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FILMFEST MÜNCHEN MAGAZIN 2019

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Angriff ist die beste Verteidigung.<br />

Das muss der Mittdreißiger Casey auf<br />

die harte Tour lernen, als er auf dem<br />

nächtlichen Weg zum Supermarkt<br />

von einer vermummten Motorradgang<br />

krankenhausreif geschlagen<br />

wird. Casey ist kein Mann, sondern<br />

eine Memme. Das weiß er selbst,<br />

denn sein Umfeld lässt es ihn täglich<br />

spüren: Am Telefon wird er wegen<br />

seines femininen Namens und der<br />

zurückhaltenden Stimme oft für eine<br />

Frau gehalten. Seine männlichen<br />

Arbeitskollegen übersehen den unscheinbaren<br />

Buchhalter schlichtweg.<br />

Sie sind richtige Kerle, denn sie trinken<br />

ihren Kaffee schwarz und lesen<br />

testosteronschwangere Männermagazine.<br />

Casey sitzt lieber neben seinem<br />

Dackel auf der Couch.<br />

Der Angriff versetzt ihn in<br />

Schockstarre, und als er sogar beim<br />

Versuch, sich eine Handfeuerwaffe zu<br />

kaufen, scheitert, beschließt er: „Ich<br />

möchte zu dem werden, was mich<br />

einschüchtert.“ Und so schreibt er<br />

sich für einen Karatekurs ein.<br />

the art of self-defense von Autor<br />

und Regisseur Riley Stearns ist die<br />

schwarzhumorige Charakterstudie<br />

eines durchschnittlichen Langweilers,<br />

der lernen will, ein Mann zu sein, um<br />

dazuzugehören. Doch begnügt sich<br />

Stearns nicht damit, einen Verlierer<br />

mit Dackelblick zum Alphamännchen<br />

zu machen. Vielmehr hinterfragt er<br />

die sozial genau normierten Vorstellungen<br />

von Männlichkeit und den<br />

Gruppendruck, den diese erzeugen.<br />

Im Mikrokosmos des Karate-<br />

Dojos seziert er etablierte Strukturen<br />

und verhandelt ganz selbstverständlich<br />

drängende Themen. In Zeiten<br />

von toxischer Männlichkeit, Selbstoptimierungswahn<br />

und antifeministischen<br />

Bewegungen ist jeder auf<br />

der Suche nach Abwehr- und Selbstverteidigungsmechanismen.<br />

Stearns<br />

tritt dabei lieber einen Schritt zurück<br />

und hinterfragt mit bitterbösem<br />

Humor das Recht auf Waffenbesitz<br />

und den schon als Grundrecht betrachteten<br />

American Dream – diese<br />

und andere uramerikanischen Werte<br />

haben immer auch Schattenseiten<br />

und Leidtragende.<br />

Die Gesellschaftskritik gelingt<br />

Stearns dabei mit herrlich überzeichneten<br />

Figuren und makabrer Melancholie.<br />

Durch die Polarität zwischen<br />

virilem Sensei und phlegmatischem<br />

Kind-Mann verdeutlicht er, wie absurd<br />

die Ansprüche an „den Mann“ sind.<br />

Zugleich stellt er infrage, ob die Leistungsgesellschaft<br />

ihr Versprechen auf<br />

ein besseres Leben in dieser starren<br />

Hierarchie, die jegliche Individualität<br />

unterdrückt, einhalten kann.<br />

Casey ist ganz verzaubert vom<br />

Lehrer im schwarzen Kampfanzug, der<br />

selbst seine Wochenendpläne in<br />

einer slapstickhaften Karateübung<br />

präsentiert. In dem scheinbar in sich<br />

ruhenden Sensei hat er eine Vaterfigur<br />

gefunden und kann endlich erwachsen<br />

werden – was auch immer<br />

das für ihn letztendlich bedeutet.<br />

Denn in dieser Welt aus Schwarz und<br />

Weiß erscheinen die farbigen Karategürtel<br />

wie das Ende des Regenbogens,<br />

an dem Selbstbewusstsein und Bestätigung<br />

auf ihn warten. Seinen bald<br />

erworbenen gelben Gürtel will er gar<br />

nicht mehr ablegen und deutet ihn<br />

auch im Alltag zu seinem Glücksbringer<br />

um. Deshalb merkt er erst spät,<br />

dass das Karatedojo sektenhafte<br />

Abendklassen veranstaltet, die eher<br />

einem illegalen Fight Club ähneln als<br />

einem Sporttraining.<br />

Riley Stearns pendelt in seinen<br />

Beobachtungen zwischen spöttischer<br />

Zuspitzung der männlichen Initiationsrituale<br />

und Mitleid für den naiven<br />

Casey, betrachtet ihn jedoch niemals<br />

abschätzig. Mit Jesse Eisenberg hat er<br />

die Idealbesetzung für den verhuschten<br />

Angsthasen gefunden. Eisenberg<br />

ERÖFFNUNG<br />

gibt seinen Figuren gerne nervöszuckende<br />

Manierismen mit, etwa in<br />

seiner Darstellung von Facebook-<br />

Gründer Mark Zuckerberg in the<br />

social network. Caseys kleine Macken<br />

dienen als Schutzschild für<br />

einen zutiefst verunsicherten Mann,<br />

der auch im weißen Karate-Gi mehr<br />

einem Hundewelpen gleicht als dem<br />

Idealbild eines resilienten Kerls.<br />

Zu dumm für seinen Hund, auf den<br />

Casey nun das neu gewonnene Selbstvertrauen<br />

übertragen will, indem er<br />

ihn abhärtet. Streicheln ist fortan<br />

gestrichen – zu seinem eigenen Besten.<br />

Der Sensei empfiehlt, den gutmütigen<br />

Dackel durch einen durchsetzungsfähigen<br />

deutschen Schäferhund<br />

zu ersetzen. Wenn das äußere Erscheinungsbild<br />

und das Umfeld stimmen,<br />

wird sich bei Casey die passende Haltung<br />

schon einstellen, so die Theorie.<br />

Dass auch Dackel gnadenlos sture<br />

Wadenbeißer sein können, ist zumindest<br />

hier in München kein Geheimnis<br />

– und möglicherweise liegt für Casey<br />

in dieser Erkenntnis die Kunst der<br />

Selbstverteidigung.<br />

Sofia Glasl<br />

Am Donnerstag, den 27. Juni, wird um 19 Uhr im Mathäser Filmpalast<br />

das 37. filmfest münchen mit the art of self-defense eröffnet.<br />

Zur Deutschlandpremiere wird neben Regisseur Riley Stearns auch<br />

Hauptdarsteller Jesse Eisenberg erwartet. Neben der Eröffnung (nur auf<br />

Einladung) gibt es weitere Gelegenheiten, den Film zu sehen: Er läuft<br />

regulär am Freitag, 28. Juni, um 19.30 Uhr und Sonntag, 30. Juni,<br />

um 14.30 Uhr, beide Male im Carl-Orff-Saal im Gasteig. Am Freitag, 05.<br />

Juli, wird er im Kino an der Münchner Freiheit im Saal 1 um 22.30 Uhr<br />

wiederholt. Am Freitag, 28. Juni, sind Regisseur Riley Stearns und eventuell<br />

Hauptdarsteller Jesse Eisenberg um 17.30 Uhr bei filmmakers live!<br />

in der Black Box zu erleben. the art of self-defense nimmt zudem am<br />

CineVision Wettbewerb teil.<br />

ERÖFFNUNGSFILM<br />

7

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