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Berliner Kurier 26.05.2019

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JOURNAL<br />

Verlorene<br />

Lange Zeit war Afghanistan von der Welt<br />

abgeschnitten. Die internationale Intervention und die<br />

Globalisierung spülten seit 2001 moderne Ideen in das<br />

erzkonservative Land –mit massiven Folgen für die<br />

psychische Gesundheit der Menschen<br />

Es sind lange<br />

Schlangen an<br />

diesem Spätfrühlingstag<br />

vor<br />

den schmalen<br />

Holztüren des<br />

staatlichen<br />

Krankenhauses Herat.<br />

Zahlreiche Menschen warten<br />

im Schatten einer Baumreihe<br />

vor dem Eingang in die psychiatrische<br />

Abteilung, andere lehnen<br />

mit ihren Schultern an den<br />

Wänden der blau gestrichenen<br />

Gänge vor den Ärztezimmern.<br />

Wieder andere umringen in<br />

den Krankenzimmern ihre Angehörigen,<br />

die unter schweren,<br />

braunen Wolldecken auf eng<br />

gestellten Stahlbetten liegen.<br />

Dazwischen huschen Männer<br />

und Frauen in weißen Kitteln<br />

über die Gänge.<br />

Einer von ihnen ist Wahid<br />

Noorzad, der stellvertretende<br />

Leiter der psychiatrischen<br />

Abteilung, die täglich<br />

rund 200 Menschen aus der<br />

ganzen Provinz aufsuchen. Er<br />

öffnet einer jungen Patientin<br />

die Tür zum Besprechungsraum;<br />

Marwa heißt sie. Üblicherweise<br />

finden hier Familientherapien<br />

Marwa:„Ich habe<br />

Tabletten genommen,<br />

dann Mäusegift<br />

gegessen, und ich<br />

sprang vomDach.“<br />

statt, seltener eine<br />

Einzelberatung.<br />

Als Marwa gedankenverloren<br />

ihre<br />

Hand ausstreckt,<br />

um mit den Blüten<br />

der Plastikblumen<br />

am Besprechungstisch<br />

zu spielen, rutscht<br />

der Ärmel ihres Mantels zurück<br />

und entblößt ihren linken Unterarm.<br />

Er ist übersät mit tiefen<br />

Schnitt- und Brandwunden.<br />

Die junge Frau zählt ihre bisherigen<br />

Suizid-Versuche im<br />

Stakkato-Ton auf. „Ichhabe Tabletten<br />

genommen, dann Mäusegift<br />

gegessen, und ich sprang<br />

vom Dach. Einmal habe ich mir<br />

auch die Pulsadern aufgeschnitten“,<br />

sagt sie und drehtweiteran<br />

einer roten Blüte. Im Vorjahr<br />

kam sie wöchentlichzur Individualberatung<br />

hierher, eine Zeit<br />

langarbeitetendie<br />

Berater auch mit<br />

ihrer Familie.<br />

Doch seit diese<br />

nicht mehr<br />

kommt, hat Marwa<br />

begonnen, sich<br />

zu ritzen. „Es gibt<br />

nur schlechte Tage“,sagt<br />

sie,legt ihreHand wieder<br />

in ihrenSchoß und zieht den<br />

Mantel zurück übers Handgelenk.<br />

Marwa hat sich in einen jungen<br />

Mann verliebt, doch ihre Familie<br />

erlaubt ihr nicht, ihn zu<br />

heiraten. Ihre Eltern wollen,der<br />

Tradition entsprechend, den<br />

Ehemann für ihreTochter selbst<br />

wählen. Noch vor weniger als<br />

zwanzig Jahren wurden arrangierte<br />

Ehen nur selten von den<br />

Kindern infrage gestellt. Wer<br />

sich bei älteren Frauen erkundigt,<br />

ob sie dennmit derWahlihrer<br />

Eltern zufrieden waren, erhält<br />

nur verständnislose Blicke.<br />

Oder Sätze wie: „Darüber habe<br />

ich noch nie nachgedacht.“<br />

Doch die jungen Afghanen<br />

haben begonnen, diesePraxis zu<br />

hinterfragen. Die Bereitschaft,<br />

sich dem Willen der Eltern zu<br />

fügen, ist gesunken, seitdem im<br />

afghanischen Fernsehen Bollywood-Filme<br />

und türkische Serien<br />

gezeigt werden, in denen<br />

selbstbewusste Hauptdarstellerinnen<br />

ihre Ehemänner selber<br />

wählen; am Ende siegt stets<br />

pompös die Liebe.<br />

Das gewandelte Verständnis<br />

von Partnerschaft und Liebe ist<br />

nur ein Aspekt der Modernisierung<br />

der vergangenen eineinhalb<br />

Dekaden in Afghanistan.<br />

Die rasche Öffnung des Landes<br />

nachdem Fall der Taliban durch<br />

die amerikanische Intervention<br />

im Jahr 2001 schleuderte die<br />

Menschen in eine neue, ihnen<br />

unbekannte Welt.<br />

Wennsie sichheute umsehen,<br />

finden sie sich umringt von modernen<br />

Ideen und alternativen<br />

Lebensbildern, die sich in Europa<br />

über Jahrzehnte, ja über<br />

Jahrhunderte entwickelt hatten.<br />

Und nicht nur die internationalen<br />

Truppen und westlichen<br />

Hilfsorganisationen brachten<br />

das alte Wertesystem ins Wanken,<br />

sondern auch Hunderttausende<br />

Flüchtlinge, die aus dem<br />

liberaleren Ausland zurückkehrten.<br />

Über viele Jahre davor hatte<br />

das Land sich genau gegensätzlich<br />

entwickelt. Weil sich der<br />

Mensch in Zeiten der Krise stets<br />

auf das Gelehrte und Bewährte

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