Erfolg Magazin Ausgabe 6-2019
ILKA BESSIN: Die Frau, die Cindy aus Marzahn war JOACHIM GAUCK: Keine Toleranz für Intoleranz JEANETTE BIEDERMANN: Musik und Liebe HARALD GLÖÖCKLER: Bleib dir selbst treu! MICAELA SCHÄFER: Das nackte Leben TOKIO HOTEL: Erfolgsstory
ILKA BESSIN: Die Frau, die Cindy aus Marzahn war
JOACHIM GAUCK: Keine Toleranz für Intoleranz
JEANETTE BIEDERMANN: Musik und Liebe
HARALD GLÖÖCKLER: Bleib dir selbst treu!
MICAELA SCHÄFER: Das nackte Leben
TOKIO HOTEL: Erfolgsstory
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Einstellung Leben<br />
Joachim Gauck streitet<br />
für eine kämpferische<br />
Toleranz<br />
Joachim Gauck im Interview mit dem<br />
Herder Verlag<br />
Toleranz einfach schwer<br />
Herder Verlag: 2. Auflage<br />
ISBN: 978-3451383243<br />
Preis: 22,–€<br />
Sehr geehrter Herr Gauck, in<br />
Ihrem neuen Buch plädieren<br />
Sie für eine „kämpferische<br />
Toleranz“. Was ist damit gemeint?<br />
Toleranz gebietet, dass ich aushalte und<br />
dulde, was ich falsch finde und ablehne.<br />
Aber Toleranz ist nicht beschränkt auf<br />
passives Erdulden, sie schließt auch den<br />
Aber Toleranz ist nicht<br />
beschränkt auf passives Erdulden,<br />
sie schließt auch den<br />
kämpferischen Wettstreit um<br />
die richtigere Meinung ein.<br />
kämpferischen Wettstreit um die richtige<br />
oder richtigere Meinung ein. Außerdem<br />
muss es in einer demokratischen<br />
Gesellschaft Grenzen der Nachsicht und<br />
Duldsamkeit geben. Wenn Toleranz und<br />
Pluralität bedroht sind, ist gegenüber Intoleranten<br />
auch Intoleranz geboten – als<br />
eine Haltung von Demokraten im Namen<br />
der Grund- und Menschenrechte.<br />
Gibt es in Ihrer eigenen Biografie<br />
Zeiten, in denen Ihnen Toleranz unzumutbar<br />
erschien?<br />
Natürlich, wie bei jedem Menschen immer<br />
wieder! Vor 1990 zum Beispiel gegenüber<br />
einem repressiven Staat, gegenüber<br />
dem ich in keiner Weise tolerant sein<br />
wollte. Da befand ich mich politisch<br />
und moralisch allerdings<br />
auf der Sei-<br />
te der „Guten“. Aber nach 1990 merkte<br />
ich, dass ich auch mit vielem Neuem und<br />
Fremden im freien Westen meine Schwierigkeiten<br />
hatte. Aus der eher abstrakten<br />
Idee Toleranz wurde nun eine nicht immer<br />
bequeme Anforderung im Alltag.<br />
Das hat mich herausgefordert. Wie weit<br />
sollte meine Toleranz reichen? Wo aber<br />
war Intoleranz angezeigt, damit Intolerante<br />
nicht einfach von Gleichgültigkeit<br />
oder falscher Nachsicht profitieren?<br />
Dieser Konflikt tauchte besonders auf,<br />
nachdem ich mit der Funktion des Bundesbeauftragten<br />
für die Stasi-Unterlagen<br />
betraut worden war. Mir vorzustellen,<br />
dass ähnlich wie in den 1950er Jahren in<br />
der Bundesrepublik ehemalige Nazis nun<br />
Richter, Staatsanwälte oder auch Militärs<br />
aus der DDR-Diktatur unterschiedslos<br />
und ungeprüft von der neuen Demokratie<br />
übernommen wurden, erschien mir nicht<br />
nur politisch unklug, es widersprach auch<br />
zutiefst meinem Gerechtigkeitsempfinden.<br />
Das wäre falsche Toleranz gewesen.<br />
Die vielen Aufrufe zur Toleranz klingen<br />
oft sehr angestrengt und anstrengend.<br />
Muss Toleranz immer so sein?<br />
Ich denke, Toleranz ist ohne eine gewisse<br />
Anstrengung nicht zu haben. Das<br />
liegt ganz einfach an der spannungsgeladenen<br />
Ausgangssituation: Ich soll<br />
aushalten, was mich doch immer auch<br />
abstößt. Aber Toleranz „lohnt“ sich auch<br />
– und zwar individuell wie politisch. Sie<br />
ist ein Gebot der Vernunft und belohnt<br />
uns, wo wir sie praktizieren, mit einem<br />
gesellschaftlichen Zusammenleben, das<br />
weniger aggressiv, weniger provokativ,<br />
weniger polarisierend ist.<br />
Hinzu kommt: Die<br />
Überwindung,<br />
die in jedem<br />
toleranten<br />
Akt steckt,<br />
wirft als<br />
weitere<br />
Belohnung ein Freiheitserlebnis ab. Jeder<br />
tolerante Akt führt uns vor Augen: Der<br />
Mensch hat eine Wahl – ich habe eine<br />
Wahl. Toleranz ist, so gesehen, nicht nur<br />
Zumutung und Beschränkung, sondern<br />
auch Selbstermächtigung und Befreiung!<br />
Ist Toleranz in der multikulturellen Gesellschaft<br />
nicht notwendige Voraussetzung<br />
von allem?<br />
Ja – denn Vielfalt kann ohne Toleranz<br />
nicht existieren. Und eine Gesellschaft,<br />
die ethnisch, religiös, kulturell vielfältiger<br />
wird, stellt auch höhere Anforderungen<br />
an unsere Toleranz.<br />
Wenn Multikulturalismus nun meint,<br />
dass sich Menschen trotz unterschiedlicher<br />
Prägungen und auch unterschiedlich<br />
langer Anmarschwege zu einem<br />
gleichberechtigten Zusammenleben<br />
Ich denke, Toleranz ist ohne<br />
eine gewisse Anstrengung<br />
nicht zu haben.<br />
zusammentun in der Verteidigung und<br />
dem Ausbau eines demokratischen, liberalen<br />
Gemeinwesens, dann bejahe ich<br />
Multikulturalismus. Einwanderer haben<br />
unser Land reicher, stärker, vielfaltiger<br />
gemacht.<br />
Wenn Multikulturalismus aber eine politische<br />
Theorie und Praxis meint, die es<br />
verbietet, Kulturen, Glaubensrichtungen<br />
und Lebensformen kritisch zu hinterfragen,<br />
dann lehne ich das Konzept ab. Ich<br />
halte es für falsch, Nachsicht gegenüber<br />
Kulturen zu üben, die Vorbehalte gegenüber<br />
der Aufklärung und den Menschenrechten<br />
haben und frauenfeindlich,<br />
homophob, antisemitisch, antidemokratisch<br />
oder intolerant sind. Eine offene<br />
und liberale Gesellschaft strebt universelle<br />
Menschen- und Bürgerrechte an –<br />
für alle, aus welcher Tradition sie auch<br />
immer kommen mögen.<br />
Bilder: Imago Images/DeFodi<br />
ERFOLG magazin . <strong>Ausgabe</strong> 06/<strong>2019</strong> . www.erfolg-magazin.de<br />
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