Einstellung KEINE TOLERANZ FÜR INTOLERANZ! 6 www.erfolg-magazin.de . <strong>Ausgabe</strong> 06/<strong>2019</strong> . ERFOLG magazin
Einstellung Leben Joachim Gauck streitet für eine kämpferische Toleranz Joachim Gauck im Interview mit dem Herder Verlag Toleranz einfach schwer Herder Verlag: 2. Auflage ISBN: 978-3451383243 Preis: 22,–€ Sehr geehrter Herr Gauck, in Ihrem neuen Buch plädieren Sie für eine „kämpferische Toleranz“. Was ist damit gemeint? Toleranz gebietet, dass ich aushalte und dulde, was ich falsch finde und ablehne. Aber Toleranz ist nicht beschränkt auf passives Erdulden, sie schließt auch den Aber Toleranz ist nicht beschränkt auf passives Erdulden, sie schließt auch den kämpferischen Wettstreit um die richtigere Meinung ein. kämpferischen Wettstreit um die richtige oder richtigere Meinung ein. Außerdem muss es in einer demokratischen Gesellschaft Grenzen der Nachsicht und Duldsamkeit geben. Wenn Toleranz und Pluralität bedroht sind, ist gegenüber Intoleranten auch Intoleranz geboten – als eine Haltung von Demokraten im Namen der Grund- und Menschenrechte. Gibt es in Ihrer eigenen Biografie Zeiten, in denen Ihnen Toleranz unzumutbar erschien? Natürlich, wie bei jedem Menschen immer wieder! Vor 1990 zum Beispiel gegenüber einem repressiven Staat, gegenüber dem ich in keiner Weise tolerant sein wollte. Da befand ich mich politisch und moralisch allerdings auf der Sei- te der „Guten“. Aber nach 1990 merkte ich, dass ich auch mit vielem Neuem und Fremden im freien Westen meine Schwierigkeiten hatte. Aus der eher abstrakten Idee Toleranz wurde nun eine nicht immer bequeme Anforderung im Alltag. Das hat mich herausgefordert. Wie weit sollte meine Toleranz reichen? Wo aber war Intoleranz angezeigt, damit Intolerante nicht einfach von Gleichgültigkeit oder falscher Nachsicht profitieren? Dieser Konflikt tauchte besonders auf, nachdem ich mit der Funktion des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen betraut worden war. Mir vorzustellen, dass ähnlich wie in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik ehemalige Nazis nun Richter, Staatsanwälte oder auch Militärs aus der DDR-Diktatur unterschiedslos und ungeprüft von der neuen Demokratie übernommen wurden, erschien mir nicht nur politisch unklug, es widersprach auch zutiefst meinem Gerechtigkeitsempfinden. Das wäre falsche Toleranz gewesen. Die vielen Aufrufe zur Toleranz klingen oft sehr angestrengt und anstrengend. Muss Toleranz immer so sein? Ich denke, Toleranz ist ohne eine gewisse Anstrengung nicht zu haben. Das liegt ganz einfach an der spannungsgeladenen Ausgangssituation: Ich soll aushalten, was mich doch immer auch abstößt. Aber Toleranz „lohnt“ sich auch – und zwar individuell wie politisch. Sie ist ein Gebot der Vernunft und belohnt uns, wo wir sie praktizieren, mit einem gesellschaftlichen Zusammenleben, das weniger aggressiv, weniger provokativ, weniger polarisierend ist. Hinzu kommt: Die Überwindung, die in jedem toleranten Akt steckt, wirft als weitere Belohnung ein Freiheitserlebnis ab. Jeder tolerante Akt führt uns vor Augen: Der Mensch hat eine Wahl – ich habe eine Wahl. Toleranz ist, so gesehen, nicht nur Zumutung und Beschränkung, sondern auch Selbstermächtigung und Befreiung! Ist Toleranz in der multikulturellen Gesellschaft nicht notwendige Voraussetzung von allem? Ja – denn Vielfalt kann ohne Toleranz nicht existieren. Und eine Gesellschaft, die ethnisch, religiös, kulturell vielfältiger wird, stellt auch höhere Anforderungen an unsere Toleranz. Wenn Multikulturalismus nun meint, dass sich Menschen trotz unterschiedlicher Prägungen und auch unterschiedlich langer Anmarschwege zu einem gleichberechtigten Zusammenleben Ich denke, Toleranz ist ohne eine gewisse Anstrengung nicht zu haben. zusammentun in der Verteidigung und dem Ausbau eines demokratischen, liberalen Gemeinwesens, dann bejahe ich Multikulturalismus. Einwanderer haben unser Land reicher, stärker, vielfaltiger gemacht. Wenn Multikulturalismus aber eine politische Theorie und Praxis meint, die es verbietet, Kulturen, Glaubensrichtungen und Lebensformen kritisch zu hinterfragen, dann lehne ich das Konzept ab. Ich halte es für falsch, Nachsicht gegenüber Kulturen zu üben, die Vorbehalte gegenüber der Aufklärung und den Menschenrechten haben und frauenfeindlich, homophob, antisemitisch, antidemokratisch oder intolerant sind. Eine offene und liberale Gesellschaft strebt universelle Menschen- und Bürgerrechte an – für alle, aus welcher Tradition sie auch immer kommen mögen. Bilder: Imago Images/DeFodi ERFOLG magazin . <strong>Ausgabe</strong> 06/<strong>2019</strong> . www.erfolg-magazin.de 7