.9.1998 – 5 U 67/98, MDR 1999, 930<br />
Rn 28; AG Hamburg-Blankenese, Urt. v. 11. 10.1995 – 508 C 329/95, Hamburger Grundeigentum 1995,<br />
399; OLG Köln, Beschl. v. 7. 6. 1996 – 16 Wx 88/69 n.v.; so auch für das öffentliche Recht bei geschütztem<br />
Baum: VG München, Urt. v. 19.11.2012 – M 8 K 11.5128, IMR 2013, 161). Ebenso kann aus dem nachbarrechtlichen<br />
Gemeinschaftsverhältnis ein Anspruch darauf entstehen, dass ein Grundstücksnachbar<br />
dem anderen nicht durch Aufstellen von Windkraftanlagen die Windenergie in einer Weise nehmen<br />
darf, dass nur auf dem einen, nicht aber auf dem anderen Grundstück wirtschaftlich Windenergie<br />
genutzt werden kann (OLG Frankfurt ZMR 2000, 378).<br />
2. Blendungen<br />
a) Natureinflüsse<br />
Dasselbe gilt für Blendungen vom Nachbargrundstück, soweit sie als Reflexionen aus Naturkräften<br />
resultieren (beispielsweise die hellreflektierende Hauswand) und nicht auf eigene Handlungen des<br />
Grundstücknachbarn zurückzuführen sind, beispielsweise die gezielte Anstrahlung des Nachbargrundstücks<br />
durch Scheinwerfer (OLG Düsseldorf MDR 1991, 56 = OLGZ 1991, 106; vgl. eingehend<br />
HORST, a.a.O., 369 ff.). Dies kann abgewehrt werden.<br />
Die Abgrenzung kann fließend sein. So geht das LG Frankfurt a.M. (DWW 1998, 57 ff.) von einer eigenen<br />
Handlung des Nachbarn aus, wenn dieser ein Glasdach errichtet, das den Sonnenschein zu einem<br />
einzigen gleißend hellen konzentrierten Lichtstrahl bündelt, und dadurch Arbeitseinschränkungen im<br />
benachbarten Bürogebäude mit einhergehenden Augenschmerzen der Arbeitnehmer entstehen (vgl.<br />
eingehend HORST DWW 1997, 361, 369 f. ebenso: OLG Hamm, Urt. v. 9.7.<strong>2019</strong> – 24 U 27/18; LG Arnsberg,<br />
Urt. v. 8.1.2018 – 2 O 186/16 zum bejahten Beseitigungsanspruch bei blendenden Dachziegeln; ebenso:<br />
VG Baden-Württemberg, Urt. v. 19.7.2007 – 3 S 1654/06; OLG Karlsruhe, Urt. v. 13.12.2013 – 9 U 184/11,<br />
DWW 2014, 186; OLG Düsseldorf, Urt. v. 21.7.2017 – I-9 U 35/17, IMR 2017, 416 = NJW-Spezial 2017, 525 für<br />
eine blendende Solaranlage auf dem Dach; ebenso: OLG Stuttgart, Urt. v. 9.2.2009 – 10 U 146/08, MDR<br />
2009, 1099, und für extreme Blendungen durch Dachfenster; LG München I, Urt. v. 27.6.2018 – 41 O<br />
14.768/16: Abwehranspruch wegen Ortsüblichkeit dieser Maßnahme [Anm. d. VERF. es kommt auf die<br />
Ortsüblichkeit der Beeinträchtigung an!] verneint im Falle mehrerer spiegelnder CDs, die zur Vogelabwehr<br />
auf dem Nachbargrundstück angebracht wurden).<br />
1172 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 533<br />
Negative Einwirkungen<br />
Aber auch wohnungseigentumsrechtlich gilt es auf Besonderheiten hinzuweisen: So stellt schon<br />
die optische Veränderung durch eine Photovoltaikanlage eine „bauliche Veränderung“ i.S.d. Wohnungseigentumsrechts<br />
dar. Das führt automatisch nach dem Wohnungseigentumsgesetz dazu,<br />
dass besondere Beschlussmehrheiten notwendig sind, um als Grundlage für die Anschaffung und die<br />
Montage einer Photovoltaikanlage dienen zu können. So können in der Wohnungseigentümergemeinschaft<br />
bauliche Maßnahmen, die ohne konkret vorhandenen Instandsetzungsbedarf eine Anpassung<br />
des Gemeinschaftseigentums an den Stand der Technik, eine Erhöhung des Gebrauchswerts,<br />
einer Verbesserung der allgemeinen Wohnverhältnisse oder eine Einsparung von Wasser oder Energie<br />
bewirken, nur mit sog. doppelt qualifizierter Mehrheit beschlossen werden (§ <strong>22</strong> Abs. 2 WEG), sofern<br />
die Eigenheit der Wohnanlage nicht verändert oder ein Wohnungseigentümer nicht unbillig beeinträchtigt<br />
wird. Sieht man diese Voraussetzung als gegeben an, dann muss der Beschluss mit mindestens<br />
75 % der Ja-Stimmen, bezogen auf alle in der Wohnungseigentümergemeinschaft vorhandenen<br />
Stimmen (nicht nur der in der Versammlung anwesenden oder vertretenen Stimmrechte)<br />
sowie mehr als 50 % Zustimmung bezogen auf die Miteigentumsanteile zustande kommen.<br />
b) Lichtstrahler und bauliche Illuminationen<br />
Unter Lichtstrahlern werden hier alle künstlichen Lichtquellen und Beleuchtungskörper wie Gartenlampen,<br />
Lichterketten, Hausaußenbeleuchtungen, Strahler zum Erhellen von Grundstücksaußenflächen<br />
als Sicherheitseinrichtungen und Ähnliches verstanden.<br />
Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften zur Beurteilung von Lichtimmissionen gibt es bislang<br />
nicht. Hinzuweisen ist auf die „Messung und Beurteilung von Lichtimmissionen“ (LiTG-Publikation<br />
Nr. 12.2.96) sowie auf die „Messung und Beurteilung von Lichtimmissionen (Licht-Richtlinie)“, LAI-<br />
Veröffentlichung, Bd. 4, 1994 (erwähnt bei FRANTZ-ROSENFELD in RÖDEL, Nachbarrechtliche Streitigkeiten in<br />
der anwaltlichen Praxis, Teil 6/5.1-5.4, S. 13 f.). Beide Veröffentlichungen orientieren sich an den Einteilungen<br />
der Baugebiete der Baunutzungsverordnung und sehen Grenzwerte für die Beleuchtungsstärke<br />
vor (ausführlich FRANTZ-ROSENFELD, a.a.O.).<br />
aa) Abwehransprüche des Nachbarn<br />
Was die Abwehrmöglichkeiten des beeinträchtigten Nachbarn bei derartigen Lichtimmissionen angeht,<br />
so ist danach zu unterscheiden, ob die Lichtstrahler auf eigene Grundstücksteile des Nachbarn gerichtet<br />
sind oder direkt das Grundstück oder das darauf stehende Haus des beeinträchtigten Eigentümers<br />
anstrahlen. Im ersteren Fall handelt es sich um negative Einwirkungen, die nicht abwehrfähig sind. Dass<br />
durch eine auf einem Grundstück unterhaltene Lichtquelle auch das Nachbargrundstück beleuchtet<br />
wird, stellt an sich also noch keine unerlaubte Einwirkung auf das Nachbargrundstück dar (DEHNER,<br />
Nachbarrecht, Bd. 1, 7. Aufl., 1996, B § 16, Fn 25; OLG Karlsruhe, Urt. v. 20.2.2018 – 12 U 40/17, juris für<br />
einen angeleuchteten Kirchturm – Abwehranspruch verneint).<br />
Anders ist es aber, wenn die Lichtquellen gezielt auf das Nachbargrundstück gerichtet werden. In<br />
diesem Fall handelt es sich um eine durch menschliche Handlung verursachte, zielgerichtete und<br />
grenzüberschreitende Immission, die Abwehransprüche auslöst. Daher ist das Anstrahlen eines<br />
Hauses mit Scheinwerfern nur mit Zustimmung des Eigentümers zulässig (DEHNER, a.a.O., S. 11).<br />
Deshalb sind Abwehransprüche eröffnet, wenn z.B. die (bewegungsmeldergesteuerte) Außenbeleuchtung<br />
des Hauses in das Schlafzimmer des Nachbarn beeinträchtigend hineinscheint (LG<br />
Wiesbaden, Urt. v. 19.12.2001 – 10 S 46/01, NJW 2002, 615,616 – Glühbirnenstreit wegen einer<br />
Lichtzufuhr vom Nachbargrundstück). Auch die Zuführung von grellen Lichtreflexen „infolge von<br />
Veranstaltungen“ sind abwehrfähige Beeinträchtigungen (RGZ 76, 130, 132; BGHZ 88, 344 (349); OLG<br />
Düsseldorf OLGZ 91, 106 f.). Schon das Reichsgericht führt im Jahre 1911 aus, dass die „Zuführung von<br />
grellen Lichtreflexen infolge von Veranstaltungen auf dem Nachbargrundstück“ zu den wesentlichen<br />
Beeinträchtigungen i.S.v. § 906 BGB gehören, „weil dadurch das Auge geblendet und somit ein körperliches<br />
Unbehagen verursacht werden kann“. Fürwahr eine zukunftsorientierte Entscheidung, wenn man an<br />
die grellen Lichtimmissionen infolge von Strobolichtern, farbigen, sich ständig bewegenden und<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1173
Fach 7, Seite 534<br />
Negative Einwirkungen<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
lichtbündelnden Spotscheinwerfern sowie musikalische Takte optisch umsetzende Lichtorgeln bei<br />
Open-Air-Konzerten oder Diskotheken und Clubs denkt.<br />
bb) Immissionsschutzrecht<br />
Die gezielte Zuführung von Licht gehört zu den immissionsschutzrechtlich relevanten Immissionen wie<br />
Emissionen (§ 3 Abs. 2 u. 3 BImSchG). Dies bedeutet, dass die privatrechtlich abwehrbaren Lichtimmissionen<br />
und Lichtemissionen auch öffentlich-rechtlich zum Rechtsschutz nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz<br />
führen.<br />
cc) Wohnungseigentumsrecht<br />
Das Anbringen von Leuchten auf dem im gemeinschaftlichen Eigentum stehenden Balkon stellt<br />
eine bauliche Veränderung i.S.v. § <strong>22</strong> Abs. 1 WEG dar und bedarf daher der Zustimmung aller<br />
Miteigentümer (OLG Frankfurt, Beschl. v. 11.2.1988 – 20 W 24/88, zit. nach BIELEFELD, Der Wohnungseigentümer,<br />
5. Aufl. 1995, S. 341). BIELEFELD (a.a.O.) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die<br />
Entscheidung einer baulichen Veränderung mit Zustimmungspflicht aller Miteigentümer einzelfallabhängig<br />
zu prüfen bleibt. Entscheidend sei, ob durch die angebrachten Leuchtkörper tatsächlich eine<br />
Beeinträchtigung gegeben ist, oder ob nicht vielmehr auf die Zustimmung der Miteigentümer gem.<br />
§ <strong>22</strong> Abs. 1 S. 2 WEG verzichtet werden könne. Homogen zu den vorherigen Darlegungen wird man<br />
diese Prüfung danach vornehmen müssen, ob die angebrachten Beleuchtungen die benachbarten<br />
Eigentumswohnungen auch direkt bescheinen und ob dies der betreffende Wohnungseigentümer<br />
zumindest billigend mit in Kauf genommen hat. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so wird man<br />
analog der negativen Einwirkungen auf Nachbargrundstücke vertreten können, dass abstrahlende<br />
Auswirkungen der Beleuchtungen des Balkons von den Wohnungsnachbarn nicht abwehrbar sein<br />
dürften. Keine abwehrfähige bauliche Veränderung liegt vor, wenn öffentlich-rechtliche Vorgaben<br />
zum Sonnenschutz für Wohnanlagen in einer Wohnungseigentumsanlage erstmals ordnungsgemäß<br />
umgesetzt werden (Jalousien als Verschattungseinrichtung, BGH, Urt. v. 20.7.2018 – V ZR 56/17,<br />
NZM 2018, 794).<br />
c) Straßenlaternen<br />
Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung hat mehrfach zu Klagen gegen blendende und lichtimmissionierende<br />
Straßenbeleuchtungen Stellung genommen. In Betracht kommt die Abwehr derartiger<br />
Lichtimmissionen durch einen gegen die Gemeinde gerichteten öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch.<br />
Dabei kann dahinstehen, ob als Anspruchsgrundlage für diesen Abwehranspruch die<br />
Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG (Recht auf körperliche Unversehrtheit) oder aus Art. 14 Abs. 1 GG<br />
(Grundrecht auf Eigentum) oder aus den entsprechend anwendbaren Bestimmungen der §§ 1004, 906<br />
BGB in Betracht kommen. Obgleich Uneinigkeit über die dogmatische Herleitung eines solchen<br />
öffentlich-rechtlichen Abwehranspruchs besteht, ist dieser Anspruch auf Abwehr von Immissionen<br />
anerkannt, die von einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung ausgehen (Nds. OVG OVGE 44, 351, 352 ff.;<br />
SCHENK, in: BIRKL, Nachbarschutz, Bd. 1, Teil F, Rn 95). Dabei ist zwischen den individuell geschützten<br />
Rechtsgütern und den mit der hoheitlichen Maßnahme oder öffentlichen Einrichtung verfolgten<br />
öffentlich-rechtlichen Zwecken abzuwägen.<br />
Hier ist zu bedenken, dass eine Pflicht zu einer allgemeinen Beleuchtung der Verkehrsflächen besteht.<br />
Sie dient als gemeindliche Aufgabe i.R.d. gemeindlichen Allzuständigkeit der Aufrechterhaltung der<br />
öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie als Mittel zur Förderung des gemeindlichen Lebens, zur<br />
Belebung der wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Bestrebungen, zur Hebung der<br />
Bequemlichkeit der Bürger und des Ansehens der Gemeinde (OVG Koblenz NJW 1986, 953).<br />
Mit diesen Abwägungsgrundsätzen hat das Niedersächsische OVG (a.a.O.) einen öffentlich-rechtlichen<br />
Abwehranspruch gegen Blendungen im Innenbereich einer Wohnung durch eine Straßenbeleuchtung<br />
bei Nacht verneint (ebenso: OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 11.6.2010 – 1 A 10474/10.OVG), für Blendungen<br />
auf dem zur Wohnung gehörenden Balkon als Außenwohnbereich dagegen bejaht, wenn die blendende<br />
1174 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 535<br />
Negative Einwirkungen<br />
Straßenlaterne sich auf gleichem Höhenniveau des Balkons und nahe am Balkon befindet. Im letzteren<br />
Fall wurde der Anspruch auf eine Abschirmeinrichtung zuerkannt, im ersteren Fall wurde der Anspruch<br />
mit der Begründung verneint, durch einfaches Herunterlassen der Jalousie könne die Blendwirkung<br />
vermieden werden. Soweit der Anspruch zuerkannt worden ist, ließ das Gericht den Einwand nicht<br />
gelten, die Blendung durch Straßenlaternen sei ortsüblich. Wie das Gericht in einem obiter dictum<br />
feststellt, hätte dagegen der Einwand der Ortsüblichkeit der Lichtimmission durch Straßenbeleuchtung<br />
durchgegriffen, wenn eine Versetzung der Straßenlaterne anstelle einer Abschirmvorrichtung des<br />
Beleuchtungskörpers verlangt worden wäre. Auch das OVG Koblenz (a.a.O.) erkennt für ein begehrtes<br />
Versetzen von immissionierenden Straßenlaternen einen öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch<br />
nicht an. Es handelte sich um einen Fall, in dem bereits Abschirmeinrichtungen an den Leuchten<br />
angebracht worden waren.<br />
d) Leuchtreklamen<br />
Hier geht es in erster Linie um störende Auswirkungen von gewerblichen Außenwerbungen durch<br />
Leuchtreklamen, egal ob sie durch ständige Zu- und Abschaltung einzelner Lampen als laufende Bilder<br />
die Häuserfronten „schmücken“ oder ob sie als stetiges – ggf. mehrfarbiges – Neonwunder auf<br />
Häuserfronten oder zwischen Häusern quer über die Straße installiert sind. Je nach Fläche können<br />
solche Leuchtreklametafeln und Plakatwände bereits baugenehmigungspflichtig sein. Dabei wird je<br />
nach bauplanungsrechtlichen Gebietscharakter (allgemeines, reines Wohngebiet, Kleinsiedlung, innerstädtischer<br />
Bereich) und je nach Informationsgehalt unterschiedlich entschieden (vgl. VG Karlsruhe,<br />
Urt. v. 12.12.2017 – 1 K 847/15, juris, einerseits und VG Karlsruhe, Urt. v. 12.7.2017 – 4 K 7092/16, juris,<br />
andererseits).<br />
aa) Nachbarrechtliche Beziehungen<br />
Bringt ein Grundeigentümer eine Leuchtreklame so an, dass sie nur den Nachbarn, aber nicht ihn<br />
selbst stört, während er sie vom Reklamezweck her auch so anbringen könnte, dass sie nur ihn selbst,<br />
aber nicht den Nachbarn stören würde, so ist dieses Verhalten bei Prüfung der Frage, ob eine Beeinträchtigung<br />
für den Nachbarn wesentlich ist, mit zu berücksichtigen. Ein solches Verhalten führt<br />
in aller Regel zur Annahme einer wesentlichen Beeinträchtigung i.S.v. §§ 906, 1004 BGB mit der Folge<br />
entsprechender Abwehr- und Beseitigungsansprüche (Hanseatisches OLG MDR 1972, 1034; LG<br />
Düsseldorf DWW 1997, 188 f.).<br />
Da die Annahme einer wesentlichen Beeinträchtigung i.S.v. § 906 BGB auch eine Besitzstörung i.S.v.<br />
§ 862 Abs. 1 S. 1 BGB begründet, haben auch Mitmieter gegen störende Hauseigentümer oder andere<br />
Mitmieter einen entsprechenden Abwehranspruch in diesen Fällen (LG Düsseldorf, a.a.O.).<br />
bb) Wohnungseigentumsgesetz<br />
Auch Wohnungseigentümer oder an ihrer Stelle Dauernutzungsberechtigte i.S.v. § 31 Abs. 2 WEG dürfen<br />
die Außenfläche des genutzten Gebäudes für Reklamezwecke nur so benutzen, dass die Fläche von der<br />
oberen Kante seiner Fenster bis zu der Unterkante der Fenster des über ihm gelegenen Stockwerks für<br />
Reklamezwecke in Anspruch genommen wird. Insbesondere dürfen Lichtreklamen auf Vordächern<br />
nicht zu einer Störung der Mitbenutzer des Gebäudes in dem Bereich oberhalb des Vordaches führen,<br />
Deshalb sind die Rück- und Oberflächen solcher Lichtreklamen abzudecken, um eine Rückstrahlung zu<br />
vermeiden. Ferner dürfen die Reklamevorrichtungen an den Hauswänden das Öffnen der Fenster durch<br />
die Nachbarn nicht behindern sowie auch nicht Licht entziehen (OLG Frankfurt BB 1970, 731 [732]; MüKo/<br />
BGB-SÄCKER, 3.Aufl. 1997, § 906 Rn 84 m.w.N.).<br />
cc) Gewerberaummietrecht<br />
Mangels anderslautender vertraglicher Abmachungen hat der Geschäftsraummieter grds. das Recht,<br />
die Außenwandflächen der gemieteten Geschäftsräume von der oberen Kante der Fenster seiner<br />
Mieträume bis zur unteren Kante der Fenster des darüber gelegenen Stockwerks zu Reklamezwecken<br />
zu benutzen und Leuchtreklamen anzubringen (OLG Frankfurt, a.a.O.; BGH BB 1954, 83; s. auch: OLG<br />
Düsseldorf NJW 1958, 1094; eingehend: GATHER DWW 1997, 169, 175).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1175
Fach 7, Seite 536<br />
Negative Einwirkungen<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Abgesehen von diesem grds. Recht des Gewerbemieters, Außenwände des gemieteten Gebäudes mit<br />
Lichtreklamen ausstatten zu dürfen, gelten die für das Nachbarrecht sowie für das Wohnungseigentumsrecht<br />
entwickelten Grundsätze für die am wenigsten nachbarstörende Platzierung der Lichtreklamen<br />
auch innerhalb des Mietrechts. Dies bedeutet, dass nachbarrechtliche Ansprüche gegen den<br />
störenden Gewerbemieter bestehen bleiben und dieser daraus verpflichtet bleibt, die Lichtreklame<br />
umzusetzen oder abzuschirmen oder schließlich zu reduzieren, ohne dass er sich auf eine grundsätzliche<br />
Erlaubnis aufgrund des Mietvertrags berufen kann. So stellt zwar die Leuchtreklame eines<br />
Einkaufszentrums in einer Großstadt keinen Mangel der Mietsache dar (LG Berlin, Urt. v. 19.12.2003 –<br />
64 S 353/03, ZMR 2004, 583 = NZM 2004, 548), doch muss die Leuchtreklame umgesetzt werden,<br />
wenn sie so installiert wurde, dass sie nur den Nachbarn stört, nicht aber den errichtenden Eigentümer<br />
oder Mieter selbst.<br />
e) Laser und Himmelsstrahler<br />
In jüngerer Zeit werden Gaststätten und insbesondere Diskotheken mit Lasern oder Himmelsstrahlern<br />
versehen, die mit scharf gebündeltem starkem Licht bei Nacht gut sichtbar gegen eine Wolkendecke<br />
oder in den wolkenlosen Nachthimmel strahlen. Diese Form der Lichtwerbung ist kilometerweit zu<br />
sehen und erinnert bisweilen an Flakscheinwerfer. Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung hatte<br />
sich in der jüngsten Vergangenheit mehrfach mit der bauordnungsrechtlichen Zulässigkeit solcher<br />
Himmelsstrahler auseinanderzusetzen.<br />
Zunächst werden diese Lichtanlagen i.d.R. als Werbeanlagen i.S.d. verschiedenen Landesbauordnungen<br />
behandelt (Bay. VGH BauR 1996, 537 f.; OVG NW BauR 1995, <strong>22</strong>5 f., wobei die Prüfung allerdings<br />
einzelfallbezogen erfolgen soll). Ist diese Lichtwerbung nicht oder nicht ausdrücklich mit all ihren<br />
strahlenden und blendenden sowie aufmerksamkeitsanziehenden Auswirkungen bauordnungsrechtlich<br />
genehmigt, so bestehe eine formelle Illegalität. Der Nachbar kann aber nur dann verwaltungsrechtlich<br />
eine Beseitigungsverfügung verlangen, wenn durch die Himmelsstrahler aus anderen Gründen als denen<br />
des formellen Bauordnungsrechts die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet ist. Insoweit wird<br />
auf das in § 33 Abs. 1 S. 1 u. 2 StVO bundesrechtlich geregelte Verbot von Werbeanlagen außerhalb<br />
geschlossener Ortschaften und von innerörtlichen Werbeanlagen, sofern sie auf den Verkehr auf freier<br />
Strecke einwirken, abgestellt. Danach sind Werbeanlagen verboten, wenn dadurch Verkehrsteilnehmer<br />
in einer den Verkehr gefährdenden oder erschwerenden Weise abgelenkt oder belästigt werden können.<br />
Nach dem Wortlaut der Vorschrift genügt für die Gefährdung oder Erschwerung des Verkehrs ein<br />
abstrakter Nachweis, der durch die jeweilige Situation des Aufstellungsorts und seiner näheren Umgebung<br />
geführt werden kann. In diesem Fall sind Laser- und Himmelsstrahler als Lichtwerbeanlagen<br />
nicht genehmigungsfähig mit der Folge, dass ihre sofortige Beseitigung zu verfügen ist (Bay. VGH, a.a.O.;<br />
OVG NW, a.a.O.).<br />
Damit ist festzuhalten, dass der beeinträchtigte Grundeigentümer zwar keine unmittelbare Handhabe<br />
gegen die von Lasern und Himmelsstrahlern auf Nachbargrundstücken ausgehenden Lichtimmissionen<br />
hat, sondern eine allgemeine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch<br />
diese Werbemittel argumentativ begründen muss (OLG Zweibrücken, Urt. v. 29.1.2000 – 7 U 161/00).<br />
Sind die Lichtstrahlen in den Himmel gerichtet, so ist eben eine unmittelbare Anstrahlung des<br />
Nachbargrundstücks oder des Nachbarhauses gerade nicht gegeben. Der Fall ist mit den negativen<br />
Einwirkungen vergleichbar.<br />
3. Bordellbetrieb<br />
a) Grundstücksnachbarn<br />
Auch ein Bordellbetrieb, der das sittliche Empfinden des Nachbarn verletzt, ansonsten aber nicht zu<br />
wahrnehmbaren Störungen und Beeinträchtigungen führt, löst keine Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche<br />
aus (BGH DWW 1985, 231). Relevante Störungen sind etwa die Einsicht in die Räume des<br />
Bordells vom Nachbargrundstück aus oder die sonstige Wahrnehmungsfähigkeit von Vorgängen im<br />
1176 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 537<br />
Negative Einwirkungen<br />
Haus, ein anstößiges oder schamverletzendes Verhalten der Bordellkunden außerhalb der Räumlichkeiten<br />
oder Lärmimmissionen durch das mit dem Bordellbetrieb verbundene erhöhte Kraftfahrzeugaufkommen<br />
(OLG Oldenburg WM 1998, 164 f.).<br />
b) Wohnungseigentümergemeinschaft<br />
Schon aufgrund der räumlichen Nähe innerhalb derselben Eigentumswohnungsanlage zieht das WEG<br />
die Grenzen in diesem Bereich erheblich enger. Die Nutzung der Eigentumswohnung zur Prostitution<br />
ist nach st. Rspr. in jedem Fall unzulässig, zieht Abwehransprüche der übrigen Wohnungseigentümergemeinschaft,<br />
aber auch des einzelnen Eigentümers nach sich und kann auch zur Entziehung des<br />
Wohnungseigentums nach § 18 WEG führen (BGH, Urt. v. 5.12.2014 – 5 ZR 5/14, NZM 2015, <strong>22</strong>0 –<br />
alleinige Verbandsmacht nach „Ansichziehen“). Wenn schon dem Wohnungseigentümer selbst die<br />
Nutzung seiner Wohnung zur Prostitution verboten ist, dann gilt dies erst recht für den Fall der<br />
Vermietung. Die Vermietung der Wohnung zur Prostitution muss keinesfalls geduldet werden.<br />
Ausnahmsweise kann hier der vermietende Wohnungseigentümer wirksam durch die Wohnungseigentümerversammlung<br />
verpflichtet werden, das Mietverhältnis zu kündigen und dies dem Verwalter<br />
nachzuweisen (HORST, a.a.O., S. 519, Rn 1899 m.w.N. zur Rechtspr., vgl. zuletzt BayObLG<br />
NJW-RR 2000, 1323 ff. = ZMR 2000, 689 ff.).<br />
c) Baurecht<br />
Auch bauplanungsrechtlich (z.B. §§ 34 BauGB, 6 BauNVO) lässt sich die Wohnungsprostitution in einem<br />
allgemeinen Wohngebiet wegen des damit verbundenen Störpotenzials als unzulässig durch die<br />
zuständige Behörde durch Ordnungsverfügung abwehren (VG Hamburg, Beschl. v. 21.11.2016 – 9 E 5604/<br />
16, IMR 2017, 207). Ein solches Gewerbe sei nur im baulich ausgewiesenen Gewerbegebiet zulässig. Aber<br />
auch dann ist ein Mindestabstand zur Grenze des Nachbargrundstücks (Einhaltung baulicher<br />
Abstandsflächen) wegen des Störpotenzials einzuhalten (VG Neustadt an der Weinstraße, Beschl. v.<br />
24.9.2018 – 5 L 1140/18. NW, BeckRS 2018, 23931; zur Unzulässigkeit eines Gewerberaum als Erotikmarkt<br />
in einem Wohn- und Mischgebiet: VG Arnsberg, Urt. v. 17.6.2008 – 4 K 1364/07; VG Minden, Urt. v.<br />
23.10.2012 – 1 K 2109/11; zur Bewertung von Wohnungsprostitution insbesondere in festgelegten<br />
Sperrbezirken, die wiederum für den zivilrechtlichen Begriff der Ortsüblichkeit vorgreiflich ist: BVerfG,<br />
Beschl. v. 28.4.2009 – 1 BvR <strong>22</strong>4/07, NVwZ 2009, 905).<br />
4. Drogenhilfezentrum<br />
Der BGH hatte sich mit einem nachbarlichen Abwehranspruch gegen den Betreiber eines Drogenhilfezentrums<br />
zu befassen. Die dort Betreuten richteten auf der Straße vor dem Drogenhilfezentrum<br />
und auch vor dem Grundstück des Klägers einen „Szenetreff“ ein, verunreinigten den Bürgersteig mit<br />
gebrauchten Spritzen, Flaschenscherben und Essensresten sowie mit Erbrochenem und Exkrementen.<br />
Sie behinderten schließlich den Zugang zum klägerischen Grundstück, ohne selbst in das Grundstück<br />
einzudringen oder das Grundstück in sonstiger Weise selbst zu verschmutzen. Der BGH<br />
(<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 594/2000 = MDR 2000, 1069 f. m. Anm. HORST = NZM 2000, 979 ff. = ZMR 2000, 743 ff.)<br />
kam zu dem Ergebnis, dass hier über den Bereich einer bloßen ideellen oder ästhetischen Einwirkung<br />
hinaus eine abwehrfähige Beeinträchtigung des Eigentums des Klägers i.S.v. § 1004 Abs. 1 BGB vorlag.<br />
Demgemäß wurde ein Abwehranspruch gegen den Betreiber des Drogenhilfezentrums zuerkannt.<br />
Der Unterschied zu den „Bordellfällen“ in der Grundstücksnachbarschaft besteht darin, dass hier der<br />
Betrieb des Drogenhilfezentrums „nach außen“ wirkte, während in den „Bordellfällen“ allein das<br />
Wissen um den Betrieb derartiger Etablissements in der Nachbarschaft für die Zuerkennung eines<br />
eigentumsrechtlichen Abwehranspruchs nicht ausreichte.<br />
5. Verwildernlassen des Grundstücks<br />
Grundsätzlich kann der Eigentümer frei entscheiden, ob er sein Grundstück im Sinne eines „englischen<br />
Gartens“ pflegt oder verwildern lässt (§ 903 BGB). Störungen, die lediglich das ästhetische Empfinden<br />
beim Anblick eines ungepflegten Nachbargrundstücks betreffen, begründen keinerlei Rechtsansprüche.<br />
Von Extremfällen und ganz außergewöhnlichen Umständen abgesehen (dazu: OLG Düsseldorf<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1177
Fach 7, Seite 538<br />
Negative Einwirkungen<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
NJW-RR 1995, 1231 zur Schädigung von Erikakulturen durch Brennesselsamen), kann der Eigentümer<br />
grds. das Herüberwehen von Unkrautsamen vom Nachbargrundstück nicht abwehren (OLG<br />
Düsseldorf OLGZ 1993, 451; LG Stuttgart MDR 1965, 990; OLG Karlsruhe RdL 1972, 8). Lösen allein<br />
Naturkräfte die Störung aus, so bestehen keine Unterlassungs- oder Beseitigungsansprüche gegen<br />
den Nachbarn gem. §§ 1004, 906 BGB. Dies ist nur dann anders, wenn er oder sein Voreigentümer die<br />
Störung durch eigene Handlungen oder pflichtwidriges Unterlassen selbst mit verursacht haben (BGH<br />
NJW 1985, 1773; a.A. SCHMID NJW 1988, 29). Dann kommt ein Schadensersatzanspruch des Geschädigten<br />
aus § 823 Abs. 1 BGB wegen Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht oder eine Inanspruchnahme<br />
des Nachbarn als Störer aus §§ 823 Abs. 2, 1004 BGB in Betracht. Voraussetzung ist, dass die<br />
Eigentumsbeeinträchtigung wenigstens mittelbar auf den Willen des Beklagten zurückgeht, was bei<br />
einem Unterlassen wiederum eine Handlungspflicht (Verkehrssicherungspflicht) voraussetzt (BGH,<br />
Urt. v. 16. 2. 2001 – V ZR 4<strong>22</strong>/99, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 291/2001). Der BGH hat nicht nur eine Störerhaftung,<br />
sondern auch eine Verkehrssicherungspflicht verneint, wenn die Beeinträchtigungen zwar auf dem<br />
Zustand des Nachbargrundstücks beruhen, dieser aber ausschließlich durch Naturkräfte oder durch<br />
normale und übliche (landwirtschaftliche) Grundstücksnutzungen mit unumgänglicher nachteiliger<br />
Einwirkung für die Nachbarn hervorgerufen worden ist (BGH, a.a.O., entschieden für einen Weinberg,<br />
der ein Jahr lang nicht bewirtschaftet wurde, was zu einem Mehltaubefall der benachbarten<br />
Rebstöcke führte).<br />
Ganz ausnahmsweise kann sich in Extremfällen ein Beseitigungsanspruch aus § 242 BGB aus den<br />
Grundsätzen des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis ergeben, wenn dies aus zwingenden Gründen<br />
eines billigenden Interessenausgleichs geboten ist. In der Regel wirkt das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis<br />
aber nur als Schranke der Rechtsausübung, als Ergebniskorrektur (BGH, a.a.O., m.w.N. zur<br />
Rspr.; vgl. näher: HORST, Rechtshandbuch Nachbarrecht, Rn 282 ff., S. 81, Rn 1356, S. 369). So kommt ein<br />
Anspruch auf dieser Grundlage in Betracht, wenn in einer reinen Wohngegend mit sämtlich gärtnerisch<br />
gut gepflegten Grundstücken ein Grundstück über Jahre hinaus verwahrlost wird und der Grundstückseigentümer<br />
die Möglichkeit gehabt hätte, dem ohne großen Aufwand Einhalt zu gebieten (vgl. OLG<br />
Karlsruhe RdL 1972, 8; s. auch: BGH NJW 1984, <strong>22</strong>07; BGHZ 28, 110).<br />
Für eine Bausiedlung (AG Tecklenburg MDR 1981, 51) oder für einen mit Mehltau befallenen Weinberg<br />
(BGH, Urt. v. 16.2.2001 – V ZR 4<strong>22</strong>/99, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 291/2001) gelten diese Ausnahmen nicht.<br />
Anstelle eines Beseitigungsanspruchs kann sich ebenso als Ausnahme aus dem nachbarlichen<br />
Gemeinschaftsverhältnis auch ein Schadenersatzanspruch ergeben. Dies hat der BGH bei Schädlingsbefall<br />
mit Auswirkung für Nachbargrundstücke erwogen (BGH, Urt. v. 7.7.1996 – V ZR 213/94, NJW<br />
1995, 2633, 2635). Sei ein Eigentümer zur Verhinderung von Schädlingsbefall nicht verpflichtet, so<br />
könne dem Nachbarn aus dem Grundsatz des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses das Recht<br />
zuzubilligen sein, Bekämpfungsmaßnahmen auf dem Grundstück zu ergreifen, von dem die Störung<br />
ausgeht; dies zumindest dann, wenn diese Maßnahmen das störende Grundstück nicht unzumutbar<br />
beeinträchtigen. Ein solches Vorgehen zum eigenen Schutz setze voraus, dass der Nachbar von dem<br />
Eigentümer, auf dessen Grundstück Bekämpfungsmaßnahmen notwendig werden, rechtzeitig über<br />
den Befall oder über den drohenden Befall informiert werde. Dazu könne der Nachbar nach § 242 BGB<br />
im Hinblick auf die nachbarliche Verbundenheit verpflichtet sein. Verletze er diese Pflicht, hafte er<br />
nach den Grundsätzen der positiven Forderungsverletzung. Dies komme aber nur in Betracht, wenn er<br />
auf die Information über die drohende Gefahr angewiesen sei, sie also nicht selbst habe erkennen<br />
können (verneinend im Falle eines mehltaubefallenen Weinbergs: BGH, Urt. v. 16. 2. 2001 – VZR<br />
4<strong>22</strong>/99, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 291/2001).<br />
Eine Verunkrautung vor dem Grundstück auf dem Gehweg oder auf öffentlichem Straßengrund kann<br />
dagegen über ein Eingreifen der Gemeinde durch Ersatzvornahme nach entsprechender Androhung auf<br />
der Grundlage der Straßenreinigungssatzung unterbunden werden.<br />
1178 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 539<br />
Negative Einwirkungen<br />
6. Abstellen von Schrott<br />
Beim Abstellen von Schrott, bei der Lagerung von Baumaterial, Baugeräten und Gerümpel handelt es<br />
sich um reine Verletzungen des ästhetischen Empfindens ohne weitergehende Beeinträchtigung des<br />
Nachbareigentums (BGH NJW 1970, 1541 ff., vgl. die Nachw. der Rechtspr. bei STOLLENWERK DWW 1995,<br />
303).<br />
7. Lagerung von Müll und Aufstellen von Müllbehältern<br />
Der Anblick von Müll auf Nachbargrundstücken ist eine hinzunehmende ästhetische Immission,<br />
solange damit keine Geruchsbelästigung, Gesundheitsgefährdung insbesondere durch Ungezieferbefall<br />
oder ordnungsbehördlich bedeutsame Gefahrenlage geschaffen wird. Der Eigentümer eines mit<br />
Müll beladenen Grundstücks ist aber Abfallbesitzer i.S.v. § 3 Abs. 1 AbfG. Als solcher ist er auch Störer<br />
und zur Beseitigung der Störung verpflichtet. Dies gilt auch, wenn der Müll von Dritten unberechtigt<br />
abgelagert worden ist (OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 6.5.2003 – 8 B 10668/03, n.v. für die Beseitigungspflicht<br />
einer „wilden“ Müllablagerung; LG Frankfurt/Main, Urt. v. 8.6.2005 – 5/33 Ns 8910 Js<br />
219753/03, NZM 2005, S. 679 f. für das Liegenlassen von Abfällen auf einem Hausgrundstück als<br />
Ordnungswidrigkeit, die ein „Messie“ vorab gesammelt hatte; BVerwG, Urt. v. 11.12.1997 – 7 C 58/96,<br />
NJW 1998, S. 1004: Entsorgungspflicht des Eigentümers als Abfallbesitzer bei Abfallanlandung durch<br />
Hochwasser; ALHEIT, S. 193; BVerwG, NJW 1989, S. 1295.). Ganz entsprechendes gilt für Wohnungseigentümergemeinschaften.<br />
Der Wohnungseigentümer, der regelmäßig und notorisch Mülltüten<br />
und ähnliche Abfälle vor seiner Wohnungstür im gemeinschaftlichen Eingangsbereich des Hauses<br />
deponiert, beeinträchtigt seine Miteigentümer mit der Folge, dass diese Abwehransprüche nach<br />
§ 1004 BGB, § 14 Nr. 1 WEG haben (OLG Düsseldorf, Beschl. v. <strong>22</strong>.5.1996 – 3 Wx 88/96, WM 1996, 436 =<br />
ZMR 1996, 446).<br />
Beseitigungsansprüche können sich auch aus der Platzierung von Müllbehältern ergeben. Hier erfordert<br />
es das Gebot der Rücksichtnahme unter Nachbarn, Müllbehälter so zu platzieren, dass Auswirkungen<br />
nicht gerade zum Nachbarn hin entfaltet werden können. Denkbar sind hier unzumutbare<br />
Geruchsbelästigungen oder angezogene Tiere wie Fliegen und Ratten. Auch hier kommt ein<br />
Beseitigungsanspruch nach § 1004 BGB in Betracht. Dies gilt ebenso für Wohnungseigentümergemeinschaften<br />
(dazu: OLG Hamm, Beschl. v. 12.3.1999 – 15 W 17/99, ZMR 1999, 507 zu abgestellten<br />
Mülltonnen in einer Garage). Sind aber Geruchsbelästigungen ausgeschlossen und Mindestabstände<br />
eingehalten, kann eine Nachbarklage gegen aufgestellte Mülltonnen nicht erfolgreich sein (VG Neustadt<br />
a.d. Weinstraße, Urt. v. 14.7.2016 – 4 K 11/16.NW, juris, zur Nutzung eines Stellplatzes als<br />
Abstellplatz für Mülltonnen).<br />
Besonderheiten gelten für Gewässergrundstücke. Der Eigentümer oder der Besitzer eines Gewässergrundstücks<br />
oder gewässernahen Grundstücks wird überlassungspflichtiger Besitzer von Abfällen, die<br />
durch Hochwasser auf das Grundstück gelangen, wenn dieses Grundstück für die Allgemeinheit frei<br />
zugänglich ist. Eine Einschränkung der Verantwortlichkeit des Besitzers von aufgedrängten Abfällen<br />
kommt aus verfassungsrechtlichen Gründen nur in Betracht, wenn dieser in eine Opferposition<br />
gedrängt wurde. Dies ist nur dann der Fall, wenn der vom Abfallbesitzer für die Verwertung und<br />
Beseitigung zu betreibende Kostenaufwand die Privatnützigkeit des Eigentums i.S.v. Art. 14 Abs. 1 GG<br />
entfallen ließe. Abgesehen von diesem Grenzfall ergibt sich damit die Pflicht zur Abfallentsorgung<br />
bereits aus §§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 1 und 2 AbfG i.V.m. §§ 3 Abs. 6, 13 Abs. 1, 15 Abs. 1 KrW-AbfG (BVerwG NJW<br />
1998, 1004 f..).<br />
8. Lagern von Baumaterial, Baugeräten, Altfahrzeugen und Gerümpel<br />
Ebenso bestehen keine Nachbaransprüche auf die Beseitigung von Baumaterialien, Autowracks, alten<br />
Stangen, Blech, sonstigem Gerümpel und Baugeräten. Allerdings kann die Ordnungsbehörde bei länger<br />
dauernder Lagerung von Baumaterial und Gerümpel auf dem Grundstück die Beseitigung auf Kosten<br />
des Eigentümers durch Ersatzvornahme veranlassen (VG Berlin, Beschl. v. 05.5.1994 – 13 A 10.94, juris =<br />
Grundeigentum 1994, 862). Generell kann in diesen Fällen der Umweg über die Ordnungsbehörde<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1179
Fach 7, Seite 540<br />
Negative Einwirkungen<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
beschritten werden, wenn durch die abgelagerten Gegenstände (hier: Abfall, auch mit organischen<br />
Stoffen gefüllte Plastiktüten, Einrichtungsteile und Verpackungsmaterial) das Wohl der Allgemeinheit<br />
gefährdet wird. Sie kann dann durch Ordnungsverfügung dem betroffenen Grundstückseigentümer<br />
aufgeben, gesammelten Unrat, Müll, und anderes zu entfernen (VG Münster, Beschl. v. 24.8.2016 –<br />
7 L 1<strong>22</strong>2/16, IMR 2017, 80; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 24.8.2009 – 8 A 10623/09, NVwZ 2009, 1508<br />
– Schrottfahrzeuge; ebenso schon: OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 24.9.2002 – 8 A 11272/02.OVG; vgl.<br />
aber VG Neustadt a.d. Weinstraße, Urt. v. 11.9.2015 – 4 K 162/15.NW, juris – Verwendung von 100 alten<br />
Autoreifen als Terrassenbefestigung und als Pflanzenringe zulässig).<br />
Das kann selbst für das Innere des Nachbarhauses gelten (VG Arnsberg, Beschl. v. 20.8.2008 – 3L<br />
547/08; juris, bestätigt durch OVG NRW, Beschl. v. 19.9.2008 – 5 B 1410/08, juris): Ein Hauseigentümer<br />
wird gerichtlich dazu verdonnert, sein Haus aufzuräumen und Flucht- sowie Rettungswege frei zu<br />
machen. Er hatte Zimmer und Flure mit Altpapier und anderen gesammelten Dingen bis zur Decke voll<br />
gestapelt. Im Garten des Hauses hatte er altes Holz zum Brennen angehäuft. Teilweise waren selbst die<br />
Fenster mit Kisten zugestellt. Weil Nachbarn sich durch das Verbrennen von Papier und Holz sowie das<br />
Gerümpel im Garten belästigt fühlen, schalten sie die Gemeinde ein. Ergebnis ist eine Ordnungsverfügung<br />
der Stadt. Die sofortige Vollziehung dieser Ordnungsverfügung ohne aufschiebende Wirkung<br />
wird angeordnet (§ 80 Abs. 3 S. 1 VwGO). Die Begründung: Ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung<br />
müsse damit gerechnet werden, dass in dem Wohnhaus des Eigentümers immer mehr Material<br />
– insbesondere Papier – gelagert werde. Das damit einhergehende, stetig ansteigende Brandpotenzial<br />
gefährde Leben und Gesundheit des Hauseigentümers und seiner Familienangehörigen sowie auch<br />
Leben und Gesundheit der Nachbarschaft.<br />
Eigene nachbarliche Abwehransprüche können aber neben der Möglichkeit einer initiierten behördlichen<br />
Ordnungsverfügung dann ausgelöst werden, wenn derartige Utensilien in einer Grenzgarage<br />
gelagert werden. Dadurch wird die Garage in ihrem Zweck entwidmet. Sie dient eben nicht mehr zum<br />
Abstellen von Kraftfahrzeugen und verliert dadurch das bauordnungsrechtliche Abstandsflächenprivileg.<br />
Da den Abstandsflächenvorschriften auch nachbarschützende Wirkung zukommt, kommen<br />
Abwehransprüche des Nachbarn in Betracht (dazu eingehend: HORST, Nachbarschutz gegen Grenzgarage,<br />
DWW 2000, 217 ff. und 262 ff.). Motiviert können solche Ansprüche z.B. aus dem Gesichtspunkt<br />
des Brandschutzes sein, wenn in der Garage Schmier- und Betriebsstoffe gelagert oder<br />
Reparaturarbeiten ausgeführt werden. Häufig sind sie aber Folge des „nachbarlichen Ärgernisses“<br />
darüber, dass der Pkw nicht in der Garage, sondern auf der Straße geparkt wird und deshalb den<br />
eigenen Parkraum des Nachbarn beeinträchtigt. Wenn auch der Nachbar gegen die zweckwidrige<br />
Nutzung der Grenzgarage zu Felde ziehen kann, so gibt es doch kein Recht auf einen eigenen<br />
Parkplatz auf der Straße, erst recht nicht vor der eigenen Haustüre (BGH, Urt. v. <strong>22</strong>.1.2016 – V ZR 116/15,<br />
ZMR 2016, 382). Natürlich bleibt es dem Nachbarn immer unbenommen, die Bauaufsichtsbehörde zu<br />
unterrichten, um so ein bauaufsichtsbehördliches Einschreiten gegen die zweckwidrigen Nutzung der<br />
Garage einzuleiten (so: VG Berlin, Urt. v. 15.7.2015 – 19 K 273.14; zu Abwehransprüchen des Vermieters<br />
gegen die zweckwidrige Garagennutzung durch den Mieter: AG München, Urt. v. 21.11.2012 – 433 C<br />
7448/12, NZM 2013, 541; LG Hamburg, Urt. v. 17.6.2015 – 318 S 167/14, NJW-RR 2016, 82; AG Stuttgart,<br />
Urt. v. 1.4.2016 – 37 C 5953/15, WuM 2016, 346).<br />
9. Abschattungen des Rundfunk- und Fernsehempfangs<br />
Schattet ein Hochhaus Funkwellen so ab, dass auf dem Nachbargrundstück ein Empfang nicht mehr<br />
möglich ist, kann der Eigentümer des beeinträchtigten Grundstücks nicht beanspruchen, auf Kosten des<br />
Hochhauseigentümers Anschluss an die Sammelantenne des Hochhauses zu erhalten. Er hat auch<br />
keinen Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Ausgleichs. Auch hier liegt eine sog. negative Einwirkung<br />
vor (BGH NJW 1984, 729 ff.).<br />
10. Ungestörte Aussicht<br />
Auch Ansprüche auf eine ungestörte Aussicht werden zumeist nur erfolglos geltend gemacht, sei es<br />
als Anspruch auf Beseitigung oder Kürzung von Baum- und Pflanzenbeständen, sei es als Klage-<br />
1180 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 541<br />
Negative Einwirkungen<br />
begehren im Baurecht gegen ein Bauvorhaben (vgl. die Nachweise bei STOLLENWERK DWW 1995, 303).<br />
Dies gilt auch für ein Normenkontrollverfahren gegen einen Bebauungsplan, der in der unmittelbaren<br />
Nachbarschaft sowohl Flächen für Pflegeeinrichtungen als auch ein allgemeines Wohngebiet ausweist<br />
und damit einen zuvor bestehenden Bebauungsplan ablöst, der Blick Beziehungen zur umgebenden<br />
Natur und die Vermeidung einer Störung des Landschaftsbilds stets betont hatte (Sächs. OVG, Urt. v.<br />
15.5.2018 – 1 C 13/17; zur sichtbehindernden Bebauung auch: OLG Frankfurt, Urt. v. 12.11.2015 – 3 U 4/14,<br />
ZMR 2016, 326; LG Karlsruhe, Urt. v. 2.12.2011 – 9 S 236/11, juris – zur verneinten Verpflichtung eines<br />
Vermieters ggü. dem Wohnungsmieter, dessen Nachbarn zum Abriss einer blickstörenden Holzwand<br />
zu zwingen).<br />
Wer sich Licht und Aussicht ungestört erhalten will, sollte sich eine Grunddienstbarkeit am Nachbargrundstück<br />
bestellen und im Grundbuch eintragen lassen. Die Grunddienstbarkeit kann auch den<br />
Inhalt haben, dass der Nachbar kein Gebäude über eine bestimmte Höhe und in einem bestimmten<br />
Abstand von der Grenze errichtet.<br />
Auch der Anblick oder Ausblick auf einen Nacktbadeplatz ist keine Einwirkung i.S.d. § 906 BGB (RGZ 76,<br />
130). Nachbarrechtliche Ansprüche bestehen deswegen nicht (BGHZ 95, 307).<br />
Dies gilt auch für das sichtbare Aufhängen von Wäsche zum Wochenende. Zwar ergibt sich ein<br />
unschöner Anblick auf ein fremdes Grundstück, doch handelt es sich nicht um eine Zuführung von<br />
Immissionen i.S.v. § 906 BGB (BGH NJW 1985, 2853; zum Schadenersatzanspruch aus culpa in contrahendo<br />
und aus unerlaubter Handlung bei Abschluss eines Kaufvertrags über ein Grundstück mit freiem<br />
Ausblick, wenn von Verkäuferseite die Frage nach sichtbehindernden Umbauplänen der Nachbarn<br />
wahrheitsgerecht verneint wird: BGH MittBayNot 1993, 353).<br />
11. Störende Einblicke des Nachbarn und Videoüberwachung<br />
In Zeiten ständig zunehmenden Voyeurismus fühlen sich Nachbarn gerade bei beengten Wohnverhältnissen<br />
häufig durch tatsächliche oder durch vermutete Einsichtnahmen Dritter in den eigenen<br />
Lebensbereich bedrängt. Statten Nachbarn ihre Grundstücke so aus, dass sie von erhöhten Standpunkten<br />
aus Einsicht in die Nachbarbereiche nehmen können, führt das also in aller Regel zu Unbill.<br />
Zunächst stellt dabei das „sich beobachtet fühlen“ durch den Nachbarn eine negative Einwirkung dar,<br />
die zivilrechtlich nicht abwehrbar ist. Deswegen wird auch hier häufig das Bauordnungs- und das<br />
Bauplanungsrecht bemüht (z.B. im Falle eines Kinderspielturms; nahe der Grundstücksgrenze: OLG<br />
Hamm, Urt. v. 19.5.2014 – 5 U 190/13, NZM 2015, 431 – privatrechtlich und öffentlich-rechtlich erfolglos;<br />
ebenso (Kinderspielturm): VG Neustadt, Urt. v. 17.4.2008 – 4 K 25/08. NW; im Falle eines Baumhauses<br />
nahe der Grundstücksgrenze: LG Dortmund, Urt. v. 20.2.2007 – 1 S 109/06, NZM 2007, 936 – öffentlichrechtlich<br />
erfolgreich; zum „Pfahlbau“ an der Grundstücksgrenze: VG München, Urt. v. 13.7.2016 – M9K<br />
15.570, juris – Abrissverfügung aus baurechtlichen Gründen bestätigt; zum Einblick nehmen den<br />
Nachbarn durch Überlehnen auf den Balkon des Kontrahenten: OLG Frankfurt, Beschl. v. 21.3.2016 –<br />
4 UF 26/16, MDR 2016, 1136 = NJW-aktuell, Heft 41/2016, 9 – keine Anordnung nach § 1 Abs. 2 Nr. 2a<br />
GewSchG, da die Verletzung des Luftraums über dem nachbarlichen Balkon einem Eindringen in das<br />
befriedete Besitztum nicht gleichkommt). Unberührt bleibt die Prüfung einer Verletzung des nach<br />
§§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 BGB geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts (LG Rottweil, Urt. v.<br />
23.5.2018 – 1 S 11/18; LG Hamburg, Urt. v. 18.1.2018 – 304 O 69/17 – juris) und eines strafbaren Verhaltens<br />
nach § 238 StGB (Stalking).<br />
Zivilrechtliche Abwehr- und Beseitigungsansprüche bestehen in einer Gesamtschau mit den neuen<br />
Bestimmungen des Datenschutzes dazu (§ 4 BDSG-2018, Art. 4 Abs. 2 und 6, Art. 6, 13, 14, 17, 25, 32<br />
DSGVO), wenn der Nachbar Überwachungskameras installiert hat, die das eigene Grundstück mit<br />
erfassen (BGH, Urt. v. 21.10.2011 – V ZR 265/10, NJW-RR 2012, 140; OLG Köln, Urt. v. <strong>22</strong>.9.2016 – 15 U<br />
33/16, NJW 2017, 835 ff; OLG Köln, NJW 2009, 1827; auch Befürchtung der Videoüberwachung reicht:<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1181
Fach 7, Seite 542<br />
Negative Einwirkungen<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
BGH, Urt. v. 16.3.2010 – VI ZR 176/09; insb. bei eskalierenden Nachbarstreit; AG Meldorf, WuM 2012, 34;<br />
LG Bonn, NJW-RR 2005, 1067; AG Brandenburg, Urt. v. <strong>22</strong>.1.2016 – 31 C 138/14; LG Detmold, Urt. v.<br />
8.7.2015 – 10 S 52/15, juris).<br />
Eine Videoüberwachungsanlage kann weiterhin auf einem Privatgrundstück zulässig installiert werden,<br />
wenn feststeht, dass dadurch öffentliche Wege und Flächen sowie angrenzende private Grundstücke,<br />
insbesondere Nachbargrundstücke, nicht erfasst werden und wenn eine geänderte Ausrichtung der<br />
Kameras nur durch eine äußerlich wahrnehmbare Neuausrichtung möglich ist.<br />
12. Hässliche Hausansicht<br />
a) Nachbarrecht und Baurecht<br />
Allgemein zivilrechtliche Nachbaransprüche auf Abwehr und auf Beseitigung „hässlich“ empfundener<br />
Grundstücks- oder Hausansichten gibt es nicht. Zwar gibt es bauordnungsrechtliche und auch bauplanungsrechtliche<br />
Vorgaben zur Gestaltung von Hausfassaden und Dächern, doch verfolgen sie keine<br />
nachbarschützende Zwecke.<br />
So kann die Gemeinde auch Vorgaben zur Gestaltung von Hausfassaden und Dächern sowie im Hinblick<br />
auf die Anordnung und Ausrichtung sowie auf die Größe und das Aussehen des Gebäudes durch eine<br />
sog. Gestaltungssatzung machen. Beispiele hierfür sind etwa das Masseverhältnis des Baukörpers<br />
(Kubus) zur Grundstücksfläche, das sich in der Geschossflächen- und Grundflächenzahl ausdrückt, die<br />
Position des Gebäudes auf dem Grundstück, also etwa die Frage der vorderen oder hinteren Bauflucht<br />
oder die Frage einer Grenzbebauung oder des Gebotes eines Bauabstandes zur Grenze, vor allem aber<br />
auch die Ausrichtung des Dachfirsts nach der Himmelsrichtung oder im Verhältnis zum Straßenverlauf<br />
sowie die Dachneigung und die Beschaffenheit der Dachpfannen. Auch die Form des Dachs kann durch<br />
die Gemeinde vorgegeben werden, um gestalterisch ein im Wesentlichen einheitliches Ortsbild zu<br />
erreichen. Durch alle diese Punkte kann die grundsätzliche Baufreiheit zulässig durch die Gemeinde<br />
eingeschränkt werden (z.B. baurechtliche Vorgabe eines Satteldachs mit Sonnenkollektoren: VGH<br />
Baden-Württemberg, Beschl. v. 11.3.2009 – 3 S 1953/07). Ebenso kann die Gemeinde z.B. in Altstadtkernen<br />
zulässig rote bis rot-braune Ziegelpfannen vorschreiben. Wer dagegen durch Betondachsteine<br />
oder durch andersfarbige glasierte Dachpfannen verstößt, muss abreißen und umbauen (OVG<br />
Lüneburg, Urt. v. 12.5.1993 – 1 K 67/91 und OVG Lüneburg, Urt. v. 25.6.2001 – 1 L4874/99). Weder der<br />
Bauherr selbst noch der Nachbar können sich gegen solche Vorgaben wehren. Dem Nachbarn steht<br />
aber auch dann kein eigenes Recht aus solchen Vorgaben zur Gestaltung zu, wenn sie nicht beherzigt<br />
wurden.<br />
b) Wohnungseigentumsrecht<br />
Zusätzliche Besonderheiten gelten im Wohnungseigentumsrecht. Beschlossene und umgesetzte<br />
Veränderungen bei der Farbgestaltung der Fassade gelten aufgrund der optischen Wirkung als bauliche<br />
Veränderung. Zur Wirksamkeit solcher Beschlüsse ist die Zustimmung eines jeden Eigentümers<br />
notwendig, der davon betroffen ist. Stimmt also ein Eigentümer nicht zu, so kann er den Beschluss<br />
und seine Umsetzung erfolgreich anfechten (LG München, Urt. v. 20.9.2012 – 36 S 1982/12, IMR 2013,<br />
193) In der grundlegenden optischen Veränderung der Fassade durch die neue Farbgestaltung läge<br />
eine bauliche Veränderung, die der Zustimmung eines jeden davon betroffenen Eigentümers bedürfe<br />
(§ <strong>22</strong> Abs. 1 S. 2 WEG). Nur ganz geringfügige Beeinträchtigungen von völlig belanglosem oder<br />
bagatellartigem Charakter für das Gemeinschaftseigentum bzw. für die äußere Gestaltung der Anlage<br />
seien von dieser Wertung ausgenommen, nicht aber die hier geschaffenen starken Kontraste durch<br />
die neuen Streifenelemente auf der bisher einheitlich ruhigen Farbgestaltung (ursprünglich einheitlich<br />
gelbe Fassade, jetzt auf Höhe der Stockwerkbalkone Orange abgesetzt). Dadurch seien nicht nur<br />
bloße geschmackliche Empfindlichkeiten betroffen. Werde der Charakter einer Fassade so stark verändert,<br />
so liege hierin ein nicht nur unerheblicher Nachteil für die Eigentümer, die der Farbgestaltung<br />
nicht zugestimmt haben.<br />
1182 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 543<br />
Negative Einwirkungen<br />
13. Hässliche Einfriedung<br />
Im Allgemeinen bestehen bundesrechtlich nachbarrechtliche Ansprüche wegen hässlicher Einfriedungen<br />
nicht (st. Rspr.: BGH, Urt. v. 17.1.2014 – V ZR 292/12, NZM 2014, 404 –„Leitplankenwand“, als<br />
ästhetisch unschöne Einfriedigung hinzunehmen). So löst eine hässliche Bretterwand, eine Welleternitwand<br />
oder eine Wand aus Eisenstangen und Blechen im Grenzbereich vor zwei Garagen im Regelfall<br />
keinen Beseitigungsanspruch aus, selbst wenn dadurch Licht, Luft oder Aussicht entzogen werden<br />
(BORRMANN/GRECK ZMR 1989, 130 f.). Auch das öffentliche Bauordnungs- und Bauplanungsrecht kann<br />
zumindest mangels nachbarschützender Wirkung dazu nicht bemüht werden (VG Berlin, Urt. v.<br />
20.10.2016 – 13 K 1<strong>22</strong>.16, juris – 1,60 m bis 1,70 m hoher und 9,90 m langer blickdichter Zaun auch als<br />
bauliche Anlage zur Schaffung einer sozialen Distanz erlaubt; im Ergebnis ebenso: BWStGH, Beschl. v.<br />
3.12.2015 – 1 VB 75/15, NZM 2016, 733 – tote Einfriedung).<br />
Wird der hässliche Anblick aber bewusst zur Störung des Nachbarn geschaffen, sind Ansprüche<br />
nach den §§ 823 Abs. 2, <strong>22</strong>6 BGB sowie nach § 826 BGB gegeben. Auch kann ein Beseitigungsanspruch<br />
innerhalb einer Wohnungseigentümeranlage aus §§ 15 Abs. 3, <strong>22</strong> Abs. 1 WEG gegenüber dem<br />
Wohnungseigentümer bestehen, der auf seiner Garten-Sondernutzungsfläche einen Sichtschutzzaun<br />
errichtet (KG NJW-RR 1997, 713, hier aber wegen mehr als sechs Jahre lang bestehender<br />
Einfriedung als unzulässige Rechtsausübung verneint). „Nach außen“ zum Grundstücksnachbarn ist<br />
die Eigentümergemeinschaft gesamtheitlich Störer im Falle errichteter hässlicher Einfriedungen, auch<br />
wenn nur ein Wohnungseigentümer gehandelt hat (BGH, Urt. v. 11.12.2015 – V ZR 180/14, NZM 2016,<br />
360 ff.).<br />
Ist die Einfriedung aber nicht nur „hässlich“, sondern auch nicht ortsüblich, können sich allerdings<br />
Abwehransprüche über §§ 1004, 906 BGB ergeben (vgl. zum bejahten Anspruch auf Beseitigung einer<br />
Metallwand, die ortsunüblich als Einfriedung errichtet wurde: BGH, Urt. v. 21.9.2018 – V ZR 302/17, MDR<br />
<strong>2019</strong>, <strong>22</strong>0).<br />
Aus nicht eingehaltenen Abstandsvorschriften oder bauordnungsrechtlichen Vorschriften können sich<br />
weitere Ansprüche ergeben. So können nach den Nachbarrechtsgesetzen der Länder Ansprüche auf<br />
Beseitigung einer hässlichen Einfriedung des Grundstücks bestehen (OLG Hamm NJW 1975, 1035; BGH<br />
NJW 1979, 1408; NJW 1979, 1409 und NJW 1985, 1458).<br />
Besondere Hinweise gelten für die Einfriedung als Grenzeinrichtung i.S.v. § 921 BGB. Solange einer der<br />
Nachbarn an dem Fortbestand der Einrichtung Interesse hat, darf sie nach § 9<strong>22</strong> S. 3 BGB nicht ohne<br />
seine Zustimmung beseitigt oder geändert werden. Wird dagegen verstoßen, so ist der geschaffene<br />
Zustand zu beseitigen und die Grenzeinrichtung in ihrem ehemaligen Erscheinungsbild wieder<br />
herzustellen (§§ 1004, 9<strong>22</strong> S. 3 BGB; BGH, Urt. v. 20.10.2017 – V ZR 42/17, NZM 2018, 245 ff. = IMR 2018,<br />
164 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Es kann auch verlangt werden, dass nicht neben eine<br />
vorhandene Einfriedung als Grenzeinlage eine weitere Einfriedung gesetzt wird, die das ortsübliche<br />
Erscheinungsbild völlig verändert. Auch deren Beseitigung kann nach den Landesnachbarrechtsvorschriften<br />
verlangt werden (BGH NJW 1985, 1458 ff. für einen 2 m hohen neben der Grenze errichteten<br />
Holzzaun anstelle eines bereits vorhandenen 60 cm hohen Spriegelzauns; vgl. BVerfG, Beschl. v.<br />
5.7.2013 – 1 BvR 1018/13 – Verfassungsbeschwerde gegen letztinstanzliche Entscheidung in einem<br />
Streit um die Beschaffenheit eines Zauns als Grenzeinrichtung wegen Verletzung rechtlichen Gehörs<br />
erfolgreich).<br />
14. Entziehung von Zugluft<br />
Auch wenn dem Nachbargrundstück (hier Weinberg) durch eine Erddeponie auf dem eigenen<br />
Grundstück die Zugluft entzogen wird mit der Folge, dass sich dort ein Kaltluftsee mit schädigender<br />
Auswirkung für die Bepflanzung durch Weinreben bildet, bestehen keine nachbarrechtlichen<br />
Ausgleichsansprüche oder Beseitigungsansprüche gem. §§ 906, 907, 823 Abs. 2, 1004 Abs. 1 BGB (BGH<br />
NJW 1991, 1671).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1183
Fach 7, Seite 544<br />
Negative Einwirkungen<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
15. Ergebniskorrekturen<br />
In den vorstehenden Fällen negativer und ideeller Immissionen ist der Blick ausschließlich auf die zentralen<br />
nachbarrechtlichen Abwehr- und Beseitigungsansprüche vom Ergebnis her unvollständig und<br />
damit auch falsch. Denn in einzelnen Fällen kann man über einen „Umweg“ vorgehen und so erreichen,<br />
dass die Beeinträchtigungen zukünftig unterbleiben.<br />
a) Härtefall<br />
Unter Verweis auf den BGH, der die Frage anderer Beurteilung bei ideellen Immissionen in besonders<br />
krassen Fällen offengelassen hat, empfehlen BORRMANN/GRECK (ZMR 1989, 130 f.), die störende ideelle<br />
Einwirkung im Klägervortrag besonders krass erscheinen zu lassen. Dies setzt voraus, dass die Unterschiede<br />
zu den bislang entschiedenen Fällen dargelegt werden, die die Einwirkung als besonders<br />
schwerwiegend und beeinträchtigend erscheinen lassen. Ziel ist in diesen Fällen der Versuch, über die<br />
Grundsätze des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses eine Ergebniskorrektur zu erreichen und<br />
nachzuweisen, dass diese Korrektur aus dem Gebot von Treu und Glauben zwingend notwendig<br />
erscheint (OLG Frankfurt, ZMR 2000, 378 für einen Abwehranspruch gegen den Entzug von Windenergie<br />
durch Windkraftanlagen auf dem Nachbargrundstück).<br />
b) Wertminderung des Grundstücks<br />
BORRMANN/GRECK (a.a.O.) halten auch eingetretene Wertminderungen des Grundstücks infolge beeinträchtigender<br />
ideeller Immissionen für anspruchsauslösend.<br />
c) Umweltbewusstsein<br />
Auch ein gesteigertes Umweltbewusstsein, das durch ideelle, ästhetische und negative Einwirkungen<br />
beeinträchtigt sein kann, könnte anspruchsauslösend sein. Dies ist freilich in Rechtsprechung und<br />
Literatur bislang umstritten (vgl. die einzelnen Nachw. bei BORRMANN/GRECK, a.a.O.).<br />
d) Ordnungsbehördliche Tatbestände<br />
Wenn von der Nutzung oder dem Zustand des Nachbargrundstücks Gefahren für die öffentliche<br />
Sicherheit und Ordnung ausgehen, wie dies z.B. beim Verwildernlassen eines Grundstücks, beim<br />
Betrieb eines Bordells, bei der Nutzung des Grundstücks als Schrotthalde oder als Lagerplatz für<br />
Baumaterial, Baugeräten und Gerümpel (so VG Berlin Grundeigentum Berlin 1994, 862) der Fall sein<br />
kann, lässt sich durch Einschaltung der Ordnungsbehörden erreichen, dass der Zustand oder die<br />
Nutzung des Nachbargrundstücks in eigenem Sinne positiv verändert wird. Bei der Lagerung von Müll<br />
kann dies z.B. infolge einer Ungezieferplage der Fall sein. Bei der Lagerung von Schrott kann es zum<br />
Auslaufen von Ölen, Betriebs- und Kraftstoffen oder auch zum Auslaufen gefährlicher Chemikalien<br />
kommen. Beim Betrieb eines Bordells kann die Gefährdung der Sittlichkeit oder des Jugendschutzes in<br />
Betracht kommen.<br />
e) Bauordnungsrecht/Baugenehmigungsverfahren<br />
Auch über die Schiene des Bauordnungsrechts lassen sich aus Sicht des betroffenen Nachbarn unbefriedigende<br />
zivilrechtliche Teilergebnisse im Einzelfall angemessen korrigieren.<br />
In allen Fällen, in denen ein Bauvorhaben keiner speziellen immissionsschutzrechtlichen Genehmigung<br />
nach dem BImSchG bedarf, hat die Baugenehmigungsbehörde innerhalb ihrer Bearbeitung des<br />
Bauantrags vor Erteilung einer Baugenehmigung die immissionsrechtlichen Auswirkungen des<br />
beantragten Vorhabens zu prüfen sowie darüber zu befinden, ob diese mit dem geltenden Immissionsschutz<br />
zu vereinbaren ist. Deshalb kann auch innerhalb eines Nachbarwiderspruchs gegen eine<br />
erteilte Baugenehmigung geltend gemacht werden, das Bauwerk führe für den betroffenen Nachbarn<br />
zu Lichtreflexen oder zu Lichtentzügen, die nicht hinnehmbar seien. Dieser Vortrag war innerhalb<br />
einer Widerspruchsbegründung gegen eine Baugenehmigung für Windenergieanlagen auf dem Nachbargrundstück<br />
mit dem Hinweis erfolgreich, die sich ständig drehenden Rotorblätter führten ebenfalls<br />
bei Sonnenwetter und insbesondere bei tiefem Sonnenstand zu ständig wechselnden Lichtreflexen<br />
(OVG Münster NVwZ 1999, 1360).<br />
1184 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 545<br />
Negative Einwirkungen<br />
Auch kann das Bauordnungsrecht in den „Bordellfällen“ zu einer Ordnungsverfügung gegen das nachbarliche<br />
Etablissement mit Nutzungsuntersagung in Fällen führen, in denen rein zivilrechtlich mangels<br />
„Außenwirkung“ keinerlei Abwehransprüche bestehen (dazu JAUERNIG JZ 1986, 605 ff.).<br />
f) Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts<br />
Bewirken ideelle Immissionen die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, so kann dies anspruchsauslösend<br />
sein, wenn sich die Aktion gezielt gegen den Nachbarn richtet. Daher sind Umstände<br />
darzulegen, die die ideelle Immission als gezielte Provokation und Schikane des anderen erscheinen<br />
lassen (so zu Recht: BORRMANN/GRECK, a.a.O., 131 m.w.N. zur Rechtsprechung).<br />
g) Landesnachbarrecht<br />
Was die Entziehung von Licht und Luft durch Pflanzen oder durch Gebäude angeht, so kann man sich<br />
auf verletzte Grenzabstandsvorschriften (außer bei Straßenbäumen, für die Abstandsregelungen der<br />
Nachbarrechtsgesetze nicht gelten: VG Berlin, Urt. v. 13.4.2010 – 1 K 408.09, juris) berufen. Sie sind für<br />
Gebäude in den Landesbauordnungen und in den Landesnachbarrechtsgesetzen mit Geltung für den<br />
unbeplanten Außenbereich sowie für Pflanzen in den landesnachbarrechtlichen Vorschriften geregelt.<br />
Grenzabstandsvorschriften haben nachbarschützende Wirkung.<br />
Dies gilt im Grunde auch für die Wiederherstellung einer ungestörten Aussicht, die für sich weder<br />
im Nachbarrecht noch im Baurecht Schutzwirkung für den Nachbarn entfaltet. Auch hier kann man<br />
über verletzte Grenzabstandsvorschriften argumentieren. Die sicherste Möglichkeit, die Aussicht<br />
ungestört zu lassen, ist die bereits erwähnte Bestellung einer Grunddienstbarkeit am Nachbargrundstück<br />
mit dem Inhalt, dass dieses Grundstück nicht bebaut werden darf. Bauplanungsrechtlich besteht<br />
dagegen nicht die Möglichkeit, auf einen Bebauungsplan derart einzuwirken, dass dort baufreie Zonen<br />
ausgewiesen werden. Natürlich bleibt es unbenommen, das Nachbargrundstück auch zu erwerben<br />
und dann selbst darüber zu bestimmen ob und in welchem Maße es bebaut wird. Nur ganz<br />
ausnahmsweise wird man über die Rechtsfigur des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses erreichen<br />
können, dass Bepflanzungen oder Bebauungen des Nachbargrundstücks so angeordnet<br />
werden, dass die eigene Aussicht gewahrt bleibt. Dies kann z.B. ganz ausnahmsweise bei einem<br />
erbauten Hotel mit freier Aussicht auf ein weltberühmtes Gebirgsmassiv oder einen weltberühmten<br />
Wasserfall einmal der Fall sein. Allgemein hilft jedoch hier das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis<br />
nicht weiter.<br />
Auch kann eine als störend empfundene hässliche Einfriedung beseitigt werden, indem man bei<br />
bestehender landesrechtlicher Einfriedungspflicht den Nachbarn daraufhin in Anspruch nimmt, sein<br />
Grundstück ortsüblich einzufrieden (OLG Hamm NJW 1975, 1035 für eine 2 m hohe Welleternitwand<br />
bei ortsüblichen Einfriedungen in Form von Jäger-, Spriegel- und Maschendrahtzäunen bis zu einer<br />
Höhe von 1,25 m; BGH NJW 1985, 1458, 1460 für eine stofflich veränderte und ästhetisch geminderte<br />
Einfriedung als Grenzeinrichtung i.S.d. §§ 9<strong>22</strong> S. 3, 1004 BGB; vgl. auch die Zusammenstellung der Rspr.<br />
bei BORRMANN/GRECK, a.a.O., 132).<br />
Daraus folgt, dass das Problem ideeller, ästhetischer und negativer Einwirkungen nie nur nach dem<br />
bundesrechtlichen Nachbarrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches, sondern immer im Zusammenhang<br />
mit den öffentlich-rechtlichen Bundes- und Landesvorschriften, insbesondere dem landesrechtlichen<br />
Nachbarrecht, beantwortet werden muss.<br />
III. Ähnliche Einwirkungen – Überblick<br />
Im Unterschied zu den bisher besprochenen Fällen sind „ähnliche“ Einwirkungen grenzüberschreitend<br />
und deshalb ausdrücklich in § 906 BGB genannt. Sie können deshalb zivilrechtlich §§ 1004 Abs. 1, 906<br />
Abs. 1, 862 Abs. 1 S. 1 BGB abwehrbar sein, je nachdem, ob der Nachbar dadurch wesentlich oder<br />
unwesentlich beeinträchtigt wird und ob die erfahrene Beeinträchtigung ortsüblich ist oder nicht<br />
(HERDER, in: PALANDT, a.a.O. § 906 BGB Rn 1, 11). Im Einzelnen:<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1185
Fach 7, Seite 546<br />
Negative Einwirkungen<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
1. Immissionen von Bäumen<br />
a) Beeinträchtigungen<br />
Beeinträchtigungen von Nachbargrundstücken durch Bäume können sich durch Astabwurf, eindringende<br />
Wurzeln, Bruchholz, Schattenwurf, Reduzierung der freien Aussicht, Insektenbefall, Immissionen<br />
von Laub, Blüten und Nadeln und schließlich durch Fallobst ergeben.<br />
b) Ansprüche des Gestörten<br />
In Betracht kommen Beseitigungs-, Unterlassungs-, Ausgleichs-, Aufwendungsersatz- sowie Schadensersatzansprüche<br />
(zu Ansprüchen wegen Laubfalls und Überhang HORST DWW 1991, 3<strong>22</strong> ff.).<br />
Die Rechtsprechung tendiert eindeutig dazu, nachbarrechtliche Ansprüche aus Laubfall, Blütenfall<br />
und Samenflug weitestgehend zu versagen. Fast allgemein wird die Ansicht vertreten, dass Beeinträchtigungen<br />
durch Blüten und Blätter hinzunehmen sind. Sie seien entweder unwesentlich oder<br />
ortsüblich. Ausnahmen bestehen nur, wenn Bäume und Pflanzen krankheitsbedingt vermehrte<br />
Immissionen verursachen und hierdurch selbst bei erhöhtem Reinigungsaufwand eine Verwahrlosung<br />
des beeinträchtigten Grundstücks droht. Aus diesen Gründen bestehen auch Aufwendungsersatzansprüche<br />
für Kosten der Reinigung von Grundstücken und Dachrinnen in den meisten Fällen nicht.<br />
Nur ganz ausnahmsweise wird dem beeinträchtigten Eigentümer ein angemessener Ausgleichsanspruch<br />
zugebilligt (BGH, Urt. v. 27.10.2017 – V ZR 8/17, NZM 2018, 241 bei verletztem Grenzabstand,<br />
der aber nicht mehr erfolgreich gerügt werden kann; vgl. auch OLG Hamburg Hamburger GE 1988, 8;<br />
OLG Karlsruhe NJW 1983, 2886, das dem beeinträchtigten und duldungspflichtigen Eigentümer einen<br />
angemessenen Geldausgleich gewährt, der auf Grundlage einer Schätzung des Reinigungsaufwandes<br />
nach § 287 Abs. 2 ZPO bestimmt wird [hier: jährlich 300 DM]; a.A.: OLG Stuttgart NJW 1986, 2768 und<br />
NJW-RR 1988, 204 [keine Entschädigung für Laubfall, Blüten- und Samenflug]; ebenso OLG Frankfurt<br />
NJW-RR 1987, 1101 [für eine Birke im ländlichen Bezirk] und NJW 1988, 2618 [für drei Pappeln in<br />
durchgrünter Wohngegend]).<br />
Besonders kennzeichnend sind zwei Entscheidungen des OLG Düsseldorf. Danach sind Laub, Blüten<br />
etc. keine Einwirkungen, die der Nachbar nach § 906 Abs. 1 BGB verbieten kann (MDR 1990, 245 =<br />
NJR-RR 1990, 144). Der betroffene Grundeigentümer habe i.d.R. Laubfall vom Nachbargrundstück<br />
auch entschädigungslos hinzunehmen. Wer auf parkähnlichem Grund zu wohnen privilegiert sei und<br />
zudem die Vorzüge eines begrünten Wohngebiets genieße, habe umgekehrt auch saisonale Einwirkungen<br />
der Begrünung zu dulden (OLG Düsseldorf NJWE-MietR 1996, 2).<br />
Der Grundeigentümer hat für mögliche Gefahren, die durch seine Bäume verursacht werden, einzustehen.<br />
Ihn trifft eine Verkehrssicherungspflicht. Eine Haftung für Schäden durch herabfallende Äste<br />
trifft den Grundeigentümer daher, wenn er seiner Verkehrssicherungspflicht nicht nachgekommen ist<br />
und den Baum nicht in regelmäßigen Abständen kontrolliert und begutachtet (sog. Baumschau). Eine<br />
eingehende Untersuchung von Bäumen wird nur dann für erforderlich gehalten, wenn besonders<br />
verdächtige Umstände vorliegen. Eine ständige Überwachung ist grds. nicht notwendig (OLG Frankfurt<br />
NJW-RR 1987, 795; näher HORST DWW 1991, 3<strong>22</strong>, 329 ff. zum Umfang der Verkehrssicherungspflicht der<br />
Gemeinde als Baumeigentümerin: OLG Bremen, Beschl. v. 13.4.2018 – 1 U 4/18, juris).<br />
Für besondere Risiken, die auf Naturgewalten beruhen, ist der Grundeigentümer nicht verantwortlich<br />
(AG Frankfurt NJW-RR 1994, 414).<br />
Eingedrungenes Wurzelwerk in ein privates Grundstück ist so lange hinzunehmen, wie dadurch keine<br />
konkrete Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks eintritt (VG Freiburg BWGZ 1994, 684 [kein öffentlich-rechtlicher<br />
Abwehranspruch im Fall eines auf einem öffentlichen Gehweg gepflanzten Baumes];<br />
LG Itzehoe NJW-RR 1995, 978). Beseitigungsansprüche gem. §§ 1004, 910 BGB für eingedrungenes<br />
Wurzelwerk bestehen aber, wenn dadurch ein Anheben oder ein Aufbrechen des benachbarten Bodens<br />
verursacht wird (LG Itzehoe, a.a.O.).<br />
1186 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 547<br />
Negative Einwirkungen<br />
Ebenso kann der Eigentümer eines Grundstücks, in dessen Schmutzwasseranschlusskanal von einem<br />
öffentlichen Straßengelände her Baumwurzeln eindringen, deren Beseitigung nach § 1004 BGB verlangen<br />
(BGH MDR 1991, 870 = VersR 1991, 1179 [im Anschluss an BGHZ 97, 231]). Gegen den Anspruch des<br />
Eigentümers auf Erstattung der Kosten für die Beseitigung eingedrungener Baumwurzeln in eine Abwasserleitung<br />
(§ 1004 Abs. 1 BGB i.V.m. § 812 Abs. 1 BGB) kann der Einwand erhoben werden, dass er die<br />
Störungen durch deren fehlerhafte Verlegung selbst mit verursacht habe (§ 254 BGB; BGH BauR 1995,<br />
120 = NJW 1995, 395).<br />
Wird die Standfestigkeit einer Mauer durch Baumwurzeln beeinträchtigt, die von der Bepflanzung des<br />
angrenzenden Randstreifens einer Gemeindestraße herrühren, so kann dies einen nachbarrechtlichen<br />
Ausgleichsanspruch gem. §§ 1004, 906 BGB auslösen (BGH MDR 1991, <strong>22</strong>8 = NJW 1990, 3195). Ist die<br />
Wiederherstellung einer infolge Wurzelwuchses eingestürzten, 100-jährigen Mauer tatsächlich möglich,<br />
so muss sich der Geschädigte den etwa dreimal höheren Wertvorteil der neuen Mauer anrechnen<br />
lassen. Neigte sich die Mauer schon seit mehreren Jahrzehnten vor ihrem Einsturz, so kann die darin<br />
liegende Schadensgeneigtheit des Grundstücks eine Minderung des nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs<br />
bewirken (§§ 906 Abs. 2, 249 BGB; BGH NJW 1992, 2884).<br />
c) Zurückschneiden von Pflanzen und Bäumen<br />
Hier ergeben sich mehrere Fragenkreise:<br />
• Verhältnis von Selbsthilferecht und Beseitigungsanspruch gegen den Nachbarn,<br />
• Kostenersatz,<br />
• Überlagerung privatrechtlicher Ausgleichs- und Beseitigungsansprüche durch öffentlich-rechtliche<br />
Baumschutzsatzungen und Landschaftsschutzrecht,<br />
• Grenzabstände nach den Landesnachbargesetzen.<br />
Stehen Bäume und Sträucher an der Grenze des Grundstücks oder dicht daneben, so ragen ihre Äste und<br />
Zweige häufig in den Luftraum des benachbarten Grundstücks hinein. Ihre Wurzeln dringen in den<br />
Bodenbereich des Nachbargrundstücks ein.<br />
§ 910 BGB sieht ein Selbsthilferecht des Nachbarn vor. Beeinträchtigen die eindringenden Wurzeln<br />
und herüberragenden Zweige und Äste die Benutzung des Nachbargrundstücks, so kann dessen<br />
Eigentümer sie abschneiden und behalten. Die Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks ist aber<br />
Voraussetzung für dieses Selbsthilferecht (OLG Hamburg Hamburger GE 1992, 375; LG Hannover ZMR<br />
1990, 344). Sie muss von dem überhängenden Zweig selbst ausgehen und darf sich nicht als nur<br />
mittelbare Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks in Form von Laub- oder Nadelbefall darstellen<br />
(LG Krefeld, Urt. v. 20.4.2018 – 1 S 48/17, ZMR 2018, 818; Revision ist eingelegt worden: BGH, V ZR 102/<br />
18). Das Recht verjährt nicht, denn einer Verjährung unterliegen nur Ansprüche (§ 194 Abs. 2 BGB; vgl.<br />
LG Krefeld, a.a.O.).<br />
Wurzeln können jederzeit ohne Weiteres abgeschnitten werden. Maßnahmen, die nach dem Abschneiden<br />
der Wurzeln erforderlich sind, um den Baum vor Folgeschäden zu bewahren, obliegen dem<br />
Eigentümer des Baums, nicht dem Selbsthilfeberechtigten. Der Selbsthilfeberechtigte kann verpflichtet<br />
sein, den Eigentümer des Baums vor dem Abschneiden der Wurzeln zu unterrichten. Unterlässt er<br />
dies, kann er schadenersatzpflichtig sein. Ist streitig, ob eine Unterrichtung erfolgt ist, trifft die<br />
Beweislast für die fehlende Unterrichtung den Eigentümer des Baums (OLG Köln VersR 1995, 665 =<br />
ZMR 1993, 567).<br />
Zweige kann der Eigentümer des Nachbargrundstücks erst nach angemessener Fristsetzung zur<br />
Beseitigung entfernen, wenn der Eigentümer des Strauchs oder Baums in dieser Frist nicht selbst<br />
gehandelt hat.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1187
Fach 7, Seite 548<br />
Negative Einwirkungen<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Der Nachbar darf nicht zur Unzeit von seinem Selbsthilferecht Gebrauch machen. Auf Wachstumsperioden<br />
der Pflanzen hat er zu achten. So kann es das Landschaftsschutzrecht verbieten, in der Zeit<br />
vom 1.3. bis zum 30.9. Hecken, Wallhecken, Gebüsche sowie Röhricht- und Schilfbestände zu roden,<br />
abzuschneiden oder zu zerstören (OLG Hamm NVwZ-RR 1993, 290).<br />
Zweige dürfen nur an der Stelle abgeschnitten werden, wo sie die Grundstücksgrenze überschreiten.<br />
Sie dürfen nicht bereits am Stamm des Baums gekappt werden, wenn dieser neben der Grenze auf<br />
dem Grundstück des Baumeigentümers steht. Erst recht ist das völlige Abschneiden einer Hecke auf<br />
dem Nachbargrundstück rechtswidrig und zieht Schadenersatzansprüche des Nachbarn gem. § 823<br />
BGB nach sich. Der deliktische Anspruch umfasst die Kosten einer Neuanpflanzung der gerodeten<br />
Teile einschließlich der Kosten notwendiger Ausgrabungen der abgeschnittenen Wurzelstücke sowie<br />
die Wertdifferenz zwischen der Neuanpflanzung von Stecklingen zum Wert der vormals existierenden<br />
Hecke (OLG Brandenburg, Urt. v. 6.2.2013 – 7 U 191/09, juris; zur Berechnung des Schadens nach der<br />
„Methode Koch“ auch bei Teilschädigungen von Gehölzen: BGH, Urt. v. 25.1.2013 – V ZR <strong>22</strong>2/12, NZM<br />
2013, 282; BGH, Urt. v. 27.1.2006 – V ZR 46/05, NJW 2006, 1424; zu Einzelheiten der Methode Koch vgl.<br />
KOCH, Aktualisierte Gebührentabelle, 3. Aufl. 2001; BRELOER, Der Sachverständige, 2005; zur Berechnung<br />
des Schadenersatzes nach unbefugtem Beschnitt alter Bäume durch den Grundstücksnachbarn vgl.<br />
LG Bielefeld, Urt. v. 14.5.1991 – 23 O 186/90, NJW-RR 1992, 26).<br />
aa) § 1004 BGB: Selbsthilferecht, Beseitigungsanspruch<br />
Neben dem Selbsthilferecht steht dem Nachbarn auch das Recht zu, vom Baumeigentümer gem. § 1004<br />
BGB das Abschneiden störender Zweige und Wurzeln zu verlangen. Beide Ansprüche sind ohne Vorrang<br />
nebeneinander gegeben (BGH NJW 1973, 703; BGH DWW 1986, 239; zur Verjährung des Rückschnittanspruchs:<br />
BGH, Urt. v. <strong>22</strong>.2.<strong>2019</strong> – V ZR 136/18; zum Anspruch auf Kappen der Nachbarhecke: BGH, Urt.<br />
v. 8.12.2017 – V ZR 16/17, NZM 2018, 239; zum Anspruch auf Rückschnitt einer Grenzbepflanzung eines<br />
tiefer liegenden Nachbargrundstücks: BGH, Urt. v. 2.6.2017 – V ZR 230/16, ZMR 2017, 945; zu den<br />
besonderen Schadensrisiken beim Rückschnitt alter Nachbarbäume: OLG Brandenburg, Urt. v. 8.2.2018<br />
– 5 U 109/16, IMR 2018, 473 = NZM 2018, 519; zum Anspruch auf „vorsorglichen“ Rückschnitt einer<br />
Grenzbepflanzung vor der Wachstumsperiode: LG Freiburg, Urt. v. 7.12.2017 – 3 S 171/16, NZM 2018, 249;<br />
zum vorbeugenden Beseitigungsanspruch gegen die Gemeinde als Baumeigentümer wegen Befürchtung<br />
zukünftiger Schäden durch das Wurzelwerk des Baums: VG Ansbach, Urt. v. 29.11.2017 – AN 9 K<br />
16.01056, juris).<br />
Streitig ist, ob Ansprüche auf Kostenersatz bestehen, die für die Beseitigung im Rahmen eines<br />
Selbsthilferechts entstanden sind (dafür: BGH NJW 1973, 703, 705; BGH DWW 1986, 239; dagegen: LG<br />
Hannover NJW-RR 1994, 14; LG Berlin GE 1993, 1039).<br />
§ 910 BGB ist auf einen schräg vom Nachbargrundstück über die Grenze wachsenden Baum nicht<br />
anwendbar. Hier ist ein Beseitigungsanspruch nach § 1004 BGB gegeben, soweit der Baum über die<br />
Grenze reicht und den Nachbar beeinträchtigt.<br />
Sowohl das Selbsthilferecht des gestörten Eigentümers nach § 910 BGB als auch ein Beseitigungsanspruch<br />
gegen den Baumeigentümer nach § 1004 BGB kann öffentlich-rechtlich durch eingreifende<br />
örtliche Baumschutzsatzungen überlagert sein (eingehend HORST DWW 1991, 3<strong>22</strong> ff.).<br />
Die meisten Gemeinden haben Baumschutzsatzungen als Ortsrecht erlassen. Bei Bäumen, Sträuchern<br />
und sonstigen Gehölzen, die nach der Baumschutzsatzung zu erhalten sind, dürfen ohne<br />
Befreiungs- oder Ausnahmegenehmigungen Wurzeln und Zweige nicht abgeschnitten werden, wenn<br />
dies eine Schädigung oder Veränderung des Baums verursacht. Dies gilt erst recht für das Fällen der<br />
Bäume.<br />
Ausnahmegenehmigungen zum Fällen oder Verändern der Bäume können beantragt werden. Sie werden<br />
jedoch in der Praxis nur bei kranken Bäumen erteilt oder wenn von den Bäumen eine konkrete<br />
1188 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht Fach 7, Seite 549<br />
Negative Einwirkungen<br />
Gefahr ausgeht (vgl. OLG Köln, Urt. v. 17. 2. 1997 – 16 U 50/96 [n.v., für die Gefährdung der Standfestigkeit<br />
einer Mauer durch einen Baum]; VGH Hessen RdL 1993, 125 [für Windbruch- und Windwurfgefahr]; OVG<br />
NW Urt. v. 18. 11. 1993 – 10 A 1668/91 [n.v., für die Gefährdung einer Grundstückszufahrt]; VG Arnsberg,<br />
Urt. v. 8. 6. 1993 – 1 K 3994/92 [n.v. für die Gefährdung der Bausubstanz eines Hauses]).<br />
Das Verbot der Baumschutzsatzung ist von allen Beteiligten zu beachten. Werden Ausnahme- und<br />
Befreiungsgenehmigungen nicht erteilt, so kann das Verwaltungsgericht angerufen werden (Verpflichtungsklage;<br />
VGH Mannheim NVwZ 1995, 402).<br />
Auch Entschädigungsansprüche für hinzunehmende Beeinträchtigungen werden in den meisten<br />
Fällen nicht zuerkannt. Ersatzansprüche wegen aufgewendeter Reinigungskosten stehen dem Grundeigentümer<br />
nur zu, wenn der Nachbar seinen Baum eigentlich beseitigen müsste. Umgekehrt hat<br />
der Eigentümer des beeinträchtigten Grundstücks keinen Anspruch auf Wertersatz, wenn er zur<br />
Duldung der Beeinträchtigung verpflichtet ist. Beeinträchtigungen des Grundstücks durch Laubfall,<br />
Blüten- und Samenflug und durch Astabwurf im normalen Ausmaß werden schon nicht als rechtserhebliche<br />
Beeinträchtigungen angesehen und folglich auch nicht als Grundlage einer Ausnahmeoder<br />
Befreiungsgenehmigung nach einer Baumschutzsatzung anerkannt (VG Köln NuR 1992, 442).<br />
bb) Nachbarrechtsgesetze<br />
Schließlich können Vorschriften in den Nachbarrechtsgesetzen einem privatrechtlichen Beseitigungsanspruch<br />
oder Selbsthilferecht entgegenstehen. In diesen Landesgesetzen finden sich spezielle Ausschluss-<br />
und Verjährungsvorschriften für Ansprüche auf Versetzung von grenznahen Bepflanzungen,<br />
verbunden mit einer Duldungspflicht des tatsächlichen Zustands (dazu OLG Köln VersR 1991, 55; LG<br />
Saarbrücken NJW-RR 1991, 406; vgl. die Übersicht bei PALANDT/BASSENGE, BGB, 57. Aufl. 1998, Art. 124<br />
EGBGB Rn 2 f.).<br />
2. Giftige Pflanzen<br />
Der Eigentümer eines Grundstücks, das an eine Kuhweide grenzt, macht sich schadensersatzpflichtig,<br />
wenn er von Eibenhecken abgeschnittene Zweige so an den Weidezaun legt, dass Kühe hiervon fressen<br />
konnten und darauf infolge einer Vergiftung verendet sind (OLG Köln MDR 1990, 439).<br />
In der Nähe von Spielplätzen dürfen keine giftigen Sträucher, wie etwa Goldregen, angepflanzt werden.<br />
Derartige Pflanzungen haben einen Abstand von mindestens 30 Metern zu Kinderspielplätzen einzuhalten<br />
(LG Braunschweig NdsRpfl 1990, 6).<br />
Als Folge der zu grenznah gesetzten giftigen Pflanzen ergeben sich Beseitigungsansprüche und bei<br />
Eintritt von Schäden auch Schadensersatzverpflichtungen.<br />
3. Unkrautsamen<br />
Hier gilt das oben unter II 5 Gesagte (s. <strong>ZAP</strong> <strong>22</strong>/<strong>2019</strong>, S. 1177, 1178).<br />
4. Eindringen fester Stoffe<br />
Unter den Begriff „ähnliche Einwirkungen“ i.S.v. § 906 BGB fällt nicht das Eindringen fester Körper, wie<br />
etwa vom Nachbargrundstück herüberfliegende Bälle, eindringende größere Tiere (zu Katzen s.o. IV 1)<br />
oder Flüssigkeiten (BGH NJW 1993, 1855; VGH Kassel NJW 1993, 3088 [für einen öffentlich-rechtlichen<br />
Abwehranspruch gegen herüberfliegende Fußbälle von einem Sportplatz]). Sie werden als Grobimmissionen<br />
bezeichnet (näher: HERDER, in: PALANDT, a.a.O. § 906 BGB Rn 5).<br />
In besonderen Ausnahmefällen kann eine Korrektur über § 242 BGB geboten sein mit der Folge,<br />
dass Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche entstehen. Dies wurde etwa in einem Fall entschieden,<br />
in dem von einer Eisenbahnbrücke ständig Fäkalien auf das darunterliegende Grundstück<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1189
Fach 7, Seite 550<br />
Negative Einwirkungen<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
herabregneten (OLG Schleswig NJW-RR 1996, 399). Eine unwesentliche oder ortsübliche Beeinträchtigung<br />
durch Zugverkehr an sich ist dagegen nach § 906 BGB nicht abwehrbar (LG Wiesbaden<br />
VersR 1994, 675).<br />
5. Elektromagnetische Strahlung, Funkwellen<br />
Die Frage nach der Gesundheitsgefährdung und damit der Abwehrbarkeit von elektromagnetischen<br />
Strahlungen und Funkwellen kann sich bei Mobilfunksendeanlagen, Oberleitungen, Bahnstromleitungen<br />
und Funkübertragungsstationen mit Antennenträgern stellen. Hinzuweisen ist zunächst auf die<br />
Verordnung über elektromagnetische Felder (26. BImSchV v. 16. 12. 1996, BGBl I 1996, S. 1966), die gem.<br />
§ 906 Abs. 1 S. 2 BGB mit den in ihr festgelegten Grenzwerten für elektromagnetische Strahlungen auch<br />
für die Einordnung etwaiger Beeinträchtigungen als wesentlich i.S.v. § 906 BGB von Bedeutung ist.<br />
Obgleich elektromagnetische Felder die körperliche Unversehrtheit beeinträchtigen können, sollen<br />
bloße Gesundheitsgefährdungen noch nicht anspruchsauslösend sein (BVerfG ZMR 1997, 218, 219 f.). Die<br />
Rechtsprechung beurteilt daher elektromagnetische Strahlungen und Funkwellen als irrelevant für<br />
nachbarrechtliche Ansprüche (BVerfG, a.a.O.; LG München NJW-RR 1997, 465; VGH Kassel BauR 1993,<br />
329 = NJW 1994, 147 = NVwZ 1993, 1119; OVG NW BauR 1994, <strong>22</strong>1 = NVwZ 1993, 115 = ZMR 1993, 485; OVG<br />
Lüneburg NVwZ 1993, 1119).<br />
6. Chemikalien<br />
Rückstände von Unkrautvernichtungsmitteln (BGH, NJW 1984, <strong>22</strong>07; NJW 2006, 3650) sowie Öl oder<br />
Benzin (LG Aachen, NVwZ 1988, 188), z.B. durch wild abfließendes Regenwasser auf das Nachbargrundstück<br />
gelangend, sind als ähnliche Einwirkungen ebenso abwehrbar.<br />
7. Kälte<br />
Aus der neueren Rechtsprechung zu nennen ist eine durch Wärmepumpen erzeugte stärkere Kälte,<br />
mindestens 10°C kälter als die Umgebungstemperatur (OLG Stuttgart, Urt. v. 12.10.2016 – 3 U 60/13,<br />
MDR 2017, 331).<br />
IV. Fazit<br />
Die Übernahme von Mandaten zur Abwehr negativer, ideeller und in Grenzen auch „ähnlicher“<br />
Einwirkungen bedeutet durchaus nicht das Engagement in einem „hoffnungslosen Fall“. Die Kunst<br />
guter juristischer Beratung und Vertretung besteht vielmehr darin – abgesehen von den klassischen<br />
Anspruchsnormen des zivilen Nachbarrechts – gesetzliche Wege einzuschlagen, auf denen das gewünschte<br />
Ergebnis der Abwehr negativer Einwirkungen doch noch erreicht werden kann. Neben dem<br />
Wohnungseigentumsrecht und dem Mietrecht sollte insbesondere hierzu das öffentliche Recht<br />
bemüht werden. Auch wenn in diesen Bereichen mangels Verletzung einer öffentlichen Rechtsnorm<br />
mit nachbarschützender Wirkung ein eigener Rechtsanspruch des Mandanten auf behördliches<br />
Einschreiten nicht bestehen mag, sollte gegenüber der sachlich und örtlich zuständigen Behörde doch<br />
die Verletzung öffentlich-rechtlicher Vorschriften oder zumindest der Eintritt öffentlich-rechtlich<br />
bedeutsamer Gefahrenlagen angezeigt werden. Die jetzt zusätzlich bestehenden Möglichkeiten des<br />
Betroffenen nach dem neuen Datenschutzrecht verleihen diesem Hinweis noch erheblich mehr an<br />
Wucht.<br />
1190 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 19 R, Seite 511<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
Rechtsprechung<br />
Rechtsprechungsübersicht zum öffentlichen Recht – 1. Halbjahr <strong>2019</strong><br />
Von Rechtsanwalt Prof. Dr. BERND ANDRICK, VorsRiVG a.D., Münster<br />
Inhalt<br />
I. Abgabenrecht<br />
1. Haftung für Vergnügungssteuerschuld<br />
2. Antragsbefugnis der Eltern eines in einem<br />
kirchlichen Kindergarten betreuten Kindes<br />
im Normenkontrollverfahren gegen die<br />
kommunale Kindertagesstättengebührensatzung<br />
II. Ausländer- und Asylrecht<br />
1. Abschiebungsanordnung gegen einen<br />
radikal-islamistischen Gefährder<br />
2. Unwirksame Asylantragsrücknahme im<br />
Dublin-Verfahren<br />
III. Bau- und Immissionsrecht<br />
1. Nachbarschutz im faktischen Dorfgebiet<br />
2. Zulässigkeit einer Schank- und Speisewirtschaft<br />
im allgemeinen Wohngebiet<br />
3. Errichtung einer Windenergieanlage und<br />
Rücksichtnahmegebot<br />
4. Anspruch auf Ergreifung von Lärmschutzmaßnahmen<br />
IV. Öffentliches Dienstrecht<br />
1. Anforderungen an die Erstellung von<br />
Probezeitbeurteilungen<br />
2. Untersuchungsanordnung im Zurruhesetzungsverfahren<br />
3. Rückforderung überzahlter Dienst- und<br />
Versorgungsbezüge<br />
V. Personalvertretungsrecht<br />
1. Prüfungspflicht der Verhinderungsgründe<br />
eines Personalratsmitglieds durch den<br />
Personalratsvorsitzenden<br />
2. Mitbestimmung des Personalrats einer<br />
gemeinsamen Einrichtung bei der Eingruppierung<br />
ihr erstmalig zugewiesener<br />
Arbeitnehmer<br />
VI. Prüfungsrecht<br />
VII. Sozialrecht<br />
VIII. Stiftungsrecht<br />
IX. Straßenverkehrsrecht<br />
X. Vertriebenenrecht<br />
XI. Waffen- und Jagdrecht<br />
1. Widerruf der Waffenbesitzkarte wegen<br />
Mitgliedschaft und Funktionswahrnehmung<br />
in einer verfassungswidrigen Partei<br />
2. Verlängerung eines Jagdscheins und Wiederholungsgefahr<br />
I. Abgabenrecht<br />
1. Haftung für Vergnügungssteuerschuld<br />
Wird ein Vergnügungssteuerschuldner (hier: Automatenaufsteller) für die Vergnügungssteuer in Anspruch<br />
genommen, zahlt dieser sie aber nicht, stellt sich die Frage, ob nunmehr derjenige, der die Geräte<br />
(hier: Geldspielgeräte) entwickelt, herstellt und vertreibt, haftungsrechtlich für Vergnügungssteuerschulden<br />
des Steuerpflichtigen in Anspruch genommen werden kann. Ausgangspunkt für die Beantwortung<br />
der Frage ist regelmäßig eine zu fordernde Satzungsvorschrift, wonach der Eigentümer der<br />
Spielautomaten neben dem Aufsteller als Gesamtschuldner haftet.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1191
Fach 19 R, Seite 512<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
Rechtsprechung<br />
Das BVerwG hat in seinem Urt. v. 23.1.<strong>2019</strong> (9 C 1.18, NVwZ <strong>2019</strong>, 731 ff. = GewArch <strong>2019</strong>, 237 ff. = ZfWG<br />
<strong>2019</strong>, 255 ff. = Städte- und Gemeinderat <strong>2019</strong>, Nr. 9, 38) dargelegt, dass die Bestimmung des Haftungsschuldners<br />
in der Vergnügungssteuersatzung nicht gegen das rechtsstaatliche Prinzip vom<br />
Vorbehalt des Gesetzes verstoße. Haftungsregelungen im Bereich der kommunalen Aufwandsteuern<br />
(Art. 105 Abs. 2a GG, z.B. § 9 Abs. 4 KAG BW) bedürften keiner abschließenden Entscheidung durch den<br />
parlamentarischen Gesetzgeber. Erforderlich, aber auch ausreichend, sei vielmehr eine gesetzliche<br />
Ermächtigung, die sich – zumindest auch – hierauf erstrecke (vgl. DRIEHAUS, Abgabensatzungen, 2. Aufl.<br />
2017, § 9 Rn 24; OEBBECKE in CHRIST/OEBBECKE, Handbuch Kommunalabgabenrecht, 2016, Kap. B Rn 42; a.<br />
A. OVG Münster NVwZ 1999, 318, 319).<br />
Allerdings betont das BVerwG, dass eine Haftungsnorm sich an dem durch Art. 3 Abs. 1 GG verbürgten<br />
Grundsatz der Lastengleichheit messen lassen müsse. Die Steuerpflichtigen, also Steuer- wie Haftungsschuldner,<br />
müssten durch die steuerliche Norm rechtlich und tatsächlich gleichmäßig belastet<br />
werden. Der dem Normgeber dabei eröffnete, prinzipiell weit reichende Entscheidungsspielraum sei<br />
begrenzt durch das Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung (st. Rspr. vgl. nur BVerfGE 138, 136 Rn 123 und<br />
NJW 2018, 1451 Rn 96, jeweils m.w.N.). Eine Haftung für die Steuerschuld eines anderen dürfe nur<br />
angeordnet werden, soweit ein hinreichender Sachgrund für die Einstandspflicht vorliege.<br />
Einen derartigen Sachgrund erblickt das BVerwG darin, dass die haftbar gemachte Person in einer besonderen<br />
rechtlichen oder wirtschaftlichen Beziehung zum Steuergegenstand steht oder einen maßgebenden<br />
Beitrag zur Verwirklichung des steuerbegründenden Tatbestands leistet. Steuergegenstand der<br />
Vergnügungssteuer als einer indirekten Steuer (vgl. BVerwGE 153, 116 Rn 11) sei der Vergnügungsaufwand<br />
der Nutzer der Spielgeräte, während der steuerbegründende Tatbestand in dem Bereitstellen<br />
der Spielgeräte zur Benutzung durch die Öffentlichkeit liege. Um einen Wertungswiderspruch zwischen<br />
den beiden Anknüpfungsmerkmalen und damit eine potenziell zu weit gehende Haftungsinanspruchnahme<br />
zu vermeiden, werde einen „maßgebenden“ Beitrag zur Verwirklichung des Steuertatbestands<br />
regelmäßig nur derjenige leisten können, der zu dem die Steuerpflicht auslösenden Sachverhalt selbst in<br />
einer besonderen rechtlichen oder wirtschaftlichen Beziehung stehe. Wer lediglich dem Steuerschuldner<br />
die Möglichkeit zur Erfüllung des Steuertatbestands verschaffe, trage dazu nicht maßgebend bei.<br />
Der Eigentümer der (Spiel-)Geräte stehe jedoch regelmäßig dann in einer engen, seine satzungsrechtliche<br />
Haftungsinanspruchnahme rechtfertigenden Beziehung zum Gegenstand und Tatbestand<br />
der Vergnügungssteuer, wenn er die Geräte auf der Grundlage eines schuldrechtlichen Vertrags dem<br />
Aufsteller zur gewerblichen Nutzung überlasse.<br />
Hinweis:<br />
Es kommt nicht darauf an, ob die Vergnügungssteuersatzung die Eigentümerhaftung gerade um solcher<br />
Fälle willen vorsehen will. Denn die gerichtliche Überprüfung satzungsrechtlicher Abgabenregelungen<br />
beschränkt sich grds. auf eine Ergebniskontrolle (vgl. nur BVerwGE 153, 116 Rn 13 m.w.N.).<br />
2. Antragsbefugnis der Eltern eines in einem kirchlichen Kindergarten betreuten Kindes im<br />
Normenkontrollverfahren gegen die kommunale Kindertagesstättengebührensatzung<br />
Bei Eltern, die mit den Gebühren für die Inanspruchnahme einer Kindertagesstätte nicht einverstanden<br />
sind, kann sich die Frage stellen, ob sie als Antragsteller wegen eines in der Kindertagesstätte eines<br />
Trägers der freien Jugendhilfe betreuten Kindes im Normenkontrollverfahren gegen die kommunale<br />
Kindertagesstättengebührensatzung antragsbefugt sind.<br />
Nach § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO kann den Antrag auf Entscheidung über die Gültigkeit einer untergesetzlichen<br />
Rechtsvorschrift jede natürliche Person stellen, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift<br />
oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu<br />
werden. An die Geltendmachung einer Rechtsverletzung nach § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO sind keine höheren<br />
Anforderungen zu stellen als nach § 42 Abs. 2 VwGO. Deshalb genügt es, wenn ein Antragsteller hin-<br />
1192 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 19 R, Seite 513<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
reichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er<br />
durch den zur Prüfung gestellten Rechtssatz in einem eigenen subjektiven Recht verletzt wird (st. Rspr.,<br />
vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 9.1.2018 – 4 BN 33.17, juris Rn 4 m.w.N.). Bei Anträgen von Personen, die<br />
nicht Normadressaten sind, ist das der Fall, wenn die Belange Dritter in einer von den Interessen der<br />
Allgemeinheit abgehobenen Weise in den Schutzbereich der angegriffenen Norm einbezogen sind und<br />
daraus auf ein subjektives Recht dieser Personen auf Berücksichtigung bei der Normgebung zu<br />
schließen ist (vgl. BVerwG Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 189 Rn 5 m.w.N.).<br />
Das BVerwG hat in seinem Urt. v. 28.3.<strong>2019</strong> (5 CN 1.18) die Antragsbefugnis der Antragsteller bejaht. Es<br />
ist davon ausgegangen, dass die antragstellenden Eltern – anders als die Eltern bzw. Sorgeberechtigten,<br />
deren Kind in einer der gemeindlichen Kindertagesstätten untergebracht sei – nicht zu dem<br />
unmittelbaren Adressatenkreis der satzungsgemäßen Rechtsvorschrift gehörten, sondern durch die<br />
satzungsrechtliche Regelung über die Gebührenhöhe mittelbar betroffen würden, da diese ihnen<br />
gegenüber vermittels des zwischen ihnen und dem Kindertagesstättenverband geschlossenen Betreuungsvertrags<br />
in rechtserheblicher Weise Wirkung entfalte. Die in einem solchen Fall für die Annahme<br />
der Antragsbefugnis erforderlichen Voraussetzungen seien erfüllt. Denn die Antragsteller seien<br />
hier als Dritte in den Schutz- bzw. Anwendungsbereich der angegriffenen Satzung einbezogen.<br />
Hieraus folge, dass ihnen ein subjektiv-öffentliches Recht auf Berücksichtigung ihrer Belange bei dem<br />
Erlass dieser Satzungsregelung zustehe.<br />
II.<br />
Ausländer- und Asylrecht<br />
1. Abschiebungsanordnung gegen einen radikal-islamistischen Gefährder<br />
Die Anordnung der Abschiebung eines Gefährders basiert nicht selten auf der behördlichen Argumentation,<br />
das Ausmaß der Radikalisierung des Betroffenen lasse es als hinreichend wahrscheinlich erscheinen,<br />
dass er seiner Überzeugung Taten folgen lassen und im Einklang mit dieser Überzeugung zu<br />
jihadistischen, mithin terroristischen Maßnahmen auch im Bundesgebiet greifen werde. Die Unterweisung<br />
in einem Ausbildungslager etwa im Umgang mit Schusswaffen oder Sprengvorrichtungen lasse für<br />
den Fall einer Rückkehr eine massive Bedrohungslage für die innere Sicherheit besorgen.<br />
Die Abschiebungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 58a Abs. 1 S. 1 AufenthG. Danach kann die<br />
oberste Landesbehörde gegen einen Ausländer aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur<br />
Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer<br />
terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen.<br />
Das BVerwG hebt in seinem Urt. v. 6.2.<strong>2019</strong> (1 A 3.18, InfAuslR <strong>2019</strong>, <strong>22</strong>4 ff. = NVwZ-RR <strong>2019</strong>, 738 ff.)<br />
hervor, dass der Begriff der „terroristischen Gefahr“ an die neuartigen Bedrohungen anknüpfe, die sich<br />
nach dem 11.9.2001 herausgebildet, in den letzten Jahren zugenommen und sich seither rasch gewandelt<br />
hätten.<br />
Das BVerwG betont, dass die Annahme einer terroristischen Gefahr eine unmittelbare räumliche<br />
Beziehung zwischen den terroristischen Aktivitäten und der Bundesrepublik Deutschland nicht<br />
voraussetze (so auch BAUER/DOLLINGER in BERGMANN/DIENELT, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 58a AufenthG<br />
Rn 23; a.A. FUNKE-KAISER in FRITZ/VORMEIER (Hrsg.), Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz,<br />
Stand Januar <strong>2019</strong>, § 58a AufenthG Rn 19). Terroristische Bedrohungen gefährdeten die Sicherheitsinteressen<br />
der Staatengemeinschaft und nicht allein desjenigen Staats, in dessen Gebiet sie nach dem<br />
Willen der terroristischen Kämpfer Platz greifen sollen.<br />
Hinweis:<br />
Die für § 58a AufenthG erforderliche besondere Gefahrenlage muss sich aufgrund einer auf Tatsachen<br />
gestützten Prognose ergeben. Aus Sinn und Zweck der Regelung ergibt sich, dass die Bedrohungssituation<br />
unmittelbar von dem Ausländer ausgehen muss, in dessen Freiheitsrechte sie eingreift.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1193
Fach 19 R, Seite 514<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
Rechtsprechung<br />
Das BVerwG fordert für eine entsprechende „Gefahrenprognose“ –wie bei jeder Prognose – zunächst<br />
eine hinreichend zuverlässige Tatsachengrundlage. Diese könne sich aus Umständen ergeben, denen<br />
(noch) keine strafrechtliche Relevanz zukomme, etwa wenn ein Ausländer fest entschlossen sei, in<br />
Deutschland einen mit niedrigem Vorbereitungsaufwand möglichen schweren Anschlag zu verüben,<br />
auch wenn er noch nicht mit konkreten Vorbereitungs- oder Ausführungshandlungen begonnen habe<br />
und die näheren Tatumstände nach Ort, Zeitpunkt, Tatmittel und Angriffsziel noch nicht feststünden.<br />
Eine hinreichende Bedrohungssituation könne sich aber auch aus anderen Umständen ergeben. Als ein<br />
derartiger Umstand sei die vollendete oder versuchte Ausreise einer salafistisch radikalisierten Person<br />
anzusehen, die mit dem Ziel erfolge, an dem militärischen oder terroristischen „Kampf zur Verteidigung des<br />
Islams“ teilzunehmen und/oder sich für terroristische Zwecke ausbilden zu lassen, um sodann als<br />
„Märtyrer“ ins Paradies einzuziehen. Sei eine solche Reise für diese oder andere terroristische Zwecke<br />
bestimmt, so sei es für die Annahme jedenfalls einer terroristischen Gefahr grds. unerheblich, dass diese<br />
Person noch keine konkreten Vorstellungen von dem Ort der Begehung terroristischer Straftaten<br />
entwickelt habe.<br />
Hinweis:<br />
In jedem Fall bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Ausländers, seines bisherigen<br />
Verhaltens, seiner nach außen erkennbaren oder geäußerten inneren Einstellung, seiner Verbindungen zu<br />
anderen Personen und Gruppierungen, von denen eine terroristische Gefahr und/oder eine Gefahr für die<br />
innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, sowie sonstiger Umstände, die geeignet sind,<br />
den Ausländer in seinem gefahrträchtigen Denken oder Handeln zu belassen oder zu bekräftigen.<br />
2. Unwirksame Asylantragsrücknahme im Dublin-Verfahren<br />
Lehnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag wegen anderweitiger internationaler<br />
Zuständigkeit (z.B. Asylantragstellung zuvor in Österreich) als unzulässig ab und ordnet die<br />
Abschiebung in das Land der ersten Asylantragstellung an, erhebt der Antragsteller dagegen Klage und<br />
nimmt diese anschließend zurück und beschränkt den Asylantrag auf die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote,<br />
stellt sich die Frage, ob die Entscheidungen des Bundesamts rechtmäßig sind.<br />
Das BVerwG hat in seinem Urt. v. 26.2.<strong>2019</strong> (1 C 30.17, InfAuslR <strong>2019</strong>, 248 ff.) dargelegt, dass in dem Fall, in<br />
dem ein Asylbewerber seinen Antrag auf internationalen Schutz unter Aufrechterhaltung eines Antrags<br />
auf Feststellung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG zurückgenommen<br />
habe, die Wirksamkeit der Rücknahme die Darlegung voraussetze, dass das aufrechterhaltene<br />
Abschiebungsschutzbegehren nicht auf Gründe gestützt werde, die dem internationalen Schutz<br />
(Flüchtlingsschutz und subsidiärer Schutz) unterfielen. Die Wirksamkeit einer Asylantragsrücknahme<br />
setze hiervon ausgehend jedenfalls dann die plausible Darlegung voraus, dass keine Schutzgründe<br />
(mehr) geltend gemacht werden sollten, die thematisch vom internationalen Schutz umfasst seien,<br />
wenn ein Antragsteller zunächst ohne Einschränkung auf bestimmte Schutzgründe um internationalen<br />
Schutz nachgesucht habe und er sich auch nach der Rücknahme auf nationale Abschiebungsverbote<br />
berufe. Das gelte auch dann, wenn er im Zeitpunkt der Rücknahme zur Begründung seines Asylantrags<br />
noch nichts vorgetragen habe. Mit der förmlichen Stellung eines Asylantrags gem. § 14 AsylG erkläre<br />
ein Antragsteller sinngemäß, dass er solche Schutzgründe geltend machen wolle. An dieser Erklärung<br />
müsse er sich in Ermangelung weiterer Angaben bis auf Weiteres festhalten lassen. Eine wirksame<br />
Rücknahme setze dann die nachvollziehbare Darlegung voraus, dass und warum diese Einordnung<br />
seines Schutzbegehrens unzutreffend gewesen sei oder sich die Schutzgründe nachträglich dergestalt<br />
verändert hätten, dass sie nunmehr eindeutig nur unter den nationalen Abschiebungsschutz fallen<br />
könnten.<br />
Hinweis:<br />
Über die Wirksamkeit der Rücknahme eines Asylantrags befindet für die Zwecke des Dublin-Verfahrens<br />
der Mitgliedstaat, der dieses Verfahren durchführt, nach seinem nationalen Recht.<br />
1194 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 19 R, Seite 515<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
III.<br />
Bau- und Immissionsrecht<br />
1. Nachbarschutz im faktischen Dorfgebiet<br />
Das BVerwG hat die Frage zu beantworten gehabt, ob bei der Prüfung nach § 34 Abs. 2 BauGB die<br />
Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete nach der Baunutzungsverordnung entspricht<br />
und ein bereits verwirklichtes Vorhaben nicht zu berücksichtigen ist, das selbst Gegenstand der bauplanungsrechtlichen<br />
Beurteilung ist. Ausgangspunkt ist die Klage eines Nachbarn gegen eine Baugenehmigung<br />
für die Erweiterung eines Fuhrunternehmens. Ursprünglich war eine Baugenehmigung für die<br />
Errichtung einer Garage für zwei Lastkraftwagen (Lkw) erteilt worden, der Betrieb wurde in den Folgejahren<br />
ausgebaut, das Unternehmen verfügte über zehn Lkw, jeweils zwei wurden auf dem Betriebsgrundstück<br />
abgestellt, nunmehr wurde eine Baugenehmigung für den Umbau des Firmengeländes und<br />
den Neubau einer Lager- und Logistikhalle als Zwischenlager beantragt.<br />
Nach dem Urteil des BVerwG vom 6.6.<strong>2019</strong> (4 C 10.18) ist ein bereits verwirklichtes Vorhaben nicht zu<br />
berücksichtigen, das selbst Gegenstand der bauplanungsrechtlichen Beurteilung ist. Der Wortlaut des<br />
§ 34 Abs. 1 und 2 BauGB unterscheide zwischen dem Vorhaben und der näheren Umgebung. Das<br />
Vorhaben sei nicht Teil seiner näheren Umgebung, sondern müsse sich in diese einfügen. Ungenehmigte<br />
Anlagen und Nutzungen mögen daher zwar für andere Vorhaben Teil der näheren Umgebung sein, sie<br />
seien aber selbst nicht zugleich Vorhaben und Umgebung. Bei der Ermittlung des Gebietscharakters sei<br />
ein Bauvorhaben daher unbeachtlich, das als Gegenstand der Prüfung nicht zugleich Prüfungsmaßstab<br />
sein könne.<br />
2. Zulässigkeit einer Schank- und Speisewirtschaft im allgemeinen Wohngebiet<br />
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Genehmigung des Umbaus und die Restaurierung einer Schankund<br />
Speisewirtschaft. Die Genehmigung erlaubt im Erdgeschoss eine Gaststätte im Brauhaus-Stil mit<br />
insgesamt 74 Plätzen in einer „Schwemme“ und einem Vereinszimmer, in dem mit einem Durchgang<br />
verbundenen Gebäude (…) ein Speiselokal mit 246 Sitzplätzen ist.<br />
Nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO sind im allgemeinen Wohngebiet die der Versorgung des Gebiets<br />
dienenden Schank- und Speisewirtschaften zulässig. Eine Schank- und Speisewirtschaft dient der<br />
Versorgung des Gebiets, wenn sie sich dem allgemeinen Wohngebiet, in dem sie liegt, funktional<br />
zuordnen lässt (BVerwG Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 7 S. 6). Die Schank- und Speisewirtschaft<br />
muss auf die Deckung eines gastronomischen Bedarfs ausgerichtet sein, der in dem so abgegrenzten<br />
Gebiet und nach den dortigen demographischen und sozialen Gegebenheiten tatsächlich zu erwarten<br />
ist (BVerwG Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 13 S. 10 ff.). Dabei können auch regionale Unterschiede<br />
von Bedeutung sein (BVerwG Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 14 S. 16). Ist die Schank- und<br />
Speisewirtschaft auf gebietsfremde Gäste ausgerichtet, so ist sie in einem allgemeinen Wohngebiet<br />
gebietsunverträglich und damit unzulässig (so BVerwG Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 13 S. 10). Das<br />
Erfordernis der Gebietsversorgung verhindert so, dass Unruhe in das allgemeine Wohngebiet hineingetragen<br />
wird.<br />
Das BVerwG stellt in seinem Urt. v. 20.3.<strong>2019</strong> (4 C 5.18, BauR <strong>2019</strong>, 1283 ff. = NWVBl <strong>2019</strong>, 320 f. = ZfBR<br />
<strong>2019</strong>, 577 ff.) heraus, dass das Tatbestandsmerkmal der Gebietsversorgung nicht nur Störungen abwehre,<br />
sondern zugleich zum Zweck eines allgemeinen Wohngebiets beitrage. Ein solches Gebiet<br />
diene nach § 4 Abs. 1 BauNVO vorwiegend dem Wohnen. Die Nutzungen nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 und 3<br />
BauNVO seien der Wohnnutzung zugeordnet, damit im Wohngebiet selbst eine Versorgungsinfrastruktur<br />
bereitgestellt werden könne, mit der sich die Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigen<br />
lasse. Zu diesen Grundbedürfnissen gehöre die Möglichkeit, in fußläufiger Entfernung eine Schankoder<br />
Speisewirtschaft aufzusuchen. Die Zulassung von gebietsversorgenden Schank- und Speisewirtschaften<br />
in § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO diene damit dem in § 1 Abs. 6 Nr. 2 BauGB formulierten<br />
Grundsatz, dass die Bauleitplanung den Wohnbedürfnissen der Bevölkerung entsprechen solle. Sie<br />
greife darüber hinaus den in § 1 Abs. 6 Nr. 8 Buchst. a BauGB genannten Gesichtspunkt der verbrauchernahen<br />
Versorgung der Bevölkerung auf.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1195
Fach 19 R, Seite 516<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
Rechtsprechung<br />
Betriebe, die ein Gebiet versorgen, können die in einem allgemeinen Wohngebiet angestrebte Wohnruhe<br />
stören. Solche Störungen nimmt die BauNVO bei Handwerksbetrieben nicht hin, die nur als nicht<br />
störende nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO 1977 zulässig sind (VGH Mannheim BRS 56 Nr. 54). Anders liegt<br />
es bei gebietsversorgenden Schank- und Speisewirtschaften. Im Interesse der genannten Belange und<br />
damit aus Gründen überlegter Städtebaupolitik nimmt die Baunutzungsverordnung die Störungen in<br />
Kauf, die Gaststätten in einem Wohngebiet regelmäßig schon deshalb hervorrufen, weil sie auch zu<br />
Zeiten betrieben werden, zu denen dem Ruhebedürfnis der Nachbarschaft besonderes Gewicht zukommt<br />
(BVerwG Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 13 S. 9; ähnlich BVerwG Buchholz 406.12 § 4 BauNVO<br />
Nr. 14 S. 16 und BVerwGE 116, 155, 159).<br />
Hinweis:<br />
Die der Gebietsversorgung dienende Schank- und Speisewirtschaft bestimmt die Baunutzungsverordnung<br />
dagegen tatbestandlich eher eng, erklärt sie in Kleinsiedlungsgebieten (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO) und<br />
allgemeinen Wohngebieten (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO) für allgemein zulässig und ordnet sie diesen<br />
Gebieten funktional zu. Die von ihnen bei typisierender Betrachtung ausgehenden Störungen hält der<br />
Verordnungsgeber für gebietsverträglich.<br />
3. Errichtung einer Windenergieanlage und Rücksichtnahmegebot<br />
Die Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für eine Windenergieanlage kann die<br />
Befürchtung des Nachbarn erhärten, dass die neue Windenergieanlage zu einer Beeinträchtigung<br />
seiner in der Nähe stehenden Windenergieanlage führt. Hierzu hat das BVerwG in seinem Urt. v.<br />
13.3.<strong>2019</strong> (4 B 39.18, ZNER <strong>2019</strong>, <strong>22</strong>3 ff. = BauR <strong>2019</strong>, 1294 ff. = ZfBR <strong>2019</strong>, 579 ff. = UPR <strong>2019</strong>, 313 ff. =<br />
REE <strong>2019</strong>, 96 ff. = AUR <strong>2019</strong>, 344 f.) die mögliche Abschattungswirkung einer Windenergieanlage<br />
(„Windklau“) amöffentlichen Belang des Gebots der Rücksichtnahme nach § 35 Abs. 3 S. 1 BauGB<br />
gemessen. Dieser Belang erstrecke sich über die gesetzliche Ausprägung in § 35 Abs. 3 S.1 Nr. 3 BauGB<br />
hinaus auf Auswirkungen eines Vorhabens, die keine schädlichen Umwelteinwirkungen seien (ebenso<br />
für das Zivilrecht ROTH in STAUDINGER, BGB, 2016, § 906 BGB Rn 127 f.). Es sei daher nicht von vornherein<br />
ausgeschlossen, dass sich die Errichtung einer Windenergieanlage wegen der von ihr bewirkten<br />
Abschattungswirkung als rücksichtslos gegenüber einer Bestandsanlage erweise (a.A. OVG Münster<br />
BRS 63 Nr. 150; VG Leipzig NVwZ 2008, 346, 347; HINSCH in SCHULZ (Hrsg.), Handbuch Windenergie,<br />
2015, Kap. 3 Rn 148).<br />
Das BVerwG verweist auf die jeweiligen Umstände, die die Anforderungen des Gebots der Rücksichtnahme<br />
begründen. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen sei, dem die Rücksichtnahme<br />
im gegebenen Zusammenhang zugutekomme, umso mehr könne er an Rücksichtnahme<br />
verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen seien,<br />
umso weniger brauche derjenige, der das Vorhaben verwirklichen wolle, Rücksicht zu nehmen.<br />
Hinweis:<br />
Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalls wesentlich auf eine Abwägung<br />
zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem<br />
Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (st. Rspr., BVerwGE 52, 1<strong>22</strong>, 126<br />
und Buchholz 406.11 § 35 BauGB Nr. 366 S. 139 f.).<br />
4. Anspruch auf Ergreifung von Lärmschutzmaßnahmen<br />
Eine Wohnlage kann dadurch beeinträchtigt werden, dass durch staatliche Genehmigung etwa für<br />
den Bau lärmverursachender Anlagen oder durch zunehmenden Straßenlärm die Immissionswerte<br />
deutlich gesteigert werden. Das veranlasst Betroffene, von den zuständigen staatlichen Stellen zu<br />
verlangen, verkehrsberuhigende Maßnahmen zu ergreifen. Eine hierauf bezogene Klage bleibt jedoch<br />
erfolglos, weil nach dem Beschluss des BVerwG vom 7.1.<strong>2019</strong> (7 B 16.18) weder aus der<br />
1196 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 19 R, Seite 517<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
Umgebungslärmrichtlinie unmittelbar noch aus den Vorschriften der §§ 47a ff. BImSchG subjektive<br />
Ansprüche auf Bekämpfung und Vermeidung des Umgebungslärms zu entnehmen sind.<br />
IV.<br />
Öffentliches Dienstrecht<br />
1. Anforderungen an die Erstellung von Probezeitbeurteilungen<br />
Das Beamtenverhältnis ist regelmäßig ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis auf Lebenszeit. Der<br />
Beamte ist im Lebenszeitbeamtenverhältnis als Regelbeamtenverhältnis „unkündbar“ und kann aus<br />
dem aktiven Dienst – abgesehen vom eigenen Antrag – nur ausscheiden, wenn er auf disziplinarischem<br />
Weg aus dem Dienst entfernt oder vorzeitig zur Ruhe gesetzt wird. Vor diesem Hintergrund kommt der<br />
dem Lebenszeitbeamtenverhältnis vorgeschalteten regelmäßig dreijährigen Probezeit erhebliche Bedeutung<br />
zu. Ergebnis der Probezeit muss sein, dass sich der Beamte für das Lebenszeitbeamtenverhältnis<br />
bewährt hat. Zur Feststellung der Bewährung sind Eignung, Befähigung und fachliche Leistung spätestens<br />
nach der Hälfte der Probezeit erstmals und vor Ablauf der Probezeit mindestens ein zweites Mal<br />
zu beurteilen (§ 28 Abs. 4 BLV).<br />
Kommt es nunmehr vor, dass der Beamte zur Hälfte seiner Probezeit nicht beurteilt worden ist – etwa<br />
weil die Probezeit auf ein Jahr verkürzt worden ist –, folgt aus dem Unterbleiben der dann erforderlichen<br />
dienstlichen Beurteilung für diesen Zeitpunkt nach dem Urteil des BVerwG vom 7.5.<strong>2019</strong><br />
(2 A 15.17, IÖD <strong>2019</strong>, 194 ff.) aber nicht die Rechtswidrigkeit der nachfolgend erstellten dienstlichen<br />
Beurteilungen. Dienstliche Beurteilungen sollten Eignung, Leistung und Befähigung des Beamten objektiv<br />
darstellen. So wie ein im Beurteilungszeitraum unterbliebenes Personalgespräch über aus der Sicht<br />
des Vorgesetzten bestehende Defizite des Beamten der Erstellung einer dienstlichen Beurteilung für<br />
den Beamten nicht entgegenstehe, so hindere auch eine rechtsfehlerhaft unterbliebene dienstliche<br />
Beurteilung nicht die Erstellung einer späteren dienstlichen Beurteilung. Wegen der Nichtnachholbarkeit<br />
einer solchen dienstlichen Beurteilung – der Sinn und Zweck einer „Halbzeit-Beurteilung“ könne<br />
rückwirkend nicht mehr erreicht werden – wären im Übrigen andernfalls nachfolgende rechtmäßige<br />
dienstliche Beurteilungen gar nicht mehr möglich. Rechtsfolge des rechtsfehlerfreien Unterbleibens<br />
einer „Halbzeit-Beurteilung“ könne deshalb allenfalls eine Verlängerung der Probezeit sein.<br />
Weiterhin hat sich das BVerwG mit der Frage befasst, inwieweit die dienstliche Beurteilung vor Ablauf<br />
des Beurteilungszeitraums erstellt werden dürfe. Dass nach § 28 Abs. 4 S. 1 BLV der Beamte „vor Ablauf<br />
der Probezeit“ zu beurteilen sei, erfordere und rechtfertige die Einleitung und Durchführung des<br />
Beurteilungsverfahrens vor Ablauf der Probezeit und damit auch vor dem Ende des – mit der Probezeit<br />
endenden – Beurteilungszeitraums. Auch bei der Beurteilung von Lebenszeitbeamten sei es nicht ausgeschlossen,<br />
eine dienstliche Beurteilung schon vor dem Ablauf des Beurteilungszeitraums zu erstellen.<br />
Allerdings dürften die Erstellung der dienstlichen Beurteilung und das Ende des Beurteilungszeitraums<br />
nur soweit auseinanderfallen, wie es der Zweck der termingerechten Erstellung einer dienstlichen<br />
Beurteilung erfordere. Denn Zweck der dienstlichen Beurteilung sei die Erstellung eines (Leistungs-)Bilds<br />
für den gesamten Beurteilungszeitraum, nicht lediglich für einen Teil desselben. Eine zeitliche Differenz<br />
zwischen Erstellung der dienstlichen Beurteilung und Ende des Beurteilungszeitraums sei deshalb stets<br />
unproblematisch, wenn das Erstellungsdatum nachfolge. Gehe es dem Ende des Beurteilungszeitraums<br />
voraus, sei dies nicht uneingeschränkt zulässig.<br />
Hinweis:<br />
Sind bei einem zwölfmonatigen Beurteilungszeitraum drei Monate außer Betracht geblieben, ist die<br />
dienstliche Beurteilung rechtswidrig. Die Probezeit würde so faktisch von zwölf auf neun Monate verkürzt.<br />
Die Entscheidung darüber, ob ein Beamter auf Probe sich nach Eignung, Befähigung und fachlicher<br />
Leistung bewährt hat, d.h. ob er in der Probezeit gezeigt hat, dass er nach seiner ganzen Persönlichkeit<br />
voraussichtlich allen an ihn künftig vom Dienstherrn zu stellenden Anforderungen des angestrebten<br />
(Eingangs-)Amts (Statusamts) seiner Laufbahn gewachsen ist, also die Entscheidung darüber, ob die<br />
Berufung des Probebeamten in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit gegenüber der Allgemeinheit<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1197
Fach 19 R, Seite 518<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
Rechtsprechung<br />
verantwortet werden kann, ist nach dem BVerwG ein persönlichkeitsbedingtes Werturteil. Ein solches<br />
Werturteil solle sachverständig und zuverlässig nur der Dienstherr durch seinen in Personalsachen<br />
entscheidenden Vertreter aufgrund seines Gesamturteils und der Beurteilungen der mit der Erprobung<br />
beauftragten Beamten abgeben. Dabei genügten bereits begründete ernsthafte Zweifel des Dienstherrn,<br />
ob der Beamte die Eignung und Befähigung besitze und die fachlichen Leistungen erbringe, die für<br />
die Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit notwendig seien, um eine Bewährung zu verneinen. Diese<br />
Entscheidung sei gerichtlich nur daraufhin überprüfbar, ob der Begriff der mangelnden Bewährung und<br />
die gesetzlichen Grenzen des Beurteilungsspielraums verkannt worden seien, ob der Beurteilung ein<br />
unrichtiger Sachverhalt zugrunde liege und ob allgemeine Wertmaßstäbe beachtet oder sachfremde<br />
Erwägungen vermieden worden seien.<br />
2. Untersuchungsanordnung im Zurruhesetzungsverfahren<br />
In der beamtenbezogenen Praxis des öffentlichen Dienstes kommt es immer wieder zu nicht geringen<br />
Fehlzeiten einzelner Beamter. Hierauf reagiert der Dienstherr vielfach mit der Aufforderung gegenüber<br />
dem Beamten, sich amtsärztlich auf die Dienstfähigkeit untersuchen zu lassen. Nicht selten bedarf es<br />
dabei der Zusatzbegutachtung durch einen Facharzt, die von der Untersuchungsanordnung mitumfasst<br />
wird. Dabei wird durchaus von dem Beamten eingewandt, die amtsärztliche Untersuchung stelle einen<br />
Eingriff in das grundrechtlich geschützte Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG dar.<br />
Es wird häufig um vorläufigen Rechtschutz mit dem Ziel der Freistellung von der amtsärztlichen<br />
Untersuchung nachgesucht.<br />
Das BVerwG sieht in seinem Beschl. v. 14.3.<strong>2019</strong> (2 VR 5/18, IÖD <strong>2019</strong>, 1<strong>22</strong> ff. = DRiZ <strong>2019</strong>, 314 f.) – anders<br />
als bisher – den vorläufigen Rechtsschutzantrag gem. § 44a VwGO als unzulässig an. Eine Untersuchungsanordnung<br />
sei eine behördliche Verfahrenshandlung i.S.d. § 44a S. 1 VwGO. Behördliche Verfahrenshandlungen<br />
i.S.d. § 44a S. 1 VwGO seien – ungeachtet dessen, ob sie Verwaltungsakt-Charakter<br />
hätten oder nicht – behördliche Handlungen, die im Zusammenhang mit einem schon begonnenen<br />
und noch nicht abgeschlossenen Verwaltungsverfahren stünden und der Vorbereitung einer regelnden<br />
Sachentscheidung dienten. Eine Untersuchungsanordnung sei als gemischt dienstlich-persönliche Weisung<br />
mangels unmittelbarer Außenwirkung kein Verwaltungsakt, sondern ein Realakt. Die Untersuchung<br />
diene der Ermittlung der medizinischen Daten, die nötig seien, um festzustellen, ob der Beamte<br />
dienstunfähig sei.<br />
Hinweis:<br />
Die Aufforderung zur Untersuchung ist somit lediglich ein erster Schritt in einem gestuften Verfahren, das<br />
bei Feststellung der Dienstunfähigkeit mit der Zurruhesetzung endet.<br />
Ein Ausnahmefall, in dem nach § 44a S. 2 VwGO ein isolierter Rechtsbehelf gegen eine behördliche<br />
Verfahrenshandlung statthaft sei, sei nicht gegeben. Hinreichender effektiver Rechtsschutz nach<br />
Art. 19 Abs. 4 GG sei gewährleistet, da dem Beamten Rechtsschutz gegen eine Zurruhesetzungsverfügung<br />
zustehe, sowohl Hauptsacherechtsschutz als auch – wenn die Zurruhesetzungsverfügung<br />
sofort vollziehbar sei – vorläufiger Rechtsschutz. Erweise sich hierbei die Untersuchungsanordnung<br />
als rechtswidrig, sei es auch die Zurruhesetzungsverfügung. An der Nichtbefolgung einer rechtmäßigen<br />
Untersuchungsanordnung hingegen habe der Beamte kein schützenswertes Interesse und er<br />
bedürfe insoweit auch keines isolierten Rechtsschutzes. Zwar habe der Beamte das „Prognoserisiko“:<br />
Wenn er zu Unrecht die Rechtswidrigkeit der Untersuchungsanordnung annehme, drohe ihm wegen<br />
des Rechtsgedankens des § 444 ZPO oder wegen einer landesgesetzlichen Regelung die Klage- bzw.<br />
Antragsabweisung bezüglich der Zurruhesetzungsverfügung, aber dieses Risiko sei für ihn nicht unzumutbar.<br />
Weiter führt das BVerwG aus, nach § 44 Abs. 6 BBG sei ein Beamter verpflichtet, sich nach Weisung<br />
der Behörde ärztlich untersuchen und, falls dies aus amtsärztlicher Sicht für erforderlich gehalten<br />
werde, auch beobachten zu lassen, wenn Zweifel über die Dienstunfähigkeit bestünden. Das<br />
1198 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 19 R, Seite 519<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
Verfahren der ärztlichen Untersuchung sei in § 48 BBG geregelt. Eine Untersuchungsanordnung<br />
müsse wegen des mit ihr verbundenen Eingriffs in die grundrechtsbewehrte persönliche Sphäre des<br />
Beamten nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bestimmten formellen und inhaltlichen<br />
Anforderungen genügen.<br />
Hinweis:<br />
Einer Untersuchungsanordnung müssen – erstens – tatsächliche Feststellungen zugrunde liegen, die die<br />
Dienstunfähigkeit des Beamten als naheliegend erscheinen lassen (BVerwG, Buchholz 237.8 § 56 RhPLBG<br />
Nr. 4 Rn 9). Die Untersuchungsanordnung muss – zweitens – Angaben zu Art und Umfang der ärztlichen<br />
Untersuchung enthalten. Die Behörde darf dies nicht dem Belieben des Arztes überlassen.<br />
Besonders weist das BVerwG darauf hin, dass eine schlichte Untersuchungsanordnung, die im Tatbestand<br />
die Fehlzeiten des Beamten aufliste und um eine ärztliche Begutachtung mit dem Prognosehorizont<br />
bitte, ob zu erwarten sei, dass die Dienstfähigkeit innerhalb von sechs Monaten wieder voll<br />
hergestellt sein werde, rechtmäßig sein könne.<br />
Hinweis:<br />
Eine Zusatzbegutachtung durch den (Amts-)Arzt darf nicht angeordnet werden. Eine solche Anordnung<br />
gegenüber dem Beamten ist unzulässig. Hingegen ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn der<br />
Dienstherr seine Untersuchungsanordnung hinsichtlich ihres Umfangs sogleich darauf erstreckt, dass<br />
der Beamte sich auch einer vom untersuchenden (Amts-)Arzt ggf. für erforderlich erachteten weiteren<br />
fachärztlichen Zusatzbegutachtung zu unterziehen habe. Dies gilt auch für eine fachpsychiatrische<br />
Untersuchung.<br />
3. Rückforderung überzahlter Dienst- und Versorgungsbezüge<br />
Bei der Besoldung und Versorgung eines Beamten kann es zu Überzahlungen kommen. Diese Überzahlungen<br />
können vielfältige Ursachen haben: Sie können auf unzutreffenden oder unterlassenen<br />
Angaben des Beamten über die Veränderung der Verhältnisse, sie können aber auch auf Fehler im<br />
Verantwortungsbereich der Behörde beruhen. Als spezielle Ausformung des öffentlich-rechtlichen<br />
Erstattungsanspruchs sehen sowohl das Bundesbesoldungsgesetz und das Beamtenversorgungsgesetz<br />
als auch die Landesbesoldungsgesetze und -versorgungsgesetze Spezialregelungen für die<br />
Rückforderung der zu viel gezahlten Beträge vor.<br />
Einem solchen Rückforderungsanspruch widmet sich das BVerwG in seinem Urt. v. 21.2.<strong>2019</strong> (2 C 24.17,<br />
IÖD <strong>2019</strong>, 134 ff. = NVwZ-RR <strong>2019</strong>, 781 ff.). Es weist darauf hin, dass die regelmäßige Verjährungsfrist für<br />
Rückforderungsansprüche des Dienstherrn gegen den Beamten (hier: gem. § 52 Abs. 2 LBeamtVG BE)<br />
entsprechend § 195 BGB drei Jahre betrage. Nach § 199 Abs. 1 BGB beginne die Verjährungsfrist mit dem<br />
Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden sei (Nr. 1) und der Dienstherr von den den<br />
Rückforderungsanspruch begründenden Umständen Kenntnis erlangt oder grob fahrlässig nicht erlangt<br />
habe (Nr. 2).<br />
Hinweis:<br />
Grobe Fahrlässigkeit i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB setzt einen objektiv schwerwiegenden und subjektiv nicht<br />
entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Sie liegt<br />
nur vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis deshalb fehlt, weil er ganz naheliegende Überlegungen nicht<br />
angestellt und nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Ihm muss<br />
persönlich ein schwerer Obliegenheitsverstoß in seiner eigenen Angelegenheit der Anspruchsverfolgung<br />
(„Verschulden gegen sich selbst“) vorgeworfen werden können, weil sich ihm die den Anspruch begründenden<br />
Umstände förmlich aufgedrängt haben, er davor aber letztlich die Augen verschlossen hat.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1199
Fach 19 R, Seite 520<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
Rechtsprechung<br />
Weiterhin befasst sich das BVerwG mit der von der Behörde zu treffenden Billigkeitsentscheidung (hier<br />
auf der Grundlage des § 52 Abs. 2 S. 3 LBeamtVG BE), durch die von der Rückforderung ganz oder<br />
teilweise abgesehen werden kann.<br />
Hinweis:<br />
Die Billigkeitsentscheidung bezweckt, eine allen Umständen des Einzelfalls gerecht werdende, für die<br />
Behörde zumutbare und für den Beamten tragbare Lösung zu ermöglichen, bei der auch Alter, Leistungsfähigkeit<br />
und sonstige Lebensverhältnisse des Herausgabepflichtigen eine maßgebende Rolle<br />
spielen. Sie ist Ausdruck des auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatzes von Treu und Glauben<br />
und stellt eine sinnvolle Ergänzung des ohnehin von dem gleichen Grundsatz geprägten Rechts<br />
der ungerechtfertigten Bereicherung dar, sodass sie vor allem in Fällen der verschärften Haftung von<br />
Bedeutung ist. Dabei ist jedoch nicht die gesamte Rechtsbeziehung, aus welcher der Bereicherungsanspruch<br />
erwächst, nochmals unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben zu würdigen, sondern<br />
auf das konkrete Rückforderungsbegehren und vor allem auf die Modalitäten der Rückabwicklung und<br />
ihre Auswirkungen auf die Lebensumstände des Beamten abzustellen (st. Rspr., zuletzt BVerwG, Buchholz<br />
240 § 12 BBesG Nr. 35 Rn 24 m.w.N. und 239.1 § 55 BeamtVG Nr. 30 Rn 28).<br />
Bei der Billigkeitsentscheidung ist nach dem BVerwG von besonderer Bedeutung, wessen Verantwortungsbereich<br />
die Überzahlung zuzuordnen ist und in welchem Maße ein Verschulden oder Mitverschulden<br />
hierfür ursächlich war. Ein Mitverschulden der Behörde an der Überzahlung sei in die Ermessensentscheidung<br />
einzubeziehen. Deshalb sei aus Gründen der Billigkeit i.d.R. von der Rückforderung<br />
teilweise abzusehen, wenn der Grund für die Überzahlung in der überwiegenden behördlichen Verantwortung<br />
liege. In diesen Fällen, in denen der Beamte zwar entreichert sei, sich aber auf den Wegfall<br />
der Bereicherung nicht berufen könne, müsse sich die überwiegende behördliche Verantwortung für die<br />
Überzahlung in der Billigkeitsentscheidung niederschlagen. Das sei auch unter Gleichheitsgesichtspunkten<br />
geboten. Ein Beamter, der nur einen untergeordneten Verursachungsbeitrag für die Überzahlung<br />
gesetzt habe, müsse besser stehen als ein Beamter, der die Überzahlung allein zu verantworten<br />
habe. Angesichts dessen erscheine ein Absehen von der Rückforderung in der Größenordnung von 30 %<br />
des überzahlten Betrags im Regelfall angemessen. Bei Hinzutreten weiterer Umstände, etwa besonderer<br />
wirtschaftlicher Probleme des Beamten, könne auch eine darüberhinaus gehende Ermäßigung des<br />
Rückforderungsbetrags in Betracht kommen.<br />
Liege kein überwiegendes behördliches Mitverschulden für die Überzahlung von Besoldungs- oder<br />
Versorgungsbezügen vor, genüge die Einräumung von angemessenen Ratenzahlungsmöglichkeiten<br />
regelmäßig den Erfordernissen einer i.R.d. Rückforderungsbescheids zu treffenden Billigkeitsentscheidung.<br />
V. Personalvertretungsrecht<br />
1. Prüfungspflicht der Verhinderungsgründe eines Personalratsmitglieds durch den Personalratsvorsitzenden<br />
Der Personalrat übt seine Tätigkeit mit den von den Beschäftigten gewählten Mitgliedern aus. Im<br />
Rahmen einer Wahlperiode kann immer wieder der Fall auftreten, dass ein Personalratsmitglied an der<br />
Sitzung des Personalrats nicht teilnehmen kann. Ist ein Personalratsmitglied verhindert, tritt nach dem<br />
jeweilig geltenden Personalvertretungsgesetz ein Ersatzmitglied an die Stelle des ordentlichen Mitglieds.<br />
Es stellt sich die Frage, welche Prüfungsanforderungen bei dem Wechsel vom ordentlichen zum<br />
Ersatzmitglied in Bezug auf den Grund der Verhinderung zu stellen sind. Das BVerwG hat in seinem<br />
Beschl. v. 16.5.<strong>2019</strong> (5 PB 16.18) gefordert, dass der Vorsitzende des Personalrats auf die Anzeige der<br />
Verhinderungsgründe eines Personalratsmitglieds hin zu prüfen habe, ob eine vorübergehende Verhinderung<br />
des Mitglieds vorliege, die nach den jeweils anzuwendenden personalvertretungsrechtlichen<br />
Vorschriften die Ladung des Ersatzmitglieds rechtfertige. Er dürfe also nicht ohne eine genaue Prüfung<br />
von einer Verhinderung des Personalratsmitglieds ausgehen.<br />
1200 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 19 R, Seite 521<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
2. Mitbestimmung des Personalrats einer gemeinsamen Einrichtung bei der Eingruppierung ihr<br />
erstmalig zugewiesener Arbeitnehmer<br />
Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob der bei der gemeinsamen Einrichtung bestehende Personalrat<br />
für die Dienstpostenübertragung und Eingruppierung nur dann zuständig ist, wenn es sich um<br />
bereits der gemeinsamen Einrichtung zugewiesene Beschäftigte handelt, nicht hingegen in solchen<br />
Fällen, in denen die Beschäftigten von der Agentur für Arbeit neu eingestellt oder zu ihr versetzt und erst<br />
im Anschluss daran der gemeinsamen Einrichtung zugewiesen werden.<br />
In seinem Beschl. v. 19.2.<strong>2019</strong> (5 P 7/17, NZA-RR <strong>2019</strong>, 446 ff.) nimmt das BVerwG an, dass dem<br />
Personalrat auch im zweitgenannten Fall das Mitbestimmungsrecht aus § 75 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG unter<br />
Berücksichtigung von § 44h SGB II zustehe. Für die beteiligungsrechtliche Zuständigkeit des Personalrats<br />
einer gemeinsamen Einrichtung sei – wie im Anwendungsbereich des § 69 Abs. 1 und 2 S. 1<br />
BPersVG sonst auch – grds. erforderlich, aber auch ausreichend, dass der Leiter der Dienststelle eine<br />
der Beteiligung des Personalrats der gemeinsamen Einrichtung unterliegende Maßnahme zu treffen<br />
beabsichtige oder getroffen habe. Demgegenüber komme es nicht darauf an, ob der Dienststellenleiter<br />
nach den zuständigkeitsregelnden oder organisationsrechtlichen Vorschriften für den Erlass der Maßnahme<br />
zuständig sei. Letzteres sei keine personalvertretungsrechtliche, sondern eine behördenrechtliche<br />
Frage.<br />
Zwar sei das Verständnis nicht fernliegend, dass die beteiligungsrechtliche Zuständigkeit des Personalrats<br />
der gemeinsamen Einrichtung in jedem Fall akzessorisch an die Entscheidungszuständigkeit des<br />
Dienststellenleiters anknüpfe. Dies sei indes nicht zwingend. Sinn und Zweck der Regelungen stünden<br />
einer solchen Auslegung entgegen. § 44h Abs. 3 und 5 SGB II ordneten die Zuständigkeiten der Personalräte<br />
der gemeinsamen Einrichtung und ihrer Träger und grenzten sie voneinander ab, soweit<br />
hierfür eine Notwendigkeit bestehe. Eine solche existiere nicht, soweit ein Dienststellenleiter eine<br />
mitbestimmungspflichtige Maßnahme beabsichtige, weil in diesem Fall die Mitbestimmung nach<br />
Maßgabe des § 69 Abs. 1 und 2 S. 1 BPersVG grds. dem Personalrat dieser Dienststelle obliege. Anders<br />
verhalte es sich aber, wenn ein Personalrat von seinem Initiativrecht Gebrauch machen möchte. In<br />
diesem Fall fehle es an einer die Beteiligung des betreffenden Personalrats auslösenden Maßnahme des<br />
Dienststellenleiters, so dass es der Regelungen des § 44h Abs. 3 und 5 SGB II bedürfe, um den für die<br />
Ausübung des Initiativrechts zuständigen Personalrat zu bestimmen. Danach folge dessen Zuständigkeit<br />
der Zuständigkeit des jeweiligen Dienststellenleiters.<br />
VI. Prüfungsrecht (Anforderungen an Sanktionsnormen im Rahmen berufsbezogener Prüfungen)<br />
Im vorliegenden Fall ist der Prüfling im Rahmen der juristischen Pflichtfachprüfung vor dem Oberlandesgericht<br />
(Erstes Staatsexamen) im Rahmen der mündlichen Prüfung im Anschluss an die Vorträge<br />
zum Prüfungsgespräch erst fünf Minuten nach dessen Beginn erschienen. Das Justizprüfungsamts bei<br />
dem Oberlandesgericht erklärte die staatliche Pflichtfachprüfung, die selbstständiger Bestandteil der<br />
ersten juristischen Prüfung sei, für nicht bestanden.<br />
Das BVerwG hat in seinem Urt. v. 27.2.<strong>2019</strong> (6 C 3.18, GewArch <strong>2019</strong>, 246 ff. = VwZ <strong>2019</strong>, 890 ff. = NWVBl<br />
<strong>2019</strong>, 278 ff. = DStR <strong>2019</strong>, 1599 f.) die Frage beantwortet, welche Anforderungen an Sanktionsregelungen<br />
im Rahmen berufsbezogener Prüfungen zu stellen sind. Es verlangt, dass sie im Rahmen<br />
berufsbezogener Prüfungen als Ermächtigungen für Eingriffe in die durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete<br />
Freiheit der Berufswahl der Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit genügen müssten. Berufsbezogene<br />
Prüfungen sollten Aufschluss darüber geben, ob die Prüflinge über diejenigen Kenntnisse und<br />
Fähigkeiten verfügen, die einen Erfolg der Berufsausbildung und eine einwandfreie Berufsausübung<br />
erwarten ließen. Auf Grund des Gesetzesvorbehalts des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG obliege es dem zuständigen<br />
Normgeber, den Prüfungsstoff, das Prüfungssystem, das Prüfungsverfahren sowie die Bestehensvoraussetzungen<br />
festzulegen. Dem Gesetzesvorbehalt unterfalle insb. auch jede Form der Sanktionierung<br />
des Fehlverhaltens eines Prüflings. Dieser Gesetzesvorbehalt werde konkretisiert durch das prüfungsspezifische<br />
Bestimmtheitsgebot. Danach müsse vor allem die Grenze zwischen dem Bestehen und dem<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1201
Fach 19 R, Seite 5<strong>22</strong><br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
Rechtsprechung<br />
Nichtbestehen einer Prüfung von dem Normgeber eindeutig gezogen sein. Dementsprechend unterlägen<br />
die Rechtsgrundlagen für die Verhängung von Sanktionen, die sich auf das Bestehen einer Prüfung<br />
auswirkten, besonders strengen Bestimmtheitsanforderungen. Sowohl das zu sanktionierende Verhalten<br />
als auch die an dieses geknüpfte Sanktionsfolge müssten so klar ersichtlich sein, dass jeder<br />
Prüfling sein Verhalten problemlos danach ausrichten und jede Gefahr des Eingriffs in sein Grundrecht<br />
aus Art. 12 Abs. 1 GG vermeiden könne.<br />
Hinweis:<br />
Das BVerwG fordert für die Sanktionierung von Pflichtverstößen, die allein im Interesse eines störungsfreien<br />
Prüfungsverlaufs unterbunden werden müssen, den Einsatz milderer Mittel.<br />
VII. Sozialrecht (Rückforderung von Wohngeld)<br />
Es geht um die Rückforderung von Sozialleistungen, denen ein sozialbehördlicher Bescheid über die<br />
Bewilligung von Wohngeld zugrunde liegt, bei dessen Beantragung die Antragstellerin die Frage wahrheitswidrig<br />
verneint hatte, ob ein Haushaltsmitglied Transferleistungen beziehe oder beantragt habe.<br />
Ein im Haushalt der Antragstellerin lebender Sohn hatte vor Erlass des Bewilligungsbescheids Sozialleistungen<br />
nach SGB XII beantragt und erhalten.<br />
Das BVerwG hat in seinem Urt. v. 23.4.<strong>2019</strong> (5 C 2.18) einen Erstattungsanspruch aus § 50 Abs. 2 SGB X<br />
verneint. Nach dieser Vorschrift sind Leistungen zu erstatten, soweit sie ohne Verwaltungsakt zu<br />
Unrecht erbracht worden sind (S. 1), wobei die Regelungen der §§ 45 und 48 SGB X entsprechend<br />
gelten (S. 2). Eine „ohne Verwaltungsakt zu Unrecht“ i.S.v. § 50 Abs. 2 S. 1 SGB X erbrachte Leistung<br />
könne auch dann vorliegen, wenn die Leistung aufgrund eines Verwaltungsakts erfolge, der von<br />
Anfang an unwirksam sei (vgl. BSGE 114, 180 Rn 36 f.; MERTEN in HAUCK/NOFTZ, SGB X, Stand November<br />
2014, § 50 Rn 38).<br />
Das BVerwG nimmt jedoch an, dass die Voraussetzungen des § 28 Abs. 3 S. 1 WoGG als der für das<br />
Eintreten der Unwirksamkeitsfolge allein in Betracht kommenden Rechtsgrundlage nicht erfüllt seien.<br />
Nach § 28 Abs. 3 S. 1 WoGG wird der Bewilligungsbescheid von dem Zeitpunkt an unwirksam, ab dem ein<br />
zu berücksichtigendes Haushaltsmitglied nach den §§ 7 und 8 Abs. 1 WoGG vom Wohngeld ausgeschlossen<br />
ist. Zwar habe ein solcher Ausschlussgrund vom Wohngeld für ein zu berücksichtigendes<br />
Haushaltsmitglied vorgelegen. § 28 Abs. 3 S. 1 WoGG sei jedoch deshalb nicht anwendbar, weil die<br />
Vorschrift keine Fälle erfasse, in denen der Ausschlussgrund nicht nach Ergehen des Bewilligungsbescheids<br />
eingetreten sei, sondern bereits vor seinem Erlass vorgelegen habe.<br />
Hinweis:<br />
Ist die Wohngeldleistung weder von Anfang an unwirksam gewesen noch unwirksam geworden, sondern<br />
lediglich von Anfang an rechtswidrig, ist die Rückforderung nur bei einer von der Behörde ausgesprochenen<br />
Rücknahme des Bewilligungsbescheids möglich.<br />
VIII. Stiftungsrecht (Zulässigkeit der Stellvertretung bei einem Beschluss des Vorstands einer<br />
Stiftung)<br />
Die Stiftung ist eine sonderbare Figur im deutschen Recht. Die in der Stiftungspraxis typische rechtsfähige<br />
Stiftung des bürgerlichen Rechts, die ihre Rechtsgrundlagen in den §§ 80 ff. BGB und in den Landesstiftungsgesetzen<br />
hat, ist dadurch gekennzeichnet, dass der Stifter auf der Grundlage eines von ihm verfassten<br />
Stiftungsgeschäfts und der diesem korrespondierenden Satzung sein Vermögen oder einen Teil<br />
davon der Stiftung zur Verfügung stellt. Grundsätzlich wird mit den Erträgen des Stiftungsvermögens der<br />
vom Stifter vorgegebene Zweck – 95 % der Zwecke sind gemeinnützig i.S.d. §§ 52 ff. AO– erfüllt. Zur<br />
Errichtung der Stiftung bedarf es neben dem Stiftungsgeschäft und der Stiftungssatzung der Anerkennung<br />
1202 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 19 R, Seite 523<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
durch die Stiftungsbehörde. Die Anerkennung (§ 80 Abs. 2 BGB) ist ein rechtsgestaltender Verwaltungsakt,<br />
er lässt die Stiftung als juristische Person entstehen. Da die Stiftung keine Willensbildungsorgane hat,<br />
vielmehr der im Stiftungsgeschäft, insb. aber in der Stiftungssatzung manifestierte Stifterwille maßgebend<br />
für das Leben das Stiftung ist, kommt den Regelungen der Stiftungssatzung sowie ihren Änderungen<br />
große Bedeutung zu. Ausführende Organe sind in jedem Fall der Vorstand (§§ 86, 26 BGB) und mögliche –<br />
gesetzlich aber nicht vorgegebene – weitere Organe (Kuratorium, Beirat, Stifterversammlung, Familientag<br />
etc.).<br />
In dem vom BVerwG in seinem Beschl. v. 6.3.<strong>2019</strong> (6 B 135.18, npoR <strong>2019</strong>, 125 ff. = NZG <strong>2019</strong>, 867 ff. =<br />
NVwZ-RR <strong>2019</strong>, 610 ff.) behandelten Fall ist die Rechtsfrage von Bedeutung, ob sich ein Vorstandsmitglied<br />
einer rechtsfähigen Stiftung bürgerlichen Rechts bei organschaftlichen Beschlussfassungen im<br />
Vorstand durch ein anderes Vorstandsmitglied vertreten lassen kann. Als zivilrechtliche Vorfrage prägt<br />
sie die Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Genehmigung der Satzungsänderung durch die<br />
Stiftungsbehörde, die dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist.<br />
Das BVerwG führt aus, der Beschluss eines Stiftungsvorstands sei ein Rechtsgeschäft in der Form eines<br />
Gesamtakts, das mehrere gleichgerichtete Willenserklärungen der Organmitglieder bündele. Damit<br />
gelte auch für die einzelne Willenserklärung jedes Vorstandsmitglieds als Teil des Beschlusses der<br />
letztlich in der Privatautonomie wurzelnde rechtsgeschäftliche Grundsatz, dass Abgabe und Empfang<br />
einer Willenserklärung der Stellvertretung zugänglich seien, wenn und soweit kein gesetzliches oder<br />
rechtsgeschäftliches Vertretungsverbot bestehe. Das Bürgerliche Gesetzbuch enthalte hinsichtlich des<br />
Vorstands einer Stiftung nur in § 81 Abs. 1 S. 3 Nr. 5 BGB die Vorgabe, dass durch das Stiftungsgeschäft<br />
die Stiftungssatzung Regelungen zur Bildung des Vorstands enthalten müsse. Im Übrigen ordne § 86 S. 1<br />
BGB an, dass bestimmte Vorschriften des Vereinsrechts auf Stiftungen entsprechende Anwendung<br />
fänden, jedoch nur insoweit, als sich nicht aus der Stiftungsverfassung ein anderes ergebe (§ 86 S. 1 Hs. 2<br />
BGB). Gemäß § 27 Abs. 3 BGB fänden auf die Geschäftsführung des Vorstands die Vorschriften der §§ 664<br />
bis 670 BGB entsprechende Anwendung; nach § 664 Abs. 1 S. 1 BGB dürfe im Zweifel der Beauftragte die<br />
Ausführung des Auftrags nicht einem Dritten übertragen. Nach der Rechtsfolgenverweisung des § 28<br />
BGB erfolge die Beschlussfassung in einem aus mehreren Personen bestehenden Vorstand nach den für<br />
die Beschlüsse der Mitglieder des Vereins geltenden Vorschriften der §§ 32 und 34 BGB. Demzufolge<br />
bestehe im Stiftungsrecht für Beschlussfassungen der Vorstandsmitglieder kein explizites Vertretungsverbot.<br />
Hinweis:<br />
Ist nach der gesetzlichen Regelung eine Stellvertretung im Stiftungsvorstand durch Bevollmächtigung<br />
eines anderen Vorstandsmitglieds im Einzelfall möglich, bedarf es dafür keiner ausdrücklichen Gestattung<br />
im Satzungstext. Vielmehr reicht es aus, wenn sich der Stiftungssatzung eine entsprechende Ermächtigung<br />
im Wege der Auslegung entnehmen lässt. Das ergibt sich aus der Maßgeblichkeit des Stifterwillens<br />
gem. § 85 BGB, wie er im Stiftungsgeschäft zum Ausdruck kommt.<br />
IX. Straßenverkehrsrecht (Entziehung der Fahrerlaubnis nach Verletzung des Trennungsgebots<br />
durch einen gelegentlichen Konsumenten von Cannabis)<br />
Gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 StVG und § 46 Abs. 1 S. 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde dem Inhaber einer<br />
Fahrerlaubnis, der sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist, die Fahrerlaubnis zu<br />
entziehen. Das gilt nach § 46 Abs. 1 S. 2 FeV insb. dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach der<br />
Anlage 4 vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Nach<br />
Nr. 9.2.2 der Anlage 4 kann bei gelegentlicher Einnahme von Cannabis die Fahreignung bejaht werden,<br />
wenn Konsum und Fahren getrennt werden, kein zusätzlicher Gebrauch von Alkohol oder anderen<br />
psychoaktiv wirkenden Stoffen stattfindet und wenn keine Störung der Persönlichkeit und kein Kontrollverlust<br />
vorliegen. Die Bewertungen der Anlage 4 gelten nach Nummer 3 ihrer Vorbemerkung für<br />
den Regelfall. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaub-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1203
Fach 19 R, Seite 524<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
Rechtsprechung<br />
nis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV<br />
entsprechende Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV). Gemäß § 14 Abs. 1 S. 3 FeV kann die Beibringung eines<br />
medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden, wenn eine gelegentliche Einnahme von<br />
Cannabis vorliegt und weitere Tatsachen Zweifel an der Eignung begründen. Nach § 14 Abs. 2 Nr. 3 FeV<br />
ist die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens für die Zwecke nach Absatz 1<br />
anzuordnen, wenn wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr nach StVG begangen wurden.<br />
Hinweis:<br />
Gelegentlicher Konsum von Cannabis i.S.v. Nr. 9.2.2 der Anlage 4 liegt vor, wenn der Betroffene in zumindest<br />
zwei selbstständigen Konsumvorgängen Cannabis zu sich genommen hat und diese Konsumvorgänge<br />
einen gewissen, auch zeitlichen Zusammenhang aufweisen (st. Rspr., vgl. BVerwG, Buchholz<br />
442.10 § 3 StVG Nr. 16 Rn 19 ff. m.w.N.).<br />
Nach dem Urteil des BVerwG vom 11.4.<strong>2019</strong> (3 C 13.17, VkBl <strong>2019</strong>, 448 = DAR <strong>2019</strong>, 338 f.) muss der<br />
Betroffene für eine Bejahung seiner Fahreignung nach Nr. 9.2.2 der Anlage 4 Konsum und Fahren in<br />
einer Weise trennen, dass durch eine vorangegangene Einnahme von Cannabis eine Beeinträchtigung<br />
seiner verkehrsrelevanten Eigenschaften unter keinen Umständen eintreten kann. Im Hinblick auf<br />
die schwerwiegenden Gefahren, die von in ihrer Fahrsicherheit beeinträchtigten Kraftfahrzeugführern<br />
für Leben und Gesundheit anderer Verkehrsteilnehmer ausgehen könnten, sei es auch vor dem<br />
Hintergrund der staatlichen Pflicht, die Sicherheit des Straßenverkehrs zu gewährleisten, geboten,<br />
solche Risiken soweit wie möglich auszuschließen. Dementsprechend werde das Trennungsgebot<br />
nicht erst dann verletzt, wenn mit Sicherheit eine Beeinträchtigung der Fahrsicherheit anzunehmen<br />
sei oder es zu einer signifikanten Erhöhung des Unfallrisikos komme (so noch VGH München, Beschl. v.<br />
4.6.2007 – 11 CS 06.2806, juris Rn 20 m.w.N.), sondern bereits dann, wenn die Möglichkeit einer<br />
cannabisbedingten Beeinträchtigung der Fahrsicherheit bestehe oder – negativ formuliert – eine<br />
solche Beeinträchtigung nicht ausgeschlossen werden könne (ebenso u.a. OVG Hamburg, VRS 132,<br />
140, 145; VGH Mannheim, VRS 130, 272, 273; OVG Berlin-Brandenburg, Blutalk 53, 393, 395;<br />
OVG Bremen, Blutalk 53, 275 f.).<br />
Hinweis:<br />
Ein Verstoß gegen das Trennungsgebot nach Nr. 9.2.2 der Anlage 4 liegt vor, wenn ein gelegentlicher<br />
Cannabiskonsument den Konsum und das Führen eines Kraftfahrzeugs im Ergebnis nicht in der gebotenen<br />
Weise voneinander trennt. Unerheblich ist, ob die unterbliebene Trennung darauf zurückzuführen ist, dass<br />
der Betroffene nicht in der Lage war zu trennen („Trennen-Können“ oder „Trennungsvermögen“) oder<br />
dass ihm die Bereitschaft zum Trennen von Cannabiskonsum und dem Führen eines Kraftfahrzeugs fehlte<br />
(„Trennungsbereitschaft“).<br />
Allerdings hebt das BVerwG hervor, dass bei einem gelegentlichen Konsumenten von Cannabis, der<br />
erstmals unter einer seine Fahrsicherheit möglicherweise beeinträchtigenden Wirkung von Cannabis<br />
ein Kraftfahrzeug geführt hat, die Fahrerlaubnisbehörde i.d.R. nicht ohne weitere Aufklärung von<br />
fehlender Fahreignung ausgehen und ihm unmittelbar die Fahrerlaubnis entziehen dürfe. In solchen<br />
Fällen habe sie gem. § 46 Abs. 3 i.V.m. § 14 Abs. 1 S. 3 FeV nach pflichtgemäßem Ermessen über die<br />
Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu entscheiden (teilweise Aufgabe von<br />
BVerwG, Urt. v. 23.10.2014 – 3 C 3/13).<br />
X. Vertriebenenrecht („Verbleib“ im Aussiedlungsgebiet)<br />
Im Rahmen der Spätaussiedlung zielt das Interesse der Personen, denen eine Spätaussiedlerbescheinigung<br />
ausgestellt worden ist, darauf, Angehörige nachträglich in den Aufnahmebescheid einzubeziehen.<br />
Im vorliegenden Fall hatte das zuständige Bundesverwaltungsamt den entsprechenden Antrag<br />
abgelehnt, weil die betroffene weitere Person (Enkelin) nicht im Aussiedlungsgebiet verblieben sei,<br />
vielmehr in den letzten Jahren ihren Lebensmittelpunkt in Asien gehabt habe.<br />
1204 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Rechtsprechung Fach 19 R, Seite 525<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
Nach § 27 Abs. 2 S. 3 BVFG kann abweichend von § 27 Abs. 2 S. 1 BVFG der im Aussiedlungsgebiet<br />
verbliebene Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers, der seinen ständigen Aufenthalt im<br />
Geltungsbereich des Gesetzes hat, nachträglich nach Satz 1 in den Aufnahmebescheid des Spätaussiedlers<br />
einbezogen werden, wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen. Ein Verbleiben im Aussiedlungsgebiet<br />
erfordert nach dem Urteil des BVerwG vom 15.1.<strong>2019</strong> (1 C 29/18) ein – seit der Ausreise<br />
der Bezugsperson – ununterbrochenes, d.h. kontinuierliches Verbleiben; dies setze zumindest voraus,<br />
dass der einzubeziehende Familienangehörige eines Spätaussiedlers auch seinen Wohnsitz seit der<br />
Aussiedlung des Spätaussiedlers ununterbrochen im Aussiedlungsgebiet gehabt haben müsse. Für die<br />
Anwendung des § 27 Abs. 2 S. 3 BVFG reiche allein ein durchgängiger – ggf. zweiter – Wohnsitz nicht<br />
aus. Der einzubeziehende Ehegatte oder Abkömmling des Spätaussiedlers müsse sich im Regelfall<br />
vielmehr auch tatsächlich durchgängig (deutlich) überwiegend im Aussiedlungsgebiet aufgehalten<br />
haben.<br />
Hinweis:<br />
§ 27 Abs. 2 S. 1 und 3 BVFG stellen für die Einbeziehung darauf ab, ob der Ehegatte oder Abkömmling des<br />
Aussiedlers im Aussiedlungsgebiet lebt bzw. dort verblieben ist. Dies ist bei Personen mit nur einem<br />
Wohnsitz und ohne längere Auslandsaufenthalte regelmäßig der Fall, wenn dort der Wohnsitz (fort-)<br />
besteht. Entscheidend ist aber bereits nach dem insoweit klaren Wortlaut der durchgängig auch tatsächliche<br />
Aufenthalt bzw. Verbleib im Aussiedlungsgebiet.<br />
XI.<br />
Waffen- und Jagdrecht<br />
1. Widerruf der Waffenbesitzkarte wegen Mitgliedschaft und Funktionswahrnehmung in einer<br />
verfassungswidrigen Partei<br />
Das politische Engagement von Waffenbesitzern im Rahmen einer Mitgliedschaft sowie der Wahrnehmung<br />
von Funktionen in einer nicht verbotenen politischen Partei, die allerdings verfassungsfeindliche<br />
Bestrebungen verfolgt (im vorliegenden Fall: NPD), kann zu waffenrechtlichen Reaktionen der für das<br />
Waffenrecht zuständigen Behörden führen. Betroffen sein kann der Widerruf der Waffenbesitzkarte.<br />
Rechtsgrundlage für den Widerruf der Waffenbesitzkarte ist § 45 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 2 und<br />
§ 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a WaffG (a.F.). Nach § 45 Abs. 2 S. 1 WaffG ist eine waffenrechtliche Erlaubnis zu<br />
widerrufen, wenn nachträglich Tatsachen eintreten, die zur Versagung hätten führen müssen. Eine<br />
Erlaubnis setzt gem. § 4 Abs. 1 Nr. 2 WaffG voraus, dass der Antragsteller u.a. die erforderliche<br />
Zuverlässigkeit (§ 5) besitzt. Die erforderliche Zuverlässigkeit besitzen danach i.d.R. Personen nicht,<br />
die einzeln oder als Mitglied einer Vereinigung Bestrebungen verfolgen oder unterstützen oder in den<br />
letzten fünf Jahren verfolgt oder unterstützt haben, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung<br />
gerichtet sind.<br />
Bei dem in § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a WaffG (a.F.) genannten Tatbestandsmerkmal der Bestrebungen,<br />
die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten, handelt es sich um einen unbestimmten<br />
Rechtsbegriff, dessen Auslegung und Anwendung der uneingeschränkten Prüfung durch die Verwaltungsgerichte<br />
unterliegt. Diese Entscheidungskompetenz ist nach dem Urteil des BVerwG vom<br />
19.6.<strong>2019</strong> (6 C 9.18) nicht dadurch eingeschränkt, dass die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer<br />
Partei nach Art. 21 Abs. 2 GG (a.F.), § 46 BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist.<br />
Bestrebungen, die sich i.S.d. § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a WaffG (a.F.) gegen die verfassungsmäßige<br />
Ordnung richteten, lägen bei einer Vereinigung vor, die als solche nach außen eine kämpferischaggressive<br />
Haltung gegenüber den elementaren Grundsätzen der Verfassung einnehme. Dazu<br />
genüge, dass sie die verfassungsmäßige Ordnung fortlaufend untergraben wolle, wie dies für eine mit<br />
dem Nationalsozialismus wesensverwandte Vereinigung kennzeichnend sei. Sie müsse ihre Ziele nicht<br />
durch Gewaltanwendung oder sonstige Rechtsverletzungen zu verwirklichen suchen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1205
Fach 19 R, Seite 526<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2019</strong><br />
Rechtsprechung<br />
Hinweis:<br />
Die verfassungsfeindlichen Bestrebungen einer Partei werden jedenfalls dann i.S.d. § 5 Abs. 2 Nr. 3<br />
Buchst. a WaffG (a.F.) unterstützt, wenn leitende Funktionen in der Partei oder Mandate als Vertreter<br />
der Partei in Parlamenten und Kommunalvertretungen wahrgenommen werden.<br />
Allerdings gibt das BVerwG zu bedenken, dass bei Erfüllung des Tatbestands des § 5 Abs. 2 Nr. 3<br />
Buchst. a WaffG (a.F.) einzelfallbezogen geprüft werden müsse, ob atypische Umstände vorlägen, die<br />
geeignet sein könnten, die Regelvermutung der Unzuverlässigkeit zu widerlegen. In den Fällen der<br />
Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen einer Partei durch Wahrnehmung von Parteiämtern<br />
oder Mandaten in Parlamenten und Kommunalvertretungen setze dies – neben einem in<br />
waffenrechtlicher Hinsicht beanstandungsfreien Verhalten – grds. die Feststellung voraus, dass die<br />
betreffende Person sich von hetzenden Äußerungen sowie gewaltgeneigten, bedrohenden oder<br />
einschüchternden Verhaltensweisen anderer Mitglieder oder Anhänger der Partei unmissverständlich<br />
und beharrlich distanziert habe.<br />
2. Verlängerung eines Jagdscheins und Wiederholungsgefahr<br />
Im vorliegenden Fall setzte die für die Erteilung und Verlängerung des Jagdscheins zuständige Behörde<br />
das Verfahren auf Verlängerung des Jagdscheins um weitere drei Jahre in analoger Anwendung des<br />
§ 17 Abs. 5 BJagdG wegen eines anhängigen strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts<br />
der Untreue (§ 266 StGB) aus. Der Kläger, der eine verwaltungsgerichtliche Untätigkeitsklage<br />
erhoben hatte, verlegte zunächst seinen Wohnsitz und erhielt von der nunmehr zuständigen (neuen)<br />
Jagdbehörde die dort beantragte Verlängerung des Jagdscheins. Während des laufenden verwaltungsgerichtlichen<br />
Verfahrens teilte der Kläger dem Verwaltungsgericht mit, dass er seinen Wohnsitz<br />
wieder zurückverlegt habe und mit einem Abschluss des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens<br />
bis zum Ablauf seines verlängerten Jagdscheins nicht zu rechnen sei. Es bestehe die Gefahr,<br />
dass sich die rechtswidrige Verfahrenspraxis der (ersten) Jagdbehörde wiederhole. Er beantrage daher<br />
die Feststellung, dass die Aussetzung des Verfahrens auf Erteilung eines Jagdscheins rechtswidrig<br />
gewesen sei.<br />
Das BVerwG geht in seinem Beschl. v. 14.1.<strong>2019</strong> (3 B 48.18, GSZ <strong>2019</strong>, 129 ff.) davon aus, dass sich der<br />
ursprüngliche Antrag auf Verlängerung des Jagdscheins mit der Erteilung eines Jagdscheins durch<br />
die Behörden des neuen Wohnsitzes erledigt habe. Der danach gem. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO allein<br />
statthafte Fortsetzungsfeststellungsantrag setze ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der<br />
Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts voraus. Für die in Anspruch genommene Fallgruppe<br />
einer Wiederholungsgefahr sei die konkret absehbare Möglichkeit zu verlangen, dass in naher<br />
Zukunft und unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen eine<br />
gleiche oder gleichartige Maßnahme der Beklagten zu erwarten sei, die den Kläger beschwere.<br />
Im konkreten Fall hat das BVerwG angenommen, weder aus der Ausübung seines Berufs als Rechtsanwalt<br />
noch aus der Tätigkeit als Kolumnenautor in einem Jagdmagazin lasse sich die konkret absehbare<br />
Möglichkeit herleiten, dass gegen den Kläger im Zeitpunkt seines nächsten Antrags auf Verlängerung<br />
des Jagdscheins ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer Straftat i.S.d. § 17 Abs. 4<br />
Nr. 1 BJagdG bzw. des § 5 Abs. 1 Nr. 1 oder Abs. 2 Nr. 1 WaffG anhängig sein werde. Dementsprechend sei<br />
dem Kläger sein Jagdschein auch beanstandungsfrei verlängert worden.<br />
1206 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten Fach 21, Seite 323<br />
Tätlicher Angriff<br />
Strafrecht<br />
Auslegung des Begriffs „tätlicher Angriff“<br />
Von StA und Richter a.P. bei der Staatsanwaltschaft ALEXANDER BLECKAT, Hannover<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
II. Rechtliche Einordnung des § 114 StGB<br />
III. Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs<br />
IV. Verhältnis und Abgrenzung zu § 113 StGB<br />
1. Verhältnis zu § 113 StGB<br />
2. Abgrenzung zwischen § 114 und 113 StGB<br />
V. Praktische Leitlinien<br />
1. Anwendungsfälle für § 113 StGB (Gewalt<br />
oder Drohung mit Gewalt)<br />
2. Anwendungsfälle für § 114 StGB (tätlicher<br />
Angriff)<br />
VI. Fazit<br />
I. Einleitung<br />
Seit dem 30.5.2017 ist die Neuregelung des § 114 StGB in Kraft getreten (Vorschrift eingefügt durch das<br />
52. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten<br />
und Rettungskräften vom 23.5.2017, BGBl I, S. 1<strong>22</strong>6 f.) und sorgt trotz der zwischenzeitlich vergangenen<br />
zwei Jahre weiterhin für Ungewissheit in der Praxis. Insbesondere die Auslegung des Begriffs des<br />
„tätlichen Angriffs“ wird unterschiedlich beurteilt (enge Auslegung BUSCH/SINGELNSTEIN, NStZ 2018, 510 ff.;<br />
weite Auslegung OLG Hamm, Beschl. v. 12.2.<strong>2019</strong> – 4 RVs 9/19, BeckRS <strong>2019</strong>, 3129; auch eher eine weite<br />
Auslegung bejahend KULHANEK, JR 2018, 551, 555). Der folgende Beitrag greift den bisherigen Meinungsstand<br />
zur Auslegung sowie das Verhältnis und die Abgrenzung zwischen § 113 und 114 StGB auf.<br />
Abschließend werden praktische Beispielsfälle dargestellt, um Leitlinien für die Anwendbarkeit des § 114<br />
StGB an die Hand zu geben.<br />
II. Rechtliche Einordnung des § 114 StGB<br />
Mit der Einführung des § 114 StGB sollte der Schutz für Vollstreckungsbeamtinnen und -beamte<br />
sowie von Rettungskräften verbessert werden (BT-Drucks 18/1161 vom 14.2.2017, S. 1). Insbesondere<br />
Polizisten und andere Vollstreckungsbeamte sind nicht mehr nur Opfer von „Widerstandsdelikten“,<br />
sondern auch von „Gewaltdelikten“, z.B. Körperverletzungen, Mord, Totschlag (BT-Drucks 18/1161 vom<br />
14.2.2017, S. 1). Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wurde die Tatbegehungsform des tätlichen<br />
Angriffs aus § 113 StGB herausgelöst und in § 114 StGB als selbstständiger Straftatbestand mit<br />
verschärftem Strafrahmen (Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren) ausgestaltet (BT-<br />
Drucks 18/1161 vom 14.2.2017, S. 1). Aufgrund der erhöhten Strafandrohung erlangt der Tatbestand des<br />
§ 114 StGB im Vergleich zu der vorherigen Gesetzeslage immer mehr an praktischer Bedeutung (BUSCH/<br />
SINGELNSTEIN, NStZ 2018, 510 ff.). Zwar wurde das Merkmal des tätlichen Angriffs in § 113 StGB a.F. bereits<br />
als unmittelbar auf den Körper zielende gewaltsame Einwirkung, ohne dass es auf einen Verletzungserfolg<br />
oder -vorsatz ankommen würde, ausgelegt und die Erheblichkeitsschwelle eher niedrig<br />
angesetzt, aber ein derart weites Verständnis der Tathandlung ist angesichts der erheblich erhöhten<br />
Strafandrohung und der veränderten Schutzrichtung des § 114 StGB nicht mehr vertretbar (BUSCH/<br />
SINGELNSTEIN, a.a.O. 512). Aus diesem Grunde muss sich erneut mit der Auslegung des Begriffs des<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1207
Fach 21, Seite 324<br />
Tätlicher Angriff<br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />
tätlichen Angriffs auseinandergesetzt werden, denn neben der erhöhten Strafandrohung legt auch<br />
bereits der Wortsinn eine gewisse Erheblichkeit nahe (BUSCH/SINGELNSTEIN, a.a.O., 512).<br />
III. Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs<br />
Wie bereits erörtert, ist ein tätlicher Angriff eine mit feindseligem Willen unmittelbar auf den Körper<br />
des Beamten oder Soldaten zielende Einwirkung (SCHÖNKE/SCHRÖDER/ESER, StGB, 30. Aufl. <strong>2019</strong>, § 114,<br />
Rn 4), wobei bei einer weiten Auslegung des Begriffs eine körperliche Berührung oder auch nur ein<br />
darauf zielender Vorsatz des Täters nicht erforderlich ist (OLG Hamm, Beschl. v. 12.2.<strong>2019</strong> – 4 RVs 9/19,<br />
BeckRS <strong>2019</strong>, 3129, Rn 12). Somit muss es weder zur körperlichen Verletzung kommen noch muss eine<br />
solche gewollt sein (FISCHER, StGB, 66. Aufl., § 114, Rn 5; SCHÖNKE/SCHRÖDER/ESER, a.a.O.; OLG Hamm a.a.<br />
O.). Dadurch wären bereits Handlungen unter der Schwelle der versuchten Körperverletzung vom<br />
Begriff des tätlichen Angriffs umfasst. So z.B. eine angedeutete Kopfnuss gegen einen Polizeibeamten,<br />
die diesen jedoch nicht treffen sollte. Gerechtfertigt wird diese Sichtweise mit der gesetzgeberischen<br />
Intention, dass der Amtsträger durch eine erhöhte Strafandrohung mehr geschützt werden soll (OLG<br />
Hamm, a.a.O.). Damit schützt § 114 StGB das individuelle Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit<br />
der Vollstreckungsbeamten und ihnen gleichgestellter Personen (BUSCH/SINGELNSTEIN, a.a.O., 511). Ob<br />
dies mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, wird kritisch beurteilt (BeckOK StGB/DALLMEYER, 42. Ed. 1.5.<strong>2019</strong>,<br />
§ 114, Rn 2, BUSCH/SINGELNSTEIN, a.a.O., 511). Denn die körperliche Unversehrtheit der Vollstreckungsbeamten<br />
und ihnen gleichgestellter Personen wird mehr geschützt als die körperliche Unversehrtheit<br />
sonstiger Personen, die nur durch § <strong>22</strong>3 StGB, der eine niedrigere Strafandrohung vorsieht, geschützt<br />
wird. Der Gleichheitssatz ist jedoch erst dann verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur<br />
der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung<br />
oder Gleichbehandlung nicht finden lässt (BeckOK Grundgesetz/KISCHEL, 41. Ed. 15.5.<strong>2019</strong>, GG,<br />
Art. 3, Rn 17). Für die Ungleichbehandlung bezüglich des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit von<br />
Vollstreckungsbeamten und ihnen gleichgestellten Personen im Vergleich zum Schutz der körperlichen<br />
Unversehrtheit der sonstigen Personen leuchtet jedoch ein vernünftiger sachlicher Grund ein.<br />
Denn insb. die Vollstreckungsbeamten sind aufgrund ihrer Tätigkeit einem erhöhten Gefahrenpotenzial<br />
hinsichtlich ihrer körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt. Aber auch die Amtsträger i.S.d. § 11<br />
Nr. 2 StGB und Soldaten der Bundeswehr sind besonders schutzbedürftig, da sie durch die Ausübung<br />
von hoheitlicher Gewalt dem Widerstand von Bürgern bzw. Dritter potenziell stärker ausgesetzt sind<br />
als sonstige Personen. Somit ist die Ungleichbehandlung mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.<br />
Gegen diese weite Auslegung wird eine restriktivere Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs<br />
vertreten, die den Begriff so auslegt, dass nur Handlungen erfasst werden sollten, die konkret geeignet<br />
sind, diese Rechtsgüter auch tatsächlich und nicht nur unerheblich zu beeinträchtigen (BUSCH/<br />
SINGELNSTEIN, a.a.O., 512). Dies führt dazu, dass nur solche unmittelbar auf den Körper zielende feindselige<br />
Einwirkungen erfasst sind, die von einigem Gewicht sind (BeckOK StGB/DALLMEYER, 42. Ed. 1.5.<strong>2019</strong>, § 114,<br />
Rn 5). Dadurch sind beispielsweise die „drohend erhobene Hand“ und das „Anrempeln bzw. dessen<br />
Andeutung“ nicht ausreichend, um einen tätlichen Angriff anzunehmen, da sie die Erheblichkeitsschwelle<br />
unterschreiten (BeckOK StGB/Dallmeyer, 42. Ed. 1.5.<strong>2019</strong>, StGB § 114 Rn 5). Dies führt auch<br />
dazu, dass in dem obigen Fallbeispiel der angedeuteten Kopfnuss gegen einen Polizeibeamten die<br />
Erheblichkeitsschwelle nicht überschritten werden würde. Zusammenfassend sollen daher bagatellhafte<br />
und leichte Widerstandshandlungen aus dem Anwendungsbereich ausgeschlossen werden<br />
(BUSCH/SINGELNSTEIN, a.a.O., 513). Als tätlicher Angriff i.S.v. § 114 Abs. 1 StGB kann daher nicht jede<br />
unmittelbar auf den Körper zielende Einwirkung in feindlicher Absicht mit körperlicher Gewalt gelten<br />
(BUSCH/SINGELNSTEIN a.a.O., 513). Die Einwirkung sollte nach dieser engeren Auslegung vielmehr konkret<br />
geeignet sein, das geschützte Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit tatsächlich zu beeinträchtigen<br />
und in einer Weise erfolgen, die eine gewisse Erheblichkeit erreicht (BUSCH/SINGELNSTEIN, a.a.O., 513).<br />
Dies muss auch vom Vorsatz des Täters umfasst sein (BUSCH/SINGELNSTEIN, a.a.O., 514.). Gezielte und<br />
kraftvoll ausgeführte Schläge sowie Tritte genügen jedoch den Anforderungen des restriktiv ausgelegten<br />
Tatbestandsmerkmals (BeckOK StGB/DALLMEYER, 42. Ed. 1.5.<strong>2019</strong>, § 114, Rn 5).<br />
1208 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten Fach 21, Seite 325<br />
Tätlicher Angriff<br />
IV. Verhältnis und Abgrenzung zu § 113 StGB<br />
Im Folgenden wird auf das Verhältnis und auf die Abgrenzung zwischen § 114 und 113 StGB eingegangen,<br />
um letztendlich praktikable Ansätze unter Hinzuziehung der Auslegungen unter III. herauszuarbeiten.<br />
1. Verhältnis zu § 113 StGB<br />
Nachdem der bisherige Meinungsstand zur Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs i.S.d. § 114 StGB<br />
dargestellt wurde, wird nun auf das Verhältnis zu § 113 StGB eingegangen. Zuzustimmen ist der Auffassung,<br />
dass es sich bei § 114 StGB um keine Qualifikation zu § 113 StGB handelt (BUSCH/SINGELNSTEIN,<br />
NStZ 2018, 510, 513). Denn im Gegensatz zu § 113 StGB setzt § 114 StGB nur eine Dienst- und keine<br />
Vollstreckungshandlung voraus (FISCHER, StGB, 66. Aufl., § 114, Rn 4). Somit kann § 113 StGB nicht<br />
Grundtatbestand sein (BUSCH/SINGELNSTEIN, a.a.O., 513).<br />
Denkbar wäre es, dass § 113 StGB lex specialis zu § 114 StGB ist. Denn § 114 StGB setzt im Gegensatz zu<br />
§ 113 StGB nur eine Diensthandlung, die über den Begriff einer Vollstreckungshandlung i.S.d. § 113 StGB<br />
hinaus geht, voraus (FISCHER, a.a.O., § 114, Rn 4). Von der Diensthandlung sind auch solche Handlungen<br />
umfasst, die sich als „schlichte“ Ausübung des Dienstes darstellen (z.B. Streifenfahrten, Befragungen von<br />
Straßenpassanten, Radarüberwachungen, Reifenkontrollen, Unfallaufnahmen, Beschuldigtenvernehmungen<br />
und sonstige Ermittlungstätigkeiten) und damit nicht von § 113 StGB erfasst sind und somit<br />
keine nach Anlass, Person oder Maßnahme konkretisierte Ausführungshandlung dienstlicher Pflichten<br />
enthalten oder beabsichtigen (FISCHER, a.a.O., § 114, Rn 4; SCHÖNKE/SCHRÖDER/ESER, a.a.O., § 114, Rn 5;<br />
SCHIEMANN, NJW 2017, 1846, 1847). Daraus folgt, dass der Anwendungsbereich des § 114 StGB weitreichender<br />
ist als der Anwendungsbereich von § 113 StGB. Dementsprechend sollte eine Strafbarkeit nach § 113<br />
StGB in der Tatvariante „Gewalt“ immer dann gegenüber einer Strafbarkeit nach § 114 StGB vorrangig<br />
sein, wenn sich der Täter einer Vollstreckungshandlung gewaltsam erwehrt bzw. gegen diese Handlung<br />
Widerstand leistet. Gerade für diesen speziellen Fall wurde § 113 StGB kodifiziert. Für diese Sichtweise<br />
spricht im Übrigen, dass § 113 StGB im Gegensatz zu § 114 StGB, der die körperliche Unversehrtheit<br />
schützt, die Autorität konkreter Vollstreckungsakte schützen soll (BUSCH/SINGELNSTEIN, a.a.O., 510 f.).<br />
Damit wurde mit § 114 StGB eine strafschärfende Vorschrift für diejenigen Täter kodifiziert, die eine<br />
einfache Körperverletzung nach § <strong>22</strong>3 StGB zulasten eines Amtsträgers begehen (BT-Drucks 18/1161 vom<br />
14.2.2017, S. 2). Dementsprechend beinhaltet § 114 StGB eine andere Schutzrichtung und folglich einen<br />
anderen Anwendungsbereich als § 113 StGB.<br />
Dagegen kann jedoch angeführt werden, dass § 114 Abs. 3 StGB für den Fall, dass es sich bei der<br />
Diensthandlung um eine Vollstreckungshandlung handelt, die Privilegierungs- und Irrtumsregelungen<br />
des § 113 StGB für anwendbar erklärt. Damit wird deutlich, dass der Gesetzgeber tätliche Angriffe i.R.v.<br />
Vollstreckungshandlungen dem Anwendungsbereich des § 114 StGB unterfallen lassen wollte. Denn es<br />
wird auf den spezielleren Fall – Leistung von Widerstand gegen eine Vollstreckungshandlung gegenüber<br />
einem Amtsträger – verwiesen. Somit wurde § 114 StGB auch strafschärfend für denjenigen Täter<br />
kodifiziert, der gegen die Vollstreckungshandlung mit größerer Gewaltintensität Widerstand leistet.<br />
Dementsprechend wird deutlich, dass der Gesetzgeber i.R.v. Vollstreckungshandlungen drei Eskalationsstufen<br />
erkannt hat, die unterschiedlich bestraft werden: auf der ersten Stufe die Drohung mit<br />
Gewalt (§ 113 StGB), auf der zweiten Stufe die Ausübung von Gewalt (§ 113 StGB) und auf der dritten<br />
Stufe die Ausübung eines tätlichen Angriffs (§ 114 StGB).<br />
2. Abgrenzung zwischen § 114 und 113 StGB<br />
Problematisch erscheinen die Grenzen der jeweiligen Stufen, wobei insbesondere die Grenze zwischen<br />
Gewalt und tätlicher Angriff bislang ungeklärt ist (BeckOK StGB/DALLMEYER, 42. Ed. 1.5.<strong>2019</strong>, § 114, Rn 5.).<br />
Denn ein wuchtiger Schlag in das Gesicht des Beamten, um sich der Vollstreckungshandlung zu<br />
entziehen, erfüllt sowohl den Tatbestand der Gewalt als auch den des tätlichen Angriffs (BeckOK StGB/<br />
DALLMEYER, 42. Ed. 1.5.<strong>2019</strong>, § 114, Rn 5). Zur Abgrenzung könnten die unter III. genannte enge Auslegung<br />
des Begriffs des tätlichen Angriffs dienen, die auf eine Erheblichkeitsschwelle der Gewaltausübung für<br />
das Vorliegen eines tätlichen Angriffs abzielt. Denn die Ausübung eines tätlichen Angriffs i.R.d. Widerstands<br />
gegen eine Vollstreckungshandlung (3. Stufe) ist vom Unrechtsgehalt umfassender als die<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong> 1209
Fach 21, Seite 326<br />
Tätlicher Angriff<br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />
Ausübung von Gewalt (2. Stufe) (so auch im Hinblick auf den Unrechtsgehalt: BeckOK StGB/DALLMEYER,<br />
42. Ed. 1.5.<strong>2019</strong>, § 114, Rn 5). Eine Abgrenzung kann dabei nur anhand des Einzelfalls anhand der jeweiligen<br />
Tatbegehung erfolgen (ausführlicher dazu KULHANEK, JR 2018, 551, 555).<br />
V. Praktische Leitlinien<br />
Im Folgenden werden Einzelfälle beschrieben, in denen eine Zuordnung zu § 113 und 114 StGB im<br />
Rahmen einer Vollstreckungshandlung aus der Sicht des Verfassers eindeutig möglich erscheint.<br />
1. Anwendungsfälle für § 113 StGB (Gewalt oder Drohung mit Gewalt)<br />
• Wildes Umherschlagen zur Verteidigung gegen das Fixieren auf dem Boden durch einen Polizeibeamten<br />
im Rahmen einer Vollstreckungshandlung, die mit unmittelbarem Zwang durchgesetzt wird<br />
(Gewalt),<br />
• Angedeutete Kopfnuss in Richtung des Vollstreckungsbeamten, ohne jegliche Möglichkeit diesen zu<br />
treffen (konkludente Drohung mit Gewalt; s. dazu MüKoStGB/BOSCH, 3.Aufl. 2017, StGB, § 113, Rn 23),<br />
• Wegschubsen des Polizeibeamten im Rahmen einer Vollstreckungshandlung (Gewalt; KULHANEK, JR<br />
2018, 551, 555),<br />
• Handlungsweisen, die bei entsprechender Heftigkeit im Einzelfall primär passiv widersetzenden<br />
Charakter haben (z.B. Blockieren, Festhalten an Gegenständen oder Sich-Stemmen gegen das<br />
Wegbringen), können Gewalt sein (KULHANEK, JR 2018, 551, 555.),<br />
• Ein- und Aussperren eines Vollstreckungsbeamten (Gewalt; KULHANEK, JR 2018, 551, 555).<br />
2. Anwendungsfälle für § 114 StGB (tätlicher Angriff)<br />
• Gezielte, kraftvolle Schläge oder Tritte gegen den Vollstreckungsbeamten (BeckOK StGB/DALLMEYER,<br />
42. Ed. 1.5.<strong>2019</strong>, § 114, Rn 5),<br />
• Beschleunigendes Zufahren mit einem Pkw auf einen Vollstreckungsbeamten (OLG Hamm, Beschl.<br />
v. 12.2.<strong>2019</strong> – 4 RVs 9/19, BeckRS <strong>2019</strong>, 3129),<br />
• Ohrfeige mit Rötung gegen einen Vollstreckungsbeamten,<br />
• Spucken auf den Vollstreckungsbeamten (KULHANEK, JR 2018, 551, 555),<br />
• Übergießen des Vollstreckungsbeamten mit Flüssigkeit (KULHANEK, JR 2018, 551, 555).<br />
Wie die Rechtsprechung die obigen Beispiele in Zukunft handhaben wird, ist nicht abzusehen, aber es<br />
wird deutlich, dass je intensiver und zielgerichteter die Einwirkung auf den Vollstreckungsbeamten<br />
ausfällt, desto eher liegt ein tätlicher Angriff vor. Als Anhaltspunkt für die weitere Abgrenzung zur<br />
Gewalt könnte im Einzelfall hinzugezogen werden, ob die Tätigkeit aus allgemeiner Feindseligkeit gegen<br />
den Staat bzw. Vollstreckungsbeamten begangen worden ist (FISCHER, a.a.O., § 114, Rn 4) oder ob es sich<br />
um eine reine Verteidigungshandlung handelt.<br />
VI. Fazit<br />
Bislang ist die Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs in der Praxis noch sehr unerprobt. Eine weite<br />
Auslegung muss eindeutig abgelehnt werden (so auch BUSCH/SINGELNSTEIN, a.a.O., 510, 514). Zum einen aus<br />
dem Grund, dass der Anwendungsbereich des § 113 StGB hinsichtlich der Tatvariante „Gewalt“ nicht<br />
obsolet werden darf und zum anderen, damit nicht jede Bagatelle einer Strafandrohung von mind. drei<br />
Monaten Freiheitsstrafe unterliegt. Aus der Systematik des Gesetzes ergeben sich eindeutig drei Eskalationsstufen<br />
(Drohung mit Gewalt, Gewalt, tätlicher Angriff), die einen unterschiedlichen Unrechtsgehalt<br />
aufweisen. Dabei muss die Abgrenzung zwischen Gewalt und tätlichen Angriff anhand dem konkreten<br />
Unrechtsgehalt, der Verletzungseignung und Zielrichtung der Tathandlung (ebenso hinsichtlich der<br />
Zielrichtung der Tathandlung abgrenzend: KULHANEK, JR 2018, 551, 555) beurteilt werden. Da dies jedoch nur<br />
anhand des konkreten Einzelfalls erfolgen kann, wird sich eine entsprechende Praxis herausbilden müssen.<br />
Fest steht jedoch, dass sich diese Praxis anhand einer restriktiven Auslegung des Begriffs des tätlichen<br />
Angriffs herauskristallisieren muss und nicht pauschal jede Bagatelle unter den tätlichen Angriff gefasst<br />
werden darf.<br />
1210 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 20.11.<strong>2019</strong>