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ren. Als sie damals in Kabul ankamen,<br />
hatten sie nichts. „Ein<br />
Freund hat während der Vorlesungen<br />
mit offenen Augen geschlafen<br />
–weil wir nie genug<br />
zu essen hatten. Aber Bildung<br />
war für uns das Wichtigste“,<br />
erinnert sich Binish.<br />
Es dauerte nicht lange, bis<br />
Philosophen wie Heidegger,<br />
Camus, Kant oder ihr iranischer<br />
Kollege Mustafa Malikian<br />
die Weltanschauung von Binish<br />
auf den Kopf stellten.<br />
Nächtelang sah er YouTube-<br />
Oft keine<br />
Akzeptanz<br />
bei<br />
konservativeren<br />
Familienmitgliedern<br />
Videos und las<br />
sich durch Stapel<br />
von Büchern,wie<br />
eine Sardine zwischen<br />
seinen fünf<br />
Zimmer-Mitbewohnernliegend.<br />
Heute, sagt er,<br />
glaube er nicht<br />
mehr an afghanische Traditionen,<br />
an Werte wie Ehre, Mut<br />
oder arrangierte Hochzeiten.<br />
Doch sein geistiges Erwachen<br />
führte nicht in die gewünschte<br />
Befreiung. Im Gegenteil,<br />
heute muss sich der junge<br />
Mann ständig verbiegen und<br />
selbst verleugnen. Der Wertewandel<br />
hat ihn von seinen Elternentfernt,<br />
die sehr konservativ<br />
sind. Sie haben keine gemeinsamen<br />
Gesprächsthemen<br />
mehr. „Meine Mutter weiß<br />
nichts von dem,was ich weiß“,<br />
sagt er. „Und meinem Vater<br />
kannich nicht sagen, woran ich<br />
wirklichglaube,und dasstresst<br />
mich sehr.“ Zu dem Stress<br />
kommt auch Angst. Mit seinen<br />
engstenFreunden<br />
führt der junge<br />
Mannregelmäßig<br />
Debattenüberdas<br />
Leben, die afghanische<br />
Kultur, sie<br />
feiern Partys. Was<br />
da geredet werde<br />
und geschehe,<br />
verlasse aber nie den Raum.<br />
„Wenn meine Eltern oder andere<br />
Menschen davon erfahren,<br />
werden sie sagen, wir müssen<br />
getötet werden.“<br />
Heute legt Binish öfter seine<br />
Bücher abends zur Seite und<br />
denkt darüber nach,obeseinfacher<br />
wäre, wieder konservativer<br />
zu sein. Denn auch mit seinen<br />
Onkeln undCousins hat er<br />
sich mittlerweile zerworfen:<br />
Dass er mit seinem Vater diskutiere<br />
und sichnicht dessen Entscheidungen<br />
beuge, sei für sie<br />
unakzeptabel. Doch Binish<br />
spürt auch, dass eine geistige<br />
Rolle rückwärts nicht der Ausweg<br />
sein kann. „Ich würde ständig<br />
innerlich mit mir kämpfen<br />
müssen.“<br />
Rohullah Amin kennt diese<br />
Probleme nur allzu gut. Der<br />
Arzt mit Therapieausbildung<br />
erzählt von vielen „verwirrten<br />
Seelen“, dieinden vergangenen<br />
Jahren in Kabul zu ihm in die<br />
Beratung kamen.<br />
Viele, die sichgeöffnet hätten<br />
für die neuen Werte, würden<br />
von konservativeren Familienmitgliedern,<br />
Studien- oder Arbeitskollegen<br />
nicht akzeptiert.<br />
Daher müsstensie jemand sein,<br />
der sie gerade nicht sind. „Dieses<br />
ständige Reisen zwischen<br />
diesen beiden Ichs, dem wahren<br />
Ich und dem gesellschaftlichenIch,<br />
produziert ein drittes<br />
Ich, das wirklich<br />
verwirrt ist und<br />
nicht mehr weiß,<br />
wer die Personeigentlich<br />
ist“, erklärt<br />
Amin.<br />
Die Menschen<br />
wüssten nicht<br />
mehr, woher sie<br />
kommen, und sie wüssten nicht,<br />
wohin sie wollen, sagtAmin. Sie<br />
würden Depressionen, Angstzustände<br />
und Traumata entwickeln.<br />
Und er sieht diese „An-<br />
„Unseren Frauen<br />
wurde gesagt:<br />
Erhebt euch,<br />
und alles wird gut“,<br />
sagt Amin.<br />
passungsschwierigkeiten“ als<br />
Resultat des beschleunigten<br />
Wachstums, das auchmit internationalen<br />
Geldern angefeuert<br />
wurde. „Manche von uns kommen<br />
mit der Geschwindigkeit<br />
des Wandels einfach nicht<br />
mehrmit.“<br />
Ein Beispiel des angefeuerten<br />
Wandelsseiendie massivenInvestitionen<br />
westlicher Geldgeber<br />
in Frauenrechte. „Unseren<br />
Frauen wurde gesagt: Erhebt<br />
euch, und alles wird gut“, sagt<br />
Amin. Alle hätten gedacht, dass<br />
mit diesen Programmen<br />
nur gebildete,<br />
ermächtigte,<br />
mutige<br />
Frauen geschaffen<br />
würden, die<br />
für ihre eigenen<br />
Rechte einstehen.<br />
„Es schuf aber eine<br />
Generation, die total verloren<br />
ist, abgeklemmt von den<br />
Werten, die in ihren Gemeinden<br />
und Familien hochgehalten<br />
werden“,sagt Amin.Eine unbeabsichtigte,<br />
aber erwartbare<br />
Folge war –wohl auch,weil mit<br />
den Männern praktisch nicht<br />
gearbeitet wurde –, dass Frauen,<br />
die zu Hause ihre Rechte<br />
einforderten, mit sozialer Ächtung<br />
bestraft wurden. Die Fami-<br />
Bitte umblättern <br />
„Meine Mutter weiß nichts vondem,was ichweiß“:<br />
Getrennte Generationen in der Provinz Bamiyan.<br />
Fotos: Veronika Eschbacher