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Sepp Kahn<br />
<strong>Waldluft</strong><br />
Roman<br />
WALDLUFT<br />
Roman<br />
1
2
Sepp Kahn<br />
<strong>Waldluft</strong><br />
Ein Roman<br />
3
Alle Rechte vorbehalten<br />
1. Auflage © Mai 2019<br />
Berenkamp Buch- und Kunstverlag<br />
Wattens<br />
www.berenkamp-verlag.at<br />
ISBN 978-3-85093-389-6<br />
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung<br />
des Amtes der Tiroler Landesregierung, Abteilung Kultur<br />
Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist<br />
zufällig und weder gewollt noch erwünscht.<br />
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in<br />
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische<br />
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.<br />
4
Der Totengräber machte Pause<br />
und gönnte sich ein Eis.<br />
Er aß es statt der Jause –<br />
da wurde ihm ganz heiß,<br />
es erfasste ihn ein Schauer,<br />
ein Schwindel folgte hinterher.<br />
Liegend fand ihn auf ein Bauer,<br />
doch er schnaufte schon nicht mehr!<br />
Sepp Kahn<br />
5
6
Der unvorstellbar spannenden<br />
Geschichte erster Teil<br />
Wie er büffelt!<br />
Er wischt sich mit der Rechten den Schweiß von der Stirn,<br />
und schon schaufelt er wieder. Erna steht in der Küche, schaut<br />
zum Fenster hinaus. Jetzt nimmt er den Pickel, arbeitet mit<br />
dem weiter. Waldemar hat sich total geändert, seit er im Ruhestand<br />
ist. Beamte gehen nicht in Rente, sie werden in den<br />
Ruhestand versetzt. Als Postenkommandant hat er früher<br />
mehr geistig zu tun gehabt, jetzt arbeitet er mehr körperlich.<br />
Er müsste allerdings nicht, und Erna findet es auch übertrieben,<br />
wie er sich ins Zeug legt. Einen Fischteich will er anlegen!<br />
Als er ihr das erste Mal davon erzählte, glaubte sie, jetzt spinnt<br />
er – und sie sagte ihm das auch. Er steckte es lächelnd weg.<br />
„Du wirst dann drunten sitzen und den Fischen zuschauen“,<br />
meinte er lachend. Das werde ich ganz sicher nicht, dachte sie<br />
und behielt es für sich.<br />
Herrgott na, die Putenschnitzel! Ziemlich braun sind sie, als<br />
sie sie umdreht. Aber sie sind noch dunkelbraun, gehen noch<br />
durch, man wird sie noch essen können. Den Salat dazu richtet<br />
sie nun her und wirft nebenbei immer wieder einen Blick<br />
aus dem Fenster.<br />
Einen blauen Overall hat er sich im Lagerhaus gekauft, und<br />
Gummistiefel. So ausgerüstet steht er nun im Wasser und arbeitet.<br />
Eigentlich primitiv, eine primitive Figur steht dort im<br />
Wasser und Schlamm, wie ein Bauer – so schaut ihr Waldemar<br />
aus. Nicht wie ein Beamter im Ruhestand. Das müsste wirklich<br />
nicht sein! Das muss sie ihm sagen! Ein bisschen höher<br />
steht Waldemar immer noch, wenn er auch in Pension ist!<br />
7
Die Schnitzel sind fertig, der Salat ist’s auch. Aus der Speisekammer<br />
holt sie die Preiselbeermarmelade und aus dem Keller<br />
den Wein. Sie öffnet das Fenster: „Waldemar!“ Er hört es<br />
nicht. Noch einmal: „Waldemar!“ Er schaut auf, dreht den<br />
Kopf in ihre Richtung. Sie deutet mit der Hand zum Mund. Er<br />
kennt sich aus, nickt. Sie reden oft, immer öfter mehr mit Gesten<br />
als mit Worten. Es wird noch ein bisschen dauern, bis er<br />
am Tisch sitzt. Er wird sich die Stiefel und den Overall vor der<br />
Haustür ausziehen, Waldemar hat Manieren. Das war nicht<br />
immer so. Sie hat ihm viel beibringen müssen. Und manchmal<br />
hat er auch heute noch seinen Sturschädel.<br />
Jetzt kommt er, sie hört die Haustür. Sie haben sich beide<br />
schon gut eingelebt im neuen Haus. Neu ist das Haus nicht,<br />
es ist sogar uralt, aber sie haben es renovieren lassen. Vor einem<br />
Jahr haben sie es gekauft vom alten Haselschmid. Der<br />
lebt im Altersheim, hat das Haus also nicht mehr gebraucht.<br />
Sein Sohn hätte es schon brauchen können, dem hat er es aber<br />
nicht gegeben. Die beiden leben im Krieg miteinander – schon<br />
länger. Auch andere Kaufinteressenten hätte es gegeben.<br />
„Erna, ich hätte doch einen kleinen Bagger anstellen sollen.“<br />
„Du hättest das Ganze gar nicht anfangen sollen!“<br />
„Schon wieder die gleiche Leier.“<br />
„Was hast du gesagt?“<br />
„Gut hast du gekocht.“ Aber zuerst hat er etwas anderes gesagt.<br />
Schweigend essen sie nun. „Pute“, sagt er nach einem<br />
Weilchen.<br />
„Ja, Pute. Passt etwas nicht?“<br />
„Alles in Ordnung!“ Dann steht er auf.<br />
„Was ist jetzt?“<br />
„Die Nachrichten!“ Er schaltet das Radio ein. „Herrgott na,<br />
schon vorbei! Dann stimmt aber die Uhr nicht.“<br />
Erna schaut auf ihre Armbanduhr, dann auf die Küchenuhr.<br />
Tatsächlich – die ist drei Minuten hinten. Wie er sie schon wieder<br />
anschaut! Vorwurfsvoll und merklich angefressen. „Ja,<br />
bin jetzt vielleicht ich schuld, dass die Uhr ein bisschen hinten<br />
ist?“<br />
8
„Nein, aber du bist für die Küche zuständig.“<br />
Langsam beginnt sie innerlich zu kochen, hält sich aber zurück.<br />
Was kann sie dafür, dass dieses altmodische Ding an der<br />
Wand nicht mehr ganz mitkommt mit der Zeit, die es anzeigen<br />
sollte?<br />
„Haben wir noch Wein?“<br />
Er hat sein Glas schon ausgetrunken, Erna hat es gar nicht<br />
bemerkt. Sie schenkt ihm nach. „Aber gegen den Durst solltest<br />
du ihn nicht trinken!“<br />
„So …“, brummt er nur.<br />
„Waldemar …“<br />
Er schaut sie fragend an.<br />
„Wie du da unten im Wasser gestanden bist …“<br />
„Ja? Und?“<br />
„… im Overall und in den Gummistiefeln …“<br />
„Ja? Und?“<br />
„Sag nicht immer Ja und!“<br />
„Nein.“ Er macht sich lustig über sie. Wortlos steht er auf,<br />
verlässt die Küche. Sein zweites Glas Wein ist noch fast voll.<br />
„Bist du fertig?“, ruft sie ihm nach.<br />
Sie kann abräumen, er kommt nicht mehr zurück an den<br />
Tisch. Sein Mittagsschläfchen wird er nun machen. Manchmal<br />
ist das Zusammenleben richtig schwierig mit ihm. Eintönig ist<br />
ihr Leben geworden, seit Waldemar in Pension ist. Sie werden<br />
kaum mehr eingeladen. Früher war Waldemar, der Herr Postenkommandant,<br />
bei jeder Feierlichkeit willkommen, meistens<br />
mit Gattin. Das ist nicht mehr so! Wenn sie nicht Beate,<br />
ihre Freundin, hätte, wäre es zeitweise direkt langweilig. Ein<br />
Hobby bräuchte sie, hat aber keins. Basteln oder stricken interessiert<br />
sie nicht, sporteln …, ja, sie gehen manchmal wandern.<br />
Aber auch das ist seltener geworden, seit Waldemar der<br />
Arbeitswahn befallen hat. Einen Fischteich! Wozu brauchen<br />
sie einen Fischteich? Zum Haus, das sie gekauft haben, gehört<br />
ein 2.000 Quadratmeter großer Obstanger, und durch den<br />
rinnt ein kleines Bächlein. Aber das muss man doch nicht<br />
aufstauen, um Fische einzusetzen! Aber wenn sich Waldemar<br />
9
etwas in den Kopf setzt! Im Frühjahr machen sie eine Schiffsreise<br />
– mit einem großen Traumschiff! Waldemar hat sich lang<br />
dagegen gewehrt; diese vielen Leute auf engstem Raum, und<br />
was das Ganze kostet, hat er immer wieder bemängelt, aber<br />
sie hat sich durchgesetzt. Wo käme sie hin, wenn sie immer<br />
nachgäbe? Nirgends!<br />
Vorsichtig öffnet sie die Wohnzimmertür einen Spalt. Ja, er<br />
liegt auf der Couch und schläft. Dieses Graben und Schöpfen<br />
im Wasser ist sicher anstrengend. Schon den vierten Tag ist er<br />
damit beschäftigt. Harte körperliche Arbeit ist er von früher<br />
her auch gar nicht gewohnt. Abends gibt er dann wenigstens<br />
Ruhe. Fast zu viel Ruhe herrscht bei ihnen nun im Bett. Aber<br />
wenn es sie wieder einmal wirklich gelüstet, dann lässt sich<br />
Waldemar schon „herrichten“. Sie muss halt ein wenig nachhelfen.<br />
Ihr Handy läutet.<br />
Erschrocken schließt sie die Tür. Es ist Gabriela. „Erna, vergiss<br />
nicht – heute Abend!“<br />
„Nein, nein, Gabriela, um sieben bin ich dort!“<br />
„Und iss davor nichts, ich hab’ eine Kleinigkeit …“<br />
„Ja, ich weiß, du verwöhnst uns immer. – Ja, ich richt’ es ihm<br />
aus. Ja, gut – also tschau.“<br />
Erna ist heute Abend zu einer Schmuckparty eingeladen.<br />
Sie werden ein bisschen früher essen – nein, sie soll ja nichts<br />
essen! Wird sie halt nur für Waldemar etwas … Was ist? Waldemar<br />
steht hinter ihr. „Ich hab’ dich gar nicht gehört. Bist du<br />
schon ausgeschlafen?!“<br />
„Nein, ich hab’ geträumt.“<br />
„So, du hast geträumt? Was hast du denn geträumt?“<br />
Ernst ist seine Miene, sein Blick. Er schaut nach oben. „Blut<br />
ist von der Decke getropft.“<br />
„Jetzt hörst aber auf!“<br />
„Du hast mich ja gefragt.“<br />
Ein Frösteln läuft ihr über den Rücken. Wie kann man denn<br />
so etwas träumen, zu Mittag? Unschlüssig steht er da, wischt<br />
sich über die Augen. Jetzt schaut er wieder nach oben. Denkt<br />
er immer noch an seinen Traum? Sie frägt aber nicht weiter<br />
10
nach. Er gähnt. „Ausgeschlafen bist du nun aber wirklich<br />
nicht.“<br />
„Nein. Ich geh’ jetzt eine Runde, dann werde ich schon munter.<br />
Gehst du mit?“<br />
„Nein, Waldemar, nein! Ich … abends muss ich ja zu Gabriela,<br />
sie gibt heute eine Schmuckparty.“<br />
„Oha, Schmuck …“, sagt er nur.<br />
„Ich kauf’ schon nichts, nur ein bisschen schauen.“<br />
„Ich weiß.“ Er geht sich umziehen.<br />
Soll sie doch mitgehen? Zeit hätte sie schon, aber … Nein, sie<br />
geht nicht mit! Die Wanderungen mit Waldemar arten gern zu<br />
Gewaltmärschen aus, die richtig müde machen. Sie will heute<br />
Abend aber länger munter bleiben.<br />
Er ist startklar. „Also, ich bin dahin.“<br />
„Komm nicht zu spät zum Kaffee!“<br />
Er brummt etwas.<br />
„Weil wir dann auch ein bisschen früher zu Abend essen.“<br />
„Wegen der Schmuckparty“, raunzt er, grinst schief und wirft<br />
die Tür hinter sich zu.<br />
gh<br />
Gehen tut ihm immer gut. Wohin will er denn heute überhaupt?<br />
Er geht einfach – hat kein bestimmtes Ziel. Erna tät’s<br />
wirklich nicht schaden, würde sie wenigstens das eine oder<br />
andere Mal mitmarschieren. Aber die Seine wird langsam faul<br />
– und schneller alt. Ihre Interessen bewegen sich mehr und<br />
mehr auseinander. Er mag es ruhiger, aber zeitweise arbeitet<br />
er richtig. Erna fehlen die Auftritte an seiner Seite, die sie früher<br />
so genossen hat. Hobby hat sie in ihrem ganzen bisherigen<br />
Leben keines gefunden, und arbeiten … na ja! Den Haushalt<br />
macht sie ordentlich, kocht auch gut, aber sonst? Er hat bei der<br />
Renovierung ihres neuen Hauses fest mitgeholfen, Erna nicht.<br />
Wenn die Handwerker Feierabend machten, hätte sie schon<br />
manchmal beim Aufräumen helfen können – er hat es immer<br />
ohne Murren gemacht.<br />
11
„Grüß Gott, Herr Inspektor!“ Neben ihm taucht plötzlich jemand<br />
auf. Der muss von hinten nachgekommen sein.<br />
„Grüß Gott!“ Er kennt den Mann nicht.<br />
„Du kennst mich nicht mehr, stimmt’s!?“<br />
Waldemar schaut den Mann an. „Nein, ich kenn’ dich tatsächlich<br />
nicht.“ Der Mann hat mit Du begonnen, also bleibt er<br />
dabei. „Aber du wirst mir sagen, wer du bist.“<br />
„Vielleicht schon; vielleicht nicht.“ Wortlos gehen sie nebeneinander<br />
weiter. „Drunten beim Liftparkplatz habt ihr mich<br />
abgepasst, damals.“<br />
„So?“<br />
„Du … und ein junger Schnösel.“<br />
Der Mann wird einer sein, den er früher einmal bestraft hat.<br />
Und sicher wird er es verdient haben.<br />
„Ich hab’ mir gedacht, dass ein Inspektor ein besseres Gedächtnis<br />
hätte.“<br />
„Ich bin kein Inspektor, ich bin Pensionist!“<br />
„Beim Düngen bin ich gewesen, mit dem alten Traktor.“<br />
„Der gar keine Nummerntafel hatte!“ Plötzlich weiß es Waldemar<br />
wieder.<br />
„Ja, genau! Wir kommen langsam zum Kern der Sache“,<br />
sagt der andere.<br />
„Wenn man auf einer Straße fährt, braucht jeder Traktor eine<br />
Nummerntafel.“<br />
„Mit dem alten Traktor bin ich ja nur auf dem Feld gefahren.<br />
Na ja, ein paar Meter auf der Straße, sonst wär’ ich ja nicht<br />
aufs Feld gekommen.“<br />
„Habe ich dich verwarnt?“<br />
„Ja, freilich – verwarnt! Angezeigt hast du mich. Bei der BH!<br />
Das hat mich ganz schön was gekostet!“<br />
Waldemar hat es satt, sich mit diesem Bauern über Vergangenes<br />
zu unterhalten. Er will wandern – in Ruhe und allein. Er<br />
biegt in einen Waldweg ein. „Unsere Wege trennen sich nun“,<br />
sagt er.<br />
„Nicht unbedingt. Ich hab’ Zeit; geh’ noch ein Stück mit dir.“<br />
Waldemar bleibt stehen.<br />
12
„Du schuldest mir nämlich noch etwas.“<br />
„So, was denn?“<br />
„300 Euro.“<br />
„300 Euro. Ich wüsste nicht warum!“<br />
„Die hab’ ich damals bezahlen müssen.“<br />
„Du glaubst doch nicht …?! Wie heißt du überhaupt?“<br />
„Du kannst Naz zu mir sagen.“<br />
Waldemar betrachtet den Mann. Glaubt der tatsächlich, von<br />
ihm den Betrag zu erhalten, den er damals als Strafe aufgebrummt<br />
bekommen hat? So eine Frechheit ist ihm noch nicht<br />
untergekommen!<br />
„Also …“, sagt der Mann fordernd. In seiner Rechten hält er<br />
etwas verborgen. Ganz langsam klappt er das Taschenmesser<br />
auf.<br />
Waldemar fühlt sich deshalb aber nicht bedroht. „Du kriegst<br />
von mir kein Geld, Naz.“<br />
Der Mann steckt das Messer wieder ein. „Du hast heute<br />
wahrscheinlich gar kein Geld mit, deshalb lasse ich dich noch<br />
einmal laufen. Aber das nächste Mal, wenn wir einander begegnen<br />
…!“ Der Mann entfernt sich langsam, geht den Weg<br />
zurück. Waldemar hört noch sein Lachen und spürt heftigen<br />
Schmerz, als er sich selbst in den Arm zwickt. Es ist kein Traum<br />
gewesen! Und die Drohung vom Naz nimmt er nicht ernst,<br />
hat wegen ihm allerdings die Richtung geändert. Der Waldweg,<br />
den er nun entlanggeht, ist ihm unbekannt. Die meisten<br />
Wege und Pfade in Unterhirschen sind ihm das nicht. Bergauf<br />
geht es nun im Wald. Er schaut auf die Uhr. Eigentlich sollte<br />
er umdrehen, sonst kommt er zu spät zum Kaffee. Plötzlich<br />
sind ihm Ernas Schimpftiraden egal. Er tanzt ja sonst genug<br />
nach ihrer Pfeife. Zwei Tage wird er noch brauchen, dann hat<br />
er die Arbeit am Fischteich beendet. Am Fischteich … er muss<br />
schmunzeln, das klingt gut. Aber von einem richtigen Fischteich<br />
ist seine Baustelle noch weit entfernt.<br />
Waldemar ist zufrieden. Sie wohnen in einem schönen, alten<br />
Haus, die Schulden sind überschaubar, auch gesundheitlich<br />
geht es ihnen gut. Die Wohnung in Linz hat er verkauft, um<br />
13
der Tochter finanziell ein wenig unter die Arme zu greifen,<br />
der Rest wurde ins neue Haus investiert. Er hat Glück gehabt,<br />
dass er dieses doch noch bekommen hat. Der Bankdirektor<br />
hätte es auch haben wollen. Hart auf hart ist es gegangen; seither<br />
grüßen sie einander nicht mehr. Aber das wird sich wieder<br />
einrenken – vielleicht. –<br />
Wo sitzt denn dieser Vogel? Er begleitet ihn schon ein Weilchen<br />
mit seinem Gesang. Ah, jetzt öffnet sich der Wald ein<br />
wenig. Waldemar sieht zwei Bauernhöfe auf der anderen Seite<br />
des Grabens. Er kennt sich wieder aus. Sonst sind sie allerdings<br />
auf dem Fahrweg auf der gegenüberliegenden Seite<br />
hinaufgewandert. Der Forstweg, auf dem er heute unterwegs<br />
ist, wird nur selten befahren. Weiter droben liegt noch ein kleiner<br />
Bauernhof; er ist sich nicht sicher, ob er noch bewohnt ist.<br />
Halb drei. Waldemar gönnt sich eine kleine Verschnaufpause.<br />
Zu einer Schmuckparty geht Erna heute Abend. Das kann<br />
sie ruhig machen, er hat nichts dagegen. Er wird fernsehen –<br />
genau das, was er sehen will. Sie haben nur einen Fernseher,<br />
und das wird auch so bleiben. Obwohl er dadurch auf manche<br />
Sendung verzichten muss. Aber Waldemar liest auch gern.<br />
Er setzt sich wieder in Bewegung – und zwar bergauf. Er ist<br />
jetzt in der Verfassung, noch weiter hinaufzuwandern, auf der<br />
anderen Seite wird er dann talwärts marschieren. Diese gute,<br />
würzige <strong>Waldluft</strong> genießt er. Nie würde er in einer Stadt wohnen<br />
wollen; früher hätte ihm das nichts ausgemacht. Heute<br />
schon! Schon allein wegen der Luft, und dann noch der ständige<br />
Lärm.<br />
Sie haben es gut getroffen. Erna ist allerdings oft unzufrieden.<br />
Manchmal weiß sie aber wohl selber nicht warum. Eine<br />
kleine Sorge plagt ihn allerdings seit kurzem: Valerie, die Tochter.<br />
Deren Zusammenleben mit Ingomar scheint Risse bekommen<br />
zu haben. Bei ihrem letzten Besuch hat er das deutlich<br />
gespürt. Erna nicht! „Das bildest du dir bloß ein,“ hat sie gemeint,<br />
als er sie auf der Heimfahrt darauf angesprochen hat.<br />
Waldemar wünscht, dass dem so wäre. Valeries hilfesuchender<br />
Blick beim Abschied … Er hat sich mit seiner Tochter im-<br />
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mer gut verstanden, Erna weniger. Wahrscheinlich sind die<br />
Reibeflächen zwischen Mutter und Tochter größer. Nun hat er<br />
das Gefühl, sie beschützen zu müssen.<br />
Das Kopfweh nach dem kurzen Mittagsschläfchen ist völlig<br />
verflogen, Waldemar fühlt sich gut. So eine Wanderung durch<br />
den Wald hätte auch Erna gutgetan. Aber wenn sie nicht will?!<br />
Waldemars Gedanken kehren wieder zu diesem Naz zurück.<br />
Hat der ihm aufgelauert, oder sind sie nur zufällig zusammengetroffen?<br />
Dass er ihn nicht kommen gehört hat, gibt ihm<br />
zu denken. Sind seine Sinne schon so abgestumpft, hat sein<br />
Gehör nachgelassen? Plötzlich erinnert er sich daran, wie er<br />
damals den Traktor vom Naz kontrollierte, ganz genau kann<br />
er sich daran erinnern. Es fehlte ja nicht nur die Nummerntafel,<br />
auch sonst das Meiste. Kein Rückspiegel, der Scheibenwischer<br />
abgebrochen, die Lichter ohne Funktion … Er fahre damit<br />
ja nur auf dem Feld, rechtfertigte sich Naz. Wenn dies so<br />
gewesen wäre, wäre er auch nicht eingeschritten, aber Naz ist<br />
mit dem Vehikel auch ein Stück auf der Straße gefahren. Und<br />
wie sich der damals verteidigte: Scheibenwischer brauche er<br />
keinen, weil er nur bei trockenem Wetter fahre, und weil er<br />
in der Nacht auch nicht fahre, sei auch die Beleuchtung nicht<br />
notwendig. Für alles und jedes hatte Naz eine Ausrede parat.<br />
Oha! Er ist nicht mehr allein!<br />
„Guter Mann! Sagen Sie mal, wie lange braucht man noch<br />
bis hinunter ins Dorf? Susanne hat sich den Knöchel verstaucht<br />
– oder so.“ Deutsche! Deutsche Wanderer!<br />
„Eine halbe Stunde – oder so“, gibt Waldemar bereitwillig<br />
Auskunft. Ja, die Frau hinkt ein klein wenig, aber ganz so arg<br />
wird es nicht sein. Sie bedanken sich und gehen Richtung Tal.<br />
Unterhirschen hat sich gut entwickelt, auch dank der Touristen.<br />
Das Dorf ist nicht überlaufen, aber gar nicht wenige<br />
verdienen durch den Fremdenverkehr. Im Sommer mehr als<br />
im Winter. Das Dorf hat keinen eigenen Lift und ist auch an<br />
kein Großschigebiet angeschlossen. In Unterhirschen wird<br />
der Langlauf propagiert und auch gut angenommen. Wenn<br />
es Schnee hat! Früher oder später schneit es immer wieder –<br />
15
trotz Klimawandels. Und im Sommer wird halt gewandert<br />
oder mit dem Rad gefahren.<br />
Seit Waldemar in Pension ist, sieht er manches anders. Früher<br />
hat er als Postenkommandant handeln, manche auch bestrafen<br />
müssen wegen kleinerer oder größerer Vergehen. Sie<br />
sind schon ein wenig verschlagen, undurchschaubar, die 1.400<br />
Einwohner von Unterhirschen. Trotzdem lebt er gern dort.<br />
Was ist das jetzt gewesen? Ein undefinierbarer Laut. Nicht<br />
Mensch, nicht Tier. Waldemar blickt sich um, entdeckt aber<br />
nichts. Also geht er weiter. Dass sich damals zuletzt alles derart<br />
heftig entwickelte und so blutig endete – immer wieder<br />
kommt es ihm in den Sinn. Hätte er es verhindern können?<br />
Wohl nicht. Danach suchte er sofort um seine Pensionierung<br />
an. Der Neue macht es inzwischen auch recht gut. Anfangs<br />
ging er dann manchmal noch vormittags …, auch neulich<br />
stand er vor dem Gebäude, in dem er früher gearbeitet hat.<br />
Aber betreten hat er es nie mehr.<br />
„Sie können schwer loslassen, Herr Waldemar“, hat ihn der<br />
Bürgermeister einmal darauf angesprochen.<br />
„Nein, nein“, hat er entgegnet, „aber meine Beine haben<br />
mich einfach hergetragen.“<br />
Mit dem Bürgermeister hat er sich immer gut verstanden. Es<br />
traten ihm aber nicht alle so offen gegenüber. Manche reden<br />
ihn heute noch mit „Herr Postenkommandant“ an. Bei den<br />
meisten weiß er, dass es nicht respektvoll gemeint ist.<br />
Ah, da hat ein Bauer Holz geschlägert. Viele Baumstämme<br />
liegen gestapelt neben dem Weg und warten auf den Abtransport.<br />
Fichtenholz, dazwischen ein paar Tannen. Intensiv ist<br />
der Geruch des frisch geschlägerten Holzes.<br />
Waldemar bleibt stehen, tut, was er schon lang nicht mehr<br />
getan hat: Er zählt die Jahresringe eines Baumstamms. Mit<br />
dem Zeigefinger der linken Hand fährt er langsam von außen<br />
nach innen. So ist das Zählen leichter. Er hätte die Brille<br />
mitnehmen sollen. Er zählt leise. Bei 86 erreicht sein Finger<br />
den Kern. Vielleicht hat er sich um ein, zwei Ringe<br />
verzählt, stellenweise stehen sie sehr eng nebeneinander; aber<br />
16
zwischen 80 und 90 Jahre war dieser Baum alt. Ein Menschenalter!<br />
Er weiß nicht, ob er schnell oder langsam gewachsen ist,<br />
dazu ist er zu wenig Fachmann, aber interessant ist es allemal.<br />
86 Jahre …, das muss er Erna erzählen. Die wird sowieso sauer<br />
sein, wenn er so spät heimkommt. Genüsslich saugt er die<br />
<strong>Waldluft</strong> ein.<br />
gh<br />
„Das hast du wirklich gesagt zu ihm?“<br />
„Ja, wenn ich sage. Dann hab’ ich noch das Taschenmesser<br />
aus dem Sack geholt. Da hat er richtig zu zittern begonnen.“<br />
„Naz, da hast du dich aber was getraut.“<br />
„Wenn wir uns das nächste Mal treffen, hab’ ich gesagt,<br />
„will ich die 300 Euro, sonst geht es dir schlecht, Waldi. Da<br />
hat’s ihm richtig die Sprache verschlagen.“<br />
„Du bist ein wilder Hund, Naz!“ Alle stimmen zu.<br />
Gerti, die Kellnerin, stellt eine Runde Bier auf den Tisch.<br />
„Vom Konrad“, sagt sie. Alle schauen auf. „Vom Konrad?“,<br />
staunen sie ungläubig. Dann sehen sie ihn. In der vorderen<br />
Gaststube draußen sitzt er, nahezu am Durchgang.<br />
„Warum zahlt uns Konrad ein Bier, der gönnt sich doch selber<br />
kaum einmal eins?“ Hans.<br />
Konrad schaut beim Durchgang herein. Hebt sein Bierglas.<br />
Sie tun das Gleiche.<br />
„Ich hab’ den Waldi ja nur zufällig getroffen, und das mit<br />
den 300 Euro ist mir spontan eingefallen. Aber die hat es mich<br />
damals gekostet.“<br />
„Du bist aber noch gut davongekommen damals mit deinem<br />
alten Schnarcher, an dem nichts dran ist und nichts funktioniert.“<br />
„Na ja, viel hat wirklich nicht funktioniert“, schmunzelt Naz.<br />
„Aber ich bin auch nur 15 Meter auf der Straße gefahren.“<br />
„Immerhin. Wenn du einen Unfall gehabt hättest, würdest<br />
du heute nicht hier sitzen.“<br />
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„Du hast recht, Hans. Lang werd’ ich sowieso nicht bleiben<br />
heute, muss zur Meinen heim.“<br />
„Oha, du musst heim? Hat sie dir die Schneid abgekauft?“<br />
Gelächter.<br />
„Seid still, ihr wisst genau, dass ich der Herr im Haus bin.<br />
Doris geht zu einer … zu einer solchen Party.“<br />
„Zu einer Party? Doris allein?“<br />
„Was? Zu einer Tupper-Party will sie?“<br />
„Nein. Doris geht zu einer Schmuckparty. Gabriela hat sie<br />
eingeladen.“<br />
„Aha, und dort treffen sich nur Auserwählte, oder was?“<br />
„Die Meine geht auch.“ Alfons.<br />
„Und ihr müsst daheim auf die Kleinen aufpassen, während<br />
sich eure Frauen vergnügen, ha ha …“, lacht Hans.<br />
„So klein ist unser Diktl gar nicht mehr. Wir werden etwas<br />
spielen oder fernsehen. Gerti, ein schnelles Bier geht noch!“<br />
Die Stimmung ist gut im Gasthof „Zur alten Brücke.“ Die<br />
sechs Männer am Stammtisch haben Gesprächsstoff genug.<br />
Nicht nur wegen dieser Schmuckparty, zu der einige Frauen<br />
gehen werden.<br />
„Naz, wenn euer Diktl schon so groß ist, kann er doch allein<br />
auch fernsehen.“<br />
„Ja und …?“<br />
„Du könntest danach wieder kommen.“<br />
Naz überlegt. „Nein, Doris würde mich in der Luft zerreißen,<br />
wenn ich nicht zu Hause wär’, wenn sie heimkommt.“<br />
„Ich hab’ geglaubt, du bist der Herr im Haus?“<br />
„Das bin ich auch, aber …“<br />
„Geh heim und räum dem Kleinen die Hose aus, Naz!“<br />
„Herrgott na, halt dein loses Maul!“ Naz steht auf, er wird<br />
jetzt gehen. Er muss sich beherrschen, steckt die Fäuste in die<br />
Hosentaschen. Ich beherrsche mich, denkt er und geht zur<br />
Theke. „Gerti, zahlen!“ Einmal hat er sich nicht beherrschen<br />
können. Das ist schon ein Weilchen her. Eine „Bedingte“ hat er<br />
damals gekriegt. Die läuft erst nächstes Jahr ab. Er muss also<br />
aufpassen, gut aufpassen und sich nicht provozieren lassen.<br />
18
Hans kommt, lehnt sich neben ihn an die Theke. „Naz,<br />
ich hab’s nicht so gemeint, komm, wir trinken noch einen<br />
Schnaps.“<br />
„Nein, trinken wir nicht!“<br />
„Komm, nur einen!“<br />
„Ich bin mit dem Auto da.“<br />
„Wir sind alle mit dem Auto da! – Gerti, zwei Schnaps für<br />
Naz und mich.“<br />
„Einen Willi, Naz, oder?“<br />
Naz nickt. Beide setzen sich auf einen Hocker. „Dass du dem<br />
alten Waldi heute richtig deine Meinung gesagt hast – Naz,<br />
das rechne ich dir hoch an. Der hat es verdient, aber keiner<br />
von uns hätte sich das getraut.“<br />
„Weil ihr alle Hosenscheißer seid.“<br />
Beide schmunzeln. Wegen diesem Begriff hat ihr Streit zuerst<br />
angefangen.<br />
„Prost, Hans!“<br />
„Prost, Naz!“ In einem Zug kippen sie den Williams.<br />
„Komm, Naz, du hat dein Bier noch gar nicht ausgetrunken!“<br />
Beide setzen sich wieder an den Stammtisch. Peter hat seinen<br />
Arbeitsplatz verloren. Er hat drunten beim Schmied gearbeitet.<br />
Und der sperrt jetzt zu. Der Alte geht in Pension, und<br />
der Junge hat nicht weitermachen wollen. Einerseits auch verständlich.<br />
In jedem Baumarkt kriegst du heutzutage alles. „Vielleicht<br />
mach’ ich ein Museum aus der alten Schmiede“, hat der<br />
alte Schmied gesagt.<br />
„Schau nicht so, Peter“, meint Hans, „ich zahl’ die nächste<br />
Halbe. Gerti, noch zwei Bier!“<br />
Das Gespräch plätschert dahin. Plötzlich schauen alle auf,<br />
zwei Fremde betreten die Gaststube, ein Mann und eine Frau.<br />
Die Frau hinkt ein wenig. Sie setzen sich an einen freien Tisch.<br />
Gerti bringt die Speisekarte. Kurz darauf klärt sich eine brennende<br />
Frage von selbst: Es sind Deutsche! Sie haben miteinander<br />
gesprochen, und da merkt man das gleich.<br />
19
Die sechs Einheimischen widmen sich wieder ihren Themen.<br />
„Der Nuckler hat das neue Haus bald fertig“, weiß Hans.<br />
„Eine Versicherung und ein Zahnarzt kommen hinein.“<br />
„Woher hat der überhaupt so viel Geld?“, wundern sie sich.<br />
„Die Seine hat eine halbe Million geerbt“, weiß Fritz.<br />
„Von wem geerbt?“<br />
„Von wem wohl? Von ihrem Vater. Der hat uns doch alle<br />
ausgenommen.“<br />
„Wie meinst du das?“<br />
„Sie ist doch die Tochter vom Notar.“<br />
„Ja, genau …“ Langsam dämmert allen alles.<br />
„Ja, der hat ordentlich zugelangt.“<br />
„Für jeden Beistrich hat er einen Tausender kassiert.“<br />
„Das habe ich bei der Übergabe gesehen.“ Hans.<br />
Naz trinkt den letzten Schluck Bier. „Männer, ich muss euch<br />
verlassen.“<br />
„Kommst du nachher wieder?“<br />
„Nein, ich glaube nicht.“ Unsicheren Schritts verlässt er die<br />
Wirtschaft. Es wäre schön gewesen zu bleiben, aber er hat<br />
Doris versprochen, um halb sieben daheim zu sein. „Blöde<br />
Party“, brummt er vor sich hin. Er spürt Regentropfen, als<br />
er zum Auto geht. Dann fällt ihm der Autoschlüssel aus der<br />
Hand. Nach dem Bücken und Aufklauben ist ihm ein bisschen<br />
schwindlig. Naz lehnt sich ans Auto. Er hat einen zu niedrigen<br />
Blutdruck, hat der Doktor gesagt. Es fehle nicht weit, aber ein<br />
bisschen doch. „Da kann es passieren, dass du manchmal ein<br />
leichtes Schwindelgefühl spürst.“ Jetzt spürt Naz ein solches.<br />
Vielleicht sollte er die Tabletten nehmen, die ihm der Doktor<br />
verschrieben hat. Doch während er das denkt, ist der Schwindel<br />
dahin. Er steigt ein und startet seinen Suzuki. Vorsichtig<br />
parkt er rückwärts aus, steuert dann heimzu. Doris wird sich<br />
freuen, wenn sie zu dieser Party gehen kann. Er gönnt ihr das.<br />
Es ist eine Abwechslung für sie. Sie müssen sparen. Hoffentlich<br />
vergisst sie das bei der Party nicht.<br />
gh<br />
20
Erna ist wütend. Es ist schon fünf nach halb sieben. Und<br />
Waldemar ist noch nicht da. Dass er zum Kaffee nicht erschienen<br />
ist, könnte sie ihm ja noch verzeihen, aber jetzt …, ein<br />
paar Minuten wird sie noch warten, dann geht sie zu Gabriela<br />
zur Schmuckparty. Wo ist er denn heute wieder hingegangen?<br />
Manchmal macht er Wanderungen – endlose und sinnlose.<br />
Was bringt’s, stundenlang im Wald herumzulaufen? Dann hat<br />
er auch noch das Handy daheim liegen gelassen, der Tro…<br />
Nein, Trottel ist ihr Waldemar keiner – aber sie hat Apfelnocken<br />
gemacht für ihn. Sie ist ja dann bei Gabriela. Waldemar<br />
liebt Apfelnocken. Sie braucht sie nur noch herauszubacken.<br />
Aber das geht schnell.<br />
Herrgott na, es ist schon gleich drei Viertel. Sie muss … –<br />
und wenn ihm etwas passiert ist? Nein, das befürchtet sie<br />
nicht. Waldemar ist gesundheitlich gut beisammen, und stark<br />
ist er auch. Er ließe sich nicht leicht überwältigen. Im Übrigen<br />
läuft in Unterhirschen auch kein solches Gesindel herum, dass<br />
man sich fürchten müsste. Jetzt weiß sie – Erna schaltet die<br />
Herdplatte ein. Sie wird die Apfelnocken herausbacken und<br />
sie dann ins Rohr stellen. Sie schaltet auf die niedrige Stufe<br />
und kritzelt ihrem Waldemar ein paar Worte auf einen Zettel.<br />
Das macht sie sofort, die Platte braucht sowieso ein paar Minuten.<br />
„Waldemar, bin bei Gabriela. Das Essen steht im Rohr.<br />
Erna!“ Hätte sie …, nein, das passt schon so. Beinahe hätte sie<br />
„Lieber Waldemar“ geschrieben, aber das verdient er heute<br />
nicht. Er ist zu ihr auch nicht lieb.<br />
Was er nur so lang macht?<br />
Wahrscheinlich hat er einen Bekannten getroffen. Und jetzt<br />
sitzen sie beim Wirt und vergessen die Zeit. So, einmal umdrehen<br />
die vier Apfelnocken. Zehn vor sieben – sie nimmt dann<br />
das Auto, sonst wäre sie das kurze Stück zu Fuß gegangen.<br />
Sie legt die fertige Speise auf einen Teller und schiebt ihn ins<br />
Rohr. Noch schnell etwas anderes anziehen, dann ist sie weg.<br />
Ein paar Minuten wird sie schon noch brauchen. Aber das<br />
macht nichts, die anderen kommen sicher auch nicht pünktlich.<br />
Erna zieht die neue beige Hose an.<br />
21
In Unterhirschen ist’s plötzlich vorbei mit der Beschaulichkeit. Waldemar,<br />
der Kommandant der Polizeistation, ist in Pension gegangen und hat als<br />
Alterssitz ein kleines Haus erworben, das auch der Bankdirektor gern gekauft<br />
hätte. Liegt darin der Grund für das Unheil, das plötzlich über den ganzen<br />
Ort hereinbricht? Als Waldemar abends die gewohnte Wanderung durch<br />
die umliegenden Wälder machen will, ärgert er sich über seine Frau: Sie geht<br />
dieses Mal nicht mit, weil sie angeblich auf eine Schmuckparty muss. Also<br />
geht er allein und wird im Wald von Naz, den er früher einmal mit einem<br />
angeblich ungerechten Organmandat bestraft hat, mit einem Messer bedroht<br />
– und verschwindet spurlos. Erna, Waldemars Frau, ist entsetzt: Der neue<br />
Polizeikommandant behauptet, die Vermisstenanzeige erst nach 48 Stunden<br />
annehmen und die Suche nach dem Abgängigen beginnen zu können. Verzweifelt<br />
macht sie sich selbst auf die Suche nach dem Gatten.<br />
Und dann überschlagen sich die Ereignisse: Zwei Tage nach Waldemars Verschwinden<br />
wird Naz von der Polizei einvernommen und läuft danach blindlings<br />
in ein Lastauto. Am nächsten Tag bleibt die Bank geschlossen, weil der<br />
Direktor unauffindbar ist. Rätselhafte Schicksalsschläge treffen auch den<br />
Schuldirektor, den Brückenwirt und den Pfarrer. Es gibt viel zu tun für die<br />
Kripo und die Dorfgemeinschaft, bis alles geklärt ist und der Tourismusverband<br />
mit würziger Unterhirschner <strong>Waldluft</strong> in Fläschchen eine neue Werbekampagne<br />
beginnen kann.<br />
Kahns Roman ist spannungsgeladen und voller Überraschungen – ein wahres<br />
Lesevergnügen: ein „echter Kahn“ eben.<br />
Sepp Kahn, 1952 im Nordtiroler Hopfgarten geboren,<br />
musste früh in der Landwirtschaft mit anpacken und<br />
übernahm 1976 den „Oslhof “ seiner Eltern. Sepp Kahn<br />
ist verheiratet und Vater von fünf Kindern – und mit Begeisterung<br />
Großvater. Im Alter von 28 Jahren begann er<br />
zu schreiben: zuerst Mundartgedichte, dann Erzählungen<br />
und Theaterstücke. Seine Kurzprosa hat ihn schließlich<br />
über die Grenzen Tirols bekannt gemacht; sie ist Ergebnis<br />
seiner Beobachtungen und Ausdruck seiner Liebe zur<br />
Heimat und deren Menschen; sie stimmt nachdenklich,<br />
strapaziert aber gleichzeitig die Lachmuskeln.<br />
ISBN: 978-3-85093-389-6<br />
www.berenkamp-verlag.at<br />
22<br />
www.kraftplatzl.com