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Enola Holmes: Der Fall der linkshändigen Lady

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Für meine Mutter.


Ich wusste, nun würde<br />

ich sterben …<br />

A<br />

ls ich mich wie<strong>der</strong> auf den Weg machte, schlotterte ich<br />

vor Kälte. Und vor Angst. Die Ohren hatte ich gespitzt.<br />

Aus <strong>der</strong> nächsten Straße drangen leiser, beschwingter<br />

Gesang und betrunkenes Gebrüll. Eine Wirtschaft, die um<br />

diese Zeit noch geöffnet hatte? Wie konnte das denn erlaubt<br />

sein? Sicherlich hätten die Ordnungshüter …<br />

Versunken in meine Gedanken, bemerkte ich zu spät,<br />

dass jemand hinter mir lief.<br />

Ein unscheinbares Geräusch. Vielleicht das Schlurfen<br />

von Schuhle<strong>der</strong> über den gefrorenen Matsch und die bröckelnden<br />

Pflastersteine. Vielleicht das Zischen eines bösen<br />

Atems. Noch während ich verblüfft den Mund öffnete, noch<br />

während ich herumfahren wollte, packte mich etwas am<br />

Hals.<br />

Etwas Unsichtbares hinter mir.<br />

Grauenhaft kräftig.<br />

Fest und fester packte es zu.<br />

Nicht <strong>der</strong> Griff eines Menschen. Etwas … ein schlankes<br />

Verhängnis, windend, zuschnürend, schnitt mir in die Kehle.<br />

Unfähig zu jedem klaren Gedanken, griff ich nicht einmal<br />

nach meinem Dolch. Ich reagierte rein instinktiv, ließ die<br />

Laterne fallen und riss beide Hände hoch, um an dem …<br />

Ding zu zerren, das meinen Hals quälte. Schon drückte es<br />

mir die Luft ab, während mein Körper unter Schmerzen<br />

– 5 –


zappelte. Mein Mund weitete sich zu einem stummen Schrei,<br />

meine Sicht verschwamm in Dunkelheit und ich wusste,<br />

nun würde ich sterben.<br />

– 6 –


London, Januar 1889<br />

»W<br />

ir wären gar nicht erst in dieser beklagenswerten<br />

Lage«, erklärt <strong>der</strong> jüngere und größere <strong>der</strong> beiden<br />

Männer in dem kleinen Clubzimmer, »hättest du sie<br />

nicht zwingen wollen, aufs Internat zu gehen!« Seine Gesichtszüge<br />

sind kantig und er selbst so dünn, dass man ihn<br />

schon mager nennen könnte. Einem schwarzen Reiher<br />

gleich schrei tet er in seinen polierten schwarzen Schuhen,<br />

<strong>der</strong> schwarzen Hose und dem schwarzen Frack unruhig auf<br />

und ab.<br />

»Mein lieber Bru<strong>der</strong>.« <strong>Der</strong> ältere, üppigere Mann, <strong>der</strong> es<br />

sich in einem tiefen, mit Saffianle<strong>der</strong> gepolsterten Lehnsessel<br />

bequem gemacht hat, zieht beide Augenbrauen hoch, die<br />

verschneiten Hecken gleichen. »Dich so in etwas hineinzusteigern,<br />

sieht dir gar nicht ähnlich.« Er ist gelassen, denn<br />

immerhin befinden sie sich hier in seinem Club, noch dazu<br />

im beson<strong>der</strong>s geschützten Raum für private Unterredungen,<br />

und er kann schon jetzt nur noch an den Rin<strong>der</strong>braten<br />

denken, auf den er sich zum Abendessen freut. Freundlich<br />

sagt er zu seinem jüngeren Bru<strong>der</strong>: »Man muss wohl davon<br />

ausgehen, dass sich dieses törichte Kind vollkommen allein<br />

in dieser sündigen Stadt befindet und womöglich bereits bestohlen<br />

und mittellos dasteht – o<strong>der</strong>, schlimmer noch, ihrer<br />

Unschuld beraubt wurde. Dennoch darfst du dich in dieses<br />

Dilemma nicht emotional verstricken lassen.«<br />

– 7 –


»Wie bitte sollte das möglich sein?« <strong>Der</strong> unruhige Mann<br />

fährt herum und wirft dem an<strong>der</strong>en einen scharfen Blick zu.<br />

»Sie ist unsere Schwester!«<br />

»Und die zweite vermisste weibliche Person ist unsere<br />

Mutter – ja und? Finden wir sie schneller, wenn wir uns<br />

nervös machen wie ein Jagdhund im Zwinger? Wenn du<br />

unbedingt jemandem die Schuld zuschieben musst«, fügt<br />

<strong>der</strong> Sitzende hinzu und faltet die Hände über <strong>der</strong> gut gepolsterten,<br />

breiten Seidenweste, »solltest du deinen Zorn<br />

auf Mutter konzentrieren.« Ein Logiker durch und durch,<br />

führt er sofort die Gründe auf: »Unsere Mutter hat das<br />

Mädchen völlig verwahrlost – in Kniebundhosen und auf<br />

einem Fahrrad! – herumlaufen lassen, anstatt dass man es<br />

salonfähig machte. Mutter war es, die den lieben langen Tag<br />

Blumensträußchen gemalt hat, während unsere Schwester<br />

auf Bäume kletterte. Es war unsere Mutter, die sämtliche<br />

Gel<strong>der</strong> unterschlagen hat, die eine Gouvernante, einen<br />

Tanzlehrer, schmückende feminine Klei<strong>der</strong> für das Kind et<br />

cetera finanzieren sollten. Und es war unsere Mutter, die<br />

das Mädchen letztendlich im Stich gelassen hat.«<br />

»An ihrem vierzehnten Geburtstag!«, murmelt <strong>der</strong> Unstete.<br />

»Geburtstag o<strong>der</strong> nicht, wo liegt <strong>der</strong> Unterschied?«,<br />

murrt <strong>der</strong> ältere Bru<strong>der</strong>, <strong>der</strong> das Thema allmählich leid ist.<br />

»Mutter ist diejenige, die ihrer Verantwortung nicht nachgekommen<br />

ist, sich sogar aus dem Staub gemacht hat und –«<br />

»Und dann zwingst du einem jungen Mädchen mit<br />

gebrochenem Herzen deinen Willen auf, indem du ihm befiehlst,<br />

die einzige Welt zu verlassen, die es je gekannt hat<br />

und die gefährlich aus den Fugen geraten war!«<br />

– 8 –


»<strong>Der</strong> einzig logische Weg, um aus ihr zumindest annähernd<br />

so etwas wie eine angesehene junge Dame zu<br />

machen!«, unterbricht ihn <strong>der</strong> Ältere schroff. »Vor allem du<br />

solltest einsehen, wie logisch d-«<br />

»Logik ist nicht alles.«<br />

»Und das aus deinem Mund!« Bequemlichkeit und Ruhe<br />

sind nun wie weggeblasen. <strong>Der</strong> untersetzte Mann lehnt sich<br />

in seinem Sessel vor und stellt die Stiefel (geziert von makellosen<br />

Gamaschen) fest aufs Parkett. »Warum bist du so …<br />

so von Emotionen überwältigt, so betroffen? Warum unterscheidet<br />

sich die Suche nach unserer Schwester, dieser<br />

rebellischen Ausreißerin, so sehr von all den an<strong>der</strong>en kleinen<br />

Problemchen, d-?«<br />

»Weil sie unsere Schwester ist!«<br />

»Eine so viel jüngere, dass du sie in deinem ganzen Leben<br />

genau zwei Mal getroffen hast.«<br />

<strong>Der</strong> große, rastlose Mann, dessen Gesicht an einen<br />

Habicht erinnert, bleibt stehen. »Ein einziges Mal hätte genügt.«<br />

An<strong>der</strong>s als zuvor redet er nun nicht mehr schnell und<br />

schneidend, son<strong>der</strong>n langsamer und sanfter. Allerdings sieht<br />

er dabei nicht seinen Bru<strong>der</strong> an. Stattdessen scheint er durch<br />

die mit Eiche vertäfelten Wände des Clubzimmers zu einem<br />

weit entfernten Ort zu blicken – o<strong>der</strong> einem weit entfernten<br />

Zeitpunkt. Er sagt: »Sie erinnert mich an mich selbst, als<br />

ich in ihrem Alter war. Fast nur Nase und Kinn, schlaksig,<br />

unbeholfen, eine Einzelgängerin …«<br />

»Unfug!« <strong>Der</strong> ältere Bru<strong>der</strong> unterbricht diesen Mumpitz<br />

umgehend. »Wie absurd! Sie ist ein Mädchen. Ihr Intellekt<br />

ist unterlegen, allein ist sie schutzlos … ein Vergleich ist völ lig<br />

undenkbar.« Stirnrunzelnd und doch ganz <strong>der</strong> Staatsmann,<br />

– 9 –


senkt er die Stimme wie<strong>der</strong> und beherrscht sich. »Sich den<br />

Kopf über Vergangenes zu zerbrechen erfüllt keinen Nutzen<br />

– die einzig vernünftige Frage, die wir uns nun stellen<br />

sollten, ist die folgende: Wie sollen wir sie deiner Meinung<br />

nach finden?«<br />

Mit offensichtlicher Mühe reißt sich <strong>der</strong> hochgewachsene<br />

Mann von seinen Überlegungen los und mustert seinen<br />

Bru<strong>der</strong> mit wachen grauen Augen. Nach einer Weile sagt er<br />

lediglich: »Ich habe einen Plan.«<br />

»Etwas an<strong>der</strong>es habe ich nicht erwartet. Und ist <strong>der</strong><br />

Herr geneigt, mich in seinen Plan einzuweihen?«<br />

Stille.<br />

Nachdem er sich wie<strong>der</strong> in seinen Sessel gelehnt hat, setzt<br />

<strong>der</strong> Ältere ein dünnes Lächeln auf. »Auf deine Geheimniskrämerei<br />

kannst du nicht verzichten, was, Sherlock?«<br />

Ebenso kühl wie <strong>der</strong> ältere zuckt <strong>der</strong> jüngere Bru<strong>der</strong>,<br />

auch bekannt als <strong>der</strong> große Meisterdetektiv, nun mit den<br />

Schultern. »Es erfüllt keinen logischen Nutzen, dir zu diesem<br />

Zeitpunkt auch nur das Geringste zu verraten, mein<br />

lieber Mycroft. Sollte ich deine Hilfe benötigen, werde ich<br />

mich sicherlich an dich wenden.«<br />

»Und warum bist du dann heute überhaupt hergekommen?«<br />

»Um dir ausnahmsweise einmal die Meinung zu sagen.«<br />

»Sollte dies tatsächlich deine Meinung sein, mein lieber<br />

Sherlock? Mir scheint, deinen geistigen Ergüssen mangelt<br />

es an Disziplin. Du hast zugelassen, dass die Nerven mit dir<br />

durchgehen. Du wirkst überarbeitet, übermäßig erregt.«<br />

»Ein Zustand, <strong>der</strong> meiner Ansicht nach immer noch besser<br />

ist, als keinerlei Regung zu zeigen.« Für ihn war das<br />

– 10 –


Thema offensichtlich erledigt. Sherlock <strong>Holmes</strong> nahm seinen<br />

Hut, seine Handschuhe und seinen Spazierstock und<br />

wandte sich <strong>der</strong> Tür zu. »Auf Wie<strong>der</strong>sehen, Mycroft.«<br />

»Deinem Plan das beste Gelingen, mein lieber Sherlock.<br />

Auf Wie<strong>der</strong>sehen.«<br />

– 11 –


1. Kapitel<br />

A<br />

bsolut verblüfft und schockiert betrachtete ich die<br />

Karte, die mir <strong>der</strong> Page soeben auf einem Silbertablett<br />

gebracht hatte.<br />

»Dr. med. John Watson.« Ich sprach den Namen laut<br />

aus, um mir zu versichern, dass ich mich nicht verlesen<br />

hatte. Denn ich konnte nicht fassen, dass ausgerechnet er<br />

<strong>der</strong> allererste Klient sein sollte, <strong>der</strong> das (im Januar 1889)<br />

neu eröffnete Büro des einzigen Wissenschaftlichen Perditors<br />

– also eines professionellen Fin<strong>der</strong>s von vermissten<br />

Dingen und Menschen – in ganz London – und sogar <strong>der</strong><br />

ganzen Welt – aufsuchte.<br />

Dr. John Watson? John war ein gängiger Name, aber<br />

Watson? Noch dazu Doktor <strong>der</strong> Medizin? Es konnte kein<br />

Irrtum sein, trotzdem wollte ich es nicht glauben. »Etwa <strong>der</strong><br />

Dr. Watson, Joddy?«<br />

»Woher soll ich das denn wissen, gnädige Frau?«<br />

»Joddy, ich habe es doch nun oft genug gesagt, Sie sollen<br />

mich mit Miss Meshle ansprechen. Einfach Miss Meshle.«<br />

Ich rollte mit den Augen, doch was konnte man schon von<br />

einem Jungen erwarten, den seine Mutter Jodhpur genannt<br />

hatte (was im Kirchenregister fälschlich »Jodper«<br />

geschrieben worden war), weil diese Bezeichnung für Reithosen<br />

in ihren Ohren vornehm klang? Schuld war Joddys<br />

Ehrfurcht vor meinen Rüschen und Puffärmeln, weshalb er<br />

mich »gnädige Frau« nannte. Doch das durfte er nicht,<br />

– 12 –


sonst würden die Leute anfangen, Fragen zu stellen. Seine<br />

Ehrfurcht wollte ich dem Pagen durchaus nicht austreiben.<br />

Immerhin bemerkte er so nicht, dass ich nur ein Mädchen<br />

war, kaum älter als er selbst. Nur das »gnädige Frau« sollte<br />

er sich endlich verkneifen.<br />

Gefasster und darauf bedacht, ja nicht zu aristokratisch<br />

zu klingen, fragte ich ihn: »Sie haben dem Gentleman ausgerichtet,<br />

dass Dr. Ragostin nicht im Haus ist?«<br />

»Ja, gnädige Fr… Ich meine, ja, Miss Meshle.«<br />

Das Büro des Wissenschaftlichen Perditors trug den<br />

Namen eines gewissen Dr. Leslie T. Ragostin zur Schau.<br />

Schließlich können nur Männer Wissenschaftler sein. Allerdings<br />

würde »Dr. Ragostin« nie mit seiner Anwesenheit<br />

glänzen, da er – als Doktor mit einem Universitätsabschluss –<br />

nur in meiner Vorstellung sowie auf den Plaketten und Visitenkarten<br />

existierte, die ich bei je<strong>der</strong> Gelegenheit in Geschäften,<br />

Kiosken, Hörsälen und an Obstständen auslegte.<br />

»Würden Sie Dr. Watson in mein Büro bringen? Ich<br />

werde sehen, ob ich ihm weiterhelfen kann.«<br />

Joddy eilte hinaus. An<strong>der</strong>s als sein Verstand machte<br />

zumindest seine äußere Erscheinung Eindruck: mit Borten an<br />

Ärmeln und Hosenbeinen, weißen Handschuhen und einem<br />

gestreiften Hütchen auf dem Kopf, das verdächtig an eine<br />

Miniaturtorte erinnerte. Aber warum auch nicht? Die meisten<br />

Uniformen sind absurd.<br />

Sobald er verschwunden war, ließ ich mich auf den Holzstuhl<br />

hinter meinem Schreibtisch sinken, weil meine Knie<br />

so stark zitterten, dass meine seidenen Unterröcke raschelten.<br />

So ging das nicht. Nachdem ich tief durchgeatmet<br />

hatte, schloss ich kurz die Augen und rief mir das Gesicht<br />

– 13 –


meiner Mutter in Erinnerung. Sobald ich sie vor mir hatte,<br />

konnte ich praktisch ihre Stimme hören: »<strong>Enola</strong>, du kommst<br />

sehr gut allein zurecht.«<br />

Diese geistige Übung zeigte die erwünschte Wirkung.<br />

Gefasst öffnete ich die Augen, als Joddy Dr. Watson aus<br />

dem Wohnzimmer, das als Warteraum diente, auch schon<br />

hereingeleitete.<br />

»Dr. Watson. Ich bin Dr. Ragostins Sekretärin, Miss Ivy<br />

Meshle.« Ich erhob mich, um meinem Besucher die Hand<br />

zu reichen, und stellte fest, dass er genau so war, wie ich<br />

anhand seiner Berichte und Aufsätze erwartet hatte: ein<br />

stämmiger englischer Gentleman, <strong>der</strong> zwar nicht reich war,<br />

aber eindeutig <strong>der</strong> gebildeten Schicht angehörte und mit einer<br />

gesunden Gesichtsfarbe, freundlichen Augen und einem<br />

winzigen Hang zum Übergewicht ausgestattet war.<br />

Ich hoffte, an<strong>der</strong>sherum sah er in mir, was ich zu sein<br />

vorgab: eine absolut gewöhnliche, junge arbeitende Frau<br />

mit einer übertrieben großen Brosche auf <strong>der</strong> Front ihres<br />

Kleides und ebenso hässlichen, dazu passenden Ringen in<br />

den Ohren – überhaupt reich geschmückt mit billigem<br />

Tand, welcher die jüngste Mode imitierte (auch nicht weniger<br />

absurd als eine Uniform). Ein Mädchen, dessen hübsche<br />

Locken nicht gänzlich die eigenen waren, son<strong>der</strong>n höchst<br />

wahrscheinlich von einem bayerischen Bauernmädchen<br />

stammten. Eine junge Frau, zwar ehrenwert, jedoch nicht<br />

kultiviert. Eine, <strong>der</strong>en Vater vielleicht ein Sattler o<strong>der</strong> ein<br />

Gastwirt war. Ein Mädchen, das vor allem damit beschäftigt<br />

war, sich einen Ehemann zu angeln. Sollte meine Verkleidung<br />

mithilfe <strong>der</strong> bereits erwähnten »Brosche«, außerdem<br />

einer eng anliegenden Halskette, übertrieben vielen<br />

– 14 –


Schleifen und den allzu offensichtlichen Haarteilen diesen<br />

Eindruck erwecken, dann erfüllte sie genau ihren Zweck.<br />

»Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Meshle.«<br />

Dr. Watson hatte selbstverständlich längst den Hut abgenommen.<br />

Und ganz wie es sich gehörte, hatte er zunächst<br />

seine Handschuhe ausgezogen und sie gemeinsam mit dem<br />

Gehstock dem Pagen anvertraut, bevor er meine Hand ergriff<br />

und schüttelte.<br />

»Bitte, nehmen Sie Platz.« Ich deutete auf den Sessel.<br />

»Rücken Sie ihn gerne nah an den Kamin. Schrecklich kalt<br />

draußen, nicht wahr?«<br />

»Grässlich. Noch nie habe ich erlebt, dass die Themse so<br />

dick zugefroren ist, dass man darauf Schlittschuh laufen<br />

kann.« Beim Reden rieb er die Hände aneinan<strong>der</strong> und hielt<br />

sie nah ans Feuer. Trotz aller Bemühungen war <strong>der</strong> Raum<br />

nicht allzu warm und ich beneidete meinen Gast um den<br />

bequemen gepolsterten Sessel. Aus irgendeinem Grund<br />

hatten mir Kälte und Feuchtigkeit nicht viel ausgemacht,<br />

bevor ich nach London gekommen war, wo ich bereits einen<br />

Bettler – zumindest seine körperlichen Überreste – gesehen<br />

hatte, <strong>der</strong> am Gehsteig festgefroren war.<br />

Ich setzte mich auf den unbequemen Holzstuhl hinter<br />

meinem Schreibtisch, zog den Schal fester um die Schultern,<br />

rieb meine eigenen Hände (steif, trotz <strong>der</strong> gestrickten<br />

Handschuhe, aus denen meine Finger herausspitzten)<br />

und griff nach Stift und Notizbuch. »Es tut mir so leid, Mr<br />

Watson, dass Dr. Ragostin außer Haus ist. Sicherlich wäre<br />

er hocherfreut, Sie kennenzulernen. Sie sind doch <strong>der</strong> Dr.<br />

Watson, <strong>der</strong> mit Mr Sherlock <strong>Holmes</strong> bekannt ist, o<strong>der</strong> irre<br />

ich mich?«<br />

– 15 –


»Das bin ich.« Höflich, ja sogar bescheiden, blickte er mich<br />

dabei an. »Tatsächlich geht es bei meinem Besuch um ihn.«<br />

Mein Herz klopfte auf einmal so heftig, dass ich beinahe<br />

Angst bekam, mein Gast könnte es hören. Ich konnte mir<br />

nicht länger einreden, ein glücklicher – o<strong>der</strong> unglücklicher –<br />

Zufall hätte diesen Mann zu mir geführt.<br />

In dieses Büro, um den weltweit einzigen professionellen<br />

Fin<strong>der</strong> von vermissten Dingen und Menschen aufzusuchen.<br />

Dennoch gab ich mir Mühe, lediglich höflich und wie<br />

eine Frau aus <strong>der</strong> Mittelschicht zu klingen, mit <strong>der</strong> angebracht<br />

dienstbeflissenen Mischung aus Fleiß und Unterwürfigkeit.<br />

»Ach ja?« Mit gezücktem Stift fragte ich: »Und<br />

um welche Art von Schwierigkeit handelt es sich bei Mr<br />

<strong>Holmes</strong>?«<br />

»Sicherlich werden Sie verstehen, Miss Meshle, dass ich<br />

diese Angelegenheit lieber mit Dr. Ragostin persönlich besprechen<br />

würde.«<br />

Ich lächelte. »Und Sie, Dr. Watson, werden gewiss verstehen,<br />

dass man mich damit betraut hat, alle einleitenden<br />

Maßnahmen zu ergreifen, um Dr. Ragostins kostbare Zeit<br />

weitestgehend zu schonen. Dr. Leslie Ragostin hat mir seine<br />

ausdrückliche Vollmacht erteilt – natürlich nicht, um selbst<br />

in Aktion zu treten«, fügte ich hinzu, um das angeborene<br />

Misstrauen Frauen gegenüber zu dämpfen. »Doch häufig<br />

bin ich für ihn Augen und Ohren. Genau wie Sie für Mr<br />

Sherlock <strong>Holmes</strong>«, ergänzte ich schmeichelnd, ohne es allzu<br />

offensichtlich erscheinen zu lassen.<br />

Ohne ihm zu zeigen, wie sehr ich innerlich flehte: Bitte.<br />

Bitte, ich muss wissen, ob ich richtig geraten habe, warum Sie hier<br />

sind.<br />

– 16 –


»Ähm, ja«, sagte Dr. Watson unsicher. »Gewiss.« Er hatte<br />

wirklich freundliche Augen, umso mehr wenn er sich Sorgen<br />

machte. »Nur bin ich nicht sicher – die Angelegenheit<br />

ist etwas delikat … <strong>Holmes</strong> weiß nämlich nichts von meinem<br />

Besuch hier.«<br />

Dann … hatte mein Bru<strong>der</strong> ihn gar nicht geschickt?<br />

Schlagartig beruhigte sich mein Herz, dafür tat es nun<br />

weh.<br />

Scheinbar gelangweilt sagte ich zu Dr. Watson: »Sie können<br />

sich auf meine absolute Verschwiegenheit verlassen.«<br />

»Gewiss. Natürlich.« Und als hätte mein schwindendes<br />

Interesse ihn, eine gequälte Seele, dazu verleitet, sich mir<br />

anzuvertrauen, umklammerte er die Lehnen seines Sessels<br />

und begann zu erzählen.<br />

»Zweifellos wissen Sie, dass ich zu Beginn seiner erstaunlichen<br />

Karriere mehrere Jahre lang <strong>der</strong> Mitbewohner<br />

von Mr Sherlock <strong>Holmes</strong> war. Da ich nun verheiratet bin<br />

und mich als Arzt nie<strong>der</strong>gelassen habe, sehe ich ihn weit seltener<br />

als früher. Dennoch ist es mir nicht entgangen, dass er<br />

seit dem vergangenen Sommer bedrückt wirkt, die vergangenen<br />

paar Monate über regelrecht verstört – bis zu dem<br />

Ausmaß, dass er we<strong>der</strong> vernünftig isst noch schläft. Inzwischen<br />

mache ich mir nicht länger nur als Freund, son<strong>der</strong>n<br />

auch als Arzt Sorgen um ihn. Er hat an Gewicht verloren,<br />

hat eine überaus ungesunde Gesichtsfarbe und er ist auffallend<br />

melan cholisch und jähzornig geworden.«<br />

Während ich all das für »Dr. Ragostin« mitschrieb,<br />

konnte ich den Kopf dicht über dem Schreibtisch halten,<br />

sodass Dr. Watson mein Gesicht nicht sehen konnte. Zum<br />

Glück, denn ich bin sicher, meine Bestürzung wäre deutlich<br />

– 17 –


sichtbar gewesen: In meinen Augen bildeten sich Tränen.<br />

Mein Bru<strong>der</strong>, Musterbeispiel für einen kühlen, logischen Verstand,<br />

sollte verstört sein? Unfähig zu essen o<strong>der</strong> zu schlafen?<br />

Ich hatte ja keine Ahnung, dass er zu solch großen Gefühlen<br />

überhaupt in <strong>der</strong> Lage war. Noch dazu für mich.<br />

Dr. Watson fuhr fort. »Obwohl ich ihn wie<strong>der</strong>holt gefragt<br />

habe, was ihn so belastet, streitet er ab, irgendwelche<br />

Probleme zu haben. Als ich gestern nicht lockerließ, brauste<br />

er <strong>der</strong>maßen auf … ganz und gar nicht eisern kontrolliert<br />

wie sonst, son<strong>der</strong>n so irrational, dass ich den Eindruck bekam,<br />

sofort handeln zu müssen, ob es ihm gefällt o<strong>der</strong> nicht –<br />

zu seinem eigenen Besten. Daher stattete ich seinem Bru<strong>der</strong><br />

Mr Mycroft <strong>Holmes</strong> einen Besuch ab …«<br />

Ivy Meshle, begriff ich, durfte von Sherlock <strong>Holmes</strong>’<br />

Bru<strong>der</strong> nichts wissen. Daher unterbrach ich ihn: »Wie buchstabiert<br />

man seinen Namen, bitte?«<br />

»Ein seltsamer Name, nicht?« Watson buchstabierte ihn<br />

für mich, gab mir Mycrofts Adresse in London und erzählte<br />

weiter. »Nach einigem Zögern erklärte mir Mycroft <strong>Holmes</strong>,<br />

dass er und Sherlock <strong>Holmes</strong> sich in <strong>der</strong> äußerst unglücklichen<br />

Lage befinden, ihre Mutter nicht ausfindig machen<br />

zu können. Und nicht nur ihre Mutter ist spurlos verschwunden,<br />

son<strong>der</strong>n auch ihre jüngere Schwester. Zwei<br />

Familienmitglie<strong>der</strong> – noch dazu ihre einzigen Angehörigen –<br />

sind wie vom Erdboden verschluckt.«<br />

»Wie grässlich!«, murmelte ich, den Blick starr aufs Blatt<br />

gerichtet. Inzwischen war mir nicht mehr nach Weinen zumute.<br />

Nein, viel lieber hätte ich gelächelt – am liebsten hätte<br />

ich meinem ach-so-ältesten Bru<strong>der</strong> Mycroft, <strong>der</strong> aus mir<br />

eine affektierte junge Dame hatte machen wollen, eine lange<br />

– 18 –


Nase gedreht. Es fiel mir schwer, eine angemessen mitfühlende<br />

Miene aufzusetzen, während ich die Rolle von jemandem<br />

spielte, <strong>der</strong> von all dem keine Ahnung hatte. »Entführt?«<br />

Dr. Watson schüttelte den Kopf. »Lösegeldfor<strong>der</strong>ungen<br />

gab es keine. Nein, beide sind aus freien Stücken gegangen.«<br />

»Wie schockierend.« Mir fiel ein, dass ich ja von nichts<br />

wissen konnte. »Sie sind gemeinsam ausgerissen?«<br />

»Nein! Getrennt voneinan<strong>der</strong>. Die Mutter verschwand<br />

vergangenen Sommer und das Mädchen lief sechs Wochen<br />

später weg, als man sie ins Internat bringen wollte. Sie ging<br />

völlig allein. Ich vermute, deswegen nimmt <strong>Holmes</strong> sich die<br />

Sache auch so zu Herzen. Wäre das Mädchen bei seiner<br />

Mutter, fände er die Angelegenheit vielleicht nicht in Ordnung,<br />

doch immerhin wüsste er, dass seine Schwester in<br />

Sicherheit ist. Jedenfalls hat es ganz den Anschein, dass das<br />

Mädchen – eigentlich noch ein Kind! – auf eigene Faust<br />

nach London reiste!«<br />

»Ein Kind, sagen Sie?«<br />

»Erst vierzehn Jahre alt. Nach Mycroft <strong>Holmes</strong>’ Angaben<br />

haben er und sein Bru<strong>der</strong> Grund zu <strong>der</strong> Annahme,<br />

dass ihre Schwester Zugang zu beträchtlichen Finanzmitteln<br />

hat …«<br />

Ich verspannte mich und spürte einen sorgenvollen Stich –<br />

wie konnten sie das nur erraten haben?<br />

»… und sie befürchten, dass sie sich als junger, leichtsinniger<br />

Gentleman ausgibt …«<br />

Ich entspannte mich wie<strong>der</strong>, denn nichts könnte weiter<br />

von <strong>der</strong> Realität entfernt sein. Ich hoffte, niemals zu dem<br />

theatralischen Klischee herabzusinken, mich als Mann zu<br />

– 19 –


verkleiden. Obwohl ich mich gewiss nicht allein darauf<br />

beschränkte, Ivy Meshle zu sein.<br />

»… und als solcher könnte sie dekadenten Einflüssen<br />

ausgesetzt sein«, sagte Dr. Watson, »und womöglich ein Leben<br />

in Schimpf und Schande führen müssen.«<br />

Ein Leben in Schimpf und Schande? Ich hatte nicht die<br />

leiseste Ahnung, was das sein sollte, notierte es aber gewissenhaft.<br />

»Mr Mycroft <strong>Holmes</strong> und Mr Sherlock <strong>Holmes</strong><br />

haben Grund zu dieser Befürchtung?«, hakte ich nach.<br />

»Ja. Die Mutter war – o<strong>der</strong> ist – eine fest entschlossene<br />

Kämpferin für die Frauenrechte und das Mädchen selbst<br />

ist bedauerlicherweise sehr undamenhaft geraten, wie es<br />

scheint.«<br />

»Durchaus. Wie bedauerlich.« Ich linste unter meinem<br />

Schopf falscher Stirnfransen hervor, klimperte mit meinen<br />

falschen Wimpern und verzog die bemalten Lippen zu einem<br />

Lächeln. Ich hatte sogar im ganzen Gesicht ein klein wenig<br />

einer unerhörten Substanz namens Rouge aufgetragen, um<br />

meiner aristokratischen Blässe zu einem herzlicheren, gewöhnlicheren<br />

Rosa zu verhelfen. »Könnten Sie Dr. Rago s­<br />

tin wohl eine Fotografie von dem Mädchen zur Verfügung<br />

stellen?«<br />

»Nein. Auch nicht von <strong>der</strong> Frau. Offenbar haben beide<br />

Fotografen gemieden.«<br />

»Wie das?«<br />

Er seufzte und zum ersten Mal wurde sein Ausdruck<br />

weniger freundlich. »Das war Teil ihrer Entscheidung, entgegen<br />

<strong>der</strong> weiblichen Natur zu handeln, wie ich vermute.«<br />

»Könnten Sie mir bitte ihre Namen nennen und beide<br />

beschreiben?«<br />

– 20 –


Er buchstabierte für mich: <strong>Lady</strong> Eudoria Vernet <strong>Holmes</strong>,<br />

Miss <strong>Enola</strong> <strong>Holmes</strong>. (Mum hatte Voraussicht bewiesen, als<br />

sie mich <strong>Enola</strong> nannte, das rückwärts »alone«, also »allein«<br />

bedeutet.)<br />

Dr. Watson sagte: »Soweit man mir berichtet hat, ist das<br />

Mädchen die Auffälligere von beiden. Recht groß und dünn …«<br />

Ich hatte mir Mühe gegeben, an Gewicht zuzulegen, was<br />

dank <strong>der</strong> Fischkopfsuppen und Schafskopfeintöpfe, die<br />

meine geizige Hauswirtin auf den Tisch brachte, allerdings<br />

ohne Erfolg geblieben war.<br />

»… mit einem lang gezogenen Gesicht, einer betonten …<br />

nun … man muss wohl eher sagen, mit einer Nase und<br />

einem Kinn, die einem Cicero alle Ehre machen würden …«<br />

Welch taktvolle Art zu sagen, dass ich meinem Bru<strong>der</strong><br />

Sherlock viel zu ähnlich sehe. Da es mir noch nicht gelungen<br />

war, pummelig zu werden, trug ich in je<strong>der</strong> Wange ein<br />

Gummipolster, das eigentlich dazu gedacht war, einen ganz<br />

an<strong>der</strong>en, unaussprechlichen Körperteil aufzufüllen. Kombiniert<br />

mit Einlagen für die Nasenlöcher, verän<strong>der</strong>ten sie<br />

meine Gesichtszüge vollkommen.<br />

»… und von kantiger Statur, die femininen Charme vermissen<br />

lässt«, fuhr Dr. Watson fort. »Sie hat eine Vorliebe<br />

für maskuline Kleidung und burschikose Aktivitäten bewiesen,<br />

hat einen weit ausholenden, maskulinen Schritt und<br />

könnte für die gute Gesellschaft völlig verloren sein, wird<br />

sie nicht bald gefunden.«<br />

»Und die Mutter?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln<br />

und einen Lachanfall zu vermeiden.<br />

»Vierundsechzig Jahre alt, erscheint jedoch beträchtlich<br />

jünger. Physisch unauffällig, hat aber ein störrisches Tempe­<br />

– 21 –


ament und ist sehr eigensinnig. Eine talentierte Künstlerin,<br />

wie ich höre, die ihre Energie lei<strong>der</strong> darauf verschwendet,<br />

für diese sogenannten Frauenrechte zu kämpfen.«<br />

»Oh. Sie möchte Hosen tragen?«<br />

Er lächelte über meine scheinbare Abneigung für <strong>der</strong>artige<br />

Reformanstrengungen. »Sehr wahrscheinlich. Sie bevorzugt<br />

sogenannte vernünftige Kleidung.«<br />

»Und gibt es irgendwelche Hinweise, wo man sie finden<br />

könnte?«<br />

»Keine. Doch wie gesagt, das Mädchen hält sich vermutlich<br />

in London auf.«<br />

Ich legte meinen Stift ab und sah ihn an. »Nun gut, Dr.<br />

Watson, ich werde Dr. Ragostin mit allen Details versorgen.<br />

Aber ich muss Sie vorwarnen, dass er den <strong>Fall</strong> vermutlich<br />

nicht übernehmen wird.« Mein allererster <strong>Fall</strong>, eine<br />

Zwickmühle: mich selbst finden? Ich konnte ihn unmöglich<br />

annehmen.<br />

»Aber warum in aller Welt?«<br />

Die Antwort hatte ich mir bereits überlegt. »Weil er sich<br />

nicht mit Vermittlern abgibt. Er wird fragen, warum Mr<br />

Sherlock <strong>Holmes</strong> nicht selbst gekommen ist –«<br />

Dr. Watson unterbrach mich einigermaßen erhitzt, obwohl<br />

sein Unmut nicht mir galt. »Weil <strong>Holmes</strong> viel zu zurückhaltend<br />

ist, zu stolz. Wenn er nicht einmal mir den<br />

Grund für seinen Kummer verrät, glauben Sie, er würde<br />

sich einem Fremden anvertrauen?«<br />

»Aber es wäre ja ein Kollege, ebenfalls ein Ermittler«,<br />

warf ich sanft ein.<br />

»Noch schlimmer. <strong>Holmes</strong> würde sich erniedrigt fühlen<br />

in Gegenwart von –« Recht abrupt hielt Dr. Watson inne<br />

– 22 –


und fragte dann: »Wo wir dabei sind – man muss sich<br />

durchaus fragen: Wer ist Dr. Ragostin eigentlich? Ich bitte<br />

Sie vielmals um Verzeihung, Miss, ähm …«<br />

»Meshle.« Man nehme den Namen <strong>Holmes</strong>, vertausche<br />

die Silben – Mes hol – und buchstabiere ihn, wie man ihn<br />

spricht: Meshle. Lächerlich einfach. Dennoch würde er nie<br />

darauf kommen. Keiner würde das.<br />

»Miss Meshle. Ich will wirklich niemanden beleidigen,<br />

doch ich habe Nachforschungen angestellt, und niemand<br />

hat je von Dr. Ragostin gehört. Ich bin nur hergekommen,<br />

weil er behauptet, sich darauf spezialisiert zu haben, vermisste<br />

Personen zu finden.«<br />

»Alles, was verloren gegangen ist«, warf ich ein.<br />

»Doch ich habe niemanden gefunden, <strong>der</strong> für ihn bürgen<br />

könnte.«<br />

»Weil er am Beginn seiner Karriere steht, ebenso wie<br />

einst Ihr Freund <strong>Holmes</strong>. Dr. Ragostin muss sich erst noch<br />

einen Namen machen. Doch es dürfte Sie interessieren,<br />

dass er die Methoden von Mr Sherlock <strong>Holmes</strong> mit großem<br />

Interesse studiert.«<br />

»Tatsächlich?« Dr. Watson wirkte beschwichtigt.<br />

»Oh ja. Mr <strong>Holmes</strong> ist für ihn ein Idol und es wird<br />

ihn überaus überraschen, dass sein Held seine verschollene<br />

Mutter und Schwester bisher nicht hat aufspüren können.«<br />

Als wäre ihm sein Sessel mit einem Mal unbequem geworden,<br />

rutschte Dr. Watson an den vor<strong>der</strong>en Rand und<br />

räusperte sich. »Vermutlich«, sagte er langsam, »liegt es daran,<br />

dass <strong>Holmes</strong> sich für <strong>der</strong>artige Fälle normalerweise<br />

nicht interessiert. Er findet sie gewöhnlich und langweilig,<br />

– 23 –


sodass er sich im Allgemeinen nicht darum kümmert. Himmel,<br />

erst gestern«, ergänzte Watson, »als ich <strong>Holmes</strong> aufsuchte,<br />

kamen mir Sir Eustace Alistair und <strong>Lady</strong> Alistair<br />

entgegen, die ihn angefleht hatten, sich auf die Suche nach<br />

ihrer Tochter zu machen. Doch er hat ihnen eine Abfuhr<br />

erteilt.«<br />

Ich wurde hellhörig. »Sir Eustace Alistair? Seine Tochter<br />

ist verschwunden? Davon habe ich noch gar nichts in<br />

den Zeitungen gelesen …«<br />

Watson legte einen Finger auf die Lippen und hustete.<br />

»Man hat es unter den Teppich gekehrt, um einen Skandal<br />

zu vermeiden.«<br />

Dann fürchteten sie also, das Mädchen könnte mit einem<br />

Mann durchgebrannt sein.<br />

Ich musste mir diese Angelegenheit vornehmen. Dr.<br />

Watson würde mir nicht mehr darüber erzählen, das sah ich<br />

ihm an – er überlegte bereits, ob er nicht schon zu viel preisgegeben<br />

hatte. Dennoch hatte er mir somit doch meinen<br />

ersten <strong>Fall</strong> direkt vor die Nase serviert. Ich würde die verlorene<br />

Tochter des Baronet finden.<br />

Nicht son<strong>der</strong>lich erfreut stand Watson auf. Die Unterredung<br />

war zu Ende. Ich griff nach <strong>der</strong> Glockenstrippe und<br />

läutete nach Joddy, damit er unseren Gast nach draußen<br />

begleitete.<br />

»Ich würde Dr. Ragostin gern noch einmal persönlich<br />

sehen«, sagte Dr. Watson noch, »bevor er etwas unternimmt.«<br />

»Selbstverständlich. Geben Sie mir noch Ihre Adresse?<br />

Dr. Ragostin wird sich bei Ihnen melden, sobald er meine<br />

Notizen durchgegangen ist«, schwindelte ich.<br />

– 24 –


Nachdem ich die Adresse aufgeschrieben hatte, erhob<br />

ich mich, um Dr. Watson zur Tür zu bringen.<br />

Als er fort war, setzte ich mich in den nun freien Sessel<br />

ans Feuer und fing paradoxerweise an zu frösteln.<br />

– 25 –

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