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PC_09_2019_FINAL_X1

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L E<br />

T O U R<br />

20<br />

19<br />

ANALYSE<br />

Ineos vereinnahmt zu werden. Keine zehn<br />

Minuten, nachdem Bernal den Gipfel erklommen<br />

hatte, wurde das Rennen neutralisiert.<br />

Mutter Natur hatte das Rennen<br />

in die Zange genommen und die Organisatoren<br />

mussten einen Kompromiss eingehen,<br />

der lautete: Etappenziel und Zeitnahme<br />

auf dem Gipfel des Iseran.<br />

Brailsfords mutige Ankündigung,<br />

dass die Ziellinie auf dem Gipfel<br />

des Iseran liegen würde, stellte sich<br />

als hellsichtig heraus. Als er zwei Tage<br />

später auf der Place de la Concorde stand,<br />

ein kolumbianisches Fußballshirt statt<br />

eines Ineos-Trikots tragend, das er mit<br />

einem Fan am Straßenrand getauscht hatte,<br />

und der Sonnenuntergang Paris in ein<br />

warmes Licht tauchte, verglich Brailsford<br />

Bernals Coup am Iseran mit der berühmten<br />

Attacke am Colle delle Finestre, mit<br />

der Chris Froome den Giro d’Italia 2018<br />

gewonnen hatte. „Es war sehr ähnlich“,<br />

sagte er. „Wir wussten, wenn die Klassementfahrer<br />

am Iseran, einem so langen<br />

und schweren Anstieg in großer Höhe,<br />

maximales Tempo machen würden, wären<br />

am Gipfel wahrscheinlich nur noch zwei,<br />

drei, vielleicht vier Fahrer übrig. Und weg<br />

wären sie. Was sie machen mussten, war,<br />

37 Minuten lang alles zu geben, und nur<br />

die Topfahrer würden übrig bleiben“, fuhr<br />

er fort. „Aber du brauchst den Mumm, es<br />

zu machen.“<br />

Mit diesem Anstieg wurde Egan Bernal<br />

der vierte Tour-Champion von Ineos und<br />

Sky nach Bradley Wiggins, Chris Froome<br />

und Geraint Thomas, und das Rennen<br />

<strong>2019</strong> war ihr siebter Sieg in acht Jahren.<br />

Mit drei Etappensiegen<br />

wurde Caleb<br />

Ewan der dominierende<br />

Sprinter<br />

der Tour <strong>2019</strong>.<br />

Das Ziel erwies sich als dasselbe wie bei<br />

all ihren anderen Siegen. Aber der Weg,<br />

dort hinzukommen, war ein ganz anderer.<br />

Bevor Bernals Coup in den Alpen die<br />

Tour-Thronfolge für die Ineos-Dynastie<br />

sicherte, hatten sich die Radsportfans an<br />

einem Rennen erfreut, bei dem alle taktischen<br />

Normen ignoriert zu werden schienen.<br />

Von Brüssel bis Briançon in den Alpen<br />

war das Rennen abwechslungsreich<br />

und chaotisch. Ein unerwarteter Sprinter<br />

gewann die erste Etappe, ein unerwartetes<br />

Team gewann das Mannschaftszeitfahren<br />

auf der zweiten Etappe unerwartet deutlich.<br />

Dann gewann mit Julian Alaphilippe<br />

der erwartete Fahrer die dritte Etappe in<br />

den Hügeln der Champagne, aber auf<br />

ziemlich unerwartete Art und Weise. Erst<br />

auf der vierten Etappe hatten wir einen<br />

richtigen Massensprint, den Elia Viviani<br />

gewann, aber selbst das war ein bisschen<br />

anders, weil sich das Gelbe Trikot Alaphilippe<br />

selbst in den Sprintzug einspannte.<br />

Es lief alles wie gewohnt auf der fünften<br />

Etappe nach Colmar, die in einem reduzierten<br />

Massensprint vom besten „Reduzierten-Massensprint-Sprinter“<br />

der Welt,<br />

Peter Sagan, gewonnen wurde. Aber dann<br />

führte die Tour einen Tag später nach La<br />

Planche des Belles Filles. Wir fragten uns<br />

vor der Etappe, ob Alaphilippe seinen Vorsprung<br />

irgendwie würde verteidigen können,<br />

am Ende sahen wir ihn in der letzten<br />

steilen Rampe vor dem Ziel attackieren<br />

und fast jeden einzelnen Klassementfahrer<br />

abschütteln. Und natürlich verlor<br />

er sein Trikot, aber an Giulio Ciccone von<br />

Trek-Segafredo, der es sich für zwei Tage<br />

lieh, bevor eine weitere furiose Attacke,<br />

dieses Mal von Alaphilippe und Thibaut<br />

Pinot auf dem Weg nach Saint-Étienne, es<br />

dem Franzosen zurückbrachte.<br />

Alaphilippe war bei dieser Tour eine<br />

Naturgewalt, ein Agent der Entropie. Entropie<br />

ist die Eigenschaft, durch die ein<br />

System von Ordnung zu Unordnung übergeht,<br />

und Alaphilippe ließ bei der Tour<br />

eine Reihe von Bomben hochgehen - immer<br />

wenn Ordnung in das Rennen zu<br />

kommen schien, sprengte er das ganze<br />

Ding erneut. Das zweite Gesetz der Thermodynamik<br />

besagt, dass sich die gesamte<br />

Entropie eines isolierten Systems immer<br />

erhöht, und Alaphilippe folgte dem buchstabengetreu:<br />

Jedes Mal, wenn er das isolierte<br />

System der Tour de France erschütterte,<br />

in Épernay, La Planche des Belles<br />

Filles, Saint-Étienne, dem Zeitfahren in<br />

Pau – ganz besonders dem Zeitfahren in<br />

Pau –, dem Col du Tourmalet und bis auf<br />

halber Höhe des Col de l’Iseran, dachten<br />

mehr und mehr Leute an das Unmögliche.<br />

Alaphilippe sagte Journalisten fast<br />

täglich, dass er nicht erwarte, die Tour<br />

zu gewinnen, dass er es einfach von Tag<br />

zu Tag angehe, ohne an den nächsten<br />

zu denken. Selbst als sein Vorsprung im<br />

Zentralmassiv und den Pyrenäen schrittweise<br />

wuchs, versicherte er, dass er einfach<br />

den Tag genutzt habe, wie schon am<br />

Tag zuvor, und es am nächsten Tag genauso<br />

machen wolle.<br />

Am Ende verwirrte Alaphilippe seine<br />

Rivalen und Fans zweieinhalb Wochen<br />

lang mit seiner geschickten Fahrweise,<br />

aber er war wehrlos gegen den Plan, den<br />

Ineos am Iseran ausführte. Die drei Minuten,<br />

die er an einem einzigen Anstieg nach<br />

Val Thorens kassierte, waren wie ein kalter<br />

Eimer Eiswasser ins Gesicht der Fans,<br />

die davon geträumt hatten, dass er gewinnen<br />

könnte. Natürlich wird ein Fahrer von<br />

Alaphilippes physischer und psychologischer<br />

Statur – ein Angreifer mit Punch,<br />

der oft das Beste aus seinen Angriffen<br />

macht, aber viel Energie aufwendet, um<br />

nach diesen Chancen zu suchen, und sogar<br />

seinen Sprinter unterstützt – immer<br />

verletzbar sein in den längeren und höheren<br />

Anstiegen, die in diesem Jahr ein<br />

Merkmal der Alpen waren. Aber er hätte<br />

auch von einer anderen Eigenart der Alpen<br />

profitieren können. Stellen Sie sich nur<br />

einmal vor, der Erdrutsch wäre auf der<br />

Südseite des Anstiegs passiert, bevor das<br />

Rennen ihn erklommen hatte – er wäre<br />

mit 90 Sekunden Vorsprung auf Bernal<br />

ohne den Iseran in den Beinen in die letzte,<br />

verkürzte Etappe gegangen. Eine wilde<br />

kontrafaktische Vorstellung, aber es war<br />

diese Art von Tour.<br />

Thibaut Pinot war die andere prägende<br />

Kraft der Tour <strong>2019</strong>. Er hätte<br />

sie gewinnen können und die<br />

bitteren Tränen, die er in Tignes weinte,<br />

nachdem er wegen einer unerwarteten<br />

Knieverletzung vom Rad steigen musste,<br />

zeigten, dass er das auch wusste. Die Tour<br />

zog den Franzosen zurück in ihre Arme,<br />

und selbst als er in Albi 1:40 Minuten<br />

verlor, träumten die einheimischen Fans<br />

noch – umso mehr, als er mit einigem<br />

Abstand klar der stärkste Fahrer in den<br />

Pyrenäen war.<br />

Pinot fluchte nach der Etappe nach Albi<br />

über die unglücklichen Umstände, unter<br />

denen er und seine Teamkollegen 20 oder<br />

30 Plätze im Feld verloren, weil sie im<br />

Kreisverkehr den längeren Weg genom-<br />

34 PROCYCLING | SEPTEMBER <strong>2019</strong>

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