28.06.2019 Aufrufe

faktor Sommer 2019

faktor - Das Entscheider-Magazin für die Region Göttingen

faktor - Das Entscheider-Magazin für die Region Göttingen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

mensch<br />

Im Wintersemester 1927 schreibt sich Elisabeth Selbert<br />

schließlich unter der Matrikelnummer 111 an der<br />

Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität in<br />

Göttingen ein. Sie ist eine von fünf Frauen unter 350 Studierenden.<br />

Der Wechsel nach Göttingen wurde notwendig,<br />

weil sie in Marburg keinen Doktorvater findet. Am<br />

täglichen Pendeln ändert sich zuweilen ebenso wenig wie<br />

an ihrer Zielstrebigkeit.<br />

ÜBER IHREN STUDENTISCHEN ALLTAG in Göttingen<br />

ist nur wenig bekannt. Elisabeth Selbert steht für gewöhnlich<br />

um sechs Uhr auf, bereitet das Frühstück für<br />

die Familie vor und legt ihren Söhnen die Kleider zurecht.<br />

Anschließend macht sie sich auf den Weg nach<br />

Göttingen, besucht ihre juristischen Veranstaltungen im<br />

Auditorium und kehrt abends nach Kassel zurück. An<br />

ein ausgelassenes Studentenleben, Ausflüge mit den<br />

Kommilitonen oder Konzert- und Theaterbesuche ist in<br />

all den Jahren nicht zu denken, weder finanziell noch<br />

zeitlich. Das Studium geht vor. Im Oktober 1929 besteht<br />

sie das 1. Staatsexamen beim Oberlandesgericht Kassel.<br />

Noch im selben Jahr reicht sie ihre fertige Dissertation<br />

zur ,Ehezerrüttung als Scheidungsgrund‘ ein und wird<br />

nach Bestehen der mündlichen Prüfung im Juli 1930 zur<br />

Doktorin der Rechtswissenschaften promoviert. Doch<br />

die jahrelange Dauerbelastung fordert während des anschließenden<br />

Referen dariats ihren Tribut: Elisabeth Selbert<br />

erleidet einen Nervenzusammenbruch. Es dauert ein<br />

halbes Jahr, bis sie das Referendariat fortführen kann.<br />

Im Jahr 1934 wird sie als eine der letzten Anwältinnen<br />

in Deutschland zugelassen, bevor die Nationalsozialisten<br />

diesen Berufsweg für Frauen verschließen. Im Jahr zuvor<br />

hatten die Nationalsozialisten im Zuge der Machtübernahme<br />

mehrere Tausend Gewerkschafter, Kommunisten<br />

und Sozialdemokraten aus dem Staatsdienst entlassen,<br />

teilweise verhaftet und interniert. Auch Adam Selbert ist<br />

hiervon als sozialdemokratischer Kommunalpolitiker<br />

betroffen. Er wird zwar nach einigen Wochen aus der<br />

Haft entlassen, muss aber fortwährend auf seine früheren<br />

Beamtenbezüge verzichten. Bis zum Kriegsende 1945<br />

gelingt es der Anwältin Selbert, die Familie zu ernähren.<br />

NACH ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGS wird Dr. Elisabeth<br />

Selbert in den Kasseler Stadtrat, zum Mitglied der<br />

verfassunggebenden Landesversammlung Hessens und<br />

in den SPD-Parteivorstand gewählt. Im <strong>Sommer</strong> 1948<br />

verfügen die Westalliierten die Bildung des Parlamentarischen<br />

Rates, welcher der zukünftigen Bundesrepublik<br />

eine demokratische Verfassung geben soll. Die hoch qualifizierte<br />

Juristin wird in ihrer hessischen Heimat jedoch<br />

nicht nominiert. Es ist der Fürsprache des SPD-Vorsitzenden<br />

Kurt Schumacher und der Frauenbeauftragten<br />

im SPD-Vorstand, Herta Gotthelf, zu verdanken, dass<br />

der niedersächsische Landtag die in Göttingen ausgebildete<br />

Doktorin der Rechtswissenschaften schließlich in<br />

den Parlamentarischen Rat entsendet.<br />

BIS DER MÄNNER UND FRAUEN gleichstellende Satz<br />

jedoch in das Grundgesetz aufgenommen wird, liegt ein<br />

steiniger Weg vor Elisabeth Selbert und ihren Mitstreiterinnen.<br />

Im September 1948 lehnt der Ausschuss für<br />

Grundsatzfragen die von Elisabeth Selberts Parteikollegin<br />

Friederike Nadig eingebrachte Formulierung ,Männer<br />

und Frauen sind gleichberechtigt‘ ab. Nachdem<br />

Selbert mit einem gleichlautenden Vorschlag im Dezember<br />

1948 ein zweites Mal im Hauptausschuss scheitert<br />

– wohlgemerkt auch am Widerstand der beiden Vertreterinnen<br />

der bürgerlichen Parteien –, startet sie zusammen<br />

mit Herta Gotthelf eine deutschlandweite Protestkampagne.<br />

Während die rhetorisch erfahrene Selbert das daraus<br />

resultierende „Trommelfeuer von Petitionen, Resolutionen<br />

und Telegrammen“ öffentlichkeitswirksam einzusetzen<br />

weiß, kritisiert es der damalige FDP-Vertreter und<br />

spätere Bundespräsident, Theodor Heuss, als „Quasistürmlein“.<br />

TATSÄCHLICH ERREICHEN DEN Parlamentarischen Rat<br />

weniger als 50 Eingaben, viele davon erst nach der Abstimmung.<br />

Noch Jahrzehnte später wird es Dr. Elisabeth<br />

Selbert als ihre persönliche Sternstunde bezeichnen, dass<br />

der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates am<br />

18. Januar 1949 den Artikel 3, Absatz 2 annimmt und es<br />

seitdem im Grundgesetz heißt: „Männer und Frauen<br />

sind gleichberechtigt.“<br />

Auf den großen persönlichen wie politischen Triumph<br />

folgt allerdings – im Gegensatz zu vielen männlichen<br />

Mitgliedern des Parlamentarischen Rates – keine politische<br />

Karriere. Obwohl sie bei den Wahlen zum ersten<br />

Bundestag im Jahr 1949 auf dem vielversprechenden<br />

zweiten Listenplatz der hessischen SPD steht, fehlen ihr<br />

schlussendlich 200 Stimmen zum Bundestagsmandat.<br />

Ein hohes politisches Amt bleibt ihr später genauso verwehrt<br />

wie eine Position am Bundesverfassungsgericht.<br />

Bis Ende der 1950er-Jahre zieht sich Selbert von allen<br />

politischen Ämtern zurück und konzentriert sich fortan<br />

auf ihre Kanzlei. Am 9. Juni 1986 verstirbt Dr. Elisabeth<br />

Selbert im Alter von 89 Jahren in Kassel.<br />

WER SICH HEUTE IN GÖTTINGEN auf die Suche nach<br />

Selberts Spuren begibt, wird schnell feststellen: Kein<br />

Denkmal, keine Gedenktafel und auch kein Straßenname<br />

erinnert an die Mutter des Grundgesetzes.<br />

Doch gänzlich vergessen ist sie nicht: Im Jahr 2015 hat<br />

die Göttinger Kriminologieprofessorin Katrin Höffler an<br />

der Juristischen Fakultät das Elisabeth-Selbert-Mentoring-Programm<br />

ins Leben gerufen. Dieses soll juristische<br />

Wissenschaftlerinnen durch Seminare und Workshops<br />

fördern und miteinander vernetzen. Darüber hinaus<br />

wurde im Rahmen eines Stadtrundganges zum 100.<br />

Jubiläum des Frauenwahlrechts erst kürzlich an Elisabeth<br />

Selberts Beitrag zur Gleichberechtigung und ihre<br />

kurze Zeit in Göttingen erinnert.<br />

116 2 |<strong>2019</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!