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Berliner Kurier 26.05.2019

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ren. Als sie damals in Kabul ankamen,<br />

hatten sie nichts. „Ein<br />

Freund hat während der Vorlesungen<br />

mit offenen Augen geschlafen<br />

–weil wir nie genug<br />

zu essen hatten. Aber Bildung<br />

war für uns das Wichtigste“,<br />

erinnert sich Binish.<br />

Es dauerte nicht lange, bis<br />

Philosophen wie Heidegger,<br />

Camus, Kant oder ihr iranischer<br />

Kollege Mustafa Malikian<br />

die Weltanschauung von Binish<br />

auf den Kopf stellten.<br />

Nächtelang sah er YouTube-<br />

Oft keine<br />

Akzeptanz<br />

bei<br />

konservativeren<br />

Familienmitgliedern<br />

Videos und las<br />

sich durch Stapel<br />

von Büchern,wie<br />

eine Sardine zwischen<br />

seinen fünf<br />

Zimmer-Mitbewohnernliegend.<br />

Heute, sagt er,<br />

glaube er nicht<br />

mehr an afghanische Traditionen,<br />

an Werte wie Ehre, Mut<br />

oder arrangierte Hochzeiten.<br />

Doch sein geistiges Erwachen<br />

führte nicht in die gewünschte<br />

Befreiung. Im Gegenteil,<br />

heute muss sich der junge<br />

Mann ständig verbiegen und<br />

selbst verleugnen. Der Wertewandel<br />

hat ihn von seinen Elternentfernt,<br />

die sehr konservativ<br />

sind. Sie haben keine gemeinsamen<br />

Gesprächsthemen<br />

mehr. „Meine Mutter weiß<br />

nichts von dem,was ich weiß“,<br />

sagt er. „Und meinem Vater<br />

kannich nicht sagen, woran ich<br />

wirklichglaube,und dasstresst<br />

mich sehr.“ Zu dem Stress<br />

kommt auch Angst. Mit seinen<br />

engstenFreunden<br />

führt der junge<br />

Mannregelmäßig<br />

Debattenüberdas<br />

Leben, die afghanische<br />

Kultur, sie<br />

feiern Partys. Was<br />

da geredet werde<br />

und geschehe,<br />

verlasse aber nie den Raum.<br />

„Wenn meine Eltern oder andere<br />

Menschen davon erfahren,<br />

werden sie sagen, wir müssen<br />

getötet werden.“<br />

Heute legt Binish öfter seine<br />

Bücher abends zur Seite und<br />

denkt darüber nach,obeseinfacher<br />

wäre, wieder konservativer<br />

zu sein. Denn auch mit seinen<br />

Onkeln undCousins hat er<br />

sich mittlerweile zerworfen:<br />

Dass er mit seinem Vater diskutiere<br />

und sichnicht dessen Entscheidungen<br />

beuge, sei für sie<br />

unakzeptabel. Doch Binish<br />

spürt auch, dass eine geistige<br />

Rolle rückwärts nicht der Ausweg<br />

sein kann. „Ich würde ständig<br />

innerlich mit mir kämpfen<br />

müssen.“<br />

Rohullah Amin kennt diese<br />

Probleme nur allzu gut. Der<br />

Arzt mit Therapieausbildung<br />

erzählt von vielen „verwirrten<br />

Seelen“, dieinden vergangenen<br />

Jahren in Kabul zu ihm in die<br />

Beratung kamen.<br />

Viele, die sichgeöffnet hätten<br />

für die neuen Werte, würden<br />

von konservativeren Familienmitgliedern,<br />

Studien- oder Arbeitskollegen<br />

nicht akzeptiert.<br />

Daher müsstensie jemand sein,<br />

der sie gerade nicht sind. „Dieses<br />

ständige Reisen zwischen<br />

diesen beiden Ichs, dem wahren<br />

Ich und dem gesellschaftlichenIch,<br />

produziert ein drittes<br />

Ich, das wirklich<br />

verwirrt ist und<br />

nicht mehr weiß,<br />

wer die Personeigentlich<br />

ist“, erklärt<br />

Amin.<br />

Die Menschen<br />

wüssten nicht<br />

mehr, woher sie<br />

kommen, und sie wüssten nicht,<br />

wohin sie wollen, sagtAmin. Sie<br />

würden Depressionen, Angstzustände<br />

und Traumata entwickeln.<br />

Und er sieht diese „An-<br />

„Unseren Frauen<br />

wurde gesagt:<br />

Erhebt euch,<br />

und alles wird gut“,<br />

sagt Amin.<br />

passungsschwierigkeiten“ als<br />

Resultat des beschleunigten<br />

Wachstums, das auchmit internationalen<br />

Geldern angefeuert<br />

wurde. „Manche von uns kommen<br />

mit der Geschwindigkeit<br />

des Wandels einfach nicht<br />

mehrmit.“<br />

Ein Beispiel des angefeuerten<br />

Wandelsseiendie massivenInvestitionen<br />

westlicher Geldgeber<br />

in Frauenrechte. „Unseren<br />

Frauen wurde gesagt: Erhebt<br />

euch, und alles wird gut“, sagt<br />

Amin. Alle hätten gedacht, dass<br />

mit diesen Programmen<br />

nur gebildete,<br />

ermächtigte,<br />

mutige<br />

Frauen geschaffen<br />

würden, die<br />

für ihre eigenen<br />

Rechte einstehen.<br />

„Es schuf aber eine<br />

Generation, die total verloren<br />

ist, abgeklemmt von den<br />

Werten, die in ihren Gemeinden<br />

und Familien hochgehalten<br />

werden“,sagt Amin.Eine unbeabsichtigte,<br />

aber erwartbare<br />

Folge war –wohl auch,weil mit<br />

den Männern praktisch nicht<br />

gearbeitet wurde –, dass Frauen,<br />

die zu Hause ihre Rechte<br />

einforderten, mit sozialer Ächtung<br />

bestraft wurden. Die Fami-<br />

Bitte umblättern <br />

„Meine Mutter weiß nichts vondem,was ichweiß“:<br />

Getrennte Generationen in der Provinz Bamiyan.<br />

Fotos: Veronika Eschbacher

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