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JOURNAL<br />
Verlorene<br />
Lange Zeit war Afghanistan von der Welt<br />
abgeschnitten. Die internationale Intervention und die<br />
Globalisierung spülten seit 2001 moderne Ideen in das<br />
erzkonservative Land –mit massiven Folgen für die<br />
psychische Gesundheit der Menschen<br />
Es sind lange<br />
Schlangen an<br />
diesem Spätfrühlingstag<br />
vor<br />
den schmalen<br />
Holztüren des<br />
staatlichen<br />
Krankenhauses Herat.<br />
Zahlreiche Menschen warten<br />
im Schatten einer Baumreihe<br />
vor dem Eingang in die psychiatrische<br />
Abteilung, andere lehnen<br />
mit ihren Schultern an den<br />
Wänden der blau gestrichenen<br />
Gänge vor den Ärztezimmern.<br />
Wieder andere umringen in<br />
den Krankenzimmern ihre Angehörigen,<br />
die unter schweren,<br />
braunen Wolldecken auf eng<br />
gestellten Stahlbetten liegen.<br />
Dazwischen huschen Männer<br />
und Frauen in weißen Kitteln<br />
über die Gänge.<br />
Einer von ihnen ist Wahid<br />
Noorzad, der stellvertretende<br />
Leiter der psychiatrischen<br />
Abteilung, die täglich<br />
rund 200 Menschen aus der<br />
ganzen Provinz aufsuchen. Er<br />
öffnet einer jungen Patientin<br />
die Tür zum Besprechungsraum;<br />
Marwa heißt sie. Üblicherweise<br />
finden hier Familientherapien<br />
Marwa:„Ich habe<br />
Tabletten genommen,<br />
dann Mäusegift<br />
gegessen, und ich<br />
sprang vomDach.“<br />
statt, seltener eine<br />
Einzelberatung.<br />
Als Marwa gedankenverloren<br />
ihre<br />
Hand ausstreckt,<br />
um mit den Blüten<br />
der Plastikblumen<br />
am Besprechungstisch<br />
zu spielen, rutscht<br />
der Ärmel ihres Mantels zurück<br />
und entblößt ihren linken Unterarm.<br />
Er ist übersät mit tiefen<br />
Schnitt- und Brandwunden.<br />
Die junge Frau zählt ihre bisherigen<br />
Suizid-Versuche im<br />
Stakkato-Ton auf. „Ichhabe Tabletten<br />
genommen, dann Mäusegift<br />
gegessen, und ich sprang<br />
vom Dach. Einmal habe ich mir<br />
auch die Pulsadern aufgeschnitten“,<br />
sagt sie und drehtweiteran<br />
einer roten Blüte. Im Vorjahr<br />
kam sie wöchentlichzur Individualberatung<br />
hierher, eine Zeit<br />
langarbeitetendie<br />
Berater auch mit<br />
ihrer Familie.<br />
Doch seit diese<br />
nicht mehr<br />
kommt, hat Marwa<br />
begonnen, sich<br />
zu ritzen. „Es gibt<br />
nur schlechte Tage“,sagt<br />
sie,legt ihreHand wieder<br />
in ihrenSchoß und zieht den<br />
Mantel zurück übers Handgelenk.<br />
Marwa hat sich in einen jungen<br />
Mann verliebt, doch ihre Familie<br />
erlaubt ihr nicht, ihn zu<br />
heiraten. Ihre Eltern wollen,der<br />
Tradition entsprechend, den<br />
Ehemann für ihreTochter selbst<br />
wählen. Noch vor weniger als<br />
zwanzig Jahren wurden arrangierte<br />
Ehen nur selten von den<br />
Kindern infrage gestellt. Wer<br />
sich bei älteren Frauen erkundigt,<br />
ob sie dennmit derWahlihrer<br />
Eltern zufrieden waren, erhält<br />
nur verständnislose Blicke.<br />
Oder Sätze wie: „Darüber habe<br />
ich noch nie nachgedacht.“<br />
Doch die jungen Afghanen<br />
haben begonnen, diesePraxis zu<br />
hinterfragen. Die Bereitschaft,<br />
sich dem Willen der Eltern zu<br />
fügen, ist gesunken, seitdem im<br />
afghanischen Fernsehen Bollywood-Filme<br />
und türkische Serien<br />
gezeigt werden, in denen<br />
selbstbewusste Hauptdarstellerinnen<br />
ihre Ehemänner selber<br />
wählen; am Ende siegt stets<br />
pompös die Liebe.<br />
Das gewandelte Verständnis<br />
von Partnerschaft und Liebe ist<br />
nur ein Aspekt der Modernisierung<br />
der vergangenen eineinhalb<br />
Dekaden in Afghanistan.<br />
Die rasche Öffnung des Landes<br />
nachdem Fall der Taliban durch<br />
die amerikanische Intervention<br />
im Jahr 2001 schleuderte die<br />
Menschen in eine neue, ihnen<br />
unbekannte Welt.<br />
Wennsie sichheute umsehen,<br />
finden sie sich umringt von modernen<br />
Ideen und alternativen<br />
Lebensbildern, die sich in Europa<br />
über Jahrzehnte, ja über<br />
Jahrhunderte entwickelt hatten.<br />
Und nicht nur die internationalen<br />
Truppen und westlichen<br />
Hilfsorganisationen brachten<br />
das alte Wertesystem ins Wanken,<br />
sondern auch Hunderttausende<br />
Flüchtlinge, die aus dem<br />
liberaleren Ausland zurückkehrten.<br />
Über viele Jahre davor hatte<br />
das Land sich genau gegensätzlich<br />
entwickelt. Weil sich der<br />
Mensch in Zeiten der Krise stets<br />
auf das Gelehrte und Bewährte