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RA 06/2019 - Entscheidung des Monats

Keine andere Problematik belastet bis heute das Verhältnis zwischen Ärzten und Juristen so sehr wie die Diskussion um „wrongful life“. Im „Röteln-Fall“ des BGH (Urteil vom 18.01.1983, VI ZR 114/81) war die Kindsmutter während der Schwangerschaft an Röteln erkrankt, der behandelnde Arzt hatte dies nicht erkannt, weshalb ein erlaubter Schwangerschaftsabbruch unterblieb und das Kind schwerstgeschädigt zur Welt kam. Der Senat verneinte Ansprüche des Kindes auf Schadensersatz, weil es sich einer allgemeinverbindlichen Beurteilung entziehe, ob Leben mit schweren Behinderungen (wrongful life) gegenüber der Alternative des Nichtlebens überhaupt im Rechtssinne einen Schaden darstelle. Ob die Tatsache der Existenz eines ungewollten Kindes als Schaden für die Eltern in Betracht kommen kann, verneinte später das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 88, 203 ff.). Ob die Unterhaltspflicht der Eltern für ein ungewolltes Kind ein Schaden sein kann, bejahte der BGH (Urteil vom 18.03.1980, VI ZR 105/78), verneinte der 2. Senat des Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 88, 203 ff.), hingegen sprach sich der 1. Senat dafür aus (BVerfGE 96, 375 ff.). Der vorliegende Fall betrifft lebensverlängernde Maßnahmen und greift die in der Rechtsprechung zum „wrongful life“ entwickelten Grundsätze auf.

Keine andere Problematik belastet bis heute das Verhältnis zwischen Ärzten und Juristen so sehr wie die Diskussion um „wrongful life“. Im „Röteln-Fall“ des BGH (Urteil vom 18.01.1983, VI ZR 114/81) war die Kindsmutter während der Schwangerschaft an Röteln erkrankt, der behandelnde Arzt hatte dies nicht erkannt, weshalb ein erlaubter Schwangerschaftsabbruch unterblieb und das Kind schwerstgeschädigt zur Welt kam. Der
Senat verneinte Ansprüche des Kindes auf Schadensersatz, weil es sich einer allgemeinverbindlichen Beurteilung entziehe, ob Leben mit schweren Behinderungen (wrongful life) gegenüber der Alternative des Nichtlebens überhaupt im Rechtssinne einen Schaden darstelle. Ob die Tatsache der Existenz eines ungewollten Kindes als Schaden für die Eltern in Betracht kommen kann, verneinte später das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 88, 203 ff.). Ob die Unterhaltspflicht der Eltern für ein ungewolltes Kind ein Schaden sein kann, bejahte der BGH (Urteil vom 18.03.1980, VI ZR 105/78), verneinte der 2. Senat des Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 88, 203 ff.), hingegen sprach sich der 1. Senat dafür aus (BVerfGE 96, 375 ff.). Der vorliegende Fall betrifft lebensverlängernde Maßnahmen und greift die in der Rechtsprechung zum „wrongful life“ entwickelten Grundsätze auf.

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<strong>06</strong>/<strong>2019</strong><br />

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<strong>RA</strong> <strong>06</strong>/<strong>2019</strong><br />

Zivilrecht<br />

285<br />

Problem: Weiterleben als Schaden<br />

Einordnung: Allgemeines Schadensrecht<br />

BGH, Urteil vom 02.04.<strong>2019</strong><br />

VI ZR 13/18<br />

EINLEITUNG<br />

Keine andere Problematik belastet bis heute das Verhältnis zwischen<br />

Ärzten und Juristen so sehr wie die Diskussion um „wrongful life“. Im<br />

„Röteln-Fall“ <strong>des</strong> BGH (Urteil vom 18.01.1983, VI ZR 114/81) war die Kindsmutter<br />

während der Schwangerschaft an Röteln erkrankt, der behandelnde<br />

Arzt hatte dies nicht erkannt, weshalb ein erlaubter Schwangerschaftsabbruch<br />

unterblieb und das Kind schwerstgeschädigt zur Welt kam. Der<br />

Senat verneinte Ansprüche <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> auf Schadensersatz, weil es sich<br />

einer allgemeinverbindlichen Beurteilung entziehe, ob Leben mit schweren<br />

Behinderungen (wrongful life) gegenüber der Alternative <strong>des</strong> Nichtlebens<br />

überhaupt im Rechtssinne einen Schaden darstelle. Ob die Tatsache der<br />

Existenz eines ungewollten Kin<strong>des</strong> als Schaden für die Eltern in Betracht<br />

kommen kann, verneinte später das Bun<strong>des</strong>verfassungsgericht (BVerfGE<br />

88, 203 ff.). Ob die Unterhaltspflicht der Eltern für ein ungewolltes Kind ein<br />

Schaden sein kann, bejahte der BGH (Urteil vom 18.03.1980, VI ZR 105/78),<br />

verneinte der 2. Senat <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>verfassungsgericht (BVerfGE 88, 203 ff.),<br />

hingegen sprach sich der 1. Senat dafür aus (BVerfGE 96, 375 ff.). Der vorliegende<br />

Fall betrifft lebensverlängernde Maßnahmen und greift die in der<br />

Rechtsprechung zum „wrongful life“ entwickelten Grundsätze auf.<br />

SACHVERHALT<br />

K macht als Alleinerbe seines am 19. Oktober 2011 verstorbenen Vaters,<br />

<strong>des</strong> Patienten (P), gegen B Ansprüche auf materiellen und immateriellen<br />

Schadensersatz im Zusammenhang mit der künstlichen Ernährung <strong>des</strong><br />

Patienten in den Jahren 2010 und 2011 geltend. Er ist der Auffassung, B<br />

hafte für die durch die künstliche Ernährung bedingte sinnlose Verlängerung<br />

<strong>des</strong> krankheitsbedingten Leidens <strong>des</strong> Patienten. P stand wegen eines<br />

dementiellen Syndroms von September 1997 bis zu seinem Tod unter<br />

Betreuung eines Rechtsanwalts, die sowohl die Gesundheitsfürsorge als<br />

auch die Personensorge umfasste. Seit 20<strong>06</strong> lebte der Patient in einem<br />

Pflegeheim. Während eines stationären Krankenhausaufenthalts wurde<br />

ihm im September 20<strong>06</strong> wegen Mangelernährung und Austrocknung <strong>des</strong><br />

Körpers mit Einwilligung <strong>des</strong> Betreuers eine PEG-Sonde angelegt, durch<br />

welche er bis zu seinem Tod künstlich ernährt wurde. B, ein niedergelassener<br />

Arzt für Allgemeinmedizin, betreute seit dem Frühjahr 2007 den Patienten<br />

hausärztlich. Der Patient hatte weder eine Patientenverfügung errichtet,<br />

noch ließ sich sein Wille hinsichtlich <strong>des</strong> Einsatzes lebenserhaltender<br />

Maßnahmen anderweitig feststellen. Bereits im Jahr 2003 war die Demenz<br />

weit fortgeschritten und aufgrund einer mutistischen Störung seit 2008<br />

eine Kommunikation gänzlich unmöglich. Ab November 2008 wurden<br />

dem Patienten regelmäßig Schmerzmittel auf Opioidbasis verschrieben. Im<br />

streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis 19. Oktober 2011<br />

hatte der Patient regelmäßig Fieber, Atembeschwerden und wiederkehrende<br />

Druckgeschwüre. Viermal wurde eine Lungenentzündung festgestellt.<br />

Ende Mai bis Mitte Juni 2011 befand sich der Patient in stationärer<br />

LEITSATZ<br />

1. Das menschliche Leben ist ein<br />

höchstrangiges Rechtsgut und<br />

absolut erhaltungswürdig. Das<br />

Urteil über seinen Wert steht<br />

keinem Dritten zu. Deshalb verbietet<br />

es sich, das Leben - auch<br />

ein leidensbehaftetes Weiterleben<br />

- als Schaden anzusehen.<br />

Aus dem durch lebenserhaltende<br />

Maßnahmen ermöglichten Weiterleben<br />

eines Patienten lässt sich<br />

daher ein Anspruch auf Zahlung<br />

von Schmerzensgeld nicht<br />

herleiten.<br />

2. Schutzzweck etwaiger Aufklärungs-<br />

und Behandlungspflichten<br />

im Zusammenhang mit lebenserhaltenden<br />

Maßnahmen ist es<br />

nicht, wirtschaftliche Belastungen,<br />

die mit dem Weiterleben<br />

und den dem Leben anhaftenden<br />

krankheitsbedingten Leiden verbunden<br />

sind, zu verhindern. Insbesondere<br />

dienen diese Pflichten<br />

nicht dazu, den Erben das Vermögen<br />

<strong>des</strong> Patienten möglichst<br />

ungeschmälert zu erhalten.<br />

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286 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>06</strong>/<strong>2019</strong><br />

Behandlung wegen einer Gallenblasenentzündung mit zwei Abszessen.<br />

Am 8. Oktober 2011 erfolgte eine stationäre Aufnahme aufgrund einer<br />

Aspirationspneumonie. Am 19. Oktober 2011 verstarb der Patient im Krankenhaus.<br />

K meint, die Sondenernährung sei spätestens ab Anfang 2010<br />

weder medizinisch indiziert noch durch einen feststellbaren Patientenwillen<br />

gerechtfertigt gewesen. Sie habe vielmehr zu einer sinnlosen Verlängerung<br />

<strong>des</strong> krankheitsbedingten Leidens <strong>des</strong> Patienten ohne Aussicht auf Besserung<br />

<strong>des</strong> gesundheitlichen Zustands geführt. B sei daher verpflichtet<br />

gewesen, das Therapieziel dahingehend zu ändern, das Sterben <strong>des</strong> Patienten<br />

unter palliativmedizinischer Betreuung durch Beendigung der<br />

Sondenernährung zuzulassen. K moniert, B habe den Betreuer nicht hinreichend<br />

darüber aufgeklärt, dass für die künstliche Ernährung keine<br />

medizinische Indikation (mehr) bestanden habe. Durch die Fortführung der<br />

Sondenernährung und das Fortdauernlassen der Schmerzen und Leiden<br />

seien der Körper und das Persönlichkeitsrecht <strong>des</strong> Patienten verletzt worden.<br />

K fordert aus ererbtem Recht Schmerzensgeld und Ersatz der im streitgegenständlichen<br />

Zeitraum entstandenen Behandlungs- und Pflegeaufwendungen<br />

in Höhe von 52.952 €, die ohne die Behandlung nicht entstanden<br />

wären, da der Patient dann nicht mehr gelebt hätte.<br />

Zu Recht?<br />

PRÜFUNGSSCHEMA<br />

A. Anspruch aus §§ 280 I, 249, 253 II BGB<br />

I. Erbenstellung <strong>des</strong> K<br />

II. Schuldverhältnis<br />

III. Pflichtverletzung<br />

IV. Vertretenmüssen<br />

V. Ersatzfähiger und kausaler Schaden<br />

B. Ergebnis<br />

LÖSUNG<br />

Die streitgegenständliche Pflichtverletzung<br />

betraf P zu <strong>des</strong>sen Lebzeiten,<br />

folglich eine Zeit vor Inkrafttreten<br />

<strong>des</strong> PatientenRG. Nach heutiger<br />

Rechtslage läge ein Behandlungsvertrag<br />

gem. § 630a BGB vor. § 630b<br />

BGB verweist auf die Regeln <strong>des</strong><br />

Dienstvertrages, soweit die §§ 630c<br />

ff. BGB nichts anderes bestimmen.<br />

Der erste Senat <strong>des</strong> OLG München<br />

(Urteil vom 21.12.2017, 1 U 454/17)<br />

hatte in der Vorinstanz eine solche<br />

Pflichtverletzung bejaht und dem<br />

Kläger ein ererbtes Schmerzensgeld<br />

zugesprochen. Der BGH ließ in der<br />

hier besprochenen <strong>Entscheidung</strong><br />

offen, ob eine Pflichtverletzung<br />

vorlag, weil er den Anspruch aus<br />

einem anderen Grund verneinte.<br />

A. Anspruch aus §§ 280 I, 249 I, 253 II BGB<br />

K könnte aus ererbtem Recht gegen B einen Anspruch auf Zahlung eines<br />

angemessenen Schmerzensgel<strong>des</strong> sowie Ersatz der für die Behandlungs- und<br />

Pflegeaufwendungen gezahlten 52.952 € aus §§ 280 I, 249 I, 253 II BGB haben.<br />

I. Erbenstellung <strong>des</strong> K<br />

K ist Erbe <strong>des</strong> P und der Schmerzensgeldanspruch vererblich.<br />

II. Schuldverhältnis<br />

Der Behandlungsvertrag war bis zum Inkrafttreten <strong>des</strong> PatientenRG am<br />

26.02.2013 ein besonderer Dienstvertrag im Sinne <strong>des</strong> § 611 BGB.<br />

III. Pflichtverletzung <strong>des</strong> B<br />

B muss eine Pflicht aus dem Behandlungsvertrag verletzt haben. Hier könnte B<br />

gegenüber P die ihm aus § 1901b I BGB in Verbindung mit dem Behandlungsvertrag<br />

erwachsenden Pflichten verletzt haben.<br />

Danach hat der behandelnde Arzt zu prüfen, welche ärztliche Maßnahme<br />

im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose <strong>des</strong> zur <strong>Entscheidung</strong><br />

selbst nicht mehr fähigen Patienten indiziert ist, und diese Maßnahme mit<br />

dem Betreuer unter Berücksichtigung <strong>des</strong> Patientenwillens zu erörtern.<br />

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<strong>RA</strong> <strong>06</strong>/<strong>2019</strong><br />

Zivilrecht<br />

287<br />

Der Arzt schuldet mithin dem Betreuer eine Aufklärung entsprechend den Vorgaben<br />

der Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht, die seit dem 26.02.2013 in<br />

§ 630e I BGB normiert sind. Auf dieser Grundlage obliegt dem Betreuer<br />

sodann die <strong>Entscheidung</strong> darüber, ob er in die ärztliche Maßnahme nach<br />

§ 1901a BGB einwilligt oder sie untersagt.<br />

B war innerhalb seiner Aufklärungspflicht jedenfalls verpflichtet, mit dem<br />

Betreuer die Frage der Fortsetzung oder Beendigung der Sondenernährung<br />

eingehend zu erörtern, was unterblieben ist.<br />

Nach allgemeinen Grundsätzen <strong>des</strong> Arzthaftungsrechts muss der Behandelnde<br />

beweisen, dass der Patient auch im Fall einer ordnungsgemäßen<br />

Aufklärung in die Maßnahme eingewilligt hätte.<br />

Dies ist B nicht gelungen. Eine Pflichtverletzung liegt infolge der Nichtaufklärung<br />

vor.<br />

IV. Vertretenmüssen<br />

B hat sich von der Vermutung <strong>des</strong> Verschuldens gem. § 280 I 2 BGB nicht entlastet<br />

und hat damit die Pflichtverletzung auch zu vertreten. Der Beklagte<br />

kann sich nicht auf einen unvermeidbaren Rechtsirrtum berufen, weil die für<br />

den vorliegenden Fall relevante Rechtsfrage jedenfalls mit Einführung der<br />

Erörterungspflicht über die medizinisch indizierte Maßnahme zwischen Arzt<br />

und Betreuer <strong>des</strong> Patienten in § 1901b I BGB geklärt war.<br />

V. Ersatzfähiger und kausaler Schaden<br />

Fraglich ist allerdings, ob die geltend gemachten Schäden ersatzfähig sind<br />

und kausal auf der Pflichtverletzung beruhen.<br />

1. Schmerzensgeld gem. § 253 II BGB<br />

K erhielte aus ererbtem Recht Schmerzensgeld, wenn der Schmerzensgeldanspruch<br />

in der Person <strong>des</strong> P entstanden ist. Dann müsste gem. § 253 II BGB ein<br />

solcher immaterieller Schaden entstanden sein.<br />

[13] Für die Bestimmung eines Schadens bedarf es eines Vergleichs<br />

der bestehenden Gesamtlage mit der Lage, die ohne das schädigende<br />

Ereignis bestanden hätte. Ein etwaiger Nachteil, der sich bei diesem<br />

Vergleich ergibt, ist nur dann ein Schaden, wenn die Rechtsordnung ihn<br />

als solchen anerkennt.<br />

[14] Daran fehlt es im vorliegenden Fall. Hier steht der durch die künstliche<br />

Ernährung ermöglichte Zustand <strong>des</strong> Weiterlebens mit krankheitsbedingten<br />

Leiden dem Zustand gegenüber, wie er bei Abbruch<br />

der künstlichen Ernährung eingetreten wäre, also dem Tod. Die Option<br />

eines Weiterlebens ohne oder mit weniger Leiden gab es nicht. Das<br />

menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig.<br />

Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Deshalb<br />

verbietet es sich, das Leben - auch ein leidensbehaftetes Weiterleben -<br />

als Schaden anzusehen (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).<br />

[18] Dem Berufungsgericht ist darin Recht zu geben, dass nicht alle Erwägungen<br />

<strong>des</strong> Senatsurteils zum sogenannten Rötelnfall auf die vorliegende<br />

Fallkonstellation übertragbar sind, wie dies in dem Senatsurteil bereits<br />

angedeutet wurde. Ging es damals um ein leidensbehaftetes Leben,<br />

<strong>des</strong>sen Beginn nicht durch einen Schwangerschaftsabbruch verhindert<br />

wurde, geht es vorliegend um ein leidensbehaftetes Weiterleben, das<br />

nicht durch einen Behandlungsabbruch beendet wurde. Die Fallkonstellationen<br />

unterscheiden sich vor allem dadurch, dass dem Menschen<br />

Heute legt § 630e BGB dies ausdrücklich<br />

fest.<br />

Ständige Rechtsprechung <strong>des</strong> BGH,<br />

z.B. Urteil vom 22.01.1980, VI ZR<br />

263/78<br />

Seit dem 26.02.2013 ist dies in<br />

§ 630h BGB geregelt.<br />

Kein unvermeidbarer Rechtsirrtum<br />

seitens B<br />

BGH, Urteil vom 18.01.1983, VI ZR<br />

114/81; Münch.Komm./Oetker, BGB,<br />

§ 249 Rn 17<br />

Hier entwickelt der BGH seine<br />

Rechtsprechung zum „wrongful life“<br />

weiter.<br />

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288 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>06</strong>/<strong>2019</strong><br />

Der Senat arbeitet die Unterschiede<br />

zum Rötelnfall (Urteil vom<br />

18.01.1983, VI ZR 114/81) heraus:<br />

Der lebende Mensch ist in der Lage,<br />

selbstbestimmt über leidensbehaftetes<br />

Weiterleben zu entscheiden.<br />

Jedoch sieht der Senat im leidensbehafteten<br />

Weiterleben keinen<br />

Schaden.<br />

Auswirkungen der Einführung der<br />

Möglichkeit einer Patientenverfügung<br />

gem. § 1901a BGB<br />

Nach Auffassung <strong>des</strong> Senates verbietet<br />

die Verfassungsordnung<br />

ein Werturteil darüber, ob ein leidensbehaftetes<br />

Weiterleben als<br />

lebensunwert anzusehen ist und<br />

einen Schaden darstellen kann.<br />

Der Senat will nicht beurteilen,<br />

ob ein leidensbehaftetes Leben<br />

gegenüber dem Tod ein Nachteil<br />

ist, weil sich dies der menschlichen<br />

Erkenntnisfähigkeit entzöge.<br />

Anders als die Unterhaltspflicht der<br />

Eltern für ein ungewolltes Kind, lässt<br />

sich krankheitsbedingtes Leiden<br />

nicht vom Leben trennen.<br />

im Gegensatz zum Nasciturus grundsätzlich das Recht zuerkannt wird,<br />

selbstbestimmt über eine ärztliche Behandlung, so auch den Abbruch<br />

einer lebenserhaltenden Maßnahme, zu entscheiden. Dieser Unterschied<br />

führt allerdings nicht dazu, dass in dem leidensbehafteten Weiterleben<br />

ein Schaden gesehen werden kann.<br />

Eine andere Bewertung folgt auch nicht aus dem verfassungsrechtlich<br />

abgesicherten Gebot, den Menschen nicht als Objekt, sondern als Subjekt<br />

ärztlicher Behandlung zu begreifen, aus dem sich ergibt, dass der Patient<br />

in jeder Lebensphase, auch am Lebensende, das Recht hat, selbstbestimmt<br />

zu entscheiden, ob er ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen will. Die Bestimmungen<br />

einer Patientenverfügung bleiben auch nach Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit<br />

für die <strong>Entscheidung</strong> über die Vornahme oder<br />

das Unterlassen ärztlicher Maßnahmen maßgeblich. Geht der Wille dahin,<br />

lebenserhaltende Maßnahmen zu unterlassen und so das Sterben zu ermöglichen,<br />

so folgt daraus ein Abwehranspruch gegen lebensverlängernde<br />

Maßnahmen.<br />

[20] (Auch) in einem solchen Fall (ist) das Weiterleben mit der damit<br />

zwangsläufig verbundenen Fortdauer der krankheitsbedingten Leiden<br />

nicht als Schaden anzusehen. Auch wenn der Patient selbst sein Leben<br />

als lebensunwert erachten mag, verbietet die Verfassungsordnung aller<br />

staatlichen Gewalt einschließlich der Rechtsprechung ein solches<br />

Urteil über das Leben <strong>des</strong> betroffenen Patienten mit der Schlussfolgerung,<br />

dieses Leben sei ein Schaden. Dem steht nicht entgegen, dass<br />

das Betreuungsgericht gemäß § 1904 Abs. 2 und 3 BGB die Nichteinwilligung<br />

oder den Widerruf der Einwilligung <strong>des</strong> Betreuers in eine lebenserhaltende<br />

Maßnahme zu genehmigen hat, wenn das Unterbleiben oder<br />

der Abbruch der lebenserhaltenden Maßnahme dem Willen <strong>des</strong> Betreuten<br />

entspricht. Auch wenn damit dem Willen <strong>des</strong> Betreuten Geltung verschafft<br />

und so eine Beendigung seines Lebens ermöglicht wird, verbietet<br />

es sich aus den genannten Gründen, das Weiterleben für den<br />

Fall, dass ein Behandlungsabbruch unterbleiben sollte, als Schaden<br />

zu werten. Abgesehen davon entzieht es sich menschlicher Erkenntnisfähigkeit,<br />

ob ein leidensbehaftetes Leben gegenüber dem Tod ein<br />

Nachteil ist.<br />

[21] Das dem Leben anhaftende krankheitsbedingte Leiden, das durch<br />

lebenserhaltende Maßnahmen verlängert wird, kann schon <strong>des</strong>halb nicht<br />

für sich genommen als Schaden angesehen werden, weil es sich nicht<br />

- wie etwa die Unterhaltspflicht der Eltern - vom Leben trennen lässt.<br />

Damit besteht kein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgel<strong>des</strong>.<br />

Das eigentliche Problem liegt<br />

in der Kausalität, genauer, beim<br />

Schutzzweckzusammenhang.<br />

Das Dasein selbst kann nicht als<br />

Schaden gesehen werden, die damit<br />

verbundenen wirtschaftlichen<br />

Belastungen grundsätzlich schon.<br />

2. Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Behandlungs- und Pflegeaufwendungen<br />

in Höhe von 52.952 €<br />

Die Behandlungs- und Pflegeaufwendungen i.H.v. 52.952 € wären nicht<br />

aufgewendet worden, wenn P früher verstorben wäre. Fraglich ist aber, ob<br />

ein Schutzzweckzusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und dem<br />

geltend gemachten materiellen Schaden besteht.<br />

[29] Während es Art. 1 Abs. 1 GG verbietet, das Dasein eines Menschen als<br />

solches als Schaden anzusehen, ist es verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen,<br />

die wirtschaftlichen Belastungen, die mit der Exis-tenz<br />

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<strong>RA</strong> <strong>06</strong>/<strong>2019</strong><br />

Zivilrecht<br />

289<br />

<strong>des</strong> Menschen verbunden sind, unter bestimmten Umständen als<br />

materiellen Schaden zu begreifen. Nach der Rechtsprechung <strong>des</strong><br />

Senats kann die durch die planwidrige Geburt eines Kin<strong>des</strong> ausgelöste<br />

wirtschaftliche Belastung der Eltern mit dem Unterhaltsaufwand einen<br />

ersatzpflichtigen Schaden darstellen. Das Bun<strong>des</strong>verfassungsgericht<br />

hat diese Rechtsprechung für die Arzthaftung bei fehlgeschlagener<br />

Sterilisation und fehlerhafter genetischer Beratung vor Zeugung<br />

eines Kin<strong>des</strong> als mit Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar erachtet. Ob es verfassungsrechtlich<br />

unbedenklich wäre, Schadensersatz für wirtschaftliche<br />

Belastungen zuzusprechen, die mit dem eigenen Dasein verbunden<br />

sind, kann dahinstehen. Denn vorliegend fehlt es schon an der allgemeinen<br />

haftungsrechtlichen Voraussetzung <strong>des</strong> Schutzzweckzusammenhangs<br />

zwischen der möglicherweise verletzten Norm und dem materiellen<br />

Schaden.<br />

[30] In der Rechtsprechung <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>gerichtshofs ist es anerkannt,<br />

dass die Schadensersatzpflicht durch den Schutzzweck der Norm begrenzt<br />

wird. Dies gilt unabhängig davon, auf welche Bestimmung die Haftung<br />

gestützt wird. Eine Schadensersatzpflicht besteht nur, wenn die<br />

Folgen, für die Ersatz begehrt wird, aus dem Bereich der Gefahren<br />

stammen, zu deren Abwendung die verletzte Norm erlassen oder<br />

die verletzte vertragliche oder vorvertragliche Pflicht übernommen<br />

worden ist.<br />

[32] Die hier etwa verletzten Pflichten waren nach ihrem Zweck nicht<br />

darauf gerichtet, den Patienten vor wirtschaftlichen Belastungen, die<br />

mit seinem - wenn auch leidensbehafteten - Weiterleben verbunden<br />

waren, zu schützen.<br />

[33] Eine etwaige Verpflichtung eines Arztes, den Betreuer eines einwilligungsunfähigen<br />

Patienten darüber aufzuklären, dass ein Abbruch lebenserhaltender<br />

Maßnahmen in Betracht gezogen werden könnte, dient allein<br />

dem vom Betreuer wahrzunehmenden Selbstbestimmungsrecht <strong>des</strong><br />

Patienten. Die Pflicht, die medizinische Indikation für lebenserhaltende<br />

Maßnahmen nicht fehlerhaft zu bejahen, hat den Zweck, zu verhindern,<br />

dass der Sterbeprozess unnötig belastet wird. Zweck der genannten<br />

Pflichten ist es hingegen bei der gebotenen wertenden Betrachtung<br />

nicht, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben und den<br />

dem Leben anhaftenden krankheitsbedingten Leiden verbunden<br />

sind, zu verhindern. Insbesondere dienen die Pflichten nicht dazu,<br />

den Erben das Vermögen <strong>des</strong> Patienten möglichst ungeschmälert<br />

zu erhalten.<br />

Für die Ersatzfähigkeit dieses<br />

Schadens Prütting, ZfL 2018, 94, 102<br />

Der Schaden muss im Gefahrenabwehrbereich<br />

der verletzten Pflicht<br />

eingetreten sein.<br />

Sinn der Aufklärungspflicht<br />

Entscheidend: Die Aufklärungspflicht<br />

soll das Selbstbestimmungsrecht<br />

<strong>des</strong> Patienten schützen.<br />

Damit sind die vom Kläger geltend gemachten finanziellen Belastungen<br />

nicht ersatzfähig.<br />

B. Ergebnis<br />

K hat gegen B keinen Anspruch aus §§ 280 I, 249 I, 253 II BGB.<br />

FAZIT<br />

Das leidensbehaftete Weiterleben begründet keinen Schaden, weil es sich<br />

menschlicher Erkenntnis entzieht, ob es einen Nachteil gegenüber dem<br />

Tod darstellt. Die Aufklärungspflicht <strong>des</strong> Arztes gem. § 1901b BGB dient der<br />

Stärkung <strong>des</strong> Selbstbestimmungsrechts <strong>des</strong> Patienten und nicht der Abwehr<br />

finanzieller Einbußen der Erben.<br />

Entscheidend: Die Aufklärungspflicht<br />

soll helfen, das krankheitsbedingte<br />

Leiden abzuschätzen, damit<br />

der Patient eine selbstbestimmte<br />

<strong>Entscheidung</strong> treffen soll. Der Senat<br />

ist der Meinung, die Aufklärung<br />

soll nicht vor den wirtschaftlichen<br />

Folgen informieren. Insbesondere<br />

diene sie nicht dem Schutz der<br />

Erben vor finanziellen Einbußen.<br />

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