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Leseprobe_Simonis_Martina_Stillerthal

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<strong>Martina</strong> <strong>Simonis</strong><br />

<strong>Stillerthal</strong><br />

Das Lied Aymurins<br />

Band 1<br />

Friedrich Reinhardt Verlag


Alle Rechte vorbehalten<br />

© 2018 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel<br />

Lektorat: Beatrice Rubin<br />

Cover: Céline Neubig<br />

Satz: Sandra Guggisberg<br />

ISBN 978-3-7245-2279-9<br />

www.reinhardt.ch<br />

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für<br />

Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020<br />

unterstützt.


Erster Gesang<br />

<strong>Stillerthal</strong><br />

«Niemandes Herr sein und niemandes Knecht.<br />

Danach habe ich mein Leben lang getrachtet.»<br />

Matthis Hagnasohn


Die Fremde<br />

Der Tag war jung. Noch zogen Jäger, Hirte und Stier ihre<br />

Bahnen über den nächtlichen Himmel, nur ein schmaler heller<br />

Streif am Horizont zeigte an, dass sich Sol bereit machte, erneut<br />

ihre Herrschaft über das Firmament anzutreten.<br />

Wie jeden Tag in der Warmzeit, wenn die Kühe oben auf<br />

den Hochweiden grasten, stand Matthis vor Tagesanbruch<br />

auf, schlüpfte in seine Lederhose und band sich den Gürtel<br />

um. Dann griff er sich den Stock, schulterte die Kiepe und<br />

machte sich auf den Weg hoch zur Matthisalm. Schlaftrunken<br />

stieg er den schmalen Waldweg hinauf. Er stieg ohne Eile. Im<br />

ruhigen Rhythmus der Bergbewohner setzte er Schritt vor<br />

Schritt und wartete, dass die Frische des Morgens die Müdigkeit<br />

vertrieb. Heute musste er lange warten. Schnuppernd hob<br />

er den Kopf. Es hatte keinen Raureif gegeben in der Nacht und<br />

die Luft war ungewöhnlich mild. Ob das eine weitere Masura<br />

Sonnenschein oder einen baldigen Wettersturz bedeutete,<br />

konnte er noch nicht sagen, das musste der Tag weisen. Aber<br />

eines war sicher, lange konnten die Tiere nicht mehr auf der<br />

Alm bleiben, die Zeit für den Abtrieb rückte näher.<br />

Nach einem letzten steilen Wegstück ließ Matthis die Krüppelkiefern<br />

hinter sich und trat in die Weite der Almen hinaus.<br />

Wie ein heller Ring umsäumten sie die Bannwälder <strong>Stillerthal</strong>s,<br />

überragt nur von den mächtigen Bergmassiven, die das<br />

Tal von allen Seiten bedrängten wie eine Armee eisgeharnischter<br />

Krieger. Ein einziger schmaler Spalt dort, wo sich der Wilderbach<br />

seit Tausenden von Jahren einen Durchlass in den<br />

Fels gegraben hatte, wies die Stelle, die das Hochtal mit der<br />

Welt der Tieflande verband.<br />

Während die Wälder und Felder am Talboden noch in<br />

nächtlicher Dunkelheit verharrten, schimmerten die Berge<br />

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und Almen im frühen Dämmerlicht. Die kleine Kuhherde auf<br />

der Matthisalm war bereits erwacht. Gemächlich trotteten die<br />

zottigen Kühe über die Alm und kosteten hin und wieder<br />

einen Büschel Gras. Als Matthis nahe der Almhütten war,<br />

schnalzte er mehrmals mit der Zunge und rief leise und<br />

lockend: «Kooomm, Kooomm, komm, Maya. Kooomm,<br />

kooomm, komm!» Sofort hob die Leitkuh den Kopf und muhte<br />

eine Antwort. Die kleine Herde setzte sich in Bewegung,<br />

dunkle Kuhleiber strebten dem Melkstand zu. Matthis<br />

begrüßte seine Kühe mit etwas Salz, dann führte er eine nach<br />

der anderen auf die Holzplattform, massierte die prallen Euter<br />

mit Eutersalbe und molk sie ab. Am Ende war der Eimer voll<br />

und die Kühe verteilten sich zufrieden auf der Weide.<br />

Matthis wusch sich die Hände am Wassertrog und setzte<br />

sich auf einen strohgepolsterten Platz vor der Hütte. Er holte<br />

ein in ein Tuch eingewickeltes Stück Brot aus der Kiepe,<br />

schöpfte sich eine Schale frisch gemolkener Milch und ließ<br />

sich sein Frühstück schmecken. Als er geendet hatte, legte er<br />

die Holzschale weg, stand auf und streckte sich. Schweigend<br />

sah er zu, wie die Sonne hinter den Bergen aufging und die<br />

Alm mit ihrem strahlenden Licht flutete. Mit geschlossenen<br />

Augen empfing er die wärmenden Strahlen Sols, der Königin<br />

des Himmels.<br />

Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein Blick auf die beiden<br />

Bäume, die eng ineinander verschlungen etwas oberhalb<br />

der Matthisalm standen. Seit Menschengedenken standen sie<br />

dort, weit oberhalb der Baumgrenze, und trotzten den Stürmen<br />

und Muren. Von seiner Mutter kannte er die beiden<br />

Legenden, die sich um diesen Ort rankten. Eine besagte, die<br />

Bäume hätten magische Kraft. Sie seien von den ersten Siedlern<br />

gepflanzt worden, um über die Menschen <strong>Stillerthal</strong>s zu<br />

wachen. Eine andere Version erzählte, die Bäume seien zur<br />

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Erinnerung an die Fehriner gepflanzt worden, die über die<br />

Berge in ein grünes und fruchtbares Land jenseits des Kharr-<br />

Gebirges gezogen seien. Matthis’ Mutter hatte den Ort in<br />

Ehren gehalten und ihn regelmäßig besucht, selbst als die<br />

Geschichten wie auch der Ort selbst bei den <strong>Stillerthal</strong>ern in<br />

Vergessenheit geraten waren. In der ersten Zeit nach ihrem<br />

Tod hatte Matthis versucht, diese Tradition seiner Mutter aufrechtzuerhalten,<br />

aber die Mühsal des Alltags hatte seine Besuche<br />

bald einschlafen lassen. Sein letzter Gang hinauf zu den<br />

Wächterbäumen lag schon Jahre zurück. Zu viele Jahre, dachte<br />

Matthis, brach eine besonders schöne Lichtnelke und stapfte<br />

den kurzen Weg zu den beiden Bäumen hinauf.<br />

Matthis war fast angekommen, als er wie angewurzelt stehen<br />

blieb.<br />

«Sol, Sal und Seller!», entfuhr es ihm.<br />

Am Fuße der Bäume lag eine menschliche Gestalt. Es war<br />

eine junge Frau. Das lange Haar war verfilzt und staubig, das<br />

helle Wollkleid und der einst hochwertige Umhang hingen in<br />

Fetzen. Die nur notdürftig mit Lappen umwickelten Füße<br />

waren übersät von blutigem Schorf. Trotz des Schmutzes<br />

leuchtete ihr Haar in der Farbe eines reifen Einkornfeldes und<br />

ihre Haut war unnatürlich hell. In der schattigen Kuhle unter<br />

den Bäumen wirkte sie fremd und unwirklich. Matthis kniete<br />

nieder und berührte sie leicht.<br />

«Hayda, fremde Frau, hörst du mich?»<br />

Sie bewegte sich nicht. Matthis tastete nach ihrem Puls. Er<br />

war schwach, aber vorhanden. Als er die Frau vorsichtig<br />

umdrehte, löste sich der Umhang und gab ihren linken Arm<br />

frei. Eine tiefe, blutig-eitrige Wunde klaffte über die gesamte<br />

Länge des Armes und verstümmelte dessen makelloses Ebenmaß.<br />

Matthis zog scharf die Luft ein. Er kannte solche Wunden<br />

von Kühen, die nach einem Absturz tagelang durchs<br />

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Gelände geirrt waren, ehe sie gefunden wurden. Und er wusste,<br />

es war höchste Zeit zu handeln, wenn es nicht schon zu spät<br />

war. Entschlossen riss er den Umhang in Streifen und band<br />

damit den verletzten Arm am Körper der jungen Frau fest.<br />

Dann warf er sie sich über die Schulter und stieg zur Alm hinunter.<br />

* * *<br />

Vince kam fröstelnd aus dem kühlen Naturkeller, in dem<br />

Matthis’ Käse reifte. Er kippte den kleinen Rest Sole, die er<br />

zum Abreiben der Käselaibe genommen hatte, in den Bottich,<br />

der neben der Käserei stand. Dann hockte er sich zufrieden auf<br />

die kleine Holzbank vor der Stube und wärmte sich in der<br />

Morgensonne.<br />

Vince war gern Kuhbub auf dem Matthishof. Der Hof lag<br />

fernab vom Dorf auf einem kleinen wiesengesäumten Plateau<br />

mitten im Bannwald. Das war ihm gerade recht. Hier hatte<br />

man seine Ruhe. Keine keifenden Nachbarn, und der Vater,<br />

der ihn immer schlug, wenn er etwas falsch machte, weit weg.<br />

Matthis schlug nie. Weder ihn noch die Kühe. Zu den Kühen<br />

war er besonders freundlich. Vince verstand nicht, warum<br />

manche die Stirn runzelten, wenn sie von Matthis redeten.<br />

Nur seine Eutersalbe nahmen alle gern. Vince war überzeugt,<br />

dass niemand so viel von Kühen verstand wie Matthis. Matthis<br />

hatte sogar eine von Lundis’ besten Milchkühen, die sich ein<br />

Bein gebrochen hatte, so gut geschient, dass man nach ein<br />

paar Monden nichts mehr merkte.<br />

Dösig saß Vince auf der Bank, als ihn das tiefe Muhen<br />

von Matthis’ Leitkuh aus dem Halbschlaf riss. Kurze Zeit<br />

später sah er Maya und die anderen Kühe in dichtem<br />

Gedränge den schmalen Fußweg, der den Hof mit der Alm<br />

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verband, hinunterstapfen, Matthis folgte dicht dahinter.<br />

Aber Matthis kam nicht allein. Über den Schultern hatte er<br />

den leblosen Körper einer Frau hängen. Vince sprang auf<br />

und lief ihm entgegen. Mit offenem Mund starrte er das<br />

fremde Stück Mensch an. Matthis blieb kurz stehen und<br />

reichte Vince seinen Stock.<br />

«Hier, bring die Kühe auf die Hausweide und dann komm<br />

ins Haus, ich brauch dich.»<br />

Vince nickte und trieb die Kühe auf die kleine umzäunte<br />

Wiese, die direkt neben dem Hof lag. Die Kühe kannten<br />

Vince und sie kannten die Weide und so folgten sie ihm brav.<br />

Sobald das letzte Kalb auf der Wiese stand, schloss Vince das<br />

Holzgatter und rannte ins Haus. Als er in die Stube kam, blieb<br />

er abrupt stehen.<br />

«Igitt!», japste er. «Das stinkt!»<br />

Matthis sah ihn streng an.<br />

«Ein verkoteter, kranker Körper riecht nie gut. Komm jetzt,<br />

ich will, dass du was lernst.»<br />

Matthis hatte die Fremde auf den langen Küchentisch<br />

gelegt, der den Küchenbereich vom übrigen Raum abtrennte.<br />

Über der gemauerten Feuerstelle hing ein Topf mit brodelndem<br />

Wasser. Eilig trug Matthis Schüsseln, Schöpfkelle und<br />

allerlei Kräuterutensilien aus Regalen und Schränken zusammen.<br />

Als er alles beisammen hatte, holte er ein Messer und<br />

zerschnitt in zügigen Schnitten die zerfetzten Kleider, zog sie<br />

vorsichtig ab und warf sie ins Feuer. Dort, in den prasselnden,<br />

lodernden Zungen fanden sie ein schnelles Ende.<br />

«Reinheit und Sauberkeit, das ist das Wichtigste, wenn du<br />

Krankheit besiegen willst», erklärte Matthis. «Vergiss das nie!»<br />

Vince nickte. Andächtig sah er zu, wie Matthis die Waschschüssel<br />

mit heißem und kaltem Wasser sowie einigen Kräutern<br />

und Seifenraspeln füllte. Dann wusch er mit einem Lap-<br />

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pen den nackten Körper so oft ab, bis das Wasser dunkel war.<br />

Vince beobachtete atemlos, wie sich aus dem dreckverkrusteten<br />

Fleisch ein weißer Körper schälte.<br />

«Sie sieht ekelig aus. Wie eine Made!», meinte er.<br />

Matthis blickte ihn nachdenklich an.<br />

«Fass sie an», befahl er.<br />

Zögernd streckte Vince die Hand aus und berührte den hellen<br />

Körper.<br />

«Was spürst du?», fragte Matthis.<br />

«Es ist glatt und da sind kleine Härchen.»<br />

«Nun berühre deinen eigenen Arm.»<br />

Vince tat, wie ihm geheißen.<br />

«Was spürst du nun?»<br />

«Er ist auch glatt und hat kleine Härchen», gestand Vince.<br />

Matthis nickte.<br />

«Es ist nicht die Hautfarbe, die einen Mensch zum Menschen<br />

macht. Präge dir das gut ein!»<br />

Dann machte er sich wieder an die Arbeit. Er wickelte der<br />

Fremden mit flinken Bewegungen eine Windel um den Schritt<br />

und deckte sie mit einem sauberen Tuch zu. Schließlich näherte<br />

er sich dem linken Arm und zeigte auf das feuchte Tuch, mit<br />

dem er den Arm abgedeckt hatte.<br />

«Warum habe ich das gemacht?», fragte er. Vince schüttelte<br />

den Kopf.<br />

«Weiß nicht.»<br />

«Sie hat eine böse Wunde. Stoff hat sich darin verklebt. Der<br />

Stoff muss sauber entfernt werden.»<br />

Matthis hob das Tuch ab. Vince zog scharf die Luft ein.<br />

Eine tiefe, eitrige Wunde zog sich über die gesamte Länge des<br />

Armes. Vince hatte noch nie eine so schlimme Wunde gesehen.<br />

Beklommen beobachtete er Matthis, der unschlüssig da -<br />

stand und den Arm betrachtete.<br />

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«Was machst du, wenn du so eine Wunde vor dir hast?»,<br />

fragte er, mehr zu sich selbst als zu Vince.<br />

Vince schluckte und versuchte, nicht zu genau hinzusehen.<br />

«Weiß nicht.»<br />

«Eigentlich müsste man den Arm amputieren», murmelte<br />

Matthis, und Vince merkte, wie sehr ihm die Vorstellung<br />

zuwider war.<br />

Wieder stand Matthis minutenlang da, ohne sich zu bewegen.<br />

Nachdenklich fuhr er fort: «Aber sie ist noch so jung …<br />

Wenn ich Mutters Vorrat aufbrauche, wir könnten es schaffen<br />

…»<br />

«Was?»<br />

«Den Arm wieder gesund zu machen!»<br />

Er überlegte kurz, dann nickte er.<br />

«Wir könnten es schaffen!»<br />

Matthis holte eine flache Schüssel und füllte sie mit einer<br />

Flüssigkeit aus einer Flasche. Dann legte er ein schlankes Messer<br />

und andere Gerätschaften hinein, holte sie wieder heraus<br />

und hielt sie kurz über das Feuer. Blaue Flammen schossen in<br />

die Höhe, es sah aus, als wollten sie die Dinge verzehren, aber<br />

kurz darauf erloschen die Flammen von allein.<br />

«Feuer reinigt», sagte Matthis. «Alles, was mit so einer<br />

schlimmen Wunde in Kontakt kommt, muss vom Feuer gereinigt<br />

werden! Alles!»<br />

Matthis badete kurz seine Hände in der Flüssigkeit und<br />

hielt sie ebenfalls über das Feuer. Vince schrie auf, als blaue<br />

Flammen um die Hände emporzüngelten. Aber dann zog<br />

Matthis seine Hände schon wieder aus dem Feuer und die<br />

Flammen erstarben.<br />

Atemlos verfolgte Vince, wie sich Matthis an die Arbeit<br />

machte. Zuerst band er den Arm ab und entfernte die verklebten<br />

Stofffetzen. Dann öffnete er die alte Wunde, entfernte<br />

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Eiter, Narbengewebe, schnitt faules Fleisch weg. Immer wieder<br />

tunkte er saubere Tücher in eine Flüssigkeit und reinigte<br />

damit die Wunde. Am Ende vernähte er das klaffende Fleisch,<br />

umwickelte den Arm mit dünnen Rindenstücken und löste<br />

den Druckverband.<br />

Matthis zeigte auf den Rindenverband und sah Vince scharf<br />

an.<br />

«Das da hast du nie gesehen, ist das klar?»<br />

Vince nickte ängstlich.<br />

«Was ist das?», fragte er.<br />

«Binha-ban. Rinde vom Fehnbaum. Die Leute denken, es<br />

ist Frevel, Hexenwerk. Aber das ist es nicht. Es ist vom Bruchholz,<br />

ein Schatz, freiwillig gegeben!»<br />

Schließlich nahm er die Bastschale, in die er das faule<br />

Gewebe und die Lappen geworfen hatte, und hielt sie Vince<br />

vor die Nase.<br />

«Was passiert damit?»<br />

Vince musste den Kopf abwenden, so übel wurde ihm bei<br />

dem Geruch.<br />

«Ein tiefes Loch graben und reintun?», presste er mühsam<br />

hervor.<br />

«Das ist nicht schlecht, aber damit ist das Kranke nicht tot.<br />

Es ist immer noch da, wenn auch vergraben. Was habe ich<br />

über Wunden gesagt?»<br />

«Dass alles, was mit einer Wunde in Berührung kommt,<br />

vom Feuer gereinigt werden muss.»<br />

«Richtig. Und das tun wir nun.»<br />

Matthis trug die Schale zum Feuer und warf sie mitsamt<br />

dem Inhalt in die lodernden Flammen. Dichter, beißender<br />

Rauch qualmte auf. Vince riss die Hände vor den Mund und<br />

rannte nach draußen, wo er sich übergab.<br />

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Vince fegte den Staub des Sommers aus dem Kuhstall. Er<br />

machte den Hühnerstall sauber. Brachte reifen Dung im<br />

Gemüsegarten auf. Riss die Brennnesseln, die in Massen rund<br />

ums Haus wuchsen, aus. Nur um nicht an die Frau in der<br />

Stube denken zu müssen. Um die Bilder nicht mehr sehen zu<br />

müssen. Dabei merkte er nicht, dass die Luft dumpfer wurde<br />

und der Himmel zuzog. Erst als es in der Ferne donnerte,<br />

blickte er auf. Eine gelbgraue Wolkenfront jagte aus Richtung<br />

der untergehenden Sonne heran und hatte in kurzer Zeit den<br />

Himmel erobert. Gerade noch rechtzeitig scheuchte Vince die<br />

Hühner in ihren Verschlag, dann brach das Unwetter los.<br />

Unter heftigen Hagelschauern trieb er die Kühe in den Stall,<br />

dann floh er in die warme Stube.<br />

«Puh!» Er schüttelte sich und zog das durchnässte Hemd<br />

aus. «Gut, dass die Kühe unten sind. Dieses Wetter hätte ihnen<br />

gar nicht gefallen.»<br />

Matthis sah nur kurz auf den prasselnden Eisregen vor dem<br />

Fenster.<br />

«Gut, dass sie unten ist», sagte er und nickte in Richtung<br />

der Kranken. «Sie hätte die Nacht dort oben nicht überlebt.»<br />

Vince sah scheu auf die Fremde, die jetzt in Matthis’ Alkoven<br />

nahe der Herdstelle lag. Ihr Atem ging schnell und stoßweise,<br />

dicke Schweißtropfen standen auf der kalkweißen Stirn.<br />

Manchmal warf sie unter krampfartigen Zuckungen den Kopf<br />

hin und her oder bäumte sich auf. Matthis saß mit verbissenem<br />

Gesicht neben ihr, wischte ihr immer wieder mit einem<br />

feuchten Tuch Stirn und Hände ab und träufelte ihr mit einem<br />

Löffel etwas Flüssigkeit in den leicht geöffneten Mund.<br />

Jetzt stand er auf, tauchte zwei Tücher in den Wassereimer,<br />

der auf Küchentisch stand, und wrang sie aus.<br />

«Komm her, damit du was lernst.»<br />

Er gab Vince die Tücher in die Hand.<br />

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«Hier, das kannst du machen. Wickel die Tücher fest um<br />

die Unterschenkel. Achte darauf, dass das Wasser nicht zu kalt<br />

ist, gib im Zweifel etwas warmes Wasser vom Topf dazu. Das<br />

Tuch wird schnell warm, dann hilft es nicht mehr. Deswegen<br />

musst du es regelmäßig erneuern. Und achte darauf, dass das<br />

Bettzeug nicht nass wird. Leg immer ein Stück Fell unter. Und<br />

wechsle auch das Fell regelmäßig. Dort drüben auf dem Stuhl<br />

liegen zwei Kuhfelle bereit, die kannst du nehmen.»<br />

Vince hob die Bettdecke und machte sich daran, die Tücher<br />

um die Beine der Kranken zu wickeln. Beim ersten Kontakt<br />

zuckte er zusammen.<br />

«Sie ist so heiß!»<br />

Matthis nickte und flößte der Fremden weiter kleine Löffelchen<br />

Sud in den Mund.<br />

«Aber du machst sie wieder gesund, nicht?»<br />

Matthis sagte nichts.<br />

«Du bist der beste Heiler, den ich kenne», versuchte Vince sich<br />

und seinem Lehrvater Mut zu machen. «Besser als Marvis! ‹Einläufe<br />

mit leicht gesalzenem Honigwasser bei Durchfall, Molke<br />

mit einem Sud aus Tammil gegen Entzündungen und Wurmbefall,<br />

Birkenknospentee zur Fiebersenkung, Wundbehandlung<br />

mit Birkenrinde›», zitierte er stolz. «Ich habe mir alles gemerkt!»<br />

Matthis legte Becher und Löffel beiseite und wandte sich<br />

Vince zu. Eindringlich blickte er ihm in die Augen.<br />

«Vince, du musst mir etwas versprechen, das sehr wichtig<br />

ist. Lebenswichtig.»<br />

Vince nickte eingeschüchtert.<br />

«Ich bin kein Heiler, Vince. Ich DARF kein Heiler sein! Ich<br />

bin Matthis, der Kuhbader, mehr nicht. Das Wissen um das,<br />

was wir hier tun, darf nie den Matthishof verlassen. Nie! Du<br />

wirst darüber kein Wort zu niemandem sagen, auch nicht zu<br />

deinem Vater. Versprichst du mir das?»<br />

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Vince starrte ihn an.<br />

«Ich verspreche es!», flüsterte er.<br />

Matthis legte seine kräftige rechte Bauernhand auf seine<br />

Brust.<br />

«Auf dein schlagendes Herz?»<br />

Vince tat es ihm nach. Seine Bubenhand mit dem zerrissenen<br />

Hemdsärmel legte sich auf die magere Brust.<br />

«Auf mein schlagendes Herz!», schwor er andächtig.<br />

Matthis nickte.<br />

«Gut. Dann wäre das geklärt.»<br />

Er wandte sich wieder der Kranken zu.<br />

Vince beobachtete, wie er Löffel um Löffel in den kleinen<br />

Spalt zwischen den ausgetrockneten Lippen flößte.<br />

«Aber du machst sie wieder gesund?»<br />

Matthis antwortete nicht gleich.<br />

«Wir können heil machen, was zum Leben bestimmt ist.<br />

Wir sind machtlos, wenn dem Tod die Herrschaft gebührt»,<br />

sagte er dann, mehr zu sich selbst als zu Vince.<br />

Nachdenklich wischte Matthis der Fremden mit einem<br />

feuchten Tuch die Schweißperlen von der glühenden Stirn.<br />

«Und ich weiß noch nicht, was Aoum für sie vorgesehen hat.»<br />

Danach wurde nicht mehr gesprochen. In Stille verstrichen<br />

die Stunden, die nur von dem regelmäßigen Wechsel der<br />

Wadenwickel, der Zubereitung von frischem Tee und dem<br />

Beträufeln der Lippen unterbrochen wurden. Einzig der<br />

wütend an die Fensterscheiben klopfende Eisregen erinnerte<br />

daran, dass es eine Welt jenseits der Stille gab. Als das letzte<br />

fahle Abendlicht verloschen war und der Schwärze der Nacht<br />

Platz gemacht hatte, stand Matthis auf und legte Vince die<br />

Hand auf den Arm.<br />

«Das reicht, Vince, das reicht. Hol dir was zu Essen aus der<br />

Kammer, du weißt, wo alles ist. Schau auch noch einmal nach<br />

17


den Kühen. Gib den Trächtigen ein wenig Korn, sie brauchen<br />

jetzt eine Zusatzration. Und dann leg dich ins Bett. Ich komme<br />

hier allein zurecht.»<br />

«Aber …»<br />

«Kein Aber, geh jetzt.»<br />

Vince tat, wie ihm geheißen. Nachdem er die Kühe versorgt<br />

und sich ein dickes Stück Käse und eine große Scheibe Brot<br />

gegönnt hatte, huschte er zu seinem Bett und ließ sich müde<br />

auf die Heumatratze fallen. Der über den Alkoven gebeugte<br />

Matthis war das Letzte, was er sah, dann glitt er in einen tiefen,<br />

traumlosen Schlaf.<br />

Die nächsten Tage brachten keine Veränderung. Die Zeit war<br />

eine träge Schnecke geworden. Vince war froh, wenn er der<br />

dumpfen Wärme der Stube entfliehen konnte, um sich um die<br />

Kühe und die Hühner zu kümmern. Derweil pflegte Matthis<br />

die Fiebernde. Machte beharrlich Einläufe und Wadenwickel,<br />

wechselte Windeln, träufelte Tee zwischen die aufgesprungenen<br />

Lippen.<br />

* * *<br />

Fahles Licht, das sich zu einem Raum verdichtete. Objekte, die<br />

ihr bekannt vorkamen. Widerstrebend öffnete sich die Tür zu<br />

dem Ort, in dem die Sprache wohnte, und ließ die dazu passenden<br />

Wörter frei. Tisch. Bank. Stuhl. Feuerstelle. Fenster.<br />

Durch das Fenster sickerte helles Mittagslicht, Staub tanzte<br />

in der Luft. Frieden. Aber etwas störte. Es dauerte einen<br />

Moment, bis sie merkte was. Zwei Männerstimmen unterhielten<br />

sich in der für ihre Augen unsichtbaren Welt jenseits der<br />

behütenden Mauern. Die eine Stimme war laut und bestimmend,<br />

die andere ruhig und bedächtig.<br />

18


«Brauchst du was?», fragte die bedächtige Stimme.<br />

«Nein.» Kurzes Zögern, dann kam fast beleidigt die Feststellung:<br />

«Du warst nicht beim Lauschan.»<br />

«Nein», sagte die bedächtige Stimme.<br />

«Wir haben uns gefragt, ob dir klar ist, was es bedeutet, dass<br />

du in den Kreis der Lauschan-Mahadan aufgenommen wurdest.»<br />

«Ja.»<br />

«Ob du weißt, dass das Amt normalerweise vom Vater auf<br />

den Sohn übergeht. Dass normalerweise gilt: wo kein Vater, da<br />

kein Amt!»<br />

«Ich weiß es, Lundis. Und ich bin dem Rat dankbar, dass<br />

ich aufgenommen wurde. Aber ich habe eine kranke trächtige<br />

Kuh im Stall. Ich konnte nicht weg.»<br />

«Oh.» Hörbare Irritation. «Na dann hoffe ich mal, dass sie<br />

bald gesund wird. Du stehst jetzt in der Pflicht!»<br />

«Ich komme, sobald es geht.»<br />

«Gut. Ach ja, und bring mir das nächste Mal etwas von<br />

deiner Eutersalbe mit. Eine meiner Kühe mault mal wieder,<br />

wenn sie gemolken wird. Also, haday, Matthis, wir zählen auf<br />

dich beim nächsten Lauschan!»<br />

«Haday Lundis.»<br />

Eilige Fußschritte entfernten sich, müde Fußschritte tappten<br />

ins Haus zurück. Ein Mann trat in ihr Blickfeld. Ihr Herz<br />

setzte einen Moment aus, als sie die dunkle Haut sah. Etwas in<br />

ihr sagte Gefahr. Der Mann hob den Kopf, ihre Blicke begegneten<br />

sich. Er blieb stehen und lächelte.<br />

«Hayda!»<br />

Bedächtig trat er an ihr Bett, beugte sich vor und sprach in<br />

langsamen, beruhigenden Worten.<br />

«Hab keine Angst, ich tue dir nichts. Ich habe dich gefunden<br />

und in mein Haus getragen. Hier droht dir keine Gefahr.»<br />

19


Der Mann hatte schwarzes Haar, einen kurzen Bart und<br />

einen ruhigen, vertrauenerweckenden Blick. Sie entspannte<br />

sich. Mühsam bewegte sie die Lippen, suchte nach dem richtigen<br />

Wort für die eine Frage, die irgendwie wichtig erschien.<br />

«Wo?»<br />

«Du bist in Fehrin. In <strong>Stillerthal</strong>. Mein Name ist Matthis<br />

und das hier ist der Matthishof.»<br />

Sie schlug kurz die Augen nieder, um anzudeuten, dass sie<br />

verstanden hatte. Dann glitt sie in den alten Dämmerzustand<br />

zurück.<br />

So blieb es. Wann immer sie aus schwerem Schlaf erwachte,<br />

sah sie das Zimmer, die Dinge, das Licht, das durchs Fenster<br />

fiel. Doch jedes Erwachen brachte neue Bilder. Sie sah den mit<br />

grauen Steinplatten ausgelegten Boden, das raue Holz der<br />

Wände, die mit Moos ausgestopften Fugen. Sie sah den Ausguss<br />

neben der sauber gemauerten Kochstelle und den rußgeschwärzten<br />

Kamin. Und immer wieder den Mann, der kam,<br />

beruhigend sprach und Suppe oder Tee brachte. Sie bemerkte<br />

die schwarznarbigen Punkte in seinem Gesicht, die feinen Falten<br />

rund um die Augen, die schwieligen Hände, denen man<br />

ansah, dass sie schon viel gearbeitet hatten. Manchmal kam<br />

ein Knabe. Schüchtern träufelte er ihr Tee oder Suppe in den<br />

halb geöffneten Mund.<br />

Doch die Bilder hatten nichts mit ihr zu tun. Sie kamen<br />

und gingen, so als würden sie mit jedem Erwachen von Neuem<br />

zum Leben erweckt, um danach wieder in die Finsternis zu<br />

entschwinden, der sie entstammten.<br />

Seit sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie,<br />

außer dieser einen kurzen Frage nach dem Wo, kein Wort<br />

gesprochen. Meist lag sie im Bett, die Augen starr an die Decke<br />

gerichtet, nur manchmal, wenn Matthis oder Vince im Raum<br />

20


waren, beobachtete sie, was sie taten. Das Gestern war ein<br />

schwarzes Loch, das Morgen existierte nicht. Sie lebte in einer<br />

Zwischenwelt ohne Vergangenheit und Zukunft, nur von der<br />

kurzen Zeitspanne der Gegenwart umfangen.<br />

Sie wäre gern immer in dieser Welt geblieben. Aber eines<br />

Tages kam ein verstörendes Gefühl hinzu, das alles änderte.<br />

Sie fühlte ein vages Ich. Ein Ich, das litt, weil es spürte, dass es<br />

schwach und krank war. Ein Ich, das litt, weil es nicht wusste,<br />

wer es war. Ein Ich, das plötzlich Scham empfand, das die<br />

Augen schloss und den Kopf zur Wand drehte, wenn der<br />

Mann sie wusch oder die Windeln wechselte.<br />

Der Mann schien die Veränderung zu merken. Er hängte<br />

einen Vorhang auf, mit dem er ihren Alkoven vom Rest der<br />

Stube abtrennte, wenn er sie wusch. Manchmal erzählte er.<br />

Vom Leben auf dem Hof, von den Kühen, vom Wetter. Jeden<br />

Tag erzählte er, mit leiser, unaufdringlicher Stimme. Ruhig, so<br />

als gäbe es nichts Selbstverständlicheres als ihr namenloses<br />

Ich, das stumm und ausgezehrt in seinem Alkoven lag.<br />

Seine Pflege zahlte sich aus. Das Fieber wich, die Schmerzen<br />

vergingen. Ihr Körper gesundete. Nicht jedoch ihr Geist.<br />

Sie hatte ihren Körper zurückbekommen, aber sie konnte ihn<br />

nicht füllen. Noch immer lag ein schwarzer Vorhang zwischen<br />

ihr und der Person, die sie früher war. Bis der Tag kam, der<br />

alles änderte.<br />

Wie jeder Tag begann auch dieser mit fahlem Dämmerlicht,<br />

das durch die Fenster ins Zimmer fiel. Aber das Licht war<br />

anders. Weißer, heller, kälter. Schneeflocken fielen dicht an<br />

dicht und bedeckten das Land jenseits der Stube. Mit dem<br />

Schnee fiel der Vorhang. Die Tür zu ihrer Vergangenheit, die<br />

so lange verschlossen war, öffnete sich und gab die Bilder frei.<br />

Wer sie war, woher sie war. Was sie hierher geführt hatte.<br />

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Ein dumpfer Schrei entrang sich ihrer Brust. Sie richtete<br />

sich in ihrem Alkoven auf, schob die Decke beiseite und setzte<br />

erst den einen, dann den anderen Fuß auf den Boden. Es dauerte<br />

kläglich lange, bis sie aus dem Bett geklettert war, aber es<br />

gelang. Als sie kniend vor dem Alkoven hockte, streckte sie<br />

den gesunden rechten Arm aus, griff nach dem Bettkasten und<br />

zog sich hoch. Sie atmete schwer, hielt sich am Vorhang fest.<br />

Dann der erste Schritt, der zweite. Taumelnd tastete sie sich an<br />

der Wand entlang in Richtung Fenster. Endlich war sie da. Sie<br />

presste die Stirn an die kalte Fensterscheibe und sah hinaus.<br />

Aber sie sah nicht den Schnee, der vor dem Fenster tanzte. Sie<br />

sah, was dahinter war. Was verloren war. Für immer. Als sie es<br />

nicht mehr ertrug, schloss sie die Augen und spürte der Kühle<br />

des Fensters auf ihrer warmen Haut nach. Dann drehte sie sich<br />

um und tastete sich zum Küchentisch vor. Auf dem Küchentisch<br />

stand ein Messerblock. Sie zog ein Messer nach dem<br />

anderen heraus und prüfte ihre Schärfe. Endlich fand sie eines,<br />

mit dem sie zufrieden war. Mit dem Messer in der Hand ging<br />

sie zum Kamin und ließ sich vorsichtig nieder. Die Klinge<br />

blitzte im Licht der lodernden Flammen. Sie beugte den Kopf,<br />

hob das Messer und begann, sich das Haar abzurasieren. Locke<br />

für Locke ihres goldfarbenen Haares fiel auf den Boden, bis es<br />

aussah, als säße sie in einem Bett aus Stroh. Als sie ihr Werk<br />

vollendet hatte, legte sie das Messer behutsam neben sich auf<br />

den Boden. Ihr kahler, geröteter Schädel schimmerte im Feuerschein.<br />

Dann warf sie Büschel für Büschel des Haares ins<br />

Feuer. Lodernd und dampfend ging ihre Vergangenheit in<br />

Flammen auf.<br />

* * *<br />

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