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Berliner Kurier 26.05.2019

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19<br />

Visite im staatlichen Krankenhaus Herat,vor dem<br />

morgens schon Schlangen vonMenschen stehen.<br />

wegung.“ Dass in Afghanistan<br />

alles in Bewegung ist, ist<br />

unübersehbar. Der jungen<br />

Bevölkerung werden mehr<br />

Möglichkeiten eingeräumt,<br />

sich und ihren Wünschen<br />

Ausdruck zu verleihen. Frauen<br />

als Fernsehmoderatorinnen<br />

sind heuteakzeptiert, bei<br />

Ehre-Problemen werden die<br />

Betroffenennicht mehr getötet,<br />

sondern ziehen in eine<br />

andere Provinz.<br />

Töchtern, die sich verliebt<br />

haben und mit ihren Auserwählten<br />

türmen, wird die<br />

Eheschließung gestattet. Immer<br />

öfter wird akzeptiert,<br />

wenn eine junge Frau in einer<br />

anderen Provinz oder im<br />

Ausland studieren will.<br />

Auch die Definition von<br />

Scham –etwas, das Afghanen<br />

noch schlimmer finden als<br />

den Tod – verändert sich.<br />

Kinder indie Schule gehen<br />

zu lassen, ist heute nichts<br />

Schamvolles mehr, und immer<br />

weniger, sich scheiden<br />

zu lassen oder die Tatsache,<br />

dass Frauen außerhalb des<br />

Hauses arbeiten oder andere<br />

Männer den Namen der Ehefrau<br />

wissen.<br />

Es gibt mehr und mehr Väter,die<br />

einer Selbstverwirklichung<br />

der Söhne und Töchter<br />

unterstützen.<br />

Junge Frauen inder Provinz<br />

Bamiyan spielen öffentlich<br />

Fußball oder fahren Fahrrad,<br />

Väter in der konservativen Provinz<br />

Paktia erlauben, dass ihre<br />

Töchterfotografiert werden.<br />

Der Wertewandel hat die<br />

Menschen aber nicht in gleicher<br />

Weise verändert. Die Gesellschaft<br />

ist heute stark polarisiert.<br />

Wer fragt, ob die modern<br />

Denkenden aktuell in der<br />

Überzahl sind oder die Konservativen,<br />

wird keine eindeutige<br />

Antwort erhalten.<br />

Die Liberalen sind vielmehr<br />

in den vergangenen Jahren<br />

noch moderner geworden, die<br />

Traditionalisten noch konservativer.<br />

Das ist in der Gesellschaft<br />

wie in der Politik zu beobachten.<br />

Die psychosozialen<br />

Berater und Psychologen im<br />

Land, deren Anzahl zu gering<br />

ist, genau wie die Gelder, die<br />

für diesen Bereich aufgewendet<br />

werden, tragen bei, was sie<br />

können,umzerbrochene Familienbeziehungenwieder<br />

zu kitten.<br />

Auf gesamtgesellschaftlicher<br />

Ebene gibt es aber niemanden,<br />

der sich um die Wiederherstellung<br />

des sozialen<br />

Zusammenhalts bemüht. Der<br />

Wertewandel und die Verän-<br />

Werheute<br />

in Kabul<br />

spazieren geht,<br />

sieht<br />

die Gegensätze.<br />

derungen, die<br />

über den Hindukusch<br />

und seine<br />

Menschen hereinbrachen<br />

wie<br />

eine Sturzflut,<br />

werden von Politikern<br />

nicht debattiert.<br />

In der vielfältigen afghanischen<br />

Medienlandschaft gibt<br />

es nur eine Fernsehserie, die<br />

sich dem Thema widmet. Ein<br />

gesellschaftlicher Diskurs darüber<br />

geht vor dem Hintergrund<br />

der sich verschlechternden<br />

Sicherheitslage, hoher<br />

Arbeitslosigkeit und Armut<br />

unter.<br />

Wer heute in Kabul spazieren<br />

geht, sieht die Gegensätze.<br />

Er sieht auf der Straße den<br />

Pferdekarren neben dem<br />

Mercedes,Fraueninder Burka<br />

ebenso wie Mädchen, die<br />

alleine zur Universität laufen.<br />

Er beobachtet, wie Menschen<br />

ihr Leben als eine Art<br />

täglichen Seiltanz<br />

absolvieren,<br />

inmitten<br />

des psychischen<br />

Drucks, den der<br />

Wertewandel<br />

mit sich bringt.<br />

Er liest Aufrufe,<br />

Studentinnen<br />

und Studenten doch wieder<br />

in getrennten Hörsälen zu<br />

unterrichten. Und er sieht in<br />

den Fernsehnachrichten, wie<br />

Pläne, die Schuluniform für<br />

Mädchen wieder traditioneller<br />

vorzuschreiben, abgeschmettert<br />

werden. Das alles<br />

ist Teil eines Ringens darum,<br />

welche traditionellen Werte<br />

mit in die Zukunft genommen<br />

werden sollen, welche zurückgelassen<br />

werden und<br />

welche neuen Werte die Gesellschaft<br />

akzeptiert.<br />

Eine Entschleunigung aber<br />

mag sich in Afghanistan keiner<br />

so recht vorstellen.<br />

Auf lange Sicht ist der Wandel<br />

nicht aufzuhalten.<br />

Die psychischen Probleme in<br />

dem kriegsgeplagten Land<br />

werden damit allerdings in naher<br />

Zukunft eher zu- als abnehmen.<br />

Und die Schlangen<br />

vor Herrn Noorzads Zimmer<br />

werden noch länger werden.<br />

Veronika Eschbacher<br />

Die Recherche wurde ermöglicht<br />

durch ein Global<br />

Health Reporting Grant des<br />

European Center for Journalism<br />

und der Bill and Melinda<br />

Gates Foundation.<br />

https://health-de.<br />

journalismgrants.org/

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