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Berliner Kurier 26.05.2019

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BERLINER KURIER, Sonntag, 26. Mai 2019<br />

Seelen<br />

„Die Konflikte, die daraus erwachsen, dassjunge Menschen nicht mehr so leben wollen wie ihreEltern, werden von<br />

TagzuTag mehr“: Vorallem junge Menschen mit diesen Konflikten überfordert.<br />

zurückbesinnt, haben bald vierzig<br />

Jahre Krieg und Terror–erst<br />

der Widerstand der Mudschaheddin<br />

gegen den Einmarsch<br />

der Sowjets,danach der<br />

Bürgerkrieg und schließlich die<br />

Machtübernahme der radikalislamischen<br />

Taliban –die Afghanen<br />

in die Vormoderne zurückkatapultiert.<br />

Die Umwälzungender vergangenen<br />

Jahre führten bei manchen,<br />

vor allem bei Frauen und<br />

der jüngeren Generation, zu einer<br />

Befreiung. Viele andere erleben<br />

sie als Verunsicherung und<br />

Belastung, die ihnen Familienzerwürfnisse<br />

und Gewalt bescheren.<br />

Sie entwickeln psychische<br />

Probleme, die bis zum Suizid<br />

führenkönnen. Psychologen<br />

beschreibendie heutigeSituation<br />

als „absolutes Chaos“ –ein<br />

Chaos, das auch ein ernsthaftes<br />

Hemmnis für die Entwicklung<br />

des Landes insgesamt darstelle.<br />

Nicht zuletzt, weil es an ausreichender<br />

psychologischer Fürsorge<br />

fehlt.<br />

„Die Konflikte, die<br />

daraus erwachsen,<br />

dass junge Menschen<br />

nichtmehr<br />

so leben wollen<br />

wie ihre Eltern,<br />

werdenvon Tag<br />

zu Tag mehr“,<br />

sagt Psychologe<br />

Noorzad. Vor allem<br />

beim Thema Heirat<br />

sei dies ein Problem,<br />

mit dem er täglich zu<br />

tun habe. „Früher<br />

kannte die afghanische<br />

Gesellschaft<br />

ganz wenig Liebe“, erklärt<br />

Noorzad. Nicht<br />

miteinander verwandte<br />

Männer und<br />

Frauen waren räumlich praktisch<br />

ständig getrennt, es gab<br />

nicht die Möglichkeit, jemanden<br />

kennenzulernen. Heute aber<br />

seien die Menschen im Land<br />

freier, ihre Einstellungen<br />

hätten sich geändert,<br />

sagtNoorzad. Frauen<br />

könnten sich<br />

heute draußen<br />

bewegen, sich<br />

Männer ansehen,<br />

und umgekehrt.<br />

„Wenn meine Eltern<br />

erfahren, wovonwir<br />

reden und waswir<br />

tun, werden sie<br />

sagen, wir müssen<br />

getötet werden.“<br />

Hussein Binish, Student in Kabul<br />

Über Handys<br />

oder soziale Medien<br />

könnten sie Kontakt<br />

aufnehmen und<br />

einander kennenlernen.<br />

„Irgendwann<br />

verlieben sie sich“,<br />

sagt der Psychologe.<br />

„Doch meistens können<br />

sie diese Liebe<br />

nicht leben, sie ist unerreichbar.“<br />

Währendjunge Frauenindieser<br />

Atmosphäre Symptome von<br />

Depressionenund Suizidgedanken<br />

entwickeln, sind junge Männer<br />

stärker von selbstverletzendem<br />

Verhaltenbetroffen, erklärt<br />

Noorzad. Ob der offensichtlichen<br />

Unmöglichkeit, die eigene<br />

Zukunft zu gestalten, ziehen<br />

sich die jungen Leute in der Familie<br />

zurück. Oft verlieren sie<br />

das Interesse an ihrem Studium,<br />

an ihrer Entwicklung allgemein.<br />

MarwasGesichtist nicht<br />

eine Regung zu entnehmen bei<br />

der Frage, was sie denn inder<br />

Zukunft machen möchte.<br />

„Heech“sagt sie. Nichts.<br />

Auch Fareshta Quedees hat<br />

dieses „heech“ in den vergangenen<br />

Jahren ungezählte Male gehört.<br />

Die Psychologin und Leiterin<br />

des Psychosocial and Mental<br />

Health Centers blickt aus dem<br />

Fenster in den strahlendblauen<br />

Himmel über Kabul. Knapp<br />

überihr ziehenzwei amerikanische<br />

Kampfhubschrauber vorbei,unten<br />

auf der Straße warten<br />

Tagelöhner in ihren Schubkarren<br />

sitzend auf Auftraggeber.<br />

Der Hubschrauberlärm zwingt<br />

Quedees und ihre Dutzenden<br />

Mitarbeiter, psychosoziale Berater,<br />

ihre Gespräche kurz zu<br />

unterbrechen.<br />

Zwischen 400und 600 Klienten<br />

strömen jede Woche indie<br />

Klinik, die von der deutschen<br />

NGO Ipso betrieben wird. Mobile<br />

Teams des Zentrums fahren<br />

regelmäßiginFlüchtlingscamps<br />

inKabul,umdortBinnenvertriebene<br />

oder Rückkehrer zu betreuen.<br />

Direkt hinter Quedees<br />

sindvier schmucklose Boxen, in<br />

denen Berater per Videoanruf<br />

weitere Klienten auch aus abgelegenen<br />

Dörfern beraten.<br />

Das Zentrum verdeutlicht die<br />

Fortschritte, die Afghanistan in<br />

Sachen mentale Gesundheit in<br />

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