ZAP-2019-20

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18.10.2019 Aufrufe

Fach 18, Seite 1696 Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2019 Rechtsprechung Dem Kläger kann keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, weil der Kläger nicht i.S.d. § 67 Abs. 1 SGG „ohne Verschulden“ gehindert war, innerhalb der Monatsfrist die entsprechende Erklärung beim BSG einzureichen. Insbesondere war der Kläger, so das BSG, hieran nicht wegen Krankheit gehindert, was nur der Fall gewesen wäre, wenn er krankheitsbedingt weder in der Lage gewesen wäre, selbst zu handeln noch einen Dritten hiermit zu beauftragen. Den vorgelegten Unterlagen war nicht zu entnehmen, dass die attestierte Erkrankung so schwer war, dass sie jegliches eigenständiges Handeln des Klägers bis zum Ablauf der Frist ausschloss. Auch stand dem bereits entgegen, dass der Kläger unbeachtet der bescheinigten Erkrankungen zwei Tage vor dem Fristablauf in der Lage war, mittels Telefax Nichtzulassungsbeschwerde einzulegen und PKH zu beantragen sowie einen Tag später die Erklärung zu unterschreiben, die dann einen Tag nach Fristablauf einging. Da die vom Kläger selbst eingelegte Beschwerde nicht den zwingenden gesetzlichen Vorschriften entsprach, weil sie nicht durch einen vor dem BSG zugelassenen Bevollmächtigten eingelegt worden ist, war sie durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs. 4 S. 1 Hs. 2 i.V.m. § 169 S. 3 SGG). Hinweise: 1. Anwaltlich nicht vertretene Beteiligte, die gegen ein LSG-Urteil, das die Revision nicht zulässt, Revision bzw. zunächst Nichtzulassungsbeschwerde einlegen wollen, jedoch hierfür PKH beanspruchen wollen, müssen innerhalb der Monatsfrist zur Einlegung des Rechtsmittels (Revision: § 164 Abs. 1 S. 1 SGG, Nichtzulassungsbeschwerde § 160a Abs. 1 S. 2 SGG) einen PKH Antrag nebst Erklärung beim BSG einreichen und Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten beantragen. Wird PKH bewilligt, ist durch den Bevollmächtigten innerhalb der Monatsfrist des § 67 Abs. 2 S. 1 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen und gleichzeitig die Einlegung des Rechtsmittels nachzuholen (§ 67 Abs. 2 S. 3 SGG). Für die Begründung des Rechtsmittels steht nach der Rechtsprechung des BSG dann ab Zustellung der PKH- Bewilligung eine Frist von zwei Monaten zur Verfügung, wobei die Frist zur Revisionsbegründung mehrfach, diejenige zur Nichtzulassungsbeschwerde aber nur einmal bis zu einem Monat (§ 160a Abs. 2 S. 2 SGG) verlängert werden kann. 2. § 67 SGG findet gem. § 84 Abs. 2 S. 3 SGG auch im Widerspruchsverfahren Anwendung, für Verfahrensfristen im Verwaltungsverfahren gilt § 27 SGB X (zu den inhaltlichen Unterschieden zwischen den beiden Vorschriften s. SARTORIUS ZAP F. 18, 1618). Ein Wiedereinsetzungsantrag braucht nicht ausdrücklich gestellt zu werden; er kann auch stillschweigend in einem Schriftsatz enthalten sein, wobei es ausreicht, dass in dort konkludent zum Ausdruck gebracht wird, das Verfahren trotz verspäteter Einreichung der Rechtsmitteleinlegungs- oder Rechtsmittelbegründungsschrift fortsetzen zu wollen (BGH 12.6.2019 – XII ZB 432/18). Der BGH leitet seiner Auffassung aus dem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) her, welches es den Gerichten verbietet, den Beteiligten den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, auf Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren, Rn 6 des Beschlusses. 3. PKH ist generell nur zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Erfolgsaussicht bietet. Dabei ist nicht nur auf die Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG, sondern auch auf den möglichen Erfolg in der Hauptsache abzustellen (BSG v. 4.2.2019 – B 8 SO 21/18 BH, s. Anm. SCHMIDT, NZS 2019, 438). 4. Effektiver Rechtsschutz für die vorläufige Bewilligung eines persönlichen Budgets Auf Antrag der Leistungsberechtigten werden Leistungen zur Teilhabe (s. § 4 SGB IX, die in Betracht kommenden Leistungsgruppen finden sich in § 5 SGB IX) durch die Leistungsform eines Persönlichen Budgets ausgeführt, um den Leistungsberechtigten in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, § 29 Abs. 1 S. 1 SGB IX. Entsprechendes gilt bei Leistungen der Eingliederungshilfe nach §§ 53, 57 SGB XII. Die Leistung wird als individuell bedarfsgerecht gemessener Geldbetrag zur Verfügung gestellt, mit ihnen können die benötigten Dienstleistungen und Waren in eigener Regie beschafft werden. Auch insofern kommt die Gewährung von Eilrechtsschutz nach § 86b Abs. 2 SGG in Betracht. 1086 ZAP Nr. 20 23.10.2019

Rechtsprechung Fach 18, Seite 1697 Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2019 a) Einfach gesetzlicher Prüfungsmaßstab gem. § 86 b Abs. 2 S. 2 u. 4, SGG, § 103 SGG, § 920 Abs. 2 ZPO Durch Beschl. v. 28.1.2019 – L 18 SO 320/18 B ER hat das LSG Bayern unter Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanz einem Kind, das von Geburt an beidseitig hörgemindert ist und bei dem Sprachentwicklungsstörungen aufgetreten sind, einen Hausunterricht in Gebärdensprache als persönliches Budget für vier Stunden pro Woche zu jeweils 50 € zugesprochen. Das Gericht prüft zunächst den einfachgesetzlichen Prüfungsmaßstab: dieser ergibt sich aus den Bestimmungen der § 86b Abs. 2 S. 2 SGG, § 103 SGG (Untersuchungsgrundsatz) und § 86b Abs. 2 S. 4 SGG, § 920 Abs. 2 ZPO (Glaubhaftmachung). Diese regeln im Zusammenspiel: Ein Eilantrag ist erfolgreich, wenn der zu sichernde Hauptsacheanspruch den Antragstellern mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zusteht (sog. Anordnungsanspruch) und ihnen im Zeitraum bis zum Ergehen der Hauptsacheentscheidung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine nicht unerhebliche Rechtsverletzung, also ein wesentlicher Nachteil, droht (sog. Anordnungsgrund). Ergibt sich nach diesem Maßstab kein Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Anordnung – aber nur dann –, ist aufgrund des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) eine Güter- und Folgenabwägung vorzunehmen (s. hierzu etwa bereits BVerfG v. 6. 8. 2014 – 1 BvR 1453/12 und v. 14.9.2016 – 1 BvR 1335/13, ferner die nachfolgend unter b) dargestellte Entscheidung). Hierbei sind die in die Eilentscheidung einzubeziehenden Abwägungselemente des (jedenfalls möglichen) prospektiven Hauptsacheerfolgs und der (jedenfalls möglicherweise) ohne Eilrechtsschutz drohenden Beeinträchtigungen nach Beeinträchtigungs- und Wahrscheinlichkeitsgraden im Rahmen einer offenen Abwägung von den Gerichten zu gewichten. Um dem Eilantrag stattzugeben, kann so bei entsprechender Schwere der ohne Eilrechtsschutz drohenden Beeinträchtigungen bereits die Möglichkeit des Bestehens eines Hauptsacheanspruchs ausreichen. Um den Eilantrag unter Orientierung an der Hauptsache abzulehnen, ist bei entsprechender Schwere der ohne Eilrechtsschutz möglichen Beeinträchtigung ggf. schon im Eilverfahren eine abschließende Prüfung der Hauptsache durchzuführen. Vorliegend hatte der Eilantrag bereits nach einfachgesetzlichen Maßstäben Erfolg, da nach den getroffenen Feststellungen eine Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der beantragte Kurs geeignet und erforderlich ist, die Fähigkeiten des Antragstellers, an der Gesellschaft teilzuhaben und damit die Aufgabe der Eingliederungshilfe zu erfüllen (§ 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII), maßgeblich zu verbessern. Das LSG führt hilfsweise aus, dass auch eine Güter- und Folgeabwägung zugunsten des Antragstellers ausfiele. Es hält den Eintritt von schweren Beeinträchtigungen bei Nichtgewährung des beantragten Eilrechtsschutzes jedenfalls für denkbar, weil Gefährdungssituationen vorliegen, in denen eine Verständigung mit dem Antragsteller nur durch Gebärdensprache möglich ist, um Gefahren zu vermeiden. Auch wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit entsprechender Situationen nicht allzu hoch sein möge, wäre es schwerwiegend, wenn sich die entsprechenden Gefahren realisieren. Auch die Folgenabwägung im Sinne der sog. Doppelhypothese (Folgen bei Unterliegen im Eilverfahren/Obsiegen in der Hauptsache einerseits und bei Obsiegen im Eilverfahren/Unterliegen in der Hauptsache andererseits) spreche für die vorläufige Kostenverpflichtung des Antragsgegners. Im erstgenannten Fall ist der Eintritt der oben genannten Beeinträchtigungen möglich. Im letztgenannten Fall kommt es lediglich zur Rückzahlungsverpflichtung des Antragstellers, wobei der Senat das Risiko eines Anspruchsverlustes des Antragsgegners für gering erachtet. Hinweis: Die LSG entscheiden im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes letztinstanzlich, ihre Entscheidungen sind nicht reversibel. Bei Verletzung von Grundrechten und anderer in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten Rechte ist aber Verfassungsbeschwerde möglich. Einschlägig ist im vorliegenden Zusammenhang das aus Art. 19 Abs. 4 GG folgende Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (s. hierzu nachfolgend). ZAP Nr. 20 23.10.2019 1087

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Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Rechtsprechung<br />

Dem Kläger kann keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, weil der Kläger nicht<br />

i.S.d. § 67 Abs. 1 SGG „ohne Verschulden“ gehindert war, innerhalb der Monatsfrist die entsprechende<br />

Erklärung beim BSG einzureichen. Insbesondere war der Kläger, so das BSG, hieran nicht wegen<br />

Krankheit gehindert, was nur der Fall gewesen wäre, wenn er krankheitsbedingt weder in der Lage<br />

gewesen wäre, selbst zu handeln noch einen Dritten hiermit zu beauftragen. Den vorgelegten<br />

Unterlagen war nicht zu entnehmen, dass die attestierte Erkrankung so schwer war, dass sie jegliches<br />

eigenständiges Handeln des Klägers bis zum Ablauf der Frist ausschloss. Auch stand dem bereits entgegen,<br />

dass der Kläger unbeachtet der bescheinigten Erkrankungen zwei Tage vor dem Fristablauf in<br />

der Lage war, mittels Telefax Nichtzulassungsbeschwerde einzulegen und PKH zu beantragen sowie<br />

einen Tag später die Erklärung zu unterschreiben, die dann einen Tag nach Fristablauf einging.<br />

Da die vom Kläger selbst eingelegte Beschwerde nicht den zwingenden gesetzlichen Vorschriften<br />

entsprach, weil sie nicht durch einen vor dem BSG zugelassenen Bevollmächtigten eingelegt worden ist,<br />

war sie durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs. 4 S. 1 Hs. 2 i.V.m. § 169 S. 3 SGG).<br />

Hinweise:<br />

1. Anwaltlich nicht vertretene Beteiligte, die gegen ein LSG-Urteil, das die Revision nicht zulässt, Revision<br />

bzw. zunächst Nichtzulassungsbeschwerde einlegen wollen, jedoch hierfür PKH beanspruchen wollen,<br />

müssen innerhalb der Monatsfrist zur Einlegung des Rechtsmittels (Revision: § 164 Abs. 1 S. 1 SGG, Nichtzulassungsbeschwerde<br />

§ 160a Abs. 1 S. 2 SGG) einen PKH Antrag nebst Erklärung beim BSG einreichen<br />

und Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten beantragen. Wird PKH bewilligt, ist durch den Bevollmächtigten<br />

innerhalb der Monatsfrist des § 67 Abs. 2 S. 1 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu<br />

beantragen und gleichzeitig die Einlegung des Rechtsmittels nachzuholen (§ 67 Abs. 2 S. 3 SGG). Für die<br />

Begründung des Rechtsmittels steht nach der Rechtsprechung des BSG dann ab Zustellung der PKH-<br />

Bewilligung eine Frist von zwei Monaten zur Verfügung, wobei die Frist zur Revisionsbegründung mehrfach,<br />

diejenige zur Nichtzulassungsbeschwerde aber nur einmal bis zu einem Monat (§ 160a Abs. 2 S. 2 SGG)<br />

verlängert werden kann.<br />

2. § 67 SGG findet gem. § 84 Abs. 2 S. 3 SGG auch im Widerspruchsverfahren Anwendung, für Verfahrensfristen<br />

im Verwaltungsverfahren gilt § 27 SGB X (zu den inhaltlichen Unterschieden zwischen den<br />

beiden Vorschriften s. SARTORIUS <strong>ZAP</strong> F. 18, 1618). Ein Wiedereinsetzungsantrag braucht nicht ausdrücklich<br />

gestellt zu werden; er kann auch stillschweigend in einem Schriftsatz enthalten sein, wobei es ausreicht,<br />

dass in dort konkludent zum Ausdruck gebracht wird, das Verfahren trotz verspäteter Einreichung der<br />

Rechtsmitteleinlegungs- oder Rechtsmittelbegründungsschrift fortsetzen zu wollen (BGH 12.6.<strong><strong>20</strong>19</strong> –<br />

XII ZB 432/18). Der BGH leitet seiner Auffassung aus dem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen<br />

Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) her, welches es den Gerichten<br />

verbietet, den Beteiligten den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz<br />

in unzumutbarer, auf Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren, Rn 6 des Beschlusses.<br />

3. PKH ist generell nur zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Erfolgsaussicht<br />

bietet. Dabei ist nicht nur auf die Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG, sondern auch auf den<br />

möglichen Erfolg in der Hauptsache abzustellen (BSG v. 4.2.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 8 SO 21/18 BH, s. Anm. SCHMIDT,<br />

NZS <strong><strong>20</strong>19</strong>, 438).<br />

4. Effektiver Rechtsschutz für die vorläufige Bewilligung eines persönlichen Budgets<br />

Auf Antrag der Leistungsberechtigten werden Leistungen zur Teilhabe (s. § 4 SGB IX, die in Betracht<br />

kommenden Leistungsgruppen finden sich in § 5 SGB IX) durch die Leistungsform eines Persönlichen<br />

Budgets ausgeführt, um den Leistungsberechtigten in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes<br />

Leben zu ermöglichen, § 29 Abs. 1 S. 1 SGB IX. Entsprechendes gilt bei Leistungen der<br />

Eingliederungshilfe nach §§ 53, 57 SGB XII. Die Leistung wird als individuell bedarfsgerecht gemessener<br />

Geldbetrag zur Verfügung gestellt, mit ihnen können die benötigten Dienstleistungen und Waren in<br />

eigener Regie beschafft werden. Auch insofern kommt die Gewährung von Eilrechtsschutz nach § 86b<br />

Abs. 2 SGG in Betracht.<br />

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