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Nick
06:40 Uhr, März<br />
Leise öffne ich m<strong>eine</strong> Wohnungstür, im Treppenhaus<br />
riecht es immer noch nach Holzöl, als wären<br />
erst vor Kurzem <strong>die</strong> alten Balken gestrichen worden.<br />
Das war mir schon aufgefallen, als ich mir das Haus<br />
zum ersten Mal angeschaut hatte.<br />
Mein neues Zuhause ist zwar mit der modernen<br />
Wohnung von vorher nicht zu vergleichen, aber es<br />
ist wunderschön, und <strong>die</strong> Aufteilung der Zimmer<br />
mit den großen Sprossenfenstern, vor denen sich<br />
<strong>die</strong> Äste <strong>eine</strong>s Walnussbaumes ausgebreitet haben,<br />
gefällt mir. Es hat nichts, rein gar nichts mit m<strong>eine</strong>m<br />
vorherigen Leben zu tun, aber hier, umringt<br />
von <strong>die</strong>sen Fachwerkbalken, fühle ich mich endlich<br />
angekommen. Und in <strong>die</strong>sem Haus, in <strong>die</strong>sen Wänden<br />
bin ich Lis noch ein Stück näher.<br />
Um mich herum ist es still, wahrscheinlich schlafen<br />
alle noch, kein Wunder, es ist Samstagmorgen.<br />
Ich bin froh, unentdeckt durchs Treppenhaus<br />
gekommen zu sein, ohne in <strong>die</strong> fremden Gesichter<br />
der anderen Mitbewohner blicken oder irgendwelche<br />
Fragen beantworten zu müssen.<br />
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Hinter mir liegt <strong>eine</strong> schlaflose Nacht, in der ich<br />
erst ohne Ziel und Plan mit dem Auto herumgefahren<br />
bin und mich dann fast zwei Stunden beim<br />
Laufen ausgepowert habe.<br />
Wahrscheinlich ist mein Körper immer noch auf<br />
<strong>die</strong> Zeit am anderen Ende der Welt eingestellt, ein<br />
typischer Jetlag, der bei mir einfach nur ein bisschen<br />
länger andauert. Bestimmt komme ich deswegen<br />
nicht zur Ruhe.<br />
Verschwitzt lehne ich mich noch <strong>eine</strong>n Augenblick<br />
mit dem Rücken an <strong>die</strong> geschlossene Wohnungstür,<br />
bevor ich den Schlüssel auf <strong>die</strong> Kommode<br />
lege, auf der sich genau zwei Dinge befinden: mein<br />
Telefon und ein Miniaturformat des Opernhauses<br />
von Sydney.<br />
Erschöpft setze ich mich auf <strong>eine</strong>n der Umzugskartons,<br />
<strong>die</strong> noch überall verteilt in der Wohnung<br />
herumstehen, starre auf das Telefon und warte darauf,<br />
dass es klingelt, obwohl ich genau weiß, dass<br />
es das nicht tun wird. Nie wieder kann ich darüber<br />
fluchen, dass sie mitten in der Nacht oder zu anderen<br />
unmöglichen Zeiten anrufen wird. Dass ich<br />
nie mehr ihre sanfte Stimme höre, das Lachen, was<br />
mich so in ihren Bann gezogen hat. Nicht einmal<br />
ihr W<strong>eine</strong>n, das bis zum Schluss ohne jegliche Wut
auf das ungerechte Leben aus ihr herausbrach.<br />
Es tobt in m<strong>eine</strong>m Kopf, und es vergeht k<strong>eine</strong><br />
Minute ohne den Gedanken an sie oder daran,<br />
welche Uhrzeit wir in <strong>die</strong>sem Moment in Brisbane<br />
an der australischen Ostküste haben. Unwillkürlich<br />
fange ich wieder an zu rechnen. Dort ist es jetzt<br />
bereits Nachmittag, wahrscheinlich bei strahlendem<br />
Sonnenschein.<br />
Auch hier werden <strong>die</strong> Tage langsam wieder<br />
heller, der Frühling lässt nicht mehr lange auf sich<br />
warten. Schon jetzt ist das Vogelgezwitscher deutlich<br />
zu vernehmen, und auch <strong>die</strong> ersten Kraniche,<br />
<strong>die</strong> den Winter in wärmeren Gefilden verbracht<br />
haben, kommen allmählich wieder zurück, während<br />
in Australien bereits der Herbst vor der Tür steht.<br />
Könnte ich doch nur <strong>die</strong> Zeit noch einmal zurückdrehen.<br />
Was wäre gewesen, wenn ich ihr von<br />
Anfang an <strong>die</strong> Wahrheit gesagt hätte? Hätte ich<br />
dann überhaupt jemals m<strong>eine</strong> eigene Veränderung<br />
durchlebt?<br />
Acht Monate sind inzwischen vergangen, seit Lis<br />
das erste Mal anrief und der Anrufbeantworter nur<br />
ihr leises Atmen aufgezeichnet hatte.<br />
<strong>Nur</strong> noch fünf Minuten, sage ich zu mir selbst,<br />
als müsste ich mich dafür rechtfertigen, mir noch<br />
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<strong>eine</strong>n Augenblick zum Ausruhen und Nachdenken<br />
zu gönnen, bevor ich mich endlich mal aufraffen<br />
würde, unter <strong>die</strong> Dusche zu gehen und es hier<br />
bewohnbar zu machen. Als hätte ich von m<strong>eine</strong>m<br />
inneren Schw<strong>eine</strong>hund ein Okay bekommen, stehe<br />
ich auf, nehme <strong>die</strong> Opernfigur von der Konsole und<br />
setze mich auf den kahlen Fußboden. War <strong>die</strong> schon<br />
immer so schwer?, überlege ich.<br />
Die ersten Sonnenstrahlen des Tages schummeln<br />
sich durch <strong>die</strong> Fensterscheibe und in der Luft tanzen<br />
Hunderte Staubwölkchen, <strong>die</strong> sich danach langsam<br />
auf dem Boden niederlassen.<br />
Wie ein kl<strong>eine</strong>r Junge schreibe ich Lis Namen<br />
auf <strong>die</strong> alten Holz<strong>die</strong>len, und in der anderen Hand<br />
umklammere ich fest <strong>die</strong> Erinnerung aus Sydney,<br />
so sehr, dass m<strong>eine</strong> Fingerknöchel schmerzen, weil<br />
sie durch <strong>die</strong> Prügelei mit David immer noch nicht<br />
ganz verheilt sind.<br />
Ich betrachte <strong>die</strong> Oper, <strong>die</strong>ses kitschige und<br />
überdimensionale Schmuckkästchen, das ich ihr<br />
geschenkt hatte. Dabei wollte ich Lis eigentlich dort<br />
an <strong>die</strong>sem Ort zum ersten Mal küssen, aber dann<br />
kam alles anders.<br />
Versunken starre ich auf <strong>die</strong> Plastik-Skulptur.