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Strukturalismus

978-3-86859-551-2

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Die vergessenen<br />

Alternativen<br />

<strong>Strukturalismus</strong> und<br />

brutalistische Erfahrung<br />

in der Architektur<br />

Bernhard Denkinger<br />




Einleitung 6<br />

Zwei Architektur strömungen 36<br />

Zwei neue Themen in der Architektur 38<br />

der 1950er und 1960er Jahre<br />

Die Unterschiede zwischen New Brutalism 42<br />

und strukturalistischer Architektur<br />

Die brutalistische Erfahrung 50<br />

New Brutalism und die Wertschätzung 52<br />

des Primitiven in der Kunst<br />

Brutalismus und Béton brut 56<br />

New Brutalism, die Smithsons und ihre 60<br />

Referenz auf die japanische Architektur<br />

Die Bibel des New Brutalism: Reyner Banham 68<br />

Banham, der New Brutalism in der 81<br />

bildenden Kunst und die weltweite Ausbreitung<br />

eines expressiven Brutalismus<br />

Der Ausstellungsbeitrag „Patio and Pavilion“ 88<br />

als Credo des New Brutalism<br />

Pop versus As Found 98<br />

Die XIV. Triennale in Mailand 1968 – 100<br />

eine Ausstellung, die nicht stattfand<br />

„Urban Decoration“ – der Beitrag 104<br />

der Smithsons zur Triennale 1968<br />

Die Wohnanlage Robin Hood Gardens 113<br />

von Alison und Peter Smithson<br />

<strong>Strukturalismus</strong> in der Architektur 126<br />

Eine erste Vorstellung: Regeln, Raster, Strukturen 128<br />

Ein Waisenhaus als Leitbild der 132<br />

strukturalistischen Architektur<br />

Ein Interview mit Herman Hertzberger 140<br />

Die Neuausrichtung des strukturalistischen Projekts 167<br />

4 


Strukturalistische Erfahrungen 174<br />

Märchen und frühe Erinnerung – 178<br />

Het Zilveren Schor von Onno Greiner<br />

Das Verlangen nach Repräsentation – 183<br />

Onno Greiners Kulturzentrum De Flint<br />

Wie könnte Mathematik aussehen? 191<br />

Leo Heijdenrijk und Jos Mol<br />

Bibliothek, Mini-Markt, Bürohaus – 199<br />

Wim Davidse und Doetinchem<br />

Große Pläne, kleine Pavillons – Joop van Stigt 207<br />

Abgehoben – Piet Bloms Pfahlbausiedlung in Hengelo 212<br />

Über das Einziehen von Grenzen – 218<br />

’t Karregat, Frank van Klingeren<br />

Parallelaktionen und Neubestimmungen – 225<br />

Aldo van Eyck: Pastoor-van-Ars-Kirche und Galerie Schmela<br />

Reprisen: Die Nachwirkung 242<br />

strukturalistischer Themen in der<br />

neueren Architektur<br />

Rafael Moneo und das antike Rom 245<br />

Architekturbüro Riegler Riewe – 252<br />

Minimalismus mit strukturalistischen Spuren<br />

Die weiße Stadt – die Philharmonie in Szczecin 258<br />

von Barozzi Veiga<br />

Konzepte oder Bilder? – Architektur 266<br />

vor und nach der Postmoderne<br />

Anmerkungen 272<br />

Auswahlbibliografie 284<br />

Bildnachweis 286<br />

Der Autor / Dank 287<br />

<br />

5


Einleitung<br />

6


„In der modernen Poesie sind die Bezüge<br />

nur eine Erweiterung der Worte […], das<br />

Wort nährt [sie], führt zum Höhepunkt,<br />

wie eine Wahrheit, die sich plötzlich<br />

entschleiert […]. [D]as poetische Wort<br />

[kann] niemals falsch sein […], weil<br />

es total ist; es leuchtet eine endlose<br />

Freiheit in ihm und es macht sich daran,<br />

tausende unsichere und mögliche Bezüge<br />

auszustrahlen.“<br />

Roland Barthes 1<br />

<br />

7


waren inzwischen wesentlich verändert oder in einer anderen Architektursprache<br />

überbaut worden. Der Zustand der noch erhalten gebliebenen Gebäude,<br />

der bisweilen wenig respektvolle Umgang mit diesen und ihre sehr geringe<br />

Zahl, standen in deutlichem Gegensatz zu den Erwartungen, welche die Architekturtheorie<br />

einst an die strukturalistische Architektur geknüpft hatte.<br />

Diese Gebäude konnten nur einen kleinen Teil dessen abbilden, was eine<br />

strukturalistische Architektur hätte erreichen können. War ihr bloß zu wenig Zeit<br />

geblieben, ihr eigentliches Potenzial zu entdecken und zu erproben? Waren die<br />

historischen Einschätzungen von Jürgen Joedicke 21 oder Kenneth Frampton, 22<br />

die dem <strong>Strukturalismus</strong> einen hohen Stellenwert in der Architekturgeschichte<br />

eingeräumt hatten, richtig gewesen? Hatte die Realität versagt? Hatte sie nicht<br />

liefern können, was möglich hätte sein müssen?<br />

Stadthalle<br />

Biberach,<br />

Onno Greiner<br />

1977<br />

Wie sieht strukturalistische Architektur aus?<br />

Etwa zwanzig Jahre lang – bis Mitte der 1980er Jahre – gab es ein verhältnismäßig<br />

einheitliches Bild der strukturalistischen Architektur. Um dieses zu<br />

schaffen war so manche architekturtheoretische Einordnung vorgenommen<br />

worden – darunter nur wenige stringente. Architekturen, die zwar bestimmte<br />

strukturalistische Merkmale aufwiesen, aber (noch) keinen systemischen inneren<br />

Zusammenhang ausgebildet hatten, waren unter der Annahme in das<br />

strukturalistische Vokabular aufgenommen worden, dass sie einen solchen Zusammenhang<br />

später ausbilden würden.<br />

20 Einleitung


Die Theorie glaubte, eine Zukunft zu antizipieren, die ohnehin eintreten<br />

würde; und man sah ihr Unschärfen nach, weil man diese Zukunft herbeisehnte.<br />

Mit zunehmendem zeitlichen Abstand verfestigte sich dann der Eindruck,<br />

dass diese angedachte Zukunft sich so nicht ereignen würde. Damit veränderte<br />

sich auch die Sicht auf die strukturalistische Architektur. Einerseits wurden nun<br />

ihre gedanklichen Grundlagen vermehrt wissenschaftlich untersucht 23 und das<br />

Wenige, das überhaupt benennbar war, einer Revision unterzogen; andererseits<br />

schien sich nun, nach Meinung einiger Autoren, eine strukturalistische Konstante<br />

wie ein roter Faden durch fast die gesamte Architekturproduktion der 1950er<br />

und 1960er Jahre zu ziehen.<br />

Die persönlichen Verbindungen zwischen den Protagonisten, die die Debatte<br />

um eine alternative Architektur geführt hatten (anfangs über die CIAM,<br />

dann über „Team Ten“), und deren gemeinsame Anliegen, ließen auf einen Austausch<br />

von Ideen schließen. Allerdings konnte damit nicht unbedingt ein gemeinsamer<br />

theoretischer Hintergrund angenommen werden, wie das nun die<br />

Rezeption voraussetzte. Diese eröffnete auch ein neues Feld für die strukturalistische<br />

Architektur, jenes der digitalen Entwurfsverfahren.<br />

Fakt ist, dass diese erneute Standortbestimmung, die ab Mitte der<br />

1990er Jahre erfolgte, die Lage mit ihrer sehr weit gefassten Definition strukturalistischer<br />

Architektur nicht vereinfachte: Wenn nun visuell vollkommen unterschiedliche<br />

Gebäude gleichermaßen als strukturalistisch klassifiziert werden<br />

konnten, auch wenn sie nur Spuren eines strukturellen Aufbaus zeigten, dann<br />

basierte das bisherige, ohnehin brüchige und ungenaue Bild der strukturalistischen<br />

Architektur auf falschen Annahmen.<br />

Strukturalistische Architektur und New Brutalism –<br />

ein „Twin Phenomena“ 24<br />

In gewisser Weise war aber die kritische Neuinterpretation, die die Rezeption<br />

vornahm, nicht falsch – das tradierte Bild strukturalistischer Architektur war unvollständig.<br />

Diese Neuinterpretation verwies auch auf einen wichtigen, bisher<br />

vernachlässigten Aspekt: Die beiden innovativsten Architekturströmungen der<br />

1950er und 1960er Jahre, der New Brutalism und der <strong>Strukturalismus</strong>, mussten<br />

gemeinsam betrachtet werden.<br />

Die strukturalistische Architektur war nur eine – wenn auch eine besonders<br />

vielversprechende – Facette des Diskurses, der in den 1950er Jahren die<br />

Formierung alternativer architektonischer Modelle ermöglicht hatte. Sie teilte<br />

ihre Quellen mit anderen architekturtheoretischen Entwürfen dieser Zeit. Der<br />

New Brutalism deckte Themenfelder ab, für die sich die strukturalistische Debatte<br />

nur eingeschränkt interessierte. Zudem erprobten seine wichtigsten architektonischen<br />

Exponenten auch strukturalistische Methoden. Auch wenn die<br />

Spuren strukturalistischer Ideen in der Architektur in diesem Buch nur fragmentarisch<br />

und skizzenhaft beschrieben werden können, ohne eine Referenz auf<br />

den New Brutalism können sie nicht erklärt werden.<br />

<br />

21


Legendär wurde ein Vortrag des Künstlers Eduardo Paolozzi, bei dem dieser<br />

mittels eines alten Episkops eine große Zahl von Bildern projizierte. Diese private<br />

Sammlung Paolozzis, die zu einem großen Teil aus Sujets aus der Werbung<br />

bestand, sollte die Bandbreite möglicher Motive und Materialien aufzeigen auf<br />

die sich eine neue, inklusive Kunst stützen konnte. Immer wieder musste die<br />

Präsentation unterbrochen werden, weil das Episkop in Brand geriet oder Rauch<br />

entwickelte. 38 Später wurde dieser Vortrag als eine Art Gründungsveranstaltung<br />

des New Brutalism angesehen.<br />

Die Kurse und Vorträge, die die „Independent Group“ zwischen 1953<br />

und 1955 veranstaltete, behandelten Themen wie den Einfluss technologischer<br />

Verfahren auf die Kunst, neue Quellen der Formfindung, neue Raumkonzepte,<br />

nicht-formale Malerei, die Rückkehr des Gegenständlichen in die Kunst, Mythologie<br />

und Psychologie.<br />

Werbung, Mode und Design spielten eine wichtige Rolle. So gab es zwei<br />

Vorträge zum Thema Werbung („Werbung und soziale Symbolik“, „Werbung und<br />

‚popular art‘“), jeweils einen über Mode und italienisches Produktdesign. Neue<br />

Medien wie der Film, aber auch Science-Fiction-Literatur wurden thematisiert. 39<br />

Die Anzahl der Besucher war überschaubar: Die Vorträge im Jahr 1955 besuchten<br />

zwischen 14 und 22 Personen.<br />

Eine der Fragen, die die New Brutalists erörterten, betraf die Bedeutung,<br />

die Materialien und Oberflächen für die Architektur eines Bauwerks hatten; eine<br />

andere die Visualisierung eines gedanklichen Konzepts in einem Gebäude. Die<br />

Überlegungen aus denen ein Gebäude entstand, sein innerer Aufbau, sollten<br />

sich als Bild manifestieren. Dieses „Image“ – für jedes Bauwerk sollte ein eigenes<br />

solches Bild entworfen werden – durfte nicht oder nur in gebrochen-abstrahierender<br />

Weise auf andere, bekannte Vorbilder verweisen.<br />

Beeinflusst durch andere Mitglieder der „Independent Group“ führten<br />

die New Brutalists auch eine Debatte über High und Low Culture. Ihre affirmative<br />

Aufnahme der US-amerikanischen Massenkonsumgesellschaft nahm in der<br />

Kunst eine überaus erfolgreiche Wendung, in der Architektur hatte sie für die<br />

Smithsons negative Folgen.<br />

Die Vorstellung, welche die New Brutalists (aber auch die „Independent<br />

Group“ insgesamt) über die modernen Konsumenten hatten, setzte voraus,<br />

dass diese selbstbestimmt in das „Spiel“ von „Symbol-Manipulation und Symbol-Interpretation“<br />

40 eingreifen konnten. Damit verbunden war die Annahme,<br />

dass die Warenwelt sich nach Bedürfnissen „aufgeklärter Konsumenten“, die<br />

auch komplexe Bildverweise entschlüsseln konnten, organisieren würde, eine<br />

Auffassung, die später von den Cultural Studies in Frage gestellt wurde.<br />

Wiederentdeckung des Brutalismus<br />

Die Architektur des Brutalismus wurde in den letzten Jahren wiederentdeckt. 41<br />

Zahlreiche Publikationen, überwiegend waren dies Sammelbände oder Anthologien,<br />

betonen das expressive Potenzial brutalistischer Architektur. Die Arbeiten<br />

des New Brutalism, wie auch der „Independent Group“ insgesamt, hatten nicht<br />

26 Einleitung


auf Dramatisierung abgezielt. Eduardo Paolozzi und Nigel Henderson, ebenso<br />

wie die Künstler Richard Hamilton und John McHale, verwendeten Bilder funktional.<br />

Meist wurden diese zu Collagen überlagert mit dem Ziel, eine Aussage<br />

zu generieren, die außerhalb der Bilder selbst lag.<br />

Dem „Programm“ des New Brutalism lag eine „brutalistische Erfahrung“<br />

zugrunde, die durch die Entdeckung einer neuen Präsenz des Gegenständlichen<br />

ermöglicht worden war, eine „Sprache der Dinge“, die über die Moderne Kunst<br />

und fernöstliche Philosophien in die Architektur gelangt war und die bis dahin<br />

vorherrschende Wahrnehmung des Modernen verändert hatte.<br />

<br />

27


Zwei neue Themen in der Architektur der<br />

1950er und 1960er Jahre<br />

Die Poesie löst sich von der Prosa und orientiert sich<br />

an der Struktur der Sprache<br />

Laut Roland Barthes bildeten Prosa und Poesie im Zeitalter des Klassizismus<br />

noch eine Einheit. Poesie bedeutete, dass ein beliebiger Sachverhalt nach „schöneren“<br />

(nicht prosaischen) Regeln ausgedrückt werden konnte. Was als schön<br />

erachtet werden konnte, gaben Konventionen vor. Poesie feierte und bestätigte<br />

diese Konventionen. Nach Barthes lösten die modernen Poeten die Sprache aus<br />

ihrem sozialen Gefüge, schufen eine abgeschlossene „Natur“ für diese. Die<br />

Poesie orientierte sich von nun an an der Funktion und Struktur der Sprache. Die<br />

Poesie war nicht mehr Attribut, sie wurde zu einer Substanz. Damit konnte sie<br />

auf die Zeichen verzichten, die sie zuvor nach außen als Poesie (als Nicht-Prosa)<br />

ausgewiesen hatten; es reichte nun aus, zu kommunizieren, dass sie existierte.<br />

Die Sprache als Kommunikationsraum hatte sich in zwei unterschiedliche Sphären<br />

aufgespalten – jene der Poesie und jene der Prosa.<br />

Barthes meint, bereits Rimbaud habe diesen Akt vollzogen. Folgt man<br />

dieser Annahme, so war die neue Selbstständigkeit nicht-prosaischer, poetischer<br />

Sprachfelder im Jahr 1950 etwa seit siebzig Jahren in Gebrauch.<br />

Eine neue „Natur“ für die Architektur: die Welt der Dinge<br />

und die Relativität<br />

Auf der Suche nach einer neuen „Natur“ war auch die Architektur in den 1950er<br />

Jahren. Zwei neue Themen wurden in die Architektur eingeführt: einerseits eine<br />

relative, auf gegenseitigen Abhängigkeiten basierende Sichtweise, die auch<br />

eine Rückbesinnung auf anthropologische Konstanten inkludierte, andererseits<br />

die (Wieder-)Entdeckung neuer Qualitäten im Gegenständlichen, Alltäglichen,<br />

einer „Welt der Dinge“, deren besondere Eigenschaften und „Sprache“ visuell<br />

freigelegt werden sollten.<br />

Beide standen im Gegensatz zur utopisch-programmatischen und positivistischen<br />

Ausrichtung der klassischen modernen Architektur. Zudem korrelierten<br />

beide Themen mit philosophischen Entwürfen dieser Zeit, wie dem Existentialismus,<br />

der Phänomenologie und dem <strong>Strukturalismus</strong>, in dem das Konzept<br />

der Relativität eine wichtige Rolle spielte.<br />

1969 verwendete der Architekturkritiker Arnaud Beerends den Begriff<br />

<strong>Strukturalismus</strong> in seiner Besprechung der Wettbewerbsprojekte für das neue<br />

Rathaus der Stadt Amsterdam (eines der Projekte stammte von Herman Hertzberger).<br />

2 Bereits vierzehn Jahre zuvor, 1955, hatte Reyner Banham die Architektur<br />

der Hunstanton Secondary School von Alison und Peter Smithson als exemplarisches<br />

Werk des New Brutalism vorgestellt.<br />

38 ­­ei wei Archtuetur­sungen


Eine erweiterte Wahrnehmung der Welt, die intellektuelle<br />

Substanz einer Zeit<br />

Der Brutalismus veränderte die Architektur, indem er eine neue Wahr nehmung<br />

ermöglichte. Gleichzeitig bestätigte er eine historische Linie der Moderne, die<br />

bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichte: die Entdeckung des „Primitiven“<br />

in der Modernen Kunst. Diese verband sich mit dem Traum, ein ganzheitliches,<br />

überrationales Wissen könne sich der Moderne erschließen, wie es nur<br />

mehr in Gesellschaften zu existieren schien, die nicht durch die urbane Zivilisation<br />

überformt waren. Mit dem Brutalismus gewann die Architektur wieder an<br />

physischer Präsenz, bekam etwas von ihrem Körper zurück, nachdem sie sich<br />

zuvor entmaterialisiert, in gläserne Wände und aseptisch-weiße Flächen aufgelöst<br />

hatte.<br />

Der <strong>Strukturalismus</strong> hingegen war der Versuch, die intellektuelle Substanz<br />

einer Zeit, wie sie in einer historisch herausragenden philosophischen<br />

Strömung zum Ausdruck kam, in Architektur zu fassen. Nie zuvor war die Stellung<br />

des Subjekts, das Selbstverständnis des Individuums, derart in Frage gestellt<br />

worden – zumindest nicht, seitdem die Aufklärung die Grundlagen der Moderne<br />

gelegt hatte. Die gewaltige Erschütterung, die die Dezentralisierung des<br />

Individuums auslöste, musste zu einer neuen und gänzlich anderen Architektur<br />

führen. Umso verwunderlicher ist, wie verbissen die Architekten des <strong>Strukturalismus</strong><br />

an der modernen Tradition festhielten.<br />

Beide Begriffe – <strong>Strukturalismus</strong> und Brutalismus (das Adjektiv new kam<br />

dem New Brutalism rasch abhanden) – wurden später häufig unscharf und auch<br />

falsch interpretiert, so dass Gebäude als strukturalistisch oder brutalistisch klassifiziert<br />

wurden, die oft nur formale oder bestenfalls fragmentarische Entsprechungen<br />

aufwiesen.<br />

Ende des New Brutalism, eine neo-expressionistische Architektur<br />

entsteht in Deutschland<br />

Einen Wendepunkt und das vorläufige Ende einer alternativen Moderne in der<br />

Architektur kennzeichnet die Wohnanlage Robin Hood Gardens in London, das<br />

größte Gebäude, welches das britische Architektenehepaar Alison und Peter<br />

Smithson plante. Die besonderen Charakteristika, die Reyner Banham dem<br />

New Brutalism zugeschrieben hatte – „its brutality, its je-m’en-foutisme, its<br />

bloody-mindedness“ 3 –, kamen 1972 in einem Land, das von einer schweren<br />

Krise erfasst war und nur wenige Jahre später um einen Notkredit bei der Weltbank<br />

bitten musste, 4 nicht mehr an.<br />

Als vier Jahre zuvor, im Jahr 1968, in Neviges die Wallfahrtskirche von<br />

Gottfried Böhm und dann 1972 das zu dieser Kirche gehörige Schwesternhaus<br />

fertiggestellt worden waren, wurde auch diese Architektur als brutalistisch<br />

bezeichnet. Allerdings trifft bei dieser Anlage von den drei „Regeln“ des New<br />

Brutalism, die Reyner Banham in seinem Artikel The New Brutalism 1955 aufgestellt<br />

hatte (1. formale Lesbarkeit des Plans von außen, 2. das „Ausstellen“<br />

der Konstruktion und 3. die den Materialien inhärenten Qualitäten as found zum<br />

<br />

39


Die Unterschiede zwischen New Brutalism<br />

und strukturalistischer Architektur<br />

„[D]as Sprechen ist […] die dickflüssige Zeit eines geistigen<br />

Heranreifens, während dessen der Gedanke vorbereitet und<br />

nach und nach – durch den Zufall der Worte – installiert wird.“<br />

Roland Barthes 8<br />

Der Zufall, das Ungefähre, präkonfiguriertes Wissen<br />

Damit Gedanken heranreifen können, müssen die äußeren Umstände, die von<br />

Beginn an deren Entwicklung überlagern, zurückgedrängt werden. Das Neue<br />

entsteht in einem virtuellen Raum, der zuvor neutralisiert werden muss. Kontext<br />

und Geschichte werden ausgeblendet, erst wenn ein Gedanke sich zu formen<br />

beginnt, eine Richtung nimmt, wird die Außenwelt wieder relevant. Roland Barthes<br />

nennt diese Zeit des Werdens eine poetische Zeit, die noch „die Möglichkeit<br />

eines Abenteuers“, eines unerwarteten Verlaufs des Kommenden, enthalte.<br />

Im Gegensatz dazu stehe eine Zeit der „fabrication“. Die Diktion „Zufall der Worte“,<br />

„le hasard des mots“, im oben angeführten Zitat suggeriert eine scheinbar<br />

willkürliche Entwicklung. Aber Barthes hält an zahlreichen anderen Stellen seines<br />

Textes fest, dass die Worte selbst Potenziale und offene Verbindungsstellen<br />

enthalten, über die sie an das Kommende anschließen werden.<br />

War Heinrich von Kleist ein New Brutalist?<br />

Die poetische Zeit, die Leerstelle über die Roland Barthes schreibt, unterscheidet<br />

sich wesentlich von Heinrich von Kleists „Verfertigen der Gedanken beim<br />

Reden“. 9 Kleist geht davon aus, dass die zukünftige Idee im Sprecher bereits<br />

vorbereitet ist. Das Sprechen hat die Funktion, Gedankenfragmente, die unverbunden<br />

nebeneinander treiben, in eine Hierarchie und zeitliche Abfolge zu<br />

bringen. Das Ergebnis dieser Abfolge ist offen. Es wird von einem Gegenüber,<br />

von Zuhörenden beeinflusst. Es dient vor allem dazu, den Sprechenden in einen<br />

Zustand der Erregung zu versetzten, aus dem heraus er schließlich die richtigen<br />

Worte findet. Kleist meint, „[es] könnte […] leicht sein, daß die verworrenst<br />

ausgedrückten [Vorstellungen] grade am deutlichsten gedacht werden“. 10<br />

Diese Auffassung über den Ablauf kreativer Prozesse ist in der Architektur<br />

und in der Kunst weit verbreitet. Man kann sie auch als eine geradezu idealtypische<br />

Beschreibung der Arbeitsweise vieler Architekten beschreiben: Aus<br />

fragmentarischen Überlegungen, die auf unvollständigen und vorläufigen Vorgaben<br />

basieren, werden fortlaufend Produkte geschaffen, deren Beschaffenheit<br />

und inhaltliche Aussage erst am Ende dieses Vorgangs erkennbar werden wird.<br />

Ausgangspunkt und Ziel dieses „offenen“ Prozesses ist stets ein Ich – auch<br />

wenn dieses nur über Umwege zu sich selbst finden kann: „Denn nicht ‚wir‘<br />

wissen, es ist allererst ein gewisser ‚Zustand ‘ unsrer, welcher weiß.“ 11<br />

42 ­­ei wei Archtuetur­sungen


Die Stellung des Individuums in der strukturalistischen Architektur<br />

Der <strong>Strukturalismus</strong> stellte die Frage nach dem Ich neu. Außerhalb des Ichs und<br />

der historischen Vereinbarungen lag eine reiche und vielfältige Welt. Wir müssten<br />

nur zuhören und betrachten – die verhaltenen Vorschläge und Hinweise, die<br />

uns die Dinge geben würden, nutzen. Dazu müssten wir wieder ein wenig wie<br />

„Primitive“ werden, ohne das, was wir durch das moderne Denken gewonnen<br />

hatten, aufzugeben.<br />

Die strukturalistische Architektur unterschied sich von der brutalistischen<br />

durch die Position, die das Individuum in ihrer inneren Konstruktion einnahm.<br />

Aus strukturalistischer Sicht konstituierte sich die Welt über wechselseitige Abhängigkeiten.<br />

Um diese zu verstehen und handelnd in den Prozess, durch den<br />

Realität entstand, eingreifen zu können, musste das Subjekt seine bis dahin<br />

zentrale Position verlassen, sich an die ideellen Orte begeben, an denen sich<br />

diese Wechselwirkungen herausbildeten. Das Schema aller Relationen, das sich<br />

aus diesem Prozess ergab, zeigte alle Standpunkte, die ein Subjekt einnehmen<br />

Maurice Henry,<br />

Le déjeuner<br />

sur l’herbe<br />

structuraliste,<br />

1967. Die Illustration<br />

zitiert<br />

das bekannte<br />

Gemälde Le<br />

déjeuner sur<br />

l’herbe von<br />

Édouard Manet<br />

(1863). Die strukturalistischen<br />

Philosophen<br />

Michel Foucault,<br />

Jacques Lacan,<br />

Claude Lévi-<br />

Strauss und<br />

Roland Barthes<br />

sitzen, in Baströcke<br />

gekleidet,<br />

in einer Urwald-<br />

Szenerie. An<br />

die Stelle der<br />

erotischen<br />

Verweise,<br />

die Manets<br />

Gemälde zu<br />

Berühmtheit<br />

verhalfen, ist<br />

die Lust an der<br />

Sprache und<br />

am Debattieren<br />

getreten.<br />

konnte, gleichzeitig. Die strukturalistische Architektur versuchte, ein solches<br />

Schema abzubilden. Sie entwickelte Gestaltungsmittel, die ermöglichen sollten,<br />

ein Gebäude multiperspektivisch, als ein System, das von vielen unterschiedlichen<br />

Standpunkten ausgehend konstruiert worden war, wahrzunehmen. Dabei<br />

abstrahierte sie von der Tatsache, dass dieses Schema sukzessiv, in einer zeitlichen<br />

und räumlichen Abfolge, zustande gekommen war.<br />

Der multiperspektivische Ansatz der strukturalistischen<br />

Architektur<br />

Sollte die Welt als ein System von Gleichzeitigkeiten wahrnehmbar werden,<br />

dann musste die Zeit, die als Wegstrecke zwischen verschiedenen Standpunkten<br />

lag, neutralisiert werden. In einer solchen, aufgehobenen Zeit konnte Bewegung<br />

nur mehr indirekt wahrgenommen werden, als etwas, das zwischen<br />

mehreren Bildausschnitten stattfand. In strukturalistischen Gebäuden wurde<br />

Bewegung nur selten sichtbar. Sie verzweigte und entschleunigte sich in<br />

<br />

43


Brutalismus und<br />

Béton brut<br />

Eine falsche Übersetzung<br />

Der Ausdruck brutal verbreitete sich in der modernen Architektur zunächst<br />

durch die eigentlich falsche Übersetzung des im Französischen viel gemäßigteren<br />

Begriffs „brut“, der dem Wort „béton“ angehängt worden war. Béton brut<br />

beschrieb die ornamentlose, schlichte Ausführung unverputzter Wandflächen,<br />

wie sie ab 1950 bei einigen Bauten Le Corbusiers vorkam. Über seine zweite<br />

Kloster Sainte<br />

Marie de la<br />

Tourette,<br />

Éveux<br />

bei Lyon,<br />

Le Corbusier<br />

1960<br />

Identität als Maler war Le Corbusier mit dem Kubismus konfrontiert, hatte gemeinsam<br />

mit Amédée Ozenfant eine „puristische“ Kunst propagiert. Es war nur<br />

logisch, dass er schließlich auch in der Architektur das Potenzial entdeckte, das<br />

ein „brutaler“ Umgang mit rohen Materialien ermöglichte.<br />

Im Französischen bedeutet „brut“ vor allem roh, grob, unbehandelt,<br />

aber auch stumpfsinnig oder geistig umnachtet. Im Deutschen und Englischen<br />

wird aus einem Begriff, der im Französischen vorzugsweise die physikalischen<br />

Eigenschaften einer Masse bezeichnet, ein aktiver, der eine Tätigkeit<br />

begleitet. So besagt auch die Aussage, etwas sehe „brutal“ aus, dass von ihm<br />

eine bedrohliche und abstoßende Ausstrahlung oder Wirkung ausgehe, oder<br />

auch, dass es (nun) brutal aussehe, weil zuvor eine zerstörerische Kraft auf<br />

56 Die brutalistische Erfahrung


es eingewirkt haben müsse. Im Begriff „brutal“ ist also das Hässliche und<br />

Bedrohliche eingeschlossen, und wenn sich Menschen der Wirkung eines brutalistischen<br />

Bau- oder Kunstwerks aussetzen, dann schwingen die Erregung<br />

und das Schaudern mit, das die Begegnung mit einer anderen, dunklen Seite<br />

der Existenz auslöst.<br />

Fassadenausschnitt<br />

Eine Suche nach dem Erhabenen?<br />

Der Béton brut war eine Erweiterung des künstlerischen Vokabulars Le Corbusiers.<br />

Architektonische Prinzipien, die sich aus ursprünglichen, „primitiven“<br />

Bauten ableiten ließen, sollten auch für Gebäude gelten, für deren Errichtung industriell<br />

hergestellte, moderne Produkte – wie der Beton – verwendet wurden. 10<br />

Philippe Potié nennt diese Anknüpfung Le Corbusiers an „erste Werte“ oder Ursprünge<br />

eine Suche nach dem Erhabenen: „[D]as Material muss den Charakter<br />

der Architektur wiedergeben. Die Art wie es bearbeitet wird, muss den in dem<br />

Material verborgenen Geist offenlegen […], das Material muss mit der größten<br />

Armut (Einfachheit) ausgeführt werden, um in seiner reinsten Form zu erscheinen.“<br />

11 Potié leitet diese ethischen Forderungen aus Le Corbusiers Schrift L’art<br />

décoratif d’aujourd’hui 12 ab und referiert (ohne diese Quelle explizit zu nennen)<br />

auf Reyner Banhams Definition des „New Brutalism“, den Potié als Autor eines<br />

Buches über das Kloster Sainte Marie de la Tourette von Le Corbusier mit sehr<br />

hoher Wahrscheinlichkeit kannte.<br />

<br />

57


Die Bibel des New Brutalism:<br />

Reyner Banham<br />

Durch seinen Bezug zur historischen japanischen Architektur und deren (natur-)<br />

philosophischen Grundlagen unterschied sich der New Brutalism erheblich von<br />

dem, was später unter Brutalismus in der Architektur verstanden wurde. Dieser<br />

Umstand wurde von vielen Autoren, die sich mit dem Brutalismus beschäftigten,<br />

übersehen. Ab 1953 erschienen mehrere Artikel in Architectural Design, in<br />

denen der Begriff New Brutalism im Text oder im Titel einer Publikation vorkam.<br />

Ende Dezember 1955 veröffentlichte Reyner Banham seinen Artikel The New<br />

Brutalism in der Architectural Review. So wie er im April 1952 mit Verspätung zu<br />

jenem Kreis, der später die „Independent Group“ bilden sollte, gestoßen war 32<br />

und schon kurze Zeit später als convener die Gruppe zu Zusammenkünften einberief,<br />

so übernahm er nun einen bereits eingeführten Begriff und deutete ihn<br />

neu. Banham kodifizierte die japanische Erblehre der Smithsons in seinem Beitrag,<br />

aber er erwähnt die japanischen Wurzeln der Smithsons nicht und nimmt<br />

erst am Ende seines Artikels indirekt auf diese Bezug, als er die Topologie als<br />

Erklärungsmodell einführt.<br />

Banhams Artikel wurde zu einer so zentralen Schrift, dass – wer auch immer<br />

sich mit Brutalismus in der Architektur beschäftigt – sich mit Banhams Konstruktion<br />

auseinandersetzen muss. Seine ornamentale, exzessive Ausdrucksweise,<br />

die unablässigen gedanklichen Wendungen seines Textes und dessen<br />

zahlreiche Verweise bewirken, dass manche seiner gedanklichen Konstruktionen<br />

sich nur schwer erschließen. In einigen Fällen konnte die Sekundärliteratur<br />

Banhams Anliegen klarer vermitteln als Banham selbst. 33 Der überwiegende<br />

Teil der Rezeption jedoch behandelte Banhams Text wie einen Steinbruch, dem<br />

nach Belieben Teile entnommen werden konnten. Als inhaltliche Aussage blieb<br />

meist nur übrig, Banham hätte für die architektonische Haltung der Smithsons<br />

einem Begriff kreiert.<br />

Ein exklusives Konzept<br />

Banham hatte sehr früh die negative Dynamik erkannt, die von einem breit angelegten<br />

Brutalismus-Begriff ausgehen musste. Die Substanz des Brutalismus<br />

war, dass eine extreme Weltsicht kompromisslos und mit Schärfe vorgetragen<br />

wurde. Der Auftritt des Brutalen musste als Transgression wahrgenommen werden<br />

– hier unterlag der Brutalismus den gleichen Regeln wie die Avantgarde<br />

der Moderne. Als brutal und extrem konnte etwas nur erkannt werden, wenn<br />

es erheblich von der Weltsicht der Mehrheit abwich. In dem Maße, in dem der<br />

Brutalismus konsumierbar wurde, verlor er an Substanz. Das galt für die Kunst<br />

und – in viel größerem Ausmaß – für die Architektur. Ein offener und weit gefasster<br />

Brutalismus-Begriff musste zwangsläufig zu einer Verharmlosung, zu<br />

einem Absinken ins Kunstgewerbliche führen, so dass schließlich, statt eines<br />

68 Die brutalistische Erfahrung


Begriffs und eines Konzepts, nur mehr ein sinnlicher Reiz, eine „brutalistische“<br />

Wahrnehmungsweise übrig bleiben würde.<br />

Deswegen entwarf Banham ein elitäres Konzept des Brutalismus, das<br />

nur wenig umfassen durfte und so viel wie möglich ausschloss. Die Regeln,<br />

die er dabei aufstellte, hatten den Zweck, das geistige Territorium dieses New<br />

Brutalism hermetisch abzuriegeln.<br />

Allerdings musste die Besonderheit des New Brutalism beziehungsweise<br />

die Tatsache, dass es ihn überhaupt gab, der Außenwelt zur Kenntnis gebracht<br />

werden, was laut Systementwurf nur zulässig war, wenn dem Publikum<br />

gleichzeitig untersagt wurde, sich diese neue kulturelle Tatsache anzueignen.<br />

Der Artikel The New Brutalism von Banham ist relativ kurz (in der englischen<br />

Ausgabe der UCLA-Press nur neun Seiten), wie oben schon angeführt,<br />

nicht leicht lesbar, und durchsetzt von ironisierenden oder bissigen Kommentaren,<br />

die inhaltliche Aussagen der vorgetragenen Themen überlagern. Aber<br />

Banhams Regelwerk ist noch immer das am weitesten entwickelte und damit<br />

beste Konzept des Brutalismus in der Architektur. Deswegen wird hier erneut<br />

versucht, die zentralen Themen des Artikels wiederzugeben.<br />

New Brutalism – Genese des Begriffs<br />

Mit einem Zitat, das er Le Corbusiers Vers une architecture entnimmt, fasst Banham<br />

den Begriff zunächst sehr weit. „Architektur heißt mit rohen Materialien<br />

(matières bruts) bewegende Zusammenhänge herzustellen.“ 34 Banham beginnt<br />

dann seinen Artikel damit, dass er den New Brutalism eine Kunstbewegung<br />

(nicht eine Architekturströmung) nennt, und er reduziert die Moderne auf zwei<br />

Wurzeln: den Kubismus und den Futurismus; der New Brutalism berufe sich auf<br />

beide, und die Unbestimmtheit, die durch die Vermischung von zwei inhaltlich<br />

verschiedenen Kunstrichtungen entstehe, sei dafür verantwortlich, dass der Begriff<br />

selbst nur unscharf definiert werden könne.<br />

Erstmals verwendet worden sei der Begriff New Brutalism 1950 von britischen<br />

Architekten, die einen New Humanism vertreten hätten. Die Architektur<br />

dieses New Humanism sei durch Sichtziegelwerk, Bogen, Satteldächer und<br />

kleine Fenster gekennzeichnet gewesen. Mit dem Begriff New Brutalism sollte<br />

die klassisch-moderne Bauweise, mit Glasfronten, Flachdach und freiliegender<br />

Tragstruktur als verwerfliche Abweichung von diesem – moralisch überlegenen<br />

– New Humanism denunziert werden. Da die Exponenten dieses New Humanism,<br />

der zuvor als New Empiricism aus Skandinavien importiert worden war,<br />

aus Sicht Banhams Kommunisten waren, sieht Banham einen „von Kommunisten<br />

begangenen Missbrauch“.<br />

Der Begriff New Brutalism sei dann von einer „nicht-marxistischen Gruppierung“<br />

aufgenommen worden, die „weder ein spezifisches Programm noch<br />

besondere Absichten“ gehabt habe, aber Le Corbusier und dessen Béton brut<br />

rezipiert hätte. Einige Protagonisten dieser Gruppierung, die „anspruchsvolleren<br />

und ästhetisch gebildeteren“, hätten sich auch auf die Art brut von Jean<br />

Dubuffet bezogen. Dann hätten die Smithsons sich den Begriff New Brutalism<br />

<br />

69


Äquivalente Gegenstände, die durch umkehrbar eindeutige und stetige<br />

Verzerrung auseinander hervorgehen, waren aber nicht das, was die Smithsons,<br />

inspiriert durch die japanische Architektur, in einer neu zu entdeckenden Welt<br />

der Dinge und Materialen, vorzufinden hofften.<br />

Zeche Zollverein,<br />

Essen,<br />

Förderturm<br />

Schacht XII –<br />

ein „Image“ im<br />

Sinne Banhams<br />

80 Die brutalistische Erfahrung


Banham, der New Brutalism<br />

in der bildenden Kunst<br />

und die weltweite Ausbreitung<br />

eines expressiven Brutalismus<br />

Banhams Kritik an den Architekten des New Brutalism<br />

Bereits 1958 begann Banham, die Bedeutung des New Brutalism in der Architektur<br />

zu hinterfragen. Er tat dies, indem er die Essenz des Brutalismus nun vor<br />

allem in der bildenden Kunst verortete und den Architekten, die sich als New<br />

Brutalists deklarierten, eine unkritische Fortschreibung der klassischen Moderne<br />

vorwarf.<br />

Nach Dirk van den Heuvel belegen Äußerungen der Smithsons, dass<br />

sich die Auffassungen der Smithsons und Banhams schon 1956 auseinanderbewegten.<br />

50 Van den Heuvel meint auch, Banham und die Smithsons hätten<br />

von Beginn an verschiedene Ansätze des New Brutalism entwickelt. Die Smithsons<br />

hätten eine von Banhams Bildbegriff abweichende Vorstellung über die<br />

Funktion, die Bilder in einem brutalistischen Kontext einnehmen sollten, vertreten.<br />

Die Anhäufung, Überlagerung und Kontrastierung von Bildern, die die New<br />

Brutalists in ihren Ausstellungsinstallationen betrieben, hätten das Ziel gehabt<br />

ein „Bezugs“-System (van den Heuvel) zu generieren, in das sich eine große<br />

Zahl von Bildern integrieren lassen würde. 51<br />

Führt man diesen Gedanken weiter, dann wäre die Dominanz eines<br />

(Über-)Bilds, wie sie der Banham‘sche Bildbegriff nahelegt, gebrochen und die<br />

„Erfindung“ neuer Bilder, die dann aus einem Zusammenwirken vieler Bildern<br />

hervorgehen würden, möglich. Diese Bilder, die noch nicht sprechen können,<br />

weil sie noch nicht zur Gänze mental eingeordnet und kodifiziert werden können,<br />

wären der wahre Ausdruck einer brutalistischen Architektur und Kunst.<br />

Ein weiterer Hinweis, dass die engen Verbindungen zwischen den drei<br />

wichtigen Protagonisten des New Brutalism sich allmählich lösten, war die Kritik<br />

Reyner Banhams an den Beiträgen der Ausstellung „This is Tomorrow“. Für<br />

Banham war der Beitrag der Gruppe um Richard Hamilton interessanter, als<br />

jener des Teams Henderson, Paolozzi und der Smithsons. Banham war von der<br />

Fülle an Bildern und ikonografischen Verweisen, der visuellen Vielfalt, welche<br />

die Installation der Gruppe um Hamilton zeigte, beeindruckt. 52<br />

Dass auch in Großbritannien bereits in den frühen 1950er Jahren in der<br />

bildenden Kunst eine brutalistische Erfahrung vorhanden war, stellt Banham in<br />

seinem Aufsatz Machine Aesthets 53 fest. Er identifiziert eine Ausstellung von<br />

Paolozzi und Turnbull in der Hanover Gallery aus dem Jahr 1950 als jenen Zeitpunkt,<br />

ab dem sich auch in Großbritannien eine brutalistische Bewegung in der<br />

Kunst ausgebildet habe: „[Einige] Aspekte dieser Bewegung sind ‚l’art brut‘ genannt<br />

worden.“ 54 Banham sagt, diese „jung-revolutionäre Gesinnungsgemeinschaft<br />

aus Bildhauern“ habe zwar „keine Bezeichnung“ für ihre Kunstrichtung,<br />

<br />

81


„Urban Decoration“ –<br />

der Beitrag der Smithsons<br />

zur Triennale 1968<br />

Eine klassische Ausstellungsarchitektur<br />

Im Jahr 1968 war das symbolische Kapital der Smithsons noch beträchtlich. Sie<br />

nutzten es, um eine sehr eigenständige Präsentation zu entwickeln, die sich von<br />

den anderen Installationen abhob. 17 Verglichen mit den technisch aufwändigen<br />

Präsentationen, welche die zentrale Achse der Triennale-Ausstellungen bildeten,<br />

war „Urban Decoration“ (von den Smithsons auch als „The Wedding“ bezeichnet)<br />

einfach, beinahe simpel. Die Smithsons verwendeten klassische Medien,<br />

wie sie schon seit langem eingesetzt wurden, um ihre Ausstellung zu gestalten:<br />

Großfotos (mit und ohne kommentierendem Text), Fotos, die auf skulptural gestaltete<br />

Objekte aufgeklebt wurden, abgehängte Schleifen, Bahnen und Bänder,<br />

verschiedene Gestänge und Abstandhalter. Mit Ausnahme einer Girlande, die –<br />

nach Art einer Weihnachtsbeleuchtung – mit Glühbirnen versehen war, gab es<br />

keine technischen Elemente, die auf einen aktuellen Zeithorizont hingewiesen<br />

hätten.<br />

Während in den anderen Ausstellungen der Triennale die Besucher über<br />

Rolltreppen transportiert und durch Licht- und Akustikinstallationen geführt werden<br />

sollten, 18 oder zusehen konnten, wie eine in Österreich hergestellte Maschine<br />

eine Brille für sie produzierte, die sie mitnehmen dürften, gab es in der<br />

Installation der Smithsons nicht einmal eine Diaprojektion.<br />

Da es sich bei der Triennale im weitesten Sinne auch um eine Kunstausstellung<br />

handelte, und die Architekten und Künstler gegenüber den Wissenschaftlern<br />

in der Überzahl waren, gab es in den sogenannten Themenausstellungen<br />

auch keine Bücher, Aktennotizen oder Zeitungsausschnitte und – mit<br />

wenigen Ausnahmen – keine erläuternden Texte. 19 Für die meisten Teilnehmer<br />

der Triennale war das jeweilige Ausstellungsthema so etwas wie eine unverbindliche<br />

Ausgangshypothese, eine inspirative Quelle.<br />

Permanenz des Ephemeren, Dekoration als Ereignis<br />

Die Smithsons nahmen sich gleich mehrere Themen vor. Der Titel ihrer Ausstellung<br />

„Urban Decoration“ legt nahe, dass ihr Beitrag sich mit zeitlich befristeten,<br />

ephemeren Phänomen auseinandergesetzt hätte. Durch Dekoration werden üblicherweise<br />

Personen, Gegenstände und Räume geschmückt. Meist geschieht<br />

dies im Rahmen eines Fests oder einer besonderen Veranstaltung. Nach dem<br />

Ende dieser Veranstaltung kehren die Teilnehmer in ihr Alltagsleben zurück, die<br />

Dekoration wird entsorgt oder aufbewahrt. Die Smithsons interpretierten jedoch<br />

auch permanente Ausstattungselemente einer Stadt wie zum Beispiel deren Verkehrsleitanlagen<br />

oder Straßenbeleuchtung als Dekorationen. 20 Ebenso erklärten<br />

sie Vorgänge, auf die niemand Einfluss nehmen konnte, wie die wechselnden<br />

104 Pop versus As Found


Jahreszeiten oder die Flutkatastrophe, die 1966 die Stadt Florenz heimgesucht<br />

hatte, zu „dekorativen“ Elementen. Dekoration war eine Art Zubehör der Stadt,<br />

ephemer und dennoch von besonderer Bedeutung, weil sich in ihr das Leben<br />

Salon „Decorazione<br />

urbana“,<br />

Alison und<br />

Peter Smithson,<br />

XIV. Triennale<br />

di Milano 1968,<br />

axonometrische<br />

Zeichnung<br />

abspielte. Sie war eine Oberfläche, die sich veränderte. Sie konnte konsumiert<br />

werden. Nachdem sie verwendet und damit entwertet worden war, blieb die<br />

Architektur, die sie eingekleidet hatte, für kurze Zeit unbedeckt, „bereit, neue<br />

<br />

105


wurde durch eine Veränderung des Terrains dynamisiert. Das Zentrum des Grünbereichs<br />

bildete ein großer kreisrunder Hügel. Für diesen wurde das Erdmaterial<br />

verwendet, das zuvor abgegraben werden musste, um die Fundierungen und<br />

Garagenebenen zu errichten.<br />

Nach eigener Aussage bezogen die Smithsons sich bei der Ausgestaltung<br />

des Grünbereichs auch auf die Tradition der englischen Garten- und Landschaftsarchitektur,<br />

wobei sie die historisch vertraute Perspektive klassischer<br />

Prospekte, die von unten nach oben erwandert werden, umgedreht hätten:<br />

„[‚ C ]apabilty‘ Brown raised eyes […]. We will be lowering our eyes to look<br />

down from our street-decks and homes […]“. 38 Auch wenn es nicht stimmen<br />

sollte, dass die grünen „mounds“ der Smithsons (es gab noch einen zweiten,<br />

wesentlich kleineren Hügel auf der Südseite des Geländes) von prähistorischen<br />

Hügelgräbern inspiriert waren 39 – eine solche Anbindung an vorgeschichtliche<br />

erste Bauwerke wäre eine folgerichtige Fortschreibung der Ideen von „Patio<br />

and Pavilion“ gewesen. Dass die Hügel von hoher Bedeutung für das Gesamterscheinungsbild<br />

waren, zeigt auch die Publikation des Projekts in Architectural<br />

Design aus dem Jahr 1972. Dort nehmen sie eine ganze Doppelseite ein.<br />

Eine formale Fassadengestaltung<br />

Der Bezug zur Gartenkunst des 18. und 19. Jahrhunderts war nicht der einzige<br />

Rückgriff auf formale Verfahren in diesem ansonsten aformalen Entwurfskonzept.<br />

Als die Planung des Gebäudes schon sehr weit fortgeschritten war,<br />

entwickelten die Smithsons ein Fassadensystem aus Sichtbetonteilen, welches<br />

die Fassaden gliedern und ihnen eine vertikale Struktur verleihen sollte. Zwar<br />

basierte dieses System auf einem offenen Raster ohne Hierarchien, dennoch<br />

war es ein lupenreines Beaux-Arts-Verfahren und keineswegs kompatibel mit<br />

den Forderungen des New Brutalism.<br />

Der US-amerikanische Architekt und Architekturtheoretiker Peter Eisenman<br />

kritisierte die Formalität der Fassaden der Robin Hood Gardens, allerdings<br />

aus einer Perspektive, die den universalen Prinzipien verpflichtet blieb, die<br />

Golden Lane propagiert hatte. Eine „generalisierende Ästhetik, die nach dem<br />

Normalen, Alltäglichen als Norm sucht“, 40 könne keine Verfahren verwenden,<br />

die Bauteile ikonisch überhöhten. Dies geschah aus der Sicht Eisenmans dadurch,<br />

dass die massiven, senkrechten Fassadenmodule mit den hinter diesen<br />

liegenden Balkonen visuell verschmolzen, was dem ursprünglichen Vorhaben<br />

der Smithsons, den Gebäuden einen neutralen Screen, eine Art „Haut“ vorzusetzen,<br />

widersprochen habe. Ein solcher Screen, der „notwendigerweise eine<br />

vertikale und horizontale Kontinuität, jedoch wenig Tiefe haben müsse“, sei bei<br />

den Robin Hood Gardens nicht realisiert worden. Eisenman argumentiert, dass<br />

Mies van der Rohe, auf den die Smithsons mit ihrer Version eines Screens referieren<br />

würden, bei seinen Fassadengestaltungen „eine Ikonografie, die individuelle<br />

Einheiten zum Ausdruck bringt“ 41 vermeiden würde.<br />

120 Pop versus As Found


Straßen ohne Anbindung<br />

Eisenmans Kritik ist aber grundsätzlicher und noch sehr viel weitergehender:<br />

Robin Hood Gardens war auch Fragment einer größeren städtebaulichen Idee,<br />

die die Smithsons zu diesem Zeitpunkt seit über zwanzig Jahren verfolgten. Das<br />

Manifest dieser Idee, ihr Wettbewerbsentwurf Golden Lane, hatte halb-private<br />

breite Fußgängerstraßen, „Decks“, die auf mehreren Geschossebenen angeordnet<br />

waren, zu einem durchgängigen System von Wegen verbunden. Die<br />

Robin Hood Gardens hatten ebensolche Decks, aber diese waren mit anderen<br />

Robin Hood<br />

Gardens,<br />

Sitzbereich vor<br />

den Aufzügen<br />

Gebäuden nicht verbunden. Die Qualität einer Straße, wo Menschen sich an<br />

wechselnden Orten begegnen und Unbekannte vorbeigehen, konnte hier nicht<br />

eingelöst werden. Dadurch, dass die Decks nicht mehr miteinander vernetzt<br />

waren, hatten sie ihr kommunikatives Potenzial verloren.<br />

Golden Lane war eine universelle Idee gewesen, anwendbar sowohl<br />

für ein bestehendes urbanes, wie auch für ein rurales Umfeld. Entfernt erinnern<br />

die leichten Knicke der beiden Wohnblöcke von Robin Hood Gardens an<br />

die großen, mehrfach abgewinkelten Blöcke, die die großen „Cluster“ des<br />

<br />

121


<strong>Strukturalismus</strong><br />

in der<br />

Architektur<br />

126


„Es ist allgemein bekannt, daß wir nur<br />

eine geringe Zahl von unzusammenhängenden<br />

Daten im unmittelbaren<br />

Gedächtnis behalten können – zwischen<br />

5 und 7. Damit eine größere Anzahl von<br />

Daten erinnert werden kann, müssen<br />

diese in eine dauerhafte Speicherung<br />

[…] übertragen werden (d. h. in eine<br />

abstrahierte, reduzierte oder symbolische<br />

Form).“<br />

Julian Hochberg 1<br />

127


Ein Interview mit<br />

Herman Hertzberger 18.04.2018<br />

Fragen und Übersetzung ins Deutsche<br />

durch Bernhard Denkinger<br />

BD: In Ihrem Buch Architecture and Structuralism: The Ordering of Space<br />

bieten Sie eine sehr weite Definition des <strong>Strukturalismus</strong> in der Architektur an.<br />

Ich zitiere aus dem Vorwort: „Wahrer <strong>Strukturalismus</strong> beschäftigt sich mit jenen<br />

Aspekten, die für alle Menschen gleichermaßen gelten und jenen, in denen sie<br />

sich unterscheiden.“ 29 Sie erwähnen darin auch, 30 dass Sie durch dieses Buch<br />

einen „vollständig neuen Zugang“ gefunden hätten. Bezieht sich Ihre neue Theorie<br />

zum <strong>Strukturalismus</strong> in der Architektur noch auf das historische Konzept<br />

des <strong>Strukturalismus</strong> in der Philosophie?<br />

HH: Was ich zuerst sagen möchte, ist, dass wir <strong>Strukturalismus</strong> nicht als<br />

einen Stil betrachten sollten. Ich habe das Gefühl, dass dies in ihrem Fragenkatalog<br />

– ich würde es nicht falsch nennen – aber unklar ist.<br />

BD: Als ich nach Beispielen strukturalistischer Architektur suchte, hatte<br />

ich Probleme, gemeinsame Kriterien zu finden. Es gab nicht sehr viele Bauten,<br />

die meiner Ansicht nach als strukturalistisch bezeichnet werden konnten, und<br />

die wenigen, die ich fand, unterschieden sich in vielen Aspekten.<br />

HH: In meinem Buch Architecture and Structuralism: The Ordering of<br />

Space beschrieb ich klassizistische Gebäude an der Place Stanislas in Nancy.<br />

Dort gibt es vier gleiche Gebäude. Ihre Außenerscheinung und Struktur sind<br />

Herman<br />

Hertzberger<br />

im Gespräch<br />

mit Bernhard<br />

Denkinger, 2018<br />

140 <strong>Strukturalismus</strong> in der Architektur


einahe identisch, aber ihr Inneres, und die Art, wie sie genutzt werden, sind<br />

jeweils verschieden. Klassizismus kann als eine allgemeine Sprache verstanden<br />

werden, die für verschiedene Dinge unterschiedlich interpretiert werden kann.<br />

BD: So sehen Sie auch die strukturalistische Architektur, als eine Sprache?<br />

HH: Sie haben mich nach meinen Quellen gefragt. Da gibt es zum Beispiel<br />

diese Idee von Chomsky, der Kompetenz und Performanz unterscheidet.<br />

Demnach ist Kompetenz ein Vermögen und Performanz die Art, wie dieses in<br />

Handlungen umgesetzt werden kann. Dementsprechend haben wir eine Sprache,<br />

die auch eine Kompetenz ist, die man in verschiedener Weise interpretieren<br />

kann. Das ist ein Reichtum, über den jeder von uns verfügt. Dieser hängt<br />

aber von unserem kulturellen Hintergrund ab, woher wir kommen, welchen Dialekt<br />

wir sprechen. Es gibt bekannte Beispiele von Personen, die einen Streik<br />

organisierten, aber keine allgemein verständliche Sprache verwendeten, daher<br />

wurden ihre Anliegen und Motive von den Richtern nicht verstanden. Bei genauerer<br />

Betrachtung erwies sich ihre Geschichte als konsistent. Sie hatten die<br />

Sprache nur anders verwendet.<br />

Ein mögliches Missverständnis wäre, <strong>Strukturalismus</strong> als einen Stil zu<br />

betrachten, der bestimmte Eigenschaften aufweist. Dann analysieren Sie diesen<br />

Stil, im Vergleich mit anderen Stilen. Für mich ist <strong>Strukturalismus</strong> eher eine<br />

Methode, eine Herangehensweise.<br />

BD: Das sagte Roland Barthes in seinem bekannten Essay „L’activité<br />

structuraliste“. Er schrieb, der <strong>Strukturalismus</strong> sei eine Methode, nicht eine<br />

komplette Philosophie.<br />

HH: Das ist genau das, was ich meinte: Eine Art, Dinge zu tun. Dies kann<br />

in verschiedenen architektonischen Stilen getan werden.<br />

BD: Der Begriff <strong>Strukturalismus</strong> wurde im Nachhinein auf Gebäude angewendet,<br />

die bereits bestanden. Als das Waisenhaus-Gebäude von Aldo van Eyck<br />

1961 fertiggestellt wurde, hatte es niemand als strukturalistisch bezeichnet. Zu<br />

van Eyck schrieb Francis Strauven, dass Architekten im Allgemeinen eine andere<br />

Vorstellung vom Begriff <strong>Strukturalismus</strong> haben als Wissenschaftler oder Philosophen.<br />

Architekten hätten sich vor allem für Raster, Säulen und Unterzüge interessiert,<br />

die sich zu repetitiven Agglomerationen von Zellen anordnen ließen.<br />

Aus philosophischer und wissenschaftlicher Sicht sind diese Raster und repetitiven<br />

Strukturen platte Vereinfachungen. Sie verweisen nicht auf einen zentralen<br />

Aspekt strukturalistischen Denkens: Die Fähigkeit eines Systems, Transformationen<br />

aus sich selbst heraus zu generieren, und dabei beständig die inneren<br />

Relationen, die dieses System ausbildet, zu überprüfen und anzupassen.<br />

HH: Natürlich stimme ich Francis Strauven zu, dass es ein Missverständnis<br />

ist, das Wort Struktur auf Unterzüge und Säulen oder die Art, wie ein Gebäude<br />

zusammengesetzt ist, zu reduzieren. Viele interpretieren <strong>Strukturalismus</strong><br />

als eine Struktur, als eine spezifische Form, ein Gebäude zusammenzusetzen<br />

– aber das hat nichts mit <strong>Strukturalismus</strong> im bereits von mir beschriebenen Sinne<br />

zu tun. Im Wesentlichen bezieht sich dieser auf die Struktur einer Sprache,<br />

ihre Grammatik und Ähnliches. Er hat nichts mit Säulen, Trägern und statischer<br />

<br />

141


und das Glas hier behandelt wurden, erinnerte mich an De Stijl. Ich sah dort<br />

zwei Dinge, die ineinander verschmolzen: Eine schwere, große Gebäudemasse,<br />

die aus meiner Sicht an Le Corbusiers späte Periode erinnerte, und diese delikaten<br />

Fassaden, die Verfahren des De Stijl zitierten.<br />

HH: Das ist ein Konflikt, oder besser ein Paradox.<br />

BD: Sehen Sie das ähnlich, wie ich es beschrieben habe?<br />

HH: Ja. Aber wir müssen das Paradoxe nicht vermeiden. Ich sehe immer<br />

mehr, dass die meisten Dinge paradox sind. Auch in der Politik, über die ich<br />

hier nicht sprechen möchte. Ich möchte ein Buch über das Paradoxe schreiben:<br />

Das Paradoxe als eine Form des Denkens. Unser Denken ist immer weiß oder<br />

schwarz, wir kennen nicht die Weißheit des Schwarzen oder die Schwarzheit im<br />

Weißen.<br />

BD: Waren Sie politisch aktiv? Bekennen Sie sich zur Sozialdemokratie?<br />

HH: Ich war immer das, was man heute links nennt. Aber heute sind<br />

die Begriffe durcheinandergekommen. Mehrdeutigkeit und Paradoxe eröffnen<br />

Ihnen neue Zusammenhänge.<br />

Ich denke an die Dunkelheit des Lichts: Licht kann nicht ohne Dunkelheit<br />

sein, und Dunkelheit gibt es nicht ohne Licht. Das ist das, was Aldo van Eyck ein<br />

Doppelphänomen nannte. Es gibt das Halbdunkel, alle Arten von Mischungen;<br />

all das sind im Grunde Paradoxe.<br />

156 <strong>Strukturalismus</strong> in der Architektur


Centraal-<br />

Beheer-<br />

Ge bäude,<br />

Innenansichten,<br />

2016<br />

folgende<br />

Seiten: Offene<br />

Bereiche des<br />

Centraal-Beheer-Gebäudes,<br />

2016<br />

<br />

157


Besondere Architektur<br />

Von der Architektur des alten Flints sind nur das Kreativ-Zentrum und der große<br />

Veranstaltungssaal weitgehend unverändert erhalten geblieben. Betritt man den<br />

Veranstaltungssaal, so überrascht zunächst die zierliche, feingliedrige Konstruktion<br />

der tragenden Säulen aus Sichtbeton. An drei Seiten umlaufende und steil<br />

ansteigende Emporen bilden eine plastisch durchmodellierte Zone, die auf den<br />

Binnenraum des Veranstaltungssaals einwirkt. Dieser räumliche Eindruck ist so<br />

stark, dass die nachträglich an den Balustraden angebrachten Verkleidungen aus<br />

Lochblech und die Übermalung von Wänden mit schwarzer Farbe beinahe ausgeblendet<br />

scheinen.<br />

Die inneren Straßen haben ihren früheren Charakter verloren. Greiner<br />

hatte zwischen dem Kreativ-Zentrum und dem Café-Restaurant einen räumlich<br />

Kulturzentrum<br />

De Flint,<br />

Ursprünglicher<br />

Zugang Theater<br />

und Café<br />

artikulierten Außenbereich geschaffen, der von der Seite zur zentralen inneren<br />

Straße führte. Dieses in-between wurde durch eine Pergola von der Straße abgeschirmt;<br />

Module, die gegeneinander versetzt waren, visualisierten einen Bewegungsfluss<br />

von außen nach innen. Dem Bereich vorgelagert war eine leicht<br />

abgesenkte Fläche mit Stadtmobiliar, das aus Ziegelsteinen konstruiert war.<br />

Ähnlich bedeutsam für die räumliche Qualität des Gebäudes wie dieser<br />

seitliche Zwischenbereich war ein offener, bepflanzter Patio, der im Kreuzungsbereich<br />

der beiden inneren Straßen positioniert war. Betrat man das Gebäude<br />

vom Haupteingang aus, blickte man so auf einen lichterfüllten Bereich in der<br />

Tiefe des Raums, der in die querliegende innere Straße des Auditoriums führte.<br />

Dieser Patio existiert nicht mehr.<br />

190 Strukturalistische Erfahrungen


Wie könnte Mathematik<br />

aussehen?<br />

Leo Heijdenrijk und Jos Mol<br />

Eine alternative Gruppierung von Architekten erhält eine Chance<br />

Leo Heijdenrijk und Jos Mol gehörten zu einer Reihe jüngerer Architekten, die<br />

für die Planung des neuen Campus der Universität Twente hinzugezogen wurden.<br />

Wie Piet Blom und Herman Haan, die ebenfalls mit Projekten beauftragt<br />

wurden, vertraten die beiden Architekten die Ideen der „Forum-Gruppe“. Dass<br />

den Vieren ermöglicht wurde, Gebäude für den neuen Universitätscampus zu<br />

Institut für<br />

angewandte<br />

Mathematik,<br />

Universität<br />

Twente,<br />

Enschede,<br />

Leo Heijdenrijk<br />

und Jos Mol<br />

1973<br />

planen, war ein Zugeständnis der für die Gesamtplanung des Campus verantwortlichen<br />

Architekten Piet van Tijen und Samuel van Embden, die eine funktionalistische,<br />

klassisch-moderne Haltung vertraten. 10 Sie erkannten, dass die<br />

neuen architektonischen Ansätze der jüngeren Kollegen von Relevanz waren<br />

und gaben ihnen eine Chance.<br />

Haan schuf eine außergewöhnlich schöne, leicht in die Erde eingesenkte<br />

Anlage, deren zweigeschossige Bauten er um Patios und Grünräume gruppierte.<br />

Da die Entwurfsüberlegungen Haans auf seinen langjährigen anthropologischen<br />

Studien basierten und der Grundriss der Anlage einem richtungsneutralen<br />

Muster gleicht, gibt es bei diesem Bau Bezüge zu strukturalistischen Ideen;<br />

ein strukturalistisches Gebäude ist er nicht.<br />

<br />

191


Die Galerie Schmela von Aldo van Eyck<br />

Ein Außenraum im Inneren eines Gebäudes<br />

Eine Skizze Aldo van Eycks zeigt einen Vogel, der das sogenannte Schmela-Haus<br />

in aufsteigendem Flug durchfliegt. Diese Skizze erzählt in komprimierter Form<br />

die Geschichte des Hauses und des komplizierten Verhältnisses zwischen dem<br />

Architekten, der es entwarf, und seinem Auftraggeber. Beide waren außergewöhnliche<br />

Persönlichkeiten.<br />

Die Flugbahn des Vogels verdeutlicht, dass es sich hier um einen nach<br />

oben offenen Außenraum handelt, der innerhalb eines Gebäudes liegt. Van Eyck<br />

situierte diesen rundum verglasten Zylinder unmittelbar nach dem Eingang des<br />

Gebäudes. Er sollte die angrenzenden Innenräume mit Tageslicht versorgen –<br />

was auch notwendig war, weil nach van Eycks Planung die straßenseitige Fassade<br />

mit nur wenigen Fenstern ausgeführt werden sollte. Trotz seines kleinen<br />

Durchmessers – er ist nicht größer als der Lichtschacht eines gründerzeitlichen<br />

Hauses – wirkt er nicht beengend. Man kann aus ihm heraus auf große Räume<br />

blicken, die im Untergeschoss des Gebäudes liegen.<br />

Erst nach dem gläsernen Zylinder betritt man das Innere des Hauses.<br />

Man wird von einem großen, zweigeschossigen Raum empfangen, dessen<br />

Mitte durch einen Steg überbrückt wird. Eine Treppe führt abwärts, zweimal<br />

müssen die Besucher eine Wendung um hundertachtzig Grad vollziehen, um<br />

schließlich das Allerheiligste, den Galerieraum Alfred Schmelas, zu erreichen.<br />

Ein Prozessionsweg<br />

Die Entscheidung, einen großen Teil der Erdgeschossfläche zu opfern, um<br />

einen großen zweigeschossigen Raum und damit eine großzügige Einbindung<br />

des Untergeschosses zu ermöglichen, war mutig. Weil ein Durchfahrtsrecht<br />

bestand, konnte ein großer Teil der Grundstücksfläche erst ab dem ersten Geschoss<br />

überbaut werden.<br />

Selten wurde ein Präsentationsraum in einem Keller durch eine so exquisite<br />

räumliche Inszenierung erschlossen. Im Gegensatz zu den barocken Kreuzwegen,<br />

deren Stationen auf einen Hügel hinauf- und in eine Kirche hineinführen,<br />

kehrt man hier sozusagen in den Schoß von Mutter Erde zurück. Aldo van Eyck<br />

hatte einen Prozessionsweg, wie er ihn bei der katholischen Kirche Pastoor van<br />

Ars in Den Haag entworfen hatte, auf eine Kunsteinrichtung übertragen, was<br />

nicht unlogisch war – schließlich war die Kunst im Begriff, die Religion als Werteund<br />

Glaubenssystem zu ersetzen.<br />

Sieben Parkplätze auf 70 Quadratmeter Baufläche<br />

Alfred Schmela erwartete ungewöhnliche Planungsvorschläge von seinem Architekten<br />

und er realisierte dessen Entwurf im Wesentlichen. Von Anfang an<br />

war er mit Problemen konfrontiert, wie sie für die deutsche Bürokratie nicht<br />

untypisch sind. Ein großer Teil der Grundfläche des Grundstücks musste für<br />

die Ausfahrt einer Großgarage freigehalten werden, die möglicherweise später<br />

230 Strukturalistische Erfahrungen


errichtet werden würde (sie wurde nie realisiert). Als Schmela das Projekt bei<br />

der Baubehörde einreichen wollte, schrieb ihm diese vor, auf der bereits stark<br />

verkleinerten Nutzfläche des Grundstücks Garagenplätze vorzusehen. Das war<br />

Schmela-Haus,<br />

Düsseldorf,<br />

Aldo van Eyck<br />

1971, Innenaufnahme<br />

ein normaler Vorgang, eine Bestimmung, die in den lokalen Baugesetzen enthalten<br />

war. Für Schmela stellte sie eine besondere Härte dar. In einem Brief,<br />

der in den Akten der Stadtverwaltung Düsseldorf enthalten ist, legt Schmela<br />

<br />

231


Reprisen:<br />

Die Nachwirkung<br />

strukturalistischer<br />

Themen in<br />

der neueren<br />

Architektur<br />

242


„Nachdem ich mir über die Länge, das<br />

Gebiet und den Ton klargeworden war,<br />

suchte ich nach [e]inem artistischen Reiz,<br />

der mir bei dem Aufbau des Gedichts<br />

als Grundton dienen könne [...]. Als ich<br />

nun sorgsam alle Kunsteffekte [...] erwog,<br />

kam mir zu Bewusstsein, dass keines so<br />

oft und allgemein angewandt worden als<br />

der Refrain. [...] Ich beschloss nun, durch<br />

Variierung der Wirkung eine Steigerung<br />

zu erzielen, der Monotonie des Tones<br />

wollte ich treu bleiben, während ich den<br />

Gedanken jedesmal änderte [...].“<br />

Edgar Allan Poe 1<br />

<br />

243


248 Reprisen: Die Nachwirkung strukturalistischer Themen in der neueren Architektur<br />

Nationalmuseum<br />

für<br />

römische<br />

Kunst, Innenraum


Symbolische Überhöhung von Bauteilen<br />

Moneo äußerte, er habe „die römischen Konstruktionsprinzipien […] übernommen<br />

[…], und nicht etwa Profile oder Säulenordnungen“, um „dem Wunsch<br />

nach Nähe zur römischen Welt entgegenzukommen.“ 4 Eine Wand aus Ziegel<br />

und die Form des Bogens, die beiden Elemente, die Moneo als symbolische<br />

Verweise auf Rom gewählt hatte, waren für sich allein betrachtet wenig aussagekräftig.<br />

Um die Größe des antiken Roms zum Ausdruck zu bringen, musste<br />

die Wand groß, sogar sehr groß werden, es musste mehr als eine Wand geben<br />

(so viele Wände wie möglich) und die Größe und Massivität dieser Wand musste<br />

durch die Art, wie man ihr begegnete, betont werden.<br />

Eine Wand, an der man entlangging, war in diesem Zusammenhang eine<br />

verlorene Wand, hingegen wirkt eine Wand am eindrucksvollsten und besonders<br />

groß, wenn man sich ihr frontal, im Neunzig-Grad-Winkel, annähert. Auch der<br />

Bogen in dieser Wand musste ein besonders großer Bogen sein. Damit möglichst<br />

viel zusammenhängende Wandfläche erhalten blieb, konnte dieser Bogen<br />

nur asymmetrisch in der Wand liegen; tatsächlich ist er fast an den Rand gerückt<br />

und reicht so nahe wie konstruktiv möglich an die Oberkante der Wand heran.<br />

Um zehn hintereinanderliegende Wände auf dem Grundstück unterzubringen<br />

und eine maximale Größe der Öffnungen, die diese Wände durchbrechen, zu<br />

erreichen, nahm Moneo räumliche Defizite in Kauf. Im Zweifel entschied er sich<br />

für mehr Wände und weniger Zwischenabstand.<br />

Räumlicher Rhythmus<br />

Die großen, von Bogen überwölbten Wandöffnungen bilden einen kirchenschiffartigen<br />

Großraum, der asymmetrisch im Bauvolumen liegt. Demgegenüber wirken<br />

die seitlichen Bereiche, die unter neunzig Grad zu diesem Großraum liegen,<br />

wie schmale, hohe Korridore. Der räumliche Rhythmus, der durch die Abfolge<br />

der Wandscheiben entsteht, endet nach einer Seite hin vor einer breiten und<br />

hohen Wand (ein bekanntes, häufig publiziertes Motiv), wodurch die räumliche<br />

Wirkung dieser Wand nochmals gesteigert wird. Das andere Ende des Großraums<br />

wirkt hingegen fragmentarisch-unfertig. Die „Kathedrale“ schließt hier<br />

an den Zugangsbereich an. In die Wandöffnung sind ein Fenster sowie ein Querträger<br />

eingesetzt. Dadurch reduziert sich die Raumhöhe unvermittelt – ohne<br />

dass dieser Maßstabswechsel als Bruch artikuliert würde.<br />

Ein strukturalistisches Erbe<br />

Die Ausgrabungsstätten, der eigentliche Anlass für das Entstehen des Gebäudes,<br />

spielen nur eine untergeordnete Rolle; mehr als sechzig massive Pfeiler<br />

und Wandvorsprünge überlagern die römischen Funde. Dennoch überstrahlt<br />

dieses Fragment aus elf Wänden und neun großen, asymmetrisch liegenden<br />

Bogen alles andere, was an diesem Bauwerk kritisch zu bewerten wäre.<br />

Moneo verwendete strukturalistische Verfahren: Er betonte und überhöhte<br />

strukturelle Elemente. Er verstärkte den Effekt des Grundelements durch<br />

Reihung und Wiederholung, ermöglichte die Wahrnehmung einer Struktur als<br />

<br />

249


Philharmonie<br />

Szczecin,<br />

Außenansicht,<br />

2018<br />

sich hinter Fassaden, die beliebige historische Zustände suggerieren konnten.<br />

Hinter den neo-historischen Häuserfronten in Danzig lagen riesige kommunale<br />

Wohnanlagen, mit großen begrünten Höfen. Die Unterteilung der Wohnungen<br />

hatte keinen Bezug zu den Fassaden. Was nach außen wie eine Häuserreihe<br />

wirkte, war in Wirklichkeit nur ein Wohnblock. Es gab „Häuser“ ohne Eingänge<br />

und repräsentative Fenster, hinter denen Kleinwohnungen lagen.<br />

In Szczecin (Stettin) ging die Stadtplanung einen anderen Weg. Piotr<br />

Zaremba, der erste polnische Stadtpräsident Stettins, war ausgebildeter Architekt<br />

und Stadtplaner. Er vertrat die Prinzipien der CIAM-Moderne. Noch erhalten<br />

gebliebene Teile der Altstadt wurden abgebrochen und an deren Stelle große<br />

Wohnanlagen und Parks errichtet, die die historisch gewachsene Parzellenstruktur<br />

ignorierten. Entlang der Oder wurde eine große Trasse angelegt, die<br />

dazu beitragen sollte, die bisherige Orientierung des Orts „umzudrehen“ – weg<br />

von der historisch bedingten Ausrichtung nach Berlin und hin zum polnischen<br />

Hinterland.<br />

Eine zweite Geschichte<br />

Auch die spanischen Architekten Fabrizio Barozzi und Alberto Veiga rekonstruierten<br />

mit ihrem Entwurf für die Philharmonie Stettins im Jahr 2007 ein vergangenes<br />

Lebensumfeld – nicht „original“, wie dies beim Wiederaufbau in Danzig<br />

versucht worden war, sondern in abstrahierter und indirekter Form. Ihre Philharmonie<br />

ist eine kleinmaßstäbliche stadträumliche Intervention, die sich mit<br />

den großen Projekten des Wiederaufbaus nicht vergleichen lässt. Obwohl das<br />

260 Reprisen: Die Nachwirkung strukturalistischer Themen in der neueren Architektur


Gebäude ein Kulturgebäude, also eine Institution ist, präsentiert es sich nach außen<br />

wie eine kleine Stadt, mit schmalen, eng aneinandergelehnten Häusern und<br />

steilen Giebeldächern. Dass innerhalb dieser Agglomeration große Säle liegen,<br />

ist von außen nicht erkennbar. Wie bei den Zentren der deutschen Nachkriegsstädte<br />

beschränken sich Verweise auf eine frühere Bebauung auf die Umrisse<br />

der Giebel. In der Nachbarschaft des Gebäudes kommen straßenseitige Giebel<br />

nicht vor, auch keine kleinen, schmalen Häuser. Das Grundstück, auf dem die<br />

Philharmonie errichtet wurde, war Teil eines Baublocks, der aus wenigen großen<br />

Parzellen bestand.<br />

Die Fassaden der einzelnen „Häuser“ wurden ohne Öffnungen ausgeführt,<br />

alles, was auf eine bestimmte Verwendung schließen lassen könnte (wie<br />

Innenansichten,<br />

2018<br />

zum Beispiel Fenster und Türen), wurde entfernt. Dieser semiotischen Entleerung<br />

entspricht die Entmaterialisierung der Außenhaut des Gebäudes. Alle<br />

Außenflächen sind weiß, aus opalem, lackiertem Glas, das bei Nacht hinterleuchtet<br />

ist, so dass nachts aus einem tagsüber undurchsichtigen Gebäude ein<br />

leuchtendes Objekt wird.<br />

Projektionen – eine expressionistische Stadt<br />

Die entmaterialisierte Außenhaut der Philharmonie eignet sich als Projektionsfläche<br />

für sehr verschiedene Assoziationen. Da ist zunächst das Bild einer weißen<br />

Stadt. Dann ist da die leuchtende Stadt, die symbolisch vom Anbruch einer<br />

neuen Zeit berichtet. Zeitlich ist sie irgendwo zwischen 1905 und Anfang der<br />

1920er Jahre einzuordnen, in die Zeit des Expressionismus. Eigentlich ist sie<br />

<br />

261


Konzepte oder<br />

Bilder? –<br />

Architektur vor<br />

und nach der<br />

Postmoderne<br />

266


„Man mag versucht sein, die Poesie der<br />

Bilder mit der künstlerischen Verwendung<br />

visueller Medien gleichzusetzen, aber es<br />

sollte daran erinnert werden, dass das,<br />

was wir Kunst nennen, nicht [...] bloß<br />

für ausschließlich ästhetische Effekte<br />

produziert wurde. Sogar in der Sphäre<br />

der Kunst sind die Dimensionen der<br />

Kommunikation beobachtbar, wenn auch<br />

in einer sehr komplexen Interaktion.“<br />

„Je einfacher es ist den Code vom Inhalt<br />

zu trennen, um so [besser kann] ein Bild<br />

eine bestimmte Art von Information<br />

kommunizieren. Ein selektiver Code, der<br />

verstanden wird, versetzt den Produzenten<br />

eines Bilds in die Lage bestimmte Arten<br />

von Informationen auszufiltern und<br />

nur jene Merkmale zu kodifizieren, die<br />

für den Rezipienten von Interesse sind.<br />

Damit ist eine selektive Darstellung, die<br />

ihre eigenen Auswahlkriterien aufzeigt,<br />

informativer als eine Replik.“<br />

Ernst H. Gombrich 1<br />

<br />

267

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