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Leseprobe Conte Verlag: Club der Romantiker - Frank P. Meyer

Für ein Treffen mit früheren Kommilitonen kehrt Peter Becker nach Oxford zurück. Doch der eigentliche Grund für seine Reise ist Laureen Mills Beerdigung. Als ihre Leiche jetzt, über zwei Jahrzehnte nach ihrem spurlosen Verschwinden, gefunden wird, erwartet niemand mehr ernsthaft die Aufklärung dieses Falles. Zur selben Zeit sind weitere Ehemalige in Oxford, die die College-Bibliothekarin kannten: Louise, Ed, Brandy Jones und der Bischof – allesamt Mitglieder im exklusiven »Club der Romantiker«. Inspector Osmer ahnt nichts von der Verbindung der Clubmitglieder zur Toten, und sein Vorgesetzter will, dass der alte und scheinbar unlösbare Fall endlich zu den Akten gelegt wird. Aber der Zufall und ein immer nervöser werdender Ex-Romantiker spielen dem Ermittler und seinem übereifrigen Sergeant in die Hände. Ein spannender und überraschender Roman vor und hinter den Kulissen des altehrwürdigen Oxford.

Für ein Treffen mit früheren Kommilitonen kehrt Peter Becker nach Oxford zurück. Doch der eigentliche Grund für seine Reise ist Laureen Mills Beerdigung. Als ihre Leiche jetzt, über zwei Jahrzehnte nach ihrem spurlosen Verschwinden, gefunden wird, erwartet niemand mehr ernsthaft die Aufklärung dieses Falles. Zur selben Zeit sind weitere Ehemalige in Oxford, die die College-Bibliothekarin kannten: Louise, Ed, Brandy Jones und der Bischof – allesamt Mitglieder im exklusiven »Club der Romantiker«. Inspector Osmer ahnt nichts von der Verbindung der Clubmitglieder zur Toten, und sein Vorgesetzter will, dass der alte und scheinbar unlösbare Fall endlich zu den Akten gelegt wird. Aber der Zufall und ein immer nervöser werdender Ex-Romantiker spielen dem Ermittler und seinem übereifrigen Sergeant in die Hände. Ein spannender und überraschender Roman vor und hinter den Kulissen des altehrwürdigen Oxford.

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<strong>Frank</strong> P. <strong>Meyer</strong><br />

<strong>Club</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Romantiker</strong><br />

<strong>Leseprobe</strong><br />

o<strong>der</strong><br />

Das Rätsel um Laureen Mills<br />

Roman CONTE


Mein Vater schenkte mir seinen alten Opel Kadett Kombi. Er<br />

dachte, ich sei jetzt endgültig verloren und wollte mir einen<br />

letzten Gefallen erweisen.<br />

Er und meine Mutter waren heilfroh, als ich mein Studium<br />

geschafft hatte, auch wenn ich mir dafür einige Semester<br />

länger als angekündigt gegönnt hatte. Nach dem Studienabschluss<br />

hätte alles gut sein können. So meinten zumindest<br />

meine Eltern. Und Beate. Sicher hätte ich irgendwo eine Stelle<br />

in Pendlerdistanz zum Baugrundstück bekommen, das mein<br />

Großvater noch in <strong>der</strong> Hinterhand hatte, mit Blick auf das<br />

Dorf und die Flussaue, aber nein, nun wollte ich auch noch<br />

eine Doktorarbeit schreiben.<br />

Schon die Idee mit dem Studium war schwer zu verdauen<br />

gewesen für meine Familie, die seit Generationen ganz auf<br />

Kohle und Stahl gesetzt hatte. Als ich nach dem Abitur gestand,<br />

dass ich mich nirgends wohler fühle als in einer Bibliothek,<br />

erntete ich betrübte Blicke. Bei meinem Vater keimte<br />

zwar zwischenzeitlich die unausgesprochene Hoffnung auf,<br />

<strong>der</strong> nach dem Abitur anstehende Wehrdienst könnte mich<br />

noch zur Vernunft bringen. Aber nachdem ich am östlichen<br />

Rand unserer Republik den Russen, <strong>der</strong> damals angeblich<br />

ständig vor <strong>der</strong> Tür stand, erfolgreich davor abgeschreckt hatte,<br />

die innerdeutsche Grenze zu überschreiten, war ich nicht<br />

mehr an Kompromissen interessiert, und es kam für mich<br />

nicht in Frage, mich für immer in unserem Tal nie<strong>der</strong>zulassen.<br />

Ich studierte vor allem, um von zuhause wegzukommen.<br />

Und wegen des sagenumwobenen Studentenlebens natürlich.<br />

Zum Glück nahmen damals, in den frühen Achtzigern,<br />

— 3 —


eine Handvoll weiterer Primstaler ein Studium auf und zog in<br />

WGs, so dass mein Lebensplan nicht allzu abwegig erschien.<br />

»War doch klar, dass <strong>der</strong> Junge nicht hierbleibt«, meinte<br />

mein Großvater, »<strong>der</strong> passt doch gar nicht hierher«, was mir als<br />

Erklärung nun auch wie<strong>der</strong> nicht gefiel – obwohl mir klar war,<br />

wie er darauf kam: Aufgrund meiner schulterlangen Mähne,<br />

dem üppigen Bart, <strong>der</strong> Nickelbrille, sowie dem mir bereits seit<br />

<strong>der</strong> Bundestagswahl 1983 anhaftenden Verdacht, einer dieser<br />

Grünenwähler im Dorf zu sein, sahen mich nicht nur meine<br />

engsten Verwandten in direkter geistiger Linie zu den 68ern.<br />

Dennoch half mir mein Vater, ein Zimmer in einer heruntergekommenen<br />

Straße hinter <strong>der</strong> stillgelegten Tuchfabrik in Trier<br />

einzurichten. Er freute sich darüber, dass in dieser Nachbarschaft,<br />

<strong>der</strong>en Sozialstruktur man heute als prekär bezeichnen<br />

würde, eine Bude für 160 Mark Warmmiete zu kriegen war.<br />

Immerhin musste er sie bezahlen, bis ich im dritten Semester<br />

ein Stipendium von einer Gewerkschaftsstiftung bekam. Er erschrak<br />

allerdings darüber, dass einer meiner WG-Mitbewohner,<br />

ein Philosophiestudent mit noch gewagterer Barttracht als<br />

ich selbst eine trug, im Treppenhaus freudig verkündete, dass<br />

ich in die um die Ecke liegende Kneipe namens Simplicissimus<br />

getrost noch nach elf Uhr einkehren könne. Ihn jedenfalls würde<br />

ich dort fast jeden Abend bis halb eins antreffen.<br />

Die Dachzimmerbude war in an<strong>der</strong>thalb Stunden komplett<br />

eingerichtet. Da ist die Halbliterflaschenpause schon mit eingerechnet,<br />

die wir uns gönnten, nachdem wir die gerahmten<br />

Bil<strong>der</strong> meiner Lieblingsküsten, Beachy Head und die Klippen<br />

von Moher, über dem kleinen Schreibtisch an die Wand genagelt<br />

hatten.<br />

Nach getaner Arbeit gingen wir durch die Germanstraße, an<br />

zweifelhaften <strong>Club</strong>s mit roten Leuchtreklamen vorbei, zum<br />

— 4 —


Viehmarktplatz, um dort an einer Imbissbude Currywurst mit<br />

Pommes zu essen. In den Schlaglöchern des Platzes stand<br />

schlammgraues Wasser. Die Currywurst war genießbar. Zumal<br />

wir sie mit einem Bier runterspülten und sicherheitshalber<br />

noch einen Kurzen hinterhergossen. Wegen meines verstohlenen<br />

Blicks in Richtung <strong>der</strong> roten Leuchtreklamen machte sich<br />

mein Vater keine Sorgen. Wohl aber wegen meiner unverhohlenen<br />

Vorfreude auf die Bibliotheken. Ich hatte herausgefunden,<br />

dass ich keine zwei Fußminuten von <strong>der</strong> Trierer Stadtbibliothek<br />

entfernt wohnte. Der Blick meines Vaters schien zu<br />

sagen: Also Bibliotheken, mein Junge, da bin ich mir nicht sicher.<br />

Man weiß nie, was einen da erwartet. Als mein Vater sich<br />

verabschiedete, um zurück nach Primstal zu fahren, hoffte er,<br />

noch genau ein einziges Mal bei einem Umzug Hand anlegen<br />

zu müssen, nämlich dann, wenn <strong>der</strong> Spuk vorüber war und ich<br />

nach dem Studium wie<strong>der</strong> nach Hause kam.<br />

Mit dem Stipendium für Oxford hatte niemand ernsthaft rechnen<br />

können, nicht einmal ich selbst. Aus Deutschland wäre<br />

ich auch weggegangen, wenn es nicht Oxford geworden wäre,<br />

trotz <strong>der</strong> gerade herrschenden landesweiten Euphorie. Zuerst<br />

hatte ich die Zusage für ein Stipendium in Dublin bekommen.<br />

Über Dublin hatte ich viel Gutes gehört. Über die Pubs, das<br />

Bier und die Livemusik und über die Irinnen, die angeblich<br />

sehr unkompliziert sein konnten. Einer aus unserem Dorf<br />

wohnte da. Christian. Der war ein o<strong>der</strong> zwei Jahre älter als ich<br />

und hatte Mitte <strong>der</strong> Achtziger, noch während seiner Studienzeit,<br />

in Dublin ein kleines Unternehmen gegründet. Bei ihm<br />

hätte ich bestimmt jobben können. Und wohnen vielleicht.<br />

Auch Rolf und Andi hatten mir von Irland vorgeschwärmt.<br />

Sie überlegten damals selbst, dorthin auszuwan<strong>der</strong>n, wenn<br />

— 5 —


auch nicht nach Dublin, son<strong>der</strong>n an die Westküste. Da hätte<br />

ich also schon Leute gekannt, die wie<strong>der</strong>um Leute kannten,<br />

und das hätte meine Eltern weniger verängstigt. Aber mein<br />

Professor erklärte mich für verrückt, als ich ihm eröffnete, ich<br />

wolle lieber das Stipendium am Dubliner Trinity College annehmen<br />

als das in Oxford. Für Beate machte es keinen Unterschied,<br />

ob ich nach Dublin o<strong>der</strong> Oxford ging. Mit ihr hatte ich<br />

unerfreuliche Diskussionen darüber, dass ich überhaupt länger<br />

als zwei Wochen ohne sie weg wollte. Nicht, dass sie auch<br />

nur einen Augenblick ernsthaft in Erwägung gezogen hätte,<br />

mitzugehen. Nicht um alles in <strong>der</strong> Welt hätte sie Primstal verlassen.<br />

Dann lieber mich. »Ist doch höchstens für zwei Jahre«,<br />

machte ich den kläglichen Versuch, die Streitereien zu beenden,<br />

»den Rest <strong>der</strong> Doktorarbeit schreibe ich dann hier fertig.<br />

Du wirst sehen, wie schnell …« aber ehrlich gesagt wollte<br />

ich, an<strong>der</strong>s als Beate, nicht darüber nachdenken, was in zwei<br />

Jahren sein würde. Also Oxford. Mein Vater bot mir nicht an,<br />

beim Umzug zu helfen und ich bat ihn auch nicht darum. Wir<br />

wussten beide nicht, ob ich schon nach zwei Wochen wie<strong>der</strong><br />

zurückkäme o<strong>der</strong> nie wie<strong>der</strong>.<br />

Deshalb gab er mir seinen alten, metallicgrünen Kadett<br />

Kombi mit. So wie früher Väter ihren Söhnen das Erbschwert<br />

mitgaben o<strong>der</strong> den Familiengaul o<strong>der</strong> was man sonst in <strong>der</strong><br />

Fremde gebrauchen konnte. Natürlich war es auch eine gute<br />

Ausrede für ihn, sich nach zehn Jahren endlich selbst wie<strong>der</strong><br />

einen neuen Wagen anschaffen zu dürfen. Aber ich bin sicher,<br />

er wollte mir – wenn sonst schon nichts – wenigstens ein Gefährt<br />

mitgeben, auf das Verlass war: den altgedienten Familiendiesel,<br />

an dem die schnöden englischen Rovers, Mini Coopers<br />

o<strong>der</strong> diese dreirädrigen Möchtegernautos zerschellten, falls ich<br />

mit den Straßenseiten einmal durcheinan<strong>der</strong>kommen sollte.<br />

— 6 —


Da ich eine Abendfähre gebucht hatte, fuhr ich am helllichten<br />

Tag los und machte gleich auf den ersten Kilometern einen<br />

Umweg über einen <strong>der</strong> Hügel, um einen letzten Blick auf<br />

das Tal zu werfen.<br />

Nach <strong>der</strong> Fährüberfahrt überhitzte schon kurz hinter Ashford<br />

<strong>der</strong> Motor. Unserem treuen Familiendiesel bekam offensichtlich<br />

die Inselluft nicht. Wäre er ein Gaul gewesen, hätte ich<br />

ihn erschießen müssen. Bei Maidstone fuhr ich von <strong>der</strong> Autobahn<br />

ab und war froh, dass ich mitten in <strong>der</strong> Nacht eine Werkstatt<br />

fand, in <strong>der</strong> noch Licht brannte. Wenige Sekunden, nachdem<br />

ich die Klingel gedrückt hatte, war <strong>der</strong> Werkstattbesitzer<br />

an <strong>der</strong> Tür. Er könne sowieso nicht schlafen, sagte er, bevor ich<br />

eine Entschuldigung zurechtstottern konnte. Er blickte in den<br />

bis unters Dach mit Kram vollgepackten Kadett, dann auf das<br />

Nummernschild und fragte, in welche Richtung ich unterwegs<br />

sei: nach Hause o<strong>der</strong> weg von dort. Ich sagte, dass ich zum Studieren<br />

nach England käme. Erwähnte nichts von einer Doktorarbeit<br />

und schon gar nichts von Oxford. Er fragte auch nicht<br />

weiter. »Schätze, du bist in <strong>der</strong> falschen Richtung unterwegs«,<br />

sagte er, »bei euch ist doch gerade richtig was los. Da geht’s jetzt<br />

bergauf. Mischt wie<strong>der</strong> ganz oben mit in <strong>der</strong> Weltpolitik und<br />

so.« Er sagte es ganz ruhig, ohne Groll. Er brauchte nicht lange,<br />

bis er die Stelle fand, wo das Kühlwasser austrat. Er wechselte<br />

einen Schlauch, bastelte an einem Ventil herum und meinte<br />

schließlich: »Jetzt geht’s wie<strong>der</strong>, zumindest für eine Weile.«<br />

Er berechnete mir nur die Materialkosten für den Schlauch<br />

und die nachgefüllte Kühlflüssigkeit, und bot mir einen Kaffee<br />

an. Während wir den tranken, erzählte er mir, dass sein Sohn<br />

wohl genau so alt sei wie ich. Zwei, drei Jahre jünger vielleicht.<br />

»Wo ist er?«, fragte ich und wun<strong>der</strong>te mich über mich selbst,<br />

dass ich das fragte.<br />

— 7 —


»Momentan noch in Deutschland stationiert. Seine Einheit<br />

wird aber wohl bald in den Golf verlegt. Kuwait, so viel ich<br />

weiß«, antwortete <strong>der</strong> Vater nach kurzem Zögern, »hab son<strong>der</strong>barerweise<br />

schon seit Wochen nichts von ihm gehört. Sei<br />

froh, dass ihr euch die letzten Jahrzehnte aus so einem Mist<br />

raushalten konntet.« Er machte mir den Tank voll, bevor ich<br />

weiterfuhr, und winkte ab, als ich für den Sprit zahlen wollte.<br />

Es war noch stockdunkel, als ich von den Chilterns ins Themsetal<br />

fuhr. Erst als ich nach Oxford kam, begann sich das<br />

dunkle Blau über den träumenden Türmen aufzuhellen. Bevor<br />

ich in die Stadt kam, machte ich in einem Park im Vorort<br />

Headington eine kurze Pause, um den restlichen Marmorkuchen<br />

aufzuessen, den meine Mutter mir gebacken hatte. Von<br />

dort oben sah Oxford aus wie ein zu groß geratenes Dorf.<br />

Die einzigen Fahrzeuge, die mir in <strong>der</strong> High Street begegneten,<br />

waren <strong>der</strong> Milchwagen und ein fast leerer Linienbus. Die<br />

runden Scheinwerfer des Milchwagens blickten mich traurig<br />

an, und <strong>der</strong> Bus schien mir im Vorbeifahren zuzuraunen: Was<br />

willst du denn hier? Kehr um, noch schläft Oxford, noch hat<br />

niemand mitbekommen, dass du hier warst!<br />

Ich bog von <strong>der</strong> falschen Seite in die Turl Street ein. Der<br />

Straßenplan, den ich auf den Oberschenkeln ausgebreitet<br />

hatte, zeigte zwar die Einbahnstraßen mit Pfeilen an, aber ich<br />

ignorierte sie einfach und war froh, in dem mittelalterlichen<br />

Straßengewirr überhaupt zum Tor <strong>der</strong> Pförtnerloge zu finden,<br />

vor dem ein absolutes Halteverbot galt. Ich war hundemüde<br />

und wollte nur den Schlüssel für mein Zimmer haben und<br />

herausfinden, wo genau dieser Parkplatz in <strong>der</strong> Farndon Road<br />

war, auf dem ich das Auto abstellen durfte.<br />

Ich atmete durch, bevor ich eintrat. Ab 6 Uhr sei die Porters’<br />

— 8 —


Lodge besetzt, hatte das College mir geschrieben. Als ich eintrat,<br />

fröstelte es mich bei dem Gedanken, dass ich hier keinen<br />

einzigen Menschen kannte. Und niemand mich. Ich wusste<br />

nicht einmal, was ich jetzt tun musste. Mich anmelden wie<br />

in einem Hotel? Mich vorstellen? Mit Vor- und Nachnamen?<br />

Als ich durch das geöffnete Glasfenster in die Pförtnerstube<br />

schaute, sah ich eine hagere Gestalt im dunklen Anzug und<br />

die grauen Haare eines Hinterkopfes. Der Pförtner sortierte<br />

etwas in einem großen Schlüsselkasten, <strong>der</strong> an <strong>der</strong> Wand hing.<br />

Obwohl ich mich nicht bemerkbar gemacht hatte, drehte <strong>der</strong><br />

Pförtner sich plötzlich um, blickte mich einen Augenblick an<br />

und sagte dann: »Sieh an, Peter, Peter Becker, nicht wahr? Ich<br />

hoffe, Sie hatten eine gute Reise von Trier? Willkommen im<br />

Jesus College!«<br />

»Die College-Pförtner haben auch Augen am Hinterkopf«,<br />

erzählte mir Alex später, »und die Hüter <strong>der</strong> Toreingänge riechen,<br />

wenn jemand etwas ausgefressen hat. Außerdem kennen<br />

sie sämtliche Studenten ihres Colleges namentlich. Sie<br />

kriegen vor Semesterbeginn eine Liste <strong>der</strong> Neuen und <strong>der</strong>en<br />

Fotos und lernen die Namen auswendig. So wissen sie schon,<br />

wer man ist, bevor man zum erstem Mal über die Schwelle<br />

<strong>der</strong> Pförtnerloge tritt.« Einige <strong>der</strong> neuen Studenten fühlten<br />

sich dadurch wie eine Berühmtheit. An<strong>der</strong>e wie<strong>der</strong>um fragten<br />

sich erschrocken, ob schon Steckbriefe mit ihrem Konterfei<br />

in Oxford aushingen, bevor man überhaupt etwas ausgefressen<br />

hatte.<br />

Der Pförtner erlaubte mir nicht, den Kadett gleich auszuladen,<br />

da ab halb sieben die Turl und die Ship Street Milchautos,<br />

Kehrmaschinen und an<strong>der</strong>en Liefer- und Arbeitsfahrzeu-<br />

— 9 —


gen vorbehalten seien. Er gestattete mir, eine Reisetasche für<br />

eine halbe Stunde bei ihm in <strong>der</strong> Porters’ Lodge zu deponieren,<br />

den Rest könne ich ja am Abend nach dem Dinner ausladen,<br />

da sei die Ship Street weniger frequentiert. Der Pförtner<br />

sprach ein Englisch wie aus einem uralten Schulbuch. Ich bekam<br />

eine Parkmarke für den Hof des Studentenwohnheims<br />

Stevens Close, wo ich den Kombi sogleich hinbrachte. Von<br />

dort ging ich eine Viertelstunde zurück ins College, um mir<br />

endlich mein Zimmer anzusehen. Auf dem Weg sah ich in <strong>der</strong><br />

St. Giles’ Street, gleich neben <strong>der</strong> St. Benet’s Hall, einen Obdachlosen<br />

am Gehsteigrand auf einer niedrigen Mauer sitzen.<br />

Zwei mit alten Klei<strong>der</strong>n und Flaschen gefüllte Co-op-Tüten<br />

standen vor <strong>der</strong> Mauer, wo auch ein alter Schlafsack lag. Er<br />

trug einen spitzen Zauberhut und jonglierte gekonnt mit drei<br />

Zwiebeln. »Haben Sie etwas Kleingeld, verdammt?«, murmelte<br />

er. Ich kramte eine 50-Pence-Münze aus <strong>der</strong> Hosentasche.<br />

Er jonglierte alle drei Zwiebeln in eine Hand und streckte die<br />

an<strong>der</strong>e aus. Ich legte die Münze in seine Handfläche. Die Finger<br />

schnappten zu, wie eine fleischfressende Pflanze, in die<br />

sich eine Fliege verirrt. Im Nu ließ er die 50 Pence in <strong>der</strong> Jackentasche<br />

verschwinden und warf die Zwiebeln wie<strong>der</strong> hoch.<br />

»Etwas Kleingeld?«, murmelte er wie<strong>der</strong>, »verdammt.«<br />

3<br />

Niemand erwartet von Detective Chief Inspector Osmer ernsthaft,<br />

dass er diesen Fall löst, und er selbst hat auch nicht vor, sich<br />

länger mit diesen alten Knochen zu befassen. Selbst <strong>der</strong> Chief<br />

Superintendent hatte ihm klar gesagt, er solle bloß nicht zu viel<br />

Zeit auf diese alte Sache verschwenden, die sowieso nicht mehr<br />

aufzuklären sei. Keiner von denjenigen, <strong>der</strong>en Aufgabe das ei-<br />

— 10 —


gentlich gewesen war, ist noch bei <strong>der</strong> Thames Valley Polizei.<br />

Die Knochen des damaligen hauptverantwortlichen Ermittlers,<br />

Inspector Pilkington, sind inzwischen genau so verblichen wie<br />

die von Laureen Mills, nur dass niemand das Bedürfnis o<strong>der</strong> einen<br />

Anlass hat, Pilkingtons Gebeine genauer unter die Lupe zu<br />

nehmen. Sie ruhen in Frieden auf einem malerischen Friedhof<br />

in Abingdon. Die verschwundene Bibliothekarin war einer von<br />

Pilkingtons letzten Fällen gewesen. Kurz zuvor hatte er noch<br />

den Mord an einer Oxfor<strong>der</strong> Büroangestellten aufgeklärt, <strong>der</strong>en<br />

Mann sie erschlagen, ihre Innereien ausgeweidet und den restlichen<br />

Körper so präpariert hatte, dass die Leiche nicht roch,<br />

und sie schließlich zuhause im Wohnzimmer unterm Holzfußboden<br />

deponierte. Die breiten Holzdielen, unter denen die<br />

Leiche lag, hatte <strong>der</strong> Mör<strong>der</strong> im Blickfeld, wenn er sich samstagsabends<br />

im Fernsehen die Topspiele in Match of the Day<br />

ansah. Aber die alte Spürnase Pilkington fand auch geruchlose<br />

Leichen. Außerdem hatte er sich in Oxford 1991 dadurch eine<br />

solide Popularität erworben, dass er einige <strong>der</strong> gefürchteten<br />

Joyri<strong>der</strong> erwischte. Deshalb wurde bei seiner Abschiedsfeier<br />

1992 in keiner <strong>der</strong> zahlreichen Lobreden, eine davon von Chief<br />

Constable Sir Charles Pollard persönlich, darauf eingegangen,<br />

dass Pilkington einen Fall ungelöst hinterlassen hatte. Seine<br />

Nachfolger wechselten in rascher Abfolge und hatten mit so<br />

verschiedenen kniffligen Fällen zu tun, dass die verschwundene<br />

Bibliothekarin des University College irgendwann nebensächlich<br />

wurde und sich bei <strong>der</strong> Thames Valley Police niemand<br />

mehr darum kümmerte. Fairerweise muss man sagen, dass damals<br />

keinerlei Anhaltspunkte ermittelt werden konnten, die im<br />

Zusammenhang mit dem plötzlichen Verschwinden von Laureen<br />

Mills auf ein Verbrechen hatten schließen lassen. Es kam<br />

durchaus vor, dass jemand Oxford fluchtartig und ohne sich zu<br />

— 11 —


verabschieden verließ. Allerdings handelte es sich dabei zumeist<br />

nicht um festangestellte Bibliothekarinnen.<br />

Und auch jetzt, ein knappes Vierteljahrhun<strong>der</strong>t später, liegen<br />

außer <strong>der</strong> Leiche keine wirklich neuen Erkenntnisse vor. Selbst<br />

die lokale Presse interessiert sich nur mäßig für den Fall, was<br />

zum einen daran liegt, dass in <strong>der</strong> Öffentlichkeit die Aufregung<br />

über die Brexit-Wahl immer noch alle an<strong>der</strong>en Themen überdeckt.<br />

Zum an<strong>der</strong>en hat die Polizei <strong>der</strong> Presse bislang einige<br />

wichtige Details zum Leichenfund vorenthalten, um noch kein<br />

Täterwissen preiszugeben. Inzwischen ist die Leiche zur Beerdigung<br />

freigegeben. Die halbherzig geführten Ermittlungen<br />

haben keinerlei Ergebnisse gebracht. Detective Chief Inspector<br />

Osmer, den seine Kollegen auch No Osmer nennen, weil er auf<br />

unbritische Art sehr unverblümt »Nein« sagen kann, darf es<br />

sich schon als Erfolg anrechnen lassen, überhaupt herausgefunden<br />

zu haben, dass es sich bei dem zufälligen Leichenfund<br />

um die Gebeine <strong>der</strong> Bibliothekarin Mills handelt. Dazu hatte<br />

es <strong>der</strong> Hilfe einer Pathologin aus London bedurft, die DCI Osmer<br />

während seiner Zeit in Birmingham kennen und schätzen<br />

gelernt hatte. Das immerhin hatte die zufällige Entdeckung <strong>der</strong><br />

Leiche als erfreulichen Nebeneffekt mit sich gebracht, nämlich<br />

dass die Pathologin mehrere Tage in Oxford verbringen<br />

musste, unter an<strong>der</strong>em um die ungewöhnliche Fundstelle <strong>der</strong><br />

sterblichen Überreste genauer unter die zu Lupe nehmen. Die<br />

Fundstelle wird vor <strong>der</strong> Öffentlichkeit noch geheim gehalten.<br />

Nur die Leitung und <strong>der</strong> Chef-Pförtner des University College<br />

sind darüber informiert, wo und unter welchen Umständen<br />

die ehemalige Mitarbeiterin gefunden wurde. Dass es sich tatsächlich<br />

um die vor über 24 Jahren verschwundene Laureen<br />

Mills handelt, konnte die Pathologin aufgrund des Gebissab-<br />

— 12 —


drucks feststellen, den <strong>der</strong> ehemalige schottische Zahnarzt <strong>der</strong><br />

Verschwundenen noch immer in seiner Praxis im Glasgower<br />

Stadtteil Partick aufbewahrt.<br />

Inspector Osmer begleitet die Pathologin nach Abschluss ihrer<br />

Arbeit zum Bahnhof. Sie sprechen nicht über den Fall. Gestern<br />

Abend hat die Kollegin ihre Untersuchungen in Oxford<br />

abgeschlossen. Vor ihrer Rückkehr nach London bestand sie<br />

darauf, mit Osmer auszugehen. Dazu hatte Osmer nicht »no«<br />

gesagt. Auch nicht dazu, dass sie nach <strong>der</strong> letzten Runde im<br />

White Horse noch mit in seine Wohnung gekommen war.<br />

Bevor er ihr beim Einsteigen in den Zug mit dem Gepäck<br />

hilft, lächeln beide sich verlegen an. »Danke«, sagt Inspector<br />

Osmer, »es war schön, mit dir … zu arbeiten.«<br />

Sie errötet. »Ich habe zu danken, Herr Kollege.«<br />

Er bleibt nicht am Bahnsteig stehen, um ihr nachzuwinken,<br />

denn das tut man nicht unter Kollegen. Man weiß nie, ob<br />

nicht sonst noch irgendwelche Beamten <strong>der</strong> Thames Valley<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Metropolitan Police per Zug unterwegs sind.<br />

Bevor er zurück ins Büro geht, kauft er sich die Oxford Mail.<br />

»Entschuldigung«, sagt er zu einem Mann, den er am Zeitungsstän<strong>der</strong><br />

versehentlich anrempelt. »Kein Problem«, antwortet<br />

<strong>der</strong> und greift nach <strong>der</strong> Oxford Times. Er trägt einen grünweißen<br />

Schal.<br />

*<br />

Peter Becker wirft die Zeitung aufs Bett und wickelt sich den<br />

Schal vom Hals.<br />

Nachdem er zu Fuß vom Bahnhof zur Porters’ Lodge gegangen<br />

war, hatte er sich zunächst nach Ray erkundigt. Aber<br />

die beiden jungen Pförtner wissen nichts von einem Ran-<br />

— 13 —


dom Ray. Haben noch nie von ihm gehört. Sie lächeln Becker<br />

freundlich zu. Natürlich ist Ray schon längst nicht mehr im<br />

College. Er muss schon Anfang <strong>der</strong> Neunziger an die 60 gewesen<br />

sein. Wer weiß, ob er überhaupt noch lebt.<br />

In <strong>der</strong> Porters’ Lodge erfährt Peter, dass im College selbst<br />

kein Zimmer mehr frei ist. Er muss mit einem Zimmer in<br />

<strong>der</strong> Ship Street vorliebnehmen. Von dort hat er einen direkten<br />

Blick auf die College-Bibliothek und auf das nördliche<br />

Eingangsportal. Auf dem Weg durchs College zur Ship Street<br />

bildet er sich ein, die steinernen Fratzen <strong>der</strong> Wasserspeier<br />

beäugten ihn argwöhnisch, so als ob sie ihn wie<strong>der</strong>erkennen<br />

und sich daran erinnern, was er damals getan hat.<br />

Er blättert in <strong>der</strong> Oxford Times, die er am Bahnhof gekauft<br />

hat, und überfliegt den kurzen Artikel, den er zur Beerdigung<br />

findet: »Leiche freigegeben, Beisetzung am Freitagnachmittag,<br />

15 Uhr … University College übernimmt die Beerdigungskosten.«<br />

Nichts über polizeiliche Ermittlungen. Er will gar<br />

nicht wirklich wissen, was in letzter Zeit über den Fall berichtet<br />

worden ist. In <strong>der</strong> Beerdigungsankündigung steht nichts<br />

davon, was die Obduktion ergeben hat. Kann man eine fast 25<br />

Jahre alte Leiche noch obduzieren? Es wird lediglich erwähnt,<br />

dass die Todesumstände noch immer ungeklärt seien. Aber<br />

die Kugel in Laureens Schädel werden sie doch wohl gefunden<br />

haben. Ob die Thames Valley Police noch an dem Fall<br />

dran ist? In den überregionalen Nachrichten hat Peter nichts<br />

über den Fall gehört. Er weiß überhaupt nur von Corvus’ Anruf,<br />

dass die Leiche gefunden wurde und dass morgen die<br />

Beerdigung stattfindet; von polizeilichen Ermittlungen hatte<br />

Corvus nichts gesagt. Falls doch noch welche im Gange sind,<br />

ist Peter Becker zur falschen Zeit am falschen Ort.


<strong>Frank</strong> P. <strong>Meyer</strong> Jahrgang 1962. Lebt in Primstal und Trier. Er<br />

studierte Anglistik, Germanistik und Nie<strong>der</strong>ländische Philologie<br />

in Trier und Oxford, war danach wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />

an <strong>der</strong> Universität Hildesheim und ist heute Leiter <strong>der</strong><br />

Studienberatung an <strong>der</strong> Universität Trier.<br />

Nach verschiedenen Veröffentlichungen als literarischer<br />

Übersetzer folgten ab 2005 zwei Erzählbände (»Raum 101«<br />

und »Es war mir ehrlich gesagt völlig egal«). 2012 erschien sein<br />

erster Roman: »Normal passiert da nichts«. Der zweite Roman,<br />

»Hammelzauber«, kam zur Leipziger Buchmesse 2016 heraus.<br />

2012 war <strong>Frank</strong> P. <strong>Meyer</strong> Trierer Stadtschreiber. Die während<br />

dieser Zeit entstandenen Stadtschreiber-Kolumnen sind 2013<br />

unter dem Titel »Zwangsgeranisierung« erschienen und wurden<br />

2014 mit dem Saar-Hunsrück-Literaturpreis ausgezeichnet.<br />

© Elke Janssen<br />

— 15 —


»In <strong>der</strong> Zeitung wird erwähnt, dass die Todesumstände<br />

noch immer ungeklärt seien. Kann man eine<br />

24 Jahre alte Leiche noch obduzieren? Aber die Kugel in<br />

Laureens Schädel werden sie wohl gefunden haben.<br />

Ob die Oxfor<strong>der</strong> Polizei noch an dem Fall dran ist?«<br />

Für ein Treffen mit früheren Kommilitonen kehrt Peter<br />

Becker nach Oxford zurück. Doch <strong>der</strong> eigentliche Grund<br />

für seine Reise ist Laureen Mills Beerdigung. Als ihre Leiche<br />

jetzt, über zwei Jahrzehnte nach ihrem spurlosen Verschwinden,<br />

gefunden wird, erwartet niemand mehr ernsthaft die<br />

Aufklärung dieses Falles. Zur selben Zeit sind weitere Ehemalige<br />

in Oxford, die die College-Bibliothekarin kannten: Louise,<br />

Ed, Brandy Jones und <strong>der</strong> Bischof – allesamt Mitglie<strong>der</strong><br />

im exklusiven »<strong>Club</strong> <strong>der</strong> <strong>Romantiker</strong>«. Inspector Osmer ahnt<br />

nichts von <strong>der</strong> Verbindung <strong>der</strong> <strong>Club</strong>mitglie<strong>der</strong> zur Toten, und<br />

sein Vorgesetzter will, dass <strong>der</strong> alte und scheinbar unlösbare<br />

Fall endlich zu den Akten gelegt wird. Aber <strong>der</strong> Zufall und<br />

ein immer nervöser werden<strong>der</strong> Ex-<strong>Romantiker</strong> spielen dem<br />

Ermittler und seinem übereifrigen Sergeant in die Hände.<br />

Ein spannen<strong>der</strong> und überraschen<strong>der</strong> Roman vor und hinter<br />

den Kulissen des altehrwürdigen Oxford.<br />

<strong>Frank</strong> P. <strong>Meyer</strong> <strong>Club</strong> <strong>der</strong> <strong>Romantiker</strong><br />

Roman, ISBN 978-3-95602-151-0<br />

432 Seiten, Französische Broschur, 18,00 Euro<br />

www.conte-verlag.de

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