PC_09_2019_FINAL_X1
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L E<br />
Nach der 10. Etappe der Tour<br />
war es nachts um halb eins, als<br />
Michael Matthews einschlafen<br />
konnte. Er ließ die letzten 200 Meter des<br />
Sprints in Albi am Nachmittag immer<br />
wieder in seinem Kopf ablaufen. Zum achten<br />
Mal war er in die Top Ten gefahren.<br />
Heute war er Vierter geworden.<br />
Wenn er den Sprint nur früher angezogen<br />
hätte, dachte er immer wieder, wäre<br />
niemand an ihm vorbeigekommen und er<br />
hätte gewonnen. 400 Meter vor der Linie<br />
war Matthews gut positioniert am dritten<br />
Hinterrad. 350 Meter vor der Linie zog<br />
Cees Bol, sein Teamkollege und Tour-<br />
Debütant, für ihn den Sprint an. Das Ziel<br />
war direkt vor ihnen. 200 Meter vor der<br />
Linie machte Bol noch immer Tempo, aber<br />
ihm ging die Puste aus und die Meute um<br />
sie herum schwoll an. Als sein Teamkollege<br />
ausgeschert war, war Matthews eingeklemmt<br />
und hatte seinen Schwung<br />
verloren. Er versuchte, noch einmal zu<br />
beschleunigen, aber Wout Van Aert und<br />
Elia Viviani waren bereits an ihm vorbeigezogen.<br />
Es war zu spät.<br />
Am nächsten Morgen, am ersten Ruhetag<br />
der Tour, lässt Matthews den Moment<br />
noch immer Revue passieren, wieder und<br />
wieder. „Es ist frustrierend, wenn du<br />
weißt, dass es der Sieg hätte sein müssen,<br />
T O U R<br />
20<br />
19<br />
MICHAEL<br />
MATTHEWS<br />
Michael Matthews’ Tour-Planung wurde auf<br />
den Kopf gestellt, als sein Teamkollege Tom<br />
Dumoulin seinen Start zwei Wochen vor dem<br />
Grand Départ absagte und er der einzige<br />
Kapitän von Sunweb wurde. Der Australier<br />
erzählt Procycling, wie er das Beste aus einer<br />
schwierigen Situation machte.<br />
aber du zu lange gewartet hast. Wenn du<br />
nicht die Beine hattest oder du gestürzt<br />
bist, kannst du es nehmen, wie es ist, aber<br />
wenn du weißt, dass du die Beine hattest,<br />
um es zu Ende zu bringen, ist es wahrscheinlich<br />
am schwersten zu akzeptieren“,<br />
sagt er zu Procycling mit einem fast mutlosen<br />
Seufzer.<br />
Auf der 1. Etappe unterlag er Mike Teunissen<br />
im Massensprint. Auf der 3. Etappe<br />
bei der steilen Hügelankunft in Épernay<br />
musste er sich Julian Alaphilippe geschlagen<br />
geben. Auf der 4. Etappe wurde er<br />
Neunter hinter Viviani. Auf der 5. Etappe<br />
nach Colmar und einem weiteren Top-<br />
Ten-Platz schien er überfordert zu sein.<br />
Die wellige Etappe hatte drei kategorisierte<br />
Anstiege aufgewiesen, was perfekt für einen<br />
Sprinter-Puncheur wie Matthews war.<br />
Sein Team hatte die Route ausgekundschaftet<br />
und auf der Straße Tempo gemacht,<br />
aber all das reichte immer noch<br />
nicht und Matthews wurde von seinem<br />
Angstgegner Peter Sagan geschlagen.<br />
Während die Fahrer nach einer Etappe<br />
normalerweise sofort im Bus verschwinden,<br />
schien Matthews überall hingehen zu<br />
wollen, nur nicht dorthin. Er rollte so langsam<br />
durch den geparkten Konvoi, dass<br />
sich seine Beine kaum drehten. Sein Kopf<br />
hing, der Blick war auf den Boden ge-<br />
ETAPPE<br />
11<br />
MITTWOCH, 17. JULI<br />
ALBI › TOULOUSE<br />
167 KM<br />
„Der sichere Weg zum Erfolg ist immer,<br />
es doch noch einmal zu versuchen.“<br />
(Thomas Edison) Caleb Ewan scheint<br />
dieses Motto verinnerlicht zu haben. In<br />
den letzten Jahren musste der australische<br />
Sprinter neben seinen Siegen auch<br />
mehrere Niederschläge verkraften.<br />
Vielleicht war die Tatsache, dass keiner<br />
seiner Konkurrenten bei der Tour<br />
dominieren konnte, ein kleiner Trost.<br />
In Toulouse hatte Ewan auf einen<br />
klassischen Sprintzug verzichtet – ein<br />
Schachzug, bei dem sich ein paar seiner<br />
Teamkollegen fragten, inwieweit sie<br />
eine nützliche Rolle im Tour-Aufgebot<br />
spielen konnten – stattdessen hatte er<br />
sich dafür entschieden, sich an ein<br />
geeignetes Vorderrad zu heften. Das<br />
hatte schon einige Male fast funktioniert,<br />
weshalb er bei dieser Strategie blieb.<br />
So folgte Ewan dem Hinterrad des<br />
Jumbo–Visma-Sprinters Dylan Groenewegen.<br />
Nachdem Groenewegen seinen<br />
Sprint angezogen und etwa eine<br />
Radlänge herausgefahren hatte, kam die<br />
Attacke von Ewan. Er beschleunigte,<br />
fuhr in den Windschatten des Holländers<br />
und zog vor der Ziellinie an ihm vorbei.<br />
Auch Viviani, der als Dritter finishte,<br />
hatte keine Chance.<br />
ETAPPENERGEBNIS<br />
1 Caleb Ewan Lotto Soudal 3:51:26<br />
2 Dylan Groenewegen Jumbo–Visma gl. Zeit<br />
3 Elia Viviani Deceuninck–QS gl. Zeit<br />
GESAMTWERTUNG<br />
„ABENDS IST ES ZIEMLICH SCHWER,<br />
INS BETT ZU GEHEN. ES GEHEN DIR IMMER<br />
NOCH 1.000 SACHEN DURCH DEN KOPF.“<br />
Michael Matthews, Sunweb<br />
1 Julian Alaphilippe Deceuninck–QS 47:18:41<br />
2 Geraint Thomas Team Ineos +1:12<br />
3 Egan Bernal Team Ineos +1:16<br />
PUNKTEWERTUNG<br />
1 Peter Sagan Bora–hansgrohe 257<br />
2 Elia Viviani Deceuninck–QS 184<br />
3 Sonny Colbrelli Bahrain Merida 174<br />
© Getty Images<br />
SEPTEMBER <strong>2019</strong> | PROCYCLING 85