ZAP-2019-08
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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
8 <strong>2019</strong><br />
17. April<br />
31. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />
BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />
Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert<br />
P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />
Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />
} Mit dem <strong>ZAP</strong> Buchreport<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
Zeit für Recht oder: Verfahrensdauer als Kampfmittel (S. 373)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Auslandsdienstreisen von Anwälten bald einfacher (S. 376) • EU‐Parlament beschließt<br />
Verbandsklage (S. 377) • Pläne zur Begrenzung von Vertragslaufzeiten (S. 379)<br />
Aufsätze<br />
Sachenbacher, Kindeswohl: Definition und rechtliche Einordnung (S. 395)<br />
Maaß, Urlaubsrecht: Aktuelle Hinweise für die anwaltliche Mandatspraxis (S. 399)<br />
Gatz, Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO (S. 407)<br />
Eilnachrichten<br />
EuGH: Widerrufsrecht beim Online-Kauf einer Matratze (S. 389)<br />
BVerfG: Erreichbarkeit des richterlichen Bereitschaftsdienstes (S. 394)<br />
BGH: Fristenkontrolle bei Führung eines elektronischen Fristenkalenders (S. 394)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 373–374<br />
Anwaltsmagazin – – 375–380<br />
Buchreport – – 381–388<br />
Eilnachrichten 1 59–64 389–394<br />
Sachenbacher, Kindeswohl: Definition, rechtliche<br />
Einordnung, Kontrolle der Ermessensausübung,<br />
Wechselmodell und Hinweise für die Anwaltspraxis 11 1485–1488 395–398<br />
Maaß, Urlaubsrecht: Aktuelle Hinweise für die<br />
anwaltliche Mandatspraxis 17 1359–1366 399–406<br />
Gatz, Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO 19 905–916 407–418<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />
Gelsenkirchen • RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert,<br />
Düsseldorf • Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald,<br />
Vallendar • RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA<br />
Dr. Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst,<br />
Hannover/Solingen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund<br />
• RA Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn •<br />
RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />
Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RiOLG a.D. Heinrich Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr.<br />
Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt, Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />
PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />
RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
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ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />
Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />
service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Peggy von<br />
Schoenebeck – Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
Zeit für Recht oder: Verfahrensdauer als Kampfmittel<br />
Justiz an der Belastungsgrenze – so lautete Anfang<br />
des Jahres eine gängige Schlagzeile (u.a. <strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin 2/<strong>2019</strong>, S. 54) und das gilt wohl<br />
insbesondere für Verwaltungsgerichte, die u.a.<br />
wegen der Vielzahl von Asylverfahren völlig „am<br />
Anschlag“ sind.<br />
Hierzu zwei persönliche Beispiele: Die Studienplatzklage<br />
meiner Tochter dauerte so lange, dass<br />
der mit einstweiligem Rechtsschutz verfolgte<br />
Anspruch wegen Zeitablaufs über zwei Semester<br />
nicht mehr realisiert werden konnte. Und eine<br />
Klage gegen eine Regelbeurteilung dauert inzwischen,<br />
einschließlich Verwaltungsverfahren,<br />
deutlich über drei Jahre. Davon entfallen – nach<br />
schließlich erhobener Untätigkeitsklage – bereits<br />
über zwei Jahre auf das gerichtliche Verfahren, in<br />
dem außer Stillstand nichts passiert und der<br />
erstrebte Rechtsschutz wegen Ablaufs des Beurteilungszeitraums<br />
im Ergebnis nicht mehr<br />
erreicht werden kann. Doch selbst für einen<br />
Notartermin in einer einfachen Angelegenheit<br />
war ein Termin erst nach über einem Jahr zu<br />
bekommen.<br />
Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage<br />
auf, ob wir im Bereich der Justiz auf dem besten<br />
Wege zu einer „Bananenrepublik“ sind. Dieser<br />
Begriff beschreibt Staaten, deren Rechtssystem<br />
nicht funktioniert. Steht unsere Justiz vor<br />
einem Funktionsverlust, wenn es offensichtlich<br />
nicht nur die Ausnahme ist, dass Primäransprüche,<br />
selbst bei einem abschließenden<br />
Obsiegen, allein schon aufgrund von überlangen<br />
Verfahrensdauern nicht mehr realisiert werden<br />
können?<br />
Diese Erkenntnis ist inzwischen auch in der<br />
allgemeinen Wahrnehmung angekommen. Mit<br />
Blick auf die völlige Überlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit<br />
(wegen vermehrter Asylverfahren),<br />
stellt z.B. PETER HAHNE in seinem Buch<br />
„Schluss mit euren ewigen Mogelpackungen!“<br />
(S. 11) fest: „Justitia stöhnt und ächzt und der<br />
einfache Bürger, dessen Anliegen vielleicht dringend<br />
ist, hat das Nachsehen. Oder muss er mit<br />
den Folgen gerichtlicher Überlastung leben, besser<br />
gesagt: überleben?“<br />
Es gibt viele Bereiche, in denen Rechtsschutz<br />
und ein letztlich obsiegendes Urteil nichts wert<br />
sind, wenn dieser nicht rechtzeitig erfolgt. So<br />
werden z.B. im Strafprozess die Strafziele durch<br />
lange Verfahrensdauern vereitelt bzw. geschmälert,<br />
Studienplatzklagen gehen ins Leere.<br />
Klagen auf Baugenehmigungen oder Gewerbeerlaubnisse<br />
können existenzvernichtend sein,<br />
wenn sich durch Veränderungen am Finanzmarkt<br />
die Finanzierungsgrundlagen für den Antragsteller<br />
wesentlich geändert haben. Klagen<br />
gegen Regelbeurteilungen eines Beamten<br />
sind wirkungslos, wenn bis zu einer Entscheidung<br />
der folgende Beurteilungszeitraum bereits<br />
verstrichen ist. Tragisch kann es im Bereich<br />
des Sozialrechts etwa bei Klagen auf Übernahme<br />
von Behandlungskosten werden – hier<br />
kann eine lange Verfahrensdauer eine im<br />
wahrsten Sinne des Wortes „tödliche Wirkung“<br />
haben.<br />
Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass<br />
die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes<br />
weit mehr durch die lange Dauer der<br />
Verfahren, als durch eine ausgefeilte Rechtsdogmatik<br />
bedroht ist. Langdauernde Prozesse<br />
gehören zu den Grundübeln der Rechtspflege,<br />
aber das Problem verschärft sich. Verstöße<br />
gegen Art. 19 Abs. 4 GG und entsprechende<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 373
Kolumne<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Klagen vor dem Europäischen Gerichthof für<br />
Menschenrechte gegen die Bundesrepublik<br />
Deutschland haben den Gesetzgeber dann auch<br />
zum Erlass der §§ 198 ff. GVG, die Sanktionsnormen<br />
bzw. Entschädigungsregelungen bei Verletzung<br />
des gerichtlichen Beschleunigungsgebots<br />
enthalten, veranlasst.<br />
Was ist dies aber wert? Wenn überhaupt etwas,<br />
jedenfalls nicht viel. Zum einen können die<br />
Voraussetzungen des Anspruchs nur schwer<br />
festgestellt werden, weil abstrakt kaum definiert<br />
werden kann, was z.B. eine unangemessen lange<br />
Verfahrensdauer konkret ist. Weiterhin ist<br />
dem Haushaltsgesetzgeber kaum beizukommen,<br />
wenn er nicht für eine angemessene Ausstattung<br />
der Gerichte sorgt.<br />
Darüber hinaus scheint das Kalkül der überlangen<br />
Verfahrensdauer zu einem Kampfmittel und<br />
verfahrenstaktischen Instrument der rechtlichen<br />
Auseinandersetzung geworden zu sein. Der Umstand<br />
langer Verfahren wird in der Praxis erkennbar<br />
dahingehend ausgenutzt, um einen<br />
Anspruchsteller mürbe zu machen und auf der<br />
Zeitschiene auszuhungern. Das eine oder andere<br />
Gericht scheint es mitunter zu begrüßen, wenn<br />
eine Partei das Verfahren verzögert, birgt dies<br />
doch die Hoffnung, dass die Gegenpartei aufgibt<br />
und sich der Fall dann mit wenig Aufwand<br />
erledigen lässt.<br />
Schließlich dürften die Möglichkeiten der §§ 198<br />
ff. GVG für viele Kläger zu Recht theoretisch<br />
bleiben. Dies wohl auch deshalb, weil der<br />
Richter, der mit einer derartigen Klage konfrontiert<br />
ist, letztlich auch nur ein Mensch ist. Daher<br />
wird nach menschlichem Ermessen die Bereitschaft<br />
eines Richters, in einem solchen Fall<br />
wohlwollend zugunsten des Klägers, der dem<br />
Gericht Untätigkeit vorwirft, zu entscheiden,<br />
eher abnehmen.<br />
Bei allem Verständnis für die Belastung der<br />
Gerichte und der einzelnen Richter darf dies<br />
gleichwohl nicht dazu führen, dass die Rechtspflege<br />
funktionsunfähig wird. Um noch einmal<br />
auf eingangs genanntes Beispiel der Klage<br />
gegen eine Regelbeurteilung zurückzukommen:<br />
Wenn schon allein die Zuweisung an die richtige<br />
Kammer des Verwaltungsgerichts sechs<br />
Monate benötigt, ist dies kaum nachvollziehbar.<br />
Vergehen aber anschließend viele Monaten ohne<br />
eine Nachricht und wird auf Nachfrage zum<br />
Verfahrensstand mitgeteilt, das Gericht werde<br />
im März/April terminieren, verstreicht dieser<br />
Termin aber ergebnislos und erfolgt auf<br />
eine zweite höfliche Nachfrage, verbunden mit<br />
dem vorsichtigen Hinweis auf den bevorstehenden<br />
Ablauf des Beurteilungszeitraums, nur<br />
der Hinweis: „Aufgrund der nach wie vor erheblichen<br />
Belastung mit Asyleingängen und<br />
-verfahren ist derzeit eine Terminierung nicht<br />
absehbar. Die Kammer ist bemüht, einen<br />
Termin noch vor Oktober zu bestimmen“,<br />
ist dies ein bedenklicher Zustand hinsichtlich<br />
der Funktionsfähigkeit einer ordnungsgemäßen<br />
Rechtspflege. Der Vollständigkeit halber ist<br />
darauf hinzuweisen, dass dieser geplante Termin<br />
– natürlich (?) – ebenfalls reaktionslos verstrichen<br />
ist.<br />
Der Staat entzieht sich seiner aus Art. 6 EMRK<br />
und Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Verpflichtung<br />
zur sachgerechten Ausstattung, insbesondere<br />
der personellen Ausstattung der Gerichte, und<br />
lässt sowohl die betroffenen Richter als auch<br />
die rechtssuchenden Bürger in dieser Situation<br />
im Stich. Man darf gespannt bleiben, ob der Pakt<br />
für den Rechtsstaat, der u.a. 2.000 zusätzliche<br />
Stellen für Richter und Staatsanwälte beinhaltet,<br />
ausreichend ist. Denn: Rechtsschutz, der zu spät<br />
kommt, nutzt den Betroffenen wenig bis gar<br />
nichts.<br />
Ministerialrat Dr. STEFAN BRAUN, Stuttgart<br />
374 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Anwaltsmagazin<br />
Neuregelungen im April<br />
In diesen Tagen treten wieder einige Änderungen<br />
in Kraft. Sie betreffen vorwiegend den Gesundheitssektor,<br />
daneben die Bereiche Arbeit, Steuern<br />
und Energie. Im Einzelnen:<br />
• Organspenden<br />
Am 1. April in Kraft getreten ist eine Neuregelung,<br />
derzufolge Krankenhäuser, in denen Organe<br />
entnommen werden, besser dafür ausgestattet<br />
werden. Gleichzeitig bekommen Transplantationsbeauftragte<br />
mehr Zeit für ihre Aufgaben und<br />
sollen auf den Intensivstationen regelmäßig hinzugezogen<br />
werden, wenn Patientinnen und<br />
Patienten nach ärztlicher Beurteilung als Organspender<br />
in Betracht kommen. Darüber hinaus<br />
wird der gesamte Prozess der Organentnahme<br />
besser vergütet.<br />
• Schwangerschaftsabbrüche<br />
Bereits am 29. März sind Änderungen in § 219a<br />
StGB sowie im Schwangerschaftskonfliktgesetz<br />
in Kraft getreten, wonach Schwangere, die<br />
sich in einer Konfliktlage befinden, künftig einfacher<br />
an Informationen über einen Schwangerschaftsabbruch<br />
gelangen können. Qualitätsgesicherte<br />
Informationen werden nun auch von<br />
staatlichen oder staatlich beauftragten Stellen<br />
zur Verfügung gestellt. Ärztinnen und Ärzte,<br />
die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, werden<br />
künftig auf einer zentralen Liste der Bundesärztekammer<br />
aufgeführt. Diese Liste soll<br />
monatlich aktualisiert werden und ist für betroffene<br />
Frauen öffentlich im Internet einsehbar.<br />
Veröffentlicht wird die Liste von der Bundeszentrale<br />
für gesundheitliche Aufklärung. Ärzte<br />
und Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche<br />
vornehmen, dürfen jetzt auch darüber<br />
informieren.<br />
• Mindestlohn<br />
Der Mindestlohn für Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen<br />
ist mit Wirkung zum 1. April angehoben<br />
worden. Er beträgt jetzt bundesweit 15,72 € bzw.<br />
15,79 € brutto je Zeitstunde – je nach Qualifikation<br />
des Arbeitnehmers. Bis zum Jahr 2022 steigt das<br />
Mindestentgelt dann schrittweise auf 17,18 € bzw.<br />
17,70 € brutto je Zeitstunde. Diese Regelung gilt auch<br />
für Auftragnehmer des Bundes, die Ausbildungs- und<br />
Weiterbildungsdienstleistungen anbieten.<br />
• Steuerpauschale für Umzugskosten<br />
Wer aus beruflichen Gründen umziehen muss,<br />
kann seit dem 1. April höhere Pauschalen bei der<br />
Einkommensteuer in Anspruch nehmen. Sie steigen<br />
jetzt für Verheiratete, Lebenspartner und<br />
Gleichgestellte auf 1.622 €, für Ledige auf 811 €. Für<br />
jede weitere Person im Haushalt kann 357 €<br />
geltend gemacht werden. Fallen umzugsbedingt<br />
höhere Unterrichtskosten an, etwa weil die<br />
Kinder in der neuen Schule Nachhilfeunterricht<br />
benötigen, können dafür maximal weitere 2.045 €<br />
pro Jahr geltend gemacht werden.<br />
• Energieausweise für Gebäude<br />
Auch im April verlieren wieder einige Energieausweise<br />
für Wohngebäude ihre Gültigkeit. Die<br />
Bundesregierung weist darauf hin, dass bereits<br />
seit Anfang des Jahres Energieausweise, die seit<br />
2009 für Häuser der Baujahre 1966 und später<br />
ausgestellt worden sind, jetzt nach und nach<br />
ablaufen. Wer in naher Zukunft sein Haus verkaufen,<br />
vermieten oder verpachten will, sollte sich<br />
einen neuen Energieausweis in Form eines „Bedarfsausweises“<br />
ausstellen lassen. Dieser ist – wie<br />
schon der alte Energieausweis – für zehn Jahre<br />
gültig. Ab dem 1.7.<strong>2019</strong> laufen auch die ersten<br />
Energieausweise von Nichtwohngebäuden ab.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 375
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Auslandsdienstreisen von Anwälten<br />
bald einfacher<br />
Seit Mai 2010 muss bei geschäftlichen Aufenthalten<br />
im EU- und EFTA-Ausland die sog. A1-<br />
Bescheinigung beantragt werden. Diese bislang<br />
kaum bekannte Verpflichtung gilt für längerfristige<br />
Entsendungen und kurzzeitige Geschäftsreisen<br />
gleichermaßen. Sie geriet jüngst in den<br />
öffentlichen Fokus, weil seit dem 1.1.<strong>2019</strong> Arbeitgeber<br />
für ihre dienstreisenden Beschäftigten den<br />
Antrag gem. § 106 SGB IV verpflichtend elektronisch<br />
stellen müssen. Für Selbstständige gilt diese<br />
Neuerung noch nicht; sie beantragen die Bescheinigung<br />
weiterhin schriftlich. Grundlage ist<br />
die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung<br />
der Sozialsysteme. Die A1-Bescheinigung<br />
dient dazu, bei Auslandsreisen nachzuweisen,<br />
welches Sozialsystem für den Versicherten<br />
zuständig ist; so soll Sozialversicherungsbetrug<br />
verhindert werden. Dass diese Regelung auf<br />
Selbstständige wie etwa Rechtsanwälte nicht<br />
recht passt, hat kürzlich HUFF in der <strong>ZAP</strong> bemängelt<br />
(s. <strong>ZAP</strong> Kolumne 5/<strong>2019</strong>, S. 223).<br />
Nun ist jedoch Abhilfe in Sicht: Nach Informationen<br />
der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und<br />
des Deutschen Anwaltvereins (DAV) haben das<br />
Europäische Parlament und der Rat Mitte März<br />
eine politische Einigung zur Modernisierung der<br />
Regelungen zur Koordinierung der Sozialsysteme<br />
erzielt. Danach soll künftig für Geschäftsreisen<br />
keine A1-Bescheinigung mehr notwendig sein. Rat<br />
und Parlament müssen die Einigung noch formal<br />
annehmen. Es ist derzeit davon auszugehen, dass<br />
dies noch in dieser Legislaturperiode erfolgen<br />
wird.<br />
[Quellen: BRAK/DAV]<br />
Auswirkungen des Brexits auf den<br />
Datenschutz<br />
Im Falle eines ungeregelten Austritts Großbritanniens<br />
aus der EU wird das Königreich zu einem<br />
„Drittland“ im Sinne der Datenschutz-Grundverordnung<br />
(DSGVO). Seit dem 30.3.<strong>2019</strong>, 0 Uhr,<br />
müssen Datenübermittlungen zusätzlich den<br />
Vorgaben des Kapitel V der DSGVO (Art. 44 ff.<br />
DSGVO) entsprechen. Was dies in der Praxis für<br />
Rechtsanwälte mit sich bringt, hat die Bundesrechtsanwaltskammer<br />
(BRAK) in einem aktuellen<br />
Merkblatt zusammengefasst.<br />
Das vierseitige Informationsblatt mit dem Titel<br />
„Brexit und Datenübermittlung in Drittländer“<br />
enthält im Wesentlichen die verschiedenen denkbaren<br />
Fallgestaltungen und Verweise auf weitere<br />
ausführliche Merkblätter. Aufgeführt werden<br />
auch die relevanten Ausnahmetatbestände sowie<br />
eine kurze Anleitung mit dem Titel „Was genau ist<br />
jetzt zu tun?“. Eingestellt ist das Merkblatt auf der<br />
Webseite der BRAK unter https://www.brak.de/w/<br />
files/02_fuer_anwaelte/datenschutz/<strong>2019</strong>-03-21_daten<br />
uebermittlung-drittlaender_brexit_final.pdf.<br />
[Quelle: BRAK]<br />
PKH-Bekanntmachung geändert<br />
Mit der 2. Prozesskostenhilfebekanntmachung<br />
<strong>2019</strong> vom 21.2.<strong>2019</strong> (BGBl I, S. 161) hat das Bundesministerium<br />
der Justiz und für Verbraucherschutz<br />
die im Dezember 2018 festgelegten Beträge für<br />
<strong>2019</strong> (vgl. <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 3/<strong>2019</strong>, S. 112)<br />
geändert. Danach betragen die ab dem 1.1.<strong>2019</strong><br />
maßgebenden Beträge, die nach § 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 1<br />
Buchst. b und Nr. 2 ZPO vom Einkommen der Partei<br />
abzusetzen sind,<br />
1. für Parteien, die ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit<br />
erzielen, 224 €,<br />
2. für die Partei und ihren Ehegatten oder ihren<br />
Lebenspartner 492 €,<br />
3. für jede weitere Person, der die Partei aufgrund<br />
gesetzlicher Unterhaltspflicht Unterhalt leistet,<br />
in Abhängigkeit von deren Alter:<br />
a) Erwachsene 393 €,<br />
b) Jugendliche vom Beginn des 15. bis zur<br />
Vollendung des 18. Lebensjahres 373 €,<br />
c) Kinder vom Beginn des siebten bis zur<br />
Vollendung des 14. Lebensjahres 350 €,<br />
d) Kinder bis zur Vollendung des sechsten<br />
Lebensjahres 284 €. [Quelle: BMJV]<br />
Betreuervergütung soll steigen<br />
Die Bundesregierung will die Vergütung der beruflichen<br />
Betreuer anheben. Dazu hat sie kürzlich den<br />
Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung der Betreuer-<br />
und Vormündervergütung vorgelegt (vgl. BT-<br />
Drucks 19/8694). Ausgehend vom Koalitionsvertrag<br />
ist darin eine Erhöhung der Vergütung um 17 % in<br />
einem modernisierten System von Fallpauschalen<br />
vorgesehen.<br />
376 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Mit den vorgeschlagenen Änderungen solle eine<br />
„rechtstechnisch einfach und schnell umsetzbare,<br />
Qualitätsaspekte berücksichtigende und angemessene<br />
Anpassung“ der seit mehr als 13 Jahren<br />
unveränderten Vergütung beruflicher Betreuer<br />
erfolgen, die insbesondere auch geeignet ist, eine<br />
existenzsichernde Finanzierung der Betreuungsvereine<br />
sicherzustellen, heißt es im Entwurf.<br />
Daneben solle der zur Differenzierung der Vergütung<br />
verwendete Begriff „Heim“ durch zeitgemäße<br />
Begriffe ersetzt und so an die Vielfalt der<br />
Wohnformen für Menschen mit Unterstützungsbedarf<br />
angepasst werden.<br />
Ebenfalls erhöht werden sollen die Vergütungssätze<br />
für Berufsvormünder. Die bislang geltenden<br />
Sätze waren durch eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe<br />
auf der Grundlage einer Untersuchung<br />
aus dem Jahr 2003 bestimmt worden.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
EU-Parlament beschließt<br />
Verbandsklage<br />
Das EU-Parlament hat Ende März einen Richtlinienvorschlag<br />
über Verbandsklagen – COM (2018)<br />
184 – in erster Lesung mit deutlicher Mehrheit angenommen.<br />
Der Entwurf sieht u.a. vor, dass sog.<br />
qualifizierte Einrichtungen zwar auf Unterlassung<br />
und Abhilfe klagen, nicht jedoch einen Beschluss<br />
zur Feststellung einer Rechtsverletzung erwirken<br />
können. Um Klagemissbrauch zu vermeiden, werden<br />
zudem enge Kriterien für die Benennung<br />
der „qualifizierten Einrichtungen“ benannt. Die<br />
Klagebefugnis läge somit nicht bei Anwaltskanzleien.<br />
Weiterhin ist vorgesehen, dass sich die<br />
Bindungswirkung von Urteilen auch zugunsten<br />
der Unternehmen erstreckt.<br />
Anders als das EU-Parlament hat der Rat der EU<br />
allerdings noch keine Position zu dem Richtlinienvorschlag<br />
bezogen. Somit wird das Gesetzgebungsverfahren<br />
nun nicht mehr in der aktuellen Legislaturperiode<br />
behandelt werden können, sondern in die<br />
nächste Legislaturperiode übergehen.<br />
[Quelle: DAV]<br />
Zweifel am Wechselmodell im<br />
Familienrecht<br />
Das sog. Wechselmodell im Familienrecht, d.h. ein<br />
Modell, bei dem die Kinder von beiden getrenntlebenden<br />
Elternteilen im Wechsel zeitlich annähernd<br />
gleich lang betreut werden, war Mitte<br />
Februar Gegenstand der Anhörung von Sachverständigen<br />
im Rechtsausschuss des Deutschen<br />
Bundestags. Während eine Reihe von Abgeordneten<br />
das familienrechtliche Wechselmodell als<br />
gesetzlichen Regelfall einführen will, sind andere<br />
strikt dagegen. Bei der Anhörung wollten die<br />
Abgeordneten von den Sachverständigen vor<br />
allem wissen, wie mögliche Reformen im Umgangsrecht<br />
aussehen könnten, wie sich das<br />
Wechselmodell in finanzieller Hinsicht auf die<br />
Eltern auswirkt und wie der Staat bei einer<br />
stärkeren paritätischen Betreuung Unterstützung<br />
leisten kann.<br />
Mehrere Experten verwiesen in ihren Stellungnahmen<br />
auf die bereits seit Jahren z.T. heftig und<br />
auch ideologisch geführte Diskussion zum Thema<br />
Wechselmodell. Auch sähen weder das BVerfG<br />
noch der BGH eine Pflicht des Gesetzgebers,<br />
getrenntlebenden Eltern eine paritätische Betreuung<br />
vorzugeben.<br />
Die Vertreterin des Deutschen Juristinnenbundes<br />
plädierte im Ergebnis der jahrelangen Diskussion<br />
gegen eine Festschreibung des Wechselmodells<br />
als gesetzlichen Regelfall und für mit<br />
Bedacht geführte Diskussionen zu Änderungen<br />
im Kindesunterhalt. Zudem müssten tragfähige<br />
Lösungen für paritätische Betreuungsmodelle<br />
auch für getrenntlebende Eltern und ihre Kinder<br />
im Grundsicherungsbezug entwickelt werden.<br />
Sie betonte ebenso wie auch die anderen Sachverständigen,<br />
dass jede gesetzliche Änderung<br />
unter dem Vorbehalt des Kindeswohls zu stehen<br />
habe.<br />
Für die Vertreterin des Berufsverbands Deutscher<br />
Psychologinnen und Psychologen zeigt<br />
sich kein einheitliches Bild in den internationalen<br />
Forschungsergebnissen zum Thema Wechselmodell,<br />
wobei sich in Deutschland nur wenig<br />
Forschung dazu finde. Die Praxis zeige, dass es<br />
die Dominanz eines Modells aus der Kinderperspektive<br />
nicht geben könne. Vielmehr müsse<br />
im Einzelfall auf die Bedürfnisse des Kindes und<br />
die Familiensituation abgestellt werden.<br />
Die Bundesgeschäftsführerin des Verbands alleinerziehender<br />
Mütter und Väter warnte in<br />
ihrer Stellungnahme vor der Vorgabe des Wechselmodells<br />
als Regelfall durch den Gesetzgeber,<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 377
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
denn er verhindere damit die jeweils beste<br />
Lösung für das Kindeswohl. Deshalb sollten<br />
Eltern ihr Familienleben weiterhin autonom<br />
und individuell gestalten und sich für ein Betreuungsmodell<br />
entscheiden, welches den Bedürfnissen<br />
aller Beteiligten, aber vorrangig dem Wohl<br />
ihres Kindes Rechnung trägt. Nötig sei dabei eine<br />
ergebnisoffene Beratung. Sie gab ebenfalls zu<br />
bedenken, dass Vorteile eines Wechselmodells<br />
für Kinder wissenschaftlich nicht belegt und die<br />
langfristigen Wirkungen auf Kinder noch nicht<br />
ausreichend erforscht seien. Zudem stelle es<br />
hohe Anforderungen an alle Beteiligten und<br />
eigne sich nicht als gleichstellungspolitisches<br />
Instrument.<br />
ein, dass das Wechselmodell weder eine Lösung<br />
für jede Trennungsfamilie noch ein Allheilmittel<br />
für alle Probleme zwischen Trennungseltern<br />
ist.<br />
Für flexible Regelungen, die Eltern und Kindern<br />
zugutekommen, sprach sich der Vertreter des<br />
Interessenverbands Unterhalt und Familienrecht<br />
aus. Modelle dürften nicht praktischen<br />
Regelungen im Wege stehen. Am sichersten und<br />
gerechtesten werde die gemeinsame elterliche<br />
Sorge nach Trennung und Scheidung umgesetzt,<br />
wenn beide Elternteile ihre individuelle Regelung<br />
treffen. Hier sei das Wechselmodell eine mögliche<br />
Antwort.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
Die Vertreterin des Deutschen Anwaltvereins<br />
verwies auf die Rechtsprechung des BGH, wonach<br />
die Gerichte bei der Entscheidung über den<br />
Kindesumgang frei sind, und damit einem Wechselmodell<br />
nichts im Weg stehe. Dies sei eine gute<br />
Grundlage für eine Reform des Familienrechts.<br />
Eine Festlegung auf ein Modell sei dagegen nicht<br />
empfehlenswert. Stattdessen bräuchten die Eltern<br />
mehr staatliche Unterstützung, z.B. bei der<br />
Mediation. Ferner regte sie an, außergerichtliche<br />
Einigungen verbindlich zu machen.<br />
Ein Diplompsychologe vom Deutschen Jugendinstitut<br />
konstatierte ein wachsendes Interesse<br />
am Wechselmodell. Hier sei die Politik gefordert,<br />
Voraussetzungen zu schaffen. Keine Grundlage<br />
sehe er jedoch für die Einführung des Wechselmodells<br />
als Regelfall. Die Forschungsdirektorin<br />
des Jugendinstituts verwies auf das gestiegene<br />
Engagement der Väter in der Kinderbetreuung.<br />
Aus ihrer Sicht spreche dem Wechselmodell als<br />
Regelfall jedoch entgegen, dass es keine paritätische<br />
Rollenverteilung gebe. Sie sprach sich stattdessen<br />
dafür aus, die Elternautonomie weiter zu<br />
stärken.<br />
Eine Expertin von der Evangelischen Hochschule<br />
Nürnberg sprach sich dagegen für das Wechselmodell<br />
als „Leitbild“ aus. Die gesellschaftliche<br />
Realität habe sich geändert. Die von den meisten<br />
Eltern gelebte und gewünschte partnerschaftliche<br />
Aufteilung von Familienarbeit und Erwerbstätigkeit<br />
in der Partnerschaft werde nach Beendigung<br />
der Partnerschaft im Wechselmodell<br />
fortgesetzt. Auch stehe das Leitbild des Wechselmodells<br />
im Einklang mit Grundrechten von<br />
Kindern und Eltern. Sie schränkte jedoch<br />
Arzneimittelsicherheit wird<br />
weiter erhöht<br />
Erst kürzlich hatte der Gesetzgeber die Vorschriften<br />
im Bereich der Arzneimittelsicherheit verschärft<br />
(vgl. zuletzt <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 4/<strong>2019</strong>,<br />
S. 171). Nun soll weiter nachgelegt werden:<br />
Nach mehreren Arzneimittelskandalen reagiert<br />
die Bundesregierung mit einem Gesetzentwurf<br />
für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung<br />
– GSAV (s. BT-Drucks 19/8753). So soll die<br />
Zusammenarbeit zwischen den Behörden von<br />
Bund und Ländern verbessert werden, u.a. durch<br />
eine Informationspflicht über Rückrufe. Zugleich<br />
werden die Rückrufkompetenzen der Bundesoberbehörden<br />
bei Qualitätsmängeln oder dem<br />
Verdacht einer Arzneimittelfälschung erweitert.<br />
Es soll häufiger unangemeldete Kontrollen geben,<br />
etwa in Apotheken, die Krebsmittel (Zytostatika)<br />
selbst herstellen.<br />
Die Krankenkassen bekommen bei Produktmängeln,<br />
etwa bei einem Rückruf, einen Regressanspruch<br />
gegenüber den verantwortlichen<br />
Pharmafirmen. Bei ihren Rabattverträgen<br />
mit Arzneimittelherstellern soll künftig auch<br />
eine bedarfsgerechte Lieferfähigkeit berücksichtigt<br />
werden, um Liefer- und Versorgungsengpässen<br />
vorzubeugen. Heilpraktiker brauchen für<br />
die Herstellung verschreibungspflichtiger Arzneimittel<br />
künftig eine Erlaubnis.<br />
Der Gesetzentwurf beinhaltet zudem weitere<br />
Regelungen, die der Verbesserung der Arzneimittelversorgung<br />
dienen sollen. So soll die Selbst-<br />
378 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
verwaltung die Voraussetzungen für die Verwendung<br />
des elektronischen Rezepts schaffen.<br />
Auch sollen Apotheken künftig verschreibungspflichtige<br />
Arzneimittel auch nach einer Fernbehandlung,<br />
z.B. einer Videosprechstunde, abgeben<br />
können.<br />
Zudem soll verstärkt auf sog. Biosimilars zurückgegriffen<br />
werden. Es handelt es sich um biotechnologisch<br />
hergestellte Folgepräparate<br />
von Biopharmazeutika mit ähnlicher Wirkung.<br />
Weitere Neuerungen betreffen das Verbot der<br />
Herstellung von Frischzellen zur Anwendung am<br />
Menschen sowie die Versorgung mit medizinischem<br />
Cannabis. [Quelle: Bundestag]<br />
Pläne zur Begrenzung von<br />
Vertragslaufzeiten<br />
Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />
(BMJV) plant offenbar die Begrenzung<br />
der Laufzeit von Verträgen. Wie mehrere<br />
Zeitschriften berichteten, sollen demnach<br />
Verbraucherverträge künftig per Änderung des<br />
AGB-Rechts nur noch für eine Laufzeit von<br />
maximal einem Jahr zulässig sein. Automatische<br />
Vertragsverlängerungen sollen nur noch um<br />
höchstens drei Monate möglich sein. Der Vorschlag<br />
sei Teil eines Bündels von Änderungen, mit<br />
denen Justizministerin BARLEY gegen Kostenfallen<br />
vorgehen wolle.<br />
Bereits im März soll das Ministerium Pläne zum<br />
Schutz der Verbraucher gegen „Kostenfallen“<br />
vorgelegt haben. Ein Eckpunkte-Papier, das auch<br />
neue Regeln für Telefonwerbung und für den<br />
telefonischen Abschluss von Verträgen empfiehlt,<br />
sieht für Telefon-, Strom- und auch Zeitschriftenabonnements<br />
künftig kürzere Kündigungsfristen<br />
vor. In vielen Bereichen, in denen<br />
unbefristete Verträge früher üblich gewesen<br />
seien, so wird aus dem Papier zitiert, würden<br />
heute Verbrauchern zu guten Konditionen oft<br />
nur noch Verträge mit zweijähriger Laufzeit<br />
angeboten, die sich automatisch um ein weiteres<br />
Jahr verlängerten, wenn sie nicht rechtzeitig<br />
gekündigt werden. Dies sei nicht mehr interessengerecht,<br />
die Verbraucher müssten sich leichter<br />
von Verträgen lösen können, die für sie<br />
entweder nicht vorteilhaft seien oder die sie<br />
schlicht nicht mehr brauchten.<br />
Wie weiter berichtet wird, hat sich die Ministerin<br />
bereits der Unterstützung aus den Koalitionsfraktionen<br />
versichert. Kritik kommt<br />
dagegen von Teilen der Opposition. Sie argumentieren,<br />
die Pläne des BMJV würden notwendig<br />
zu Kostensteigerungen führen, weil<br />
die Anbieter die Planungssicherheit aus den<br />
Vertragslaufzeiten verlieren und dies bei<br />
der Preisgestaltung berücksichtigen müssen.<br />
Für die Verbraucher sei am Ende also nichts<br />
gewonnen.<br />
[Red.]<br />
Keine doppelte Stimmabgabe bei<br />
der Europawahl<br />
Eine doppelte Stimmabgabe bei der bevorstehenden<br />
Wahl zum 9. Europäischen Parlament<br />
am 26. Mai ist strafbar. Darauf hat die Bundesregierung<br />
kürzlich hingewiesen. Kein Wahlberechtigter<br />
sei zugleich in einem anderen EU-<br />
Mitgliedsstaat wahlberechtigt (vgl. BT-Drucks<br />
19/8633).<br />
Wahlberechtigte EU-Ausländer, die in Deutschland<br />
leben, werden auf Antrag in das Wählerregister<br />
ihrer Wohnsitzgemeinde eingetragen<br />
und können dann dort wählen. Um eine mehrfache<br />
Stimmabgabe zu verhindern, muss der<br />
Wahlberechtigte eine eidesstattliche Versicherung<br />
abgeben, dass er sein Wahlrecht nur in<br />
Deutschland ausübt. Wird dem Antrag stattgegeben,<br />
übermittelt der Bundeswahlleiter die<br />
Daten des künftig in Deutschland an der Europawahl<br />
teilnehmenden ausländischen EU-Bürgers<br />
an dessen Herkunftsstaat. Dort wird er dann aus<br />
dem Wählerverzeichnis gestrichen.<br />
Wahlberechtigte mit mehreren EU-Staatsangehörigkeiten<br />
dürfen ebenfalls nur einmal wählen.<br />
Über die im jeweiligen Mitgliedsstaat wahlberechtigten<br />
eigenen Staatsangehörigen finde<br />
allerdings kein Informationsaustausch unter<br />
den EU-Staaten statt. Wer unbefugt wählt,<br />
macht sich den Angaben zufolge jedoch wegen<br />
Wahlfälschung strafbar.<br />
Nach Schätzungen des Bundeswahlleiters leben<br />
rund 3,8 Mio. ausländische Unionsbürger im<br />
wahlberechtigten Alter in Deutschland. Laut<br />
Mikrozensus lebten 2017 in Deutschland 785.000<br />
deutsche Staatsangehörige, die zugleich Staats-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 379
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
angehörige eines anderen EU-Landes waren,<br />
darunter auch solche im nicht wahlberechtigten<br />
Alter.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Lesbarkeit der anwaltlichen<br />
Unterschrift<br />
Wer das nächste Mal kurz vor Mitternacht schnell<br />
noch einen schriftwahrenden Schriftsatz ins Fax<br />
schieben will, sollte – trotz der Zeitnot – einen<br />
kurzen Moment innehalten und sich seine Unterschrift<br />
noch einmal näher besehen. Nur wer ganz<br />
sicher ist, dass diese aus dem Fax des Gerichts<br />
auch deutlich lesbar herauskommen wird, sollte<br />
dann zur Tat schreiten.<br />
Diesen Rat muss man jetzt leider mit Blick auf<br />
eine neue BGH-Entscheidung geben. Die Karlsruher<br />
Richter ließen kürzlich eine Rechtsanwältin<br />
„ins Messer“ laufen, die einen Originalschriftsatz<br />
mit blassblauer Tinte unterschrieben hatte, so<br />
dass ihre Unterschrift auf dem Empfänger-Fax<br />
nicht erkennbar war. Damit, so entschieden die<br />
Richter, war die Frist versäumt, und diese Fristversäumnis<br />
müsse sich der Mandant zurechnen<br />
lassen (BGH, Beschl. v. 31.1.<strong>2019</strong> – III ZB 88/18, vgl.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 198/<strong>2019</strong>). Als Konsequenz aus der<br />
Entscheidung müssen Anwälte somit sicherstellen,<br />
dass fristwahrende Schriftsätze an das Gericht<br />
immer kontrastreich unterschrieben sind,<br />
und zwar so, dass die Unterschrift auch später<br />
noch auf einer Faxkopie zu erkennen ist. Am<br />
besten sollte man daher mit schwarzer oder mindestens<br />
dunkelblauer Tinte unterzeichnen.<br />
Kritik an der Entscheidung gab es bereits aus<br />
den Reihen des Deutschen Anwaltvereins. Die<br />
Entscheidung sei fragwürdig. Sowohl das Berufungsgericht<br />
als auch der BGH hätten gar nicht<br />
angezweifelt, dass der – später per Post eingegangene<br />
– Originalschriftsatz von der Anwältin tatsächlich<br />
im Zeitpunkt der Erstellung der Faxkopie<br />
unterschrieben war. Ihr daher anzulasten, dass die<br />
Unterschrift nur auf dem Fax nicht erkennbar gewesen<br />
sei, bereite zumindest Unbehagen. [Red.]<br />
Personalia<br />
Ende März ist der Richter am BGH WOLFGANG<br />
WELLNER in den Ruhestand getreten. WELLNER<br />
wurde im Jahr 1999 zum Richter am BGH<br />
ernannt und gehörte seitdem dem vornehmlich<br />
für das Recht der unerlaubten Handlungen, das<br />
Arzthaftungsrecht und das Verkehrsunfallrecht<br />
zuständigen VI. Zivilsenat an. Seit 2002 war er<br />
darüber hinaus Vertreter der beisitzenden Mitglieder<br />
des Senats für Notarsachen. Auch war er<br />
ab 2002 Vertreter seines Senats im Gemeinsamen<br />
Senat der obersten Gerichtshöfe des<br />
Bundes und seit Dezember 2015 auch im Großen<br />
Senat für Zivilsachen. Für ihn rückt der bisherige<br />
Ministerialrat CORNELIUS BÖHM in den VI. Zivilsenat<br />
nach. BÖHM kommt vom Bayerischen Staatsministerium<br />
der Justiz. Zuvor war er von November<br />
2011 bis April 2015 Richter am OLG<br />
München.<br />
Bereits Anfang März ist der Richter am BSG<br />
Dr. BERNHARD KOLOCZEK mit Erreichen der Altersgrenze<br />
in den Ruhestand getreten. Herr Dr.<br />
KOLOCZEK kam, im Anschluss an eine mehrjährige<br />
Abordnung an das Bundesverfassungsgericht,<br />
im Jahr 2004 zum Bundessozialgericht. Dort<br />
war er zunächst in den Bereichen der Krankenund<br />
Arbeitslosenversicherung tätig, ab 2010<br />
gehörte er dem für die Rentenversicherung<br />
zuständigen 5. Senat an. Neben seiner richterlichen<br />
Tätigkeit war Dr. KOLOCZEK in der juristischen<br />
Ausbildung engagiert und ab 1992 als<br />
Prüfer für die Erste und später bis 2011 als Prüfer<br />
für die Zweite Juristische Staatsprüfung<br />
bestellt.<br />
[Quelle: BGH]<br />
<strong>ZAP</strong> Verzeichnisse in Vorbereitung<br />
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versäumen Sie nicht, sich die neuen <strong>ZAP</strong> Verzeichnisse<br />
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auf der ersten Seite dieser <strong>ZAP</strong>-Ausgabe<br />
(vor der <strong>ZAP</strong> Kolumne).<br />
[Red.]<br />
380 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Buchreport<br />
Buchreport<br />
Berichte über juristische Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt aus der Sicht des anwaltlichen Praktikers.<br />
Lesen Sie hier, sortiert nach den einzelnen <strong>ZAP</strong> Fächern, welche Werke für die Mandatspraxis von<br />
Bedeutung sind.<br />
Sonstiges Vertragsrecht<br />
BGB Reisevertrag, §§ 651a–651y BGB, 2018, 962 S., C.H. Beck Verlag, 129 €<br />
Flugverspätung, schlechtes Essen im Hotel, Baulärm, fehlender Meerblick oder verschmutzte Strände… Diese<br />
oder viele andere Ärgernisse hat sicher jeder Anwalt schon von Mandanten oder Bekannten gehört oder<br />
selbst erfahren müssen. Ob und in welchem Umfang hier gegen wen Ansprüche geltend gemacht werden<br />
können, ist nicht immer ad hoc zu beantworten. Dieser Kommentar bietet die Lösung aus einer Hand. Der<br />
knapp 1.000-seitige Kommentar beinhaltet neben den seit 1.7.2018 geltenden und neugefassten Vorschriften<br />
zum deutschen Reisevertragsrecht auch die europarechtliche Fluggastrecht-VO. Das von Hochschulangehörigen<br />
und Richtern verfasste Werk überzeugt neben seiner Aktualität durch seine Praxisnähe.<br />
Detaillierte Übersichten, z.B. zu den Rechtsbehelfen des Reisenden, zur Minderungstabelle („Frankfurter<br />
Tabelle“) oder zu außergewöhnlichen Umständen i.S.d. Art. 5 Fluggastrechte-VO, sowie Praxishinweise<br />
runden das Werk ab. Lehrbuchartig und mit vielen Verweisen und Fundstellen wird insbesondere die zentrale<br />
Norm des reiserechtlichen Gewährleistungsrechts, § 651i BGB, besprochen. Die einzelnen Reisemängel<br />
werden unter umfassender Judikatur systematisch dargestellt. In der Praxis ist so eine schnelle Orientierung<br />
möglich. Von besonderer praktischer Bedeutung ist die ebenfalls lehrbuchartige und umfangreiche<br />
Darstellung der Fluggastrechte-VO. Auch hier wird der Praktiker durch eine klare Systematik schnell zur<br />
Lösung seiner rechtlichen Fragen geführt. Insbesondere Praktiker, die nicht täglich mit der Fluggastrecht-VO<br />
und den der Luftfahrt höchsteigenen (englischen) Begriffen betraut sind, lässt das Werk nicht im Regen<br />
stehen und erklärt luftfahrttypische Begriffe wie„Wet Lease“, „Dry Lease“ oder „Blocked-Space-Agreement“.<br />
Fazit: Ein Nachschlagewerk mit Handbuchcharakter, dass keine reisevertraglichen Fragen offenlässt.<br />
RA ANDY ZIEGENHARDT, Erfurt<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
HIMMELREICH/STAUB/KRUMM/NISSEN, Verkehrsunfallflucht, 7. Aufl. <strong>2019</strong>, 400 S., C.F. Müller Verlag, 49,99 €<br />
Strafverteidigung in Fällen der Verkehrsunfallflucht, § 142 StGB, steckt voller juristischer Musik und bietet<br />
einen bunten Blumenstrauß an Verteidigungsansätzen. Dies jedoch macht Strafverfolgung und -verteidigung<br />
fehleranfällig und dieses Praxishandbuch unverzichtbar. Wenn der Amtsanwalt mal wieder bei beschädigtem<br />
Firmenfahrzeug einer vorsteuerabzugsberechtigten GmbH die Umsatzsteuer zum Schaden zählt, und allein<br />
dadurch über die – zunehmend wackelnde – Grenze zum bedeutenden Fremdschaden springt; wenn<br />
nicht einmal die Polizei am Unfallort den Fremdschaden der Höhe nach richtig schätzen konnte; wenn<br />
niemand bei Staatsanwaltschaft und Gericht bei Erlass des Strafbefehls danach fragt, ob nicht im Verhältnis<br />
Arbeitnehmer/Arbeitgeber eine mutmaßliche Einwilligung in das „Sich-Entfernen“ greift oder zumindest ein<br />
Tatbestandsirrtum darüber vorliegen könnte: Ja, dann muss der Verteidiger sein Werkzeug kennen und<br />
beherrschen. In wie vielen Fällen z.B. kann der Anwalt für seinen Mandanten immerhin noch die Fahrerlaubnis<br />
„retten“, wenn es schon nicht zu Freispruch oder Einstellung reicht?! Mit diesem Buch hat jeder<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 381
Buchreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Verkehrsstrafrechter alles, was er für die erfolgreiche Strafverteidigung bei einer Verkehrsunfallflucht<br />
benötigt, griffbereit: Von der Mandatsannahme und der Verhinderung der Anklage bis zur peniblen Zerlegung<br />
der einzelnen Tatbestandsmerkmale findet sich praxisrelevant, übersichtlich strukturiert und auf den Punkt<br />
gebracht alles Wissenswerte. In mobilen Zeiten wird das Werk ergänzt durch die Rechtslage in europäischen<br />
Nachbarländern. In gebotener Kürze wird zu Nachschulungsmöglichkeiten, Fahreignungsregister und<br />
Verkehrsunfallflucht im Ausland referiert. Nicht fehlen darf die in der Praxis bedeutsame Abwehr des<br />
Versicherungsregresses, vor dem mancher Kollege im zivilrechtlichen Folgemandat zunächst mit großem<br />
Fragezeichen steht. Das i-Tüpfelchen sind 24 bodenständige Musterschreiben. Fazit: Mit diesem bewährten<br />
Praxisbuch ist der Verteidiger – ohne Wenn und Aber – der Staatsanwaltschaft und dem Amtsgericht<br />
regelmäßig eine Fahrzeuglänge voraus.<br />
RA, FA für Strafrecht HEIKO URBANZYK, Coesfeld<br />
WELLNER, BGH-Rechtsprechung zum Personenschaden, 2. Aufl. <strong>2019</strong>, 584 S., Deutscher Anwaltverlag, 59 €<br />
Der Personenschaden ist kompliziert und haftungsträchtig. Besser, man schlägt als bearbeitender<br />
Rechtsanwalt noch einmal in der Fachliteratur bzw. Rechtsprechung nach. Einen Überblick über wichtige<br />
Entscheidungen in diesem Bereich gibt das vorliegende Werk von WELLNER, der die Rechtsprechung des für<br />
das Schadensrecht zuständigen VI. Zivilsenats entscheidend mitgeprägt hat. Wie oft stößt der Praktiker auf<br />
Entscheidungen, deren maßgeblicher Inhalt erst einmal herauszufiltern wäre? Dafür ist im Massengeschäft<br />
der Unfallregulierung weder Zeit noch wird es durch das RVG entsprechend vergütet. Hier bietet der<br />
„WELLNER“ den schnelleren Zugriff: Die BGH-Entscheidungen werden jeweils durch Leitsatz, kompakte<br />
Darstellungen des Sachverhalts und anschließender rechtlicher Beurteilung mit Erwägungen des Gerichts<br />
sowie der Kommentierung des Autors vorgestellt. Die BGH-Quellen wurden durch Auslassung von<br />
Fundstellen ausgedünnt, so dass lediglich solche verblieben sind, die wertvoll sind. Das ist dem Ziel des Buchs<br />
angemessen, da Übersichtlichkeit und ein schneller Zugriff von solcher Vereinfachung leben. Letztere zielt<br />
insbesondere auf eine leichte Übertragbarkeit des konkreten BGH-Falls auf das entsprechend gelagerte<br />
eigene Mandat. Das übersichtliche Inhaltsverzeichnis ermöglicht beim Querlesen die Entscheidung, ob der<br />
Finger über den richtigen Entscheidungen schwebt. Neu ist das Kapitel „Prozessrecht, Rechtskraft und<br />
Schmerzensgeld“ das neben den Kapiteln „Problematische Personenschäden“, „Sozialversicherungsrechtliche<br />
Haftungsausschlüsse“, „Sonstige Haftungsausschlüsse und Haftungserleichterungen“, „Anspruchsübergänge<br />
und SVT-Regress“, „Mitverschulden, Kausalität und Zurechnungszusammenhang“ sowie „Erwerbsschaden“<br />
hinzugekommen ist. Wer sich näher von der Übersichtlichkeit der Sortierung, der Relevanz von Inhalt und<br />
Darstellungskonzept überzeugen möchte, findet eine kostenlose Leseprobe (29 Seiten) auf der Internetseite<br />
des Verlags. Fazit: Für den regelmäßig tätigen Schadens- und Verkehrsrechtler eine sinnvolle Anschaffung.<br />
RA, FA für Strafrecht HEIKO URBANZYK, Coesfeld<br />
BECK/LÖHLE (Hrsg.), Fehlerquellen bei polizeilichen Messverfahren, 12. Aufl. 2018, 528 S., Deutscher<br />
Anwaltverlag, 64 €<br />
Dieses Werk erinnert ein wenig an einen Ausspruch von LORIOT: „Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber<br />
sinnlos.“ Man kann also in Bußgeldsachen ohne das Werk von BECK/LÖHLE zu kennen verteidigen, das ist aber<br />
nicht ratsam. Das Buch an dieser Stelle ausführlich vorzustellen, hieße, dem im Verkehrsordnungswidrigkeitenrecht<br />
tätigen Anwalt die Arbeit zu erklären. Dennoch sei darauf hingewiesen, dass die Arbeitshilfen<br />
für die Praxis zu den Geschwindigkeitsmessverfahren (z.B. § 9 Rn 55 – Traffipax SpeedoPhot oder<br />
§13Rn133– LEIVTEC XV2) bereits dem Verteidiger eines Betroffenen ermöglichen, eine erste technische<br />
Vorprüfung zu übernehmen. Was in dieser Auflage klug verändert worden ist, ist die Zusammenführung der<br />
juristischen Bewertung mit der technischen Einordnung, so dass die jeweiligen Messverfahren nun<br />
zusammenhängend erörtert werden. Interessant sind auch die rechtlichen Ausführungen von Rechtsanwalt<br />
SIEGERT, der in § 1 den Ablauf des Bußgeldverfahrens ausführlich mit einem umfassenden Fußnotenapparat<br />
sowie Handlungshilfen in der Verteidigung darstellt. Gleiches gilt für seine Ausführungen in § 4 zur Eichung<br />
bzw. Konformitätserklärung. Ebenfalls hilfreich und offenkundig mit Blick auf die Verteidigung von<br />
Betroffenen gerichtet, ist die Formulierung möglicher Beweisfragen sowie die Aufzählung benötigter Daten<br />
bzw. Unterlagen für eine technische Begutachtung, die ggf. auch als Kopiervorlage in die Akte eingefügt<br />
werden können. Fazit: Rechtsanwälte sollten dieses Werk bei sich tragen, wenn sie in einer verkehrsrechtlichen<br />
Bußgeldangelegenheit verteidigen – alles andere wäre nicht ratsam.<br />
RAin, FAin für Straf- und für Verkehrsrecht, Mediatorin und Coach (zert. Univ.) GESINE REISERT<br />
382 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Buchreport<br />
NEIDHARDT/NISSEN, Bußgeldkataloge in Europa, 2. Aufl. 2018, 224 S., Deutscher Anwaltverlag, 29 €<br />
Die beiden profilierten und langjährigen ADAC-Juristen und Verfasser diverser Abhandlungen zum Verkehrsrecht<br />
mit Auslandsbezug, NEIDHARDT und NISSEN, haben die Bußgeldkataloge Europas in einen Überblick<br />
gebracht: Die Länder sind alphabetisch sortiert, jeweils untergliedert in „Polizei und Straßenverkehr" und<br />
in den eigentlichen Bußgeldkatalog. Für den Praktiker besonders wichtig, und für die Betroffenen entscheidend,<br />
ist die jeweilige Verfolgungspraxis – insbesondere die Bußenvollstreckung. Richtigerweise stellen<br />
die Autoren im Hinblick auf Großbritannien klar, dass offen ist, inwieweit die EU-Rahmenbeschlüsse noch<br />
Bestand nach einem etwaigen Brexit haben werden. Hilfreich sind die Hinweise zur Handhabung der<br />
Bußgeldkataloge, wenn etwa nur Obergrenzen von Bußgeldsätzen bestimmt sind. Insofern steht den<br />
Behörden bzw. der Polizei – wie in Polen beispielsweise – ein Ermessen zur Seite. Das Werk wird abgerundet<br />
mit einem knappen Anhang, der die EU-Rahmenbeschlüsse auszugsweise über die Vollstreckung<br />
von Geldsanktionen und auch die Erleichterung des grenzüberschreitenden Austauschs (Cross Border<br />
Enforcement/CBE) sowie des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen/IRG für die<br />
praktische Arbeit vervollständigen. Ein tabellarischer Überblick ist bereits auf Seite 10 für den Praktiker ein<br />
erster wichtiger Hinweis für die Frage der Geldbußen-Vollstreckung in Europa. Da die Autoren die jeweiligen<br />
Rechtsgrundlagen bezeichnen, ist eine vertiefte Suche ebenfalls möglich. Fazit: Für die tägliche<br />
Beratungspraxis eines mit dem Verkehrsrecht befassten Rechtsanwalts ist die Anschaffung schon allein<br />
deswegen zwingend, weil die differenzierte Übersetzung eines jeden Bußgeldkatalogs völlig außer<br />
Verhältnis stünde.<br />
RAin, FAin für Straf- und für Verkehrsrecht, Mediatorin und Coach (zert. Univ.) GESINE REISERT<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
DOERING-STRIENING, Elternunterhalt und der Rückgriff des Sozialhilfeträgers, 1. Aufl. <strong>2019</strong>, 591 S.,<br />
zerb Verlag, 69 €<br />
Praxisnah, anschaulich, klar strukturiert – endlich ist ein Fachbuch erschienen, das das Thema Elternunterhalt<br />
und Sozialhilferegress umfassend behandelt. Als Folge der demografischen Entwicklung hat die Generation<br />
50 plus heute einen erhöhten Beratungsbedarf, was die Versorgung, Betreuung und den Unterhalt ihrer hoch<br />
betagten Eltern angeht. Dies stellt den Anwalt in der täglichen Beratungssituation vor Herausforderungen.<br />
Muss er doch sozial-, familien- und erbrechtliche Aspekte gleichermaßen berücksichtigen. Das übersichtliche<br />
Inhaltsverzeichnis, in dem z.B. „Eltern zu Hause“ und „Eltern in stationären Einrichtungen“ getrennt behandelt<br />
werden, ermöglicht es dem Nutzer, ohne langes Suchen schnell die Stelle des Werks zu finden, wo er<br />
Antworten auf seine Fragen findet. Dabei helfen ihm 61 Fallbeispiele, sich den komplexen Fragestellungen des<br />
Sozialrechts anzunähern. An vielen Stellen hat die Autorin DOERING-STRIENING, selbst erfahrene Fachanwältin<br />
für Familien- und Erbrecht sowie langjährige Dozentin, Grafiken und Übersichten eingestreut. Diese sind<br />
nützlich, um die Systematik der einzelnen Regelungsbereiche zu verstehen. Hilfreich ist dies insbesondere für<br />
noch unerfahrene Kollegen, um sich dem Thema anzunähern. Aber auch erfahrenen Kollegen dienen sie als<br />
Orientierungshilfe. Von den Beispielen ausgehend behandelt die Autorin die verschiedenen Themenbereiche<br />
dann umfassend, liefert die Lösungen und streut an passenden Stellen fett hervorgehobene Hinweise ein.<br />
Prüfschemata, die die Autorin eigens entwickelt hat, ermöglichen es außerdem, den eigenen Fall abzuprüfen<br />
und Lösungsansätze zu finden. Schließlich dienen Fazits und Zusammenfassungen insbesondere dem Nutzer<br />
unter Zeitdruck, sich rasch zu orientieren und Fragen zu klären. Fazit: Das Buch ist ein nützlicher, längst<br />
überfälliger Ratgeber, der sämtliche Fragestellungen rund um den Sozialhilferegress beantwortet. Er eignet<br />
sich für Sozial-, Familien- und Erbrechtler gleichermaßen und verdient einen Platz im Bücherregal.<br />
RAin, FAin für Erb- und Steuerrecht RUTH BOHNENKAMP, Düren<br />
Zivilprozessrecht<br />
ROSENBERG/SCHWAB/GOTTWALD, Zivilprozessrecht, 18. Aufl. 2018, 1.239 S., C.H. Beck Verlag, 139 €<br />
Dieses Lehrbuch des Zivilprozessrechts ist ein Klassiker. Generationen von Studenten, so sie denn neben<br />
den Repetitorien Interesse für das klassische Lehrbuch aufbrachten, haben sich bereits an diesem Werk<br />
orientiert. Die Prozessrechtswissenschaft ist maßgeblich von diesem Titel beeinflusst worden. An<br />
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Buchreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
alledem hat sich nichts geändert, seit GOTTWALD für das Buch verantwortlich ist. Er ist nicht etwa „nur“<br />
Herausgeber, sondern er hat auch diese 18. Neuauflage insgesamt verfasst. Es handelt sich also um ein<br />
Werk aus einem Guss. Aber ist es auch für den Praktiker von Interesse? Diese Frage ist uneingeschränkt<br />
zu bejahen. Warum? Die Formulierungskunst von GOTTWALD führt zu kurzen und prägnanten Ausführungen.<br />
Auch komplexe Zusammenhänge werden verständlich erörtert. Das gilt auch für alltägliche<br />
Fragen der Prozesspraxis, wie etwa die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs, die Richterablehnung,<br />
Zuständigkeitsfragen, Probleme der Zustellung, die Folgen der Verletzung des rechtlichen<br />
Gehörs, Prozesskostenhilfe und -finanzierung, Einzelheiten zur Klageerhebung und zum Verhalten des<br />
Beklagten auf die Klage, Notwendigkeit der Informationsbeschaffung und Beweis und die Rechtsmittelverfahren.<br />
Die Erläuterungen zur Berufung sind ein gutes Beispiel für die hohe Qualität des Werks.<br />
Nachdem allgemeine Fragen der Rechtsmittel stringent erläutert worden sind, wird in einem<br />
Folgekapitel die Berufung gründlich und durchaus praxisorientiert behandelt. Auch wenn GOTTWALD<br />
zum Berufungsverfahren eine eher engere Bindung des Berufungsgerichts an die Tatsachenfeststellungen<br />
I. Instanz vertritt, die nach meiner Auffassung problematisch ist (vgl. EICHELE/HIRTZ/OBERHEIM,<br />
Berufung im Zivilprozess, 5. Aufl. 2017, Kap. 7, S. 222), besticht die geschlossene und die aktuelle<br />
Rechtsprechung des BGH reflektierende Darstellung des Berufungsverfahrens in diesem Werk. Fazit:<br />
Der Griff zu diesem Lehrbuch veranlasst im besten Sinne zum eigenen Nachdenken, und zwar viel mehr,<br />
als dies ein Blick in die gängigen Kommentare tun könnte. Das Werk ist daher auch für die Anwaltspraxis<br />
in jeder Hinsicht empfehlenswert.<br />
RA Prof. Dr. BERND HIRTZ, Köln<br />
Sozialrecht<br />
DAU/DÜWELL/JOUSSEN (Hrsg.), Sozialgesetzbuch IX, 5. Aufl. <strong>2019</strong>, 2.016 S., Nomos Verlag, 148 €<br />
Mit dem Ziel, die Behindertenpolitik in Deutschland im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention<br />
weiterzuentwickeln, hat der Gesetzgeber Ende des Jahres 2016 das mehr als 100 Seiten Änderungstext<br />
umfassende Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen<br />
– Bundesteilhabegesetz, BTHG – verkündet (BGBl I 2016, S. 3234 ff.). Die wesentlichsten<br />
Änderungen betreffen die Sozialgesetzbücher IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen)<br />
und XII, aus dem das Eingliederungshilferecht herausgenommen und als Teil 2 (§§ 90 ff.) in das SGB IX<br />
eingefügt wurde. Die Änderungen, die das vor Verkündung des Gesetzes und im SGB IX geregelte Recht<br />
der schwerbehinderten Menschen betreffen, sind bereits zum 30.12.2016 in Kraft getreten. Seit dem<br />
1.1.2018 sind die bisherigen §§ 68 ff. SGB IX überdies verschoben in den Teil 3 des SGB IX (§§ 151 ff.). Das<br />
Inkrafttreten der übrigen Bestimmungen der Neuregelung erfolgt stufenweise bis zum Jahr 2023. Diese<br />
einführenden Hinweise belegen die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Neuauflage, die hier mit<br />
Stand Juli 2018 anzuzeigen ist. Der Kommentar informiert zuverlässig über die durch das Bundesteilhabegesetz<br />
bedingten umfassenden Rechtsänderungen, indem der gegenüber der Vorauflage erweiterte<br />
Autorenkreis ihre Auswirkungen darstellt und kritisch auf ihre Folgen für die Praxis überprüft. Kommentiert<br />
werden neben dem SGB IX die Wahlordnung Schwerbehindertenvertretungen sowie das<br />
Behindertengleichstellungsgesetz. Die Neuauflage berücksichtigt bereits das ab 2020 geltende Eingliederungshilferecht<br />
(§§ 90 ff. SGB IX). Fazit: Das Buch bietet der sozial- und arbeitsrechtlichen Praxis ein<br />
nahezu unentbehrliches Hilfsmittel, um die durch das BTHG bewirkten grundlegenden, zahlreichen<br />
Neuerungen für die Mandatsbearbeitung zu erfassen.<br />
RA, FA für Sozial- und für Arbeitsrecht Dr. ULRICH SARTORIUS, Breisach<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
NOBIS, Strafverteidigung vor dem Amtsgericht, 2. Aufl. 2018, 217 S., C.H. Beck Verlag, 49 €<br />
Das strafrechtliche Tagegeschäft findet mit 98 % aller Anklagen vor dem Amtsgericht statt. Für den dort<br />
Angeklagten ist sein Fall jedoch genauso der wichtigste Fall wie für denjenigen vor der Großen<br />
Strafkammer. Damit vor den Amtsgerichten so professionell verteidigt wird wie in den „großen Fällen“,<br />
gibt es dieses Buch – das einzige mit dieser Zielrichtung. Dankenswert und für den Anwalt bestimmt,<br />
der ständig am „Heimatgericht“ zu tun hat: Der Einstieg über den Umgang mit den Richtern, die der<br />
384 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Buchreport<br />
Verteidiger regelmäßig gegenüber hat. Es ist der Spagat zwischen Parteiverrat durch die eigennützige<br />
Absicht, es sich nicht mit dem Gericht verscherzen zu wollen und effektiver Verteidigung. „Hart und<br />
entschlossen in der Sache, aber stets fair und formwahrend“, fordert NOBIS. Es wäre schön, wenn<br />
Kollegen aus diesen Ausführungen etwas Grundsätzliches lernen. Der Leser profitiert von NOBIS‘<br />
Erfahrung durch effiziente Darstellung und gut nachvollziehbare, in die Tat umsetzbare Anleitungen. Die<br />
Zeiten des vertrödelten Ermittlungsverfahrens sind vorbei. Denn gerade hier werden durch moderne<br />
Strafverteidigung Weichen gestellt: Welche Schlüsse muss ich daraus ziehen, dass eine Akte gerade<br />
durch die Staatsanwaltschaft „versandt“ ist? Wie erreiche ich die Einstellung im Ermittlungsverfahren?<br />
Wie arbeite ich proaktiv auf den abgesprochenen Strafbefehl hin, wenn die Einstellung nicht erreicht<br />
werden kann? Daran schließen sich formelle und informelle Einflussmöglichkeiten für das Zwischenverfahren<br />
an. Kommt es hart auf hart findet der Leser rechtliche Grundlagen und Ratschläge für das<br />
Hauptverfahren: von Ablehnung über Beweisanträge, Fragetechnik und Pflichtverteidigung bis zum<br />
Tabu der Vollmachtsvorlage. Ein Kollege mit 20 Jahren Berufserfahrung berichtete, die zweite Auflage<br />
sei seine aktuelle Nachttischlektüre und lehrreich. Fazit: Rechtsanwälte lernen nie aus. Sowohl für den<br />
Junganwalt als auch für den alten Hasen ein nützlicher Begleiter speziell für das amtsgerichtliche<br />
Tagesgeschäft im Straf- und OWi-Verfahren.<br />
RA, FA für Strafrecht HEIKO URBANZYK, Coesfeld<br />
RINKLIN (Hrsg.), Der Strafprozess – Strategie und Taktik in der Hauptverhandlung, inkl. App,<br />
1. Aufl. <strong>2019</strong>, 1.500 S., Deubner Verlag, 179 € (bis 30.4.<strong>2019</strong>), 198 €<br />
Die Besonderheit des Buchs besteht darin, dass hier die zeitliche Abfolge der Hauptverhandlung<br />
abgebildet wird. Das erleichtert das Auffinden verschiedener Stichworte. Diesem ist zunächst eine<br />
Einführung in das Thema vorangestellt, an die sich prozesstaktische Hinweise und schließlich Muster<br />
anfügen. Manchem Muster ist zwar anzusehen, dass es nicht aus der Verteidigerfeder stammt, was<br />
jedoch der Benutzbarkeit keinen Abbruch tut. Hilfreich sind die Darstellung verschiedener Prozesssituationen<br />
(z.B. Kapitel 7 – Ausschluss der Öffentlichkeit), da rasch die eigene Situation abgeglichen<br />
werden kann. Wer in der Hektik der Verhandlung etwas sucht, wird sich daher zunächst in der<br />
Inhaltsübersicht nach dem auf ihn zutreffenden Kapitel umsehen. Diese umfassen beispielsweise die<br />
Zuständigkeit des Gerichts über die Ablehnung von Prozessbeteiligten, das Opening Statement wie auch<br />
Fragerechte und – sicher unvermeidlich – Beweiserhebungs- und Verwertungsverbote, das Beweisantragsrecht<br />
und schließlich Vorgespräche und Verständigungen im Strafprozess sowie wie auch die<br />
Nebenklage und das Adhäsionsverfahren. Hilfreich sind zudem die in der gedruckten Ausgabe optisch<br />
gut aufzufindenden Praxistipps und Hinweise, beispielsweise in Kapitel 15 „Zeugenvernehmung“ bei der<br />
Feststellung zum Zeugnisverweigerungsrecht von Berufsgeheimnisträgern und deren Hilfspersonen, die<br />
den aktuellen Stand des Geschehens dokumentieren und veranschaulichen. Praktisch ist zudem, dass<br />
das gesamte Produkt auch online bzw. über eine Webseite genutzt werden kann, da die Zugangsdaten<br />
mit dem Kauf des Werks vom Verlag übermittelt werden. Hier dürfte nur das viel gescholtene instabile<br />
Netz in den Gerichten der Anwendungspraxis Erschwernisse bescheren, sollte die Offlineversion nicht<br />
genutzt werden. Fazit: In jedem Fall verleiht das Werk für die Hauptverhandlung deutlich mehr<br />
Sicherheit als es ein Kommentar kann, da es auf die praktische Gestaltung des Prozesses verweist. Wer<br />
übrigens den hohen Adrenalinspiegel einer kontrovers geführten Hauptverhandlung unter Kontrolle<br />
halten will, dem kann die Anschaffung schon allein unter gesundheitlichen Aspekten nur angeraten<br />
werden.<br />
RAin, FAin für Straf- und für Verkehrsrecht, Mediatorin und Coach (zert. Univ.) GESINE REISERT<br />
JUNKER, Beweisantragsrecht im Strafprozess, 3. Aufl. <strong>2019</strong>, 248 S., <strong>ZAP</strong> Verlag, 49 €<br />
Zutreffend weist der Autor darauf hin, dass der richtig eingesetzte Beweisantrag Wirkung in diverse<br />
Richtungen entfalten kann: zum einen nämlich in die Erweiterung der Aufklärungspflichten, zum<br />
anderen in die Festschreibung des in der Beweisaufnahme ermittelten Sachverhalts zur Führung einer<br />
erfolgreichen Revision. Zunächst stellt JUNKER die Grundlagen der Beweisaufnahme dar, dann gliedert er<br />
den Beweisantrag in seinen verschiedenen Ausformungen auf. Schließlich kann über die Festschreibung<br />
von Beweisergebnissen die Anknüpfung an den vorinstanzlich gestellten Beweisantrag in der Revision<br />
erfolgreich ausgeführt werden, wie durch die Darstellung erfolgversprechender Rügen gezeigt wird. Das<br />
Werk erhält viele Formulierungsbeispiele, aber vor allen Dingen genaue Hinweise darauf, worauf im<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 385
Buchreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Einzelnen zu achten ist, sollten Beweisanträge gestellt werden. Auch macht sich der Verfasser die Mühe,<br />
über den Zeitpunkt der Antragstellung nachzudenken, um so frühzeitig auf den Gang des Verfahrens<br />
einzuwirken. Zudem werden die Ablehnungsgründe eines Beweisantrags (§ 2 I.) dargestellt, denn die<br />
Fehlerträchtigkeit dieser Ablehnungsentscheidungen kann Grundlage einer möglichen Revision sein. Der<br />
Verteidiger kann durch diese Ausführungen, die parallel zur Ablehnungsentscheidung gelesen werden<br />
sollten, die Aussicht einer Revision besser einschätzen. Insofern sollte daran erinnert werden, dass ein<br />
Ablehnungsbeschluss des Gerichts stets genau geprüft werden sollte, bevor weitere Prozesshandlungen,<br />
insbesondere der Fortgang der Verhandlung, erfolgen. Fazit: Die praxisgerechte Darstellung<br />
bzw. Fassung von Beweisanträgen zeichnet dieses Werk aus und ist eine große Hilfe in der<br />
strafprozessualen Praxis; das Werk ist daher uneingeschränkt zum Kauf zu empfehlen.<br />
RAin, FAin für Straf- und für Verkehrsrecht, Mediatorin und Coach (zert. Univ.) GESINE REISERT<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
TIETJE/RUPPRECHT, Personalmanagement für Anwaltskanzleien, 1. Aufl. 2018, 141 S., Deutscher<br />
Anwaltverlag, 39 €<br />
RONJA TIETJE, Vorsitzende des RENO-Bundesverbands, und GEORG RUPPRECHT, Rechtsanwalt in Bremen,<br />
haben es sich zur Aufgabe gemacht, das „Personalmanagement für Anwaltskanzleien“ in den Blick zu<br />
nehmen und dafür Sorge zu tragen, dass qualifiziertes Personal gefunden und zugleich gebunden wird.<br />
Die Folgen einer fehlenden Kanzleiorganisation sind nämlich ungestellte Rechnungen, chaotische Akten,<br />
falsch oder nicht notierte Fristen. Daher stehen im Wesentlichen die Kanzleimitarbeitenden, die im<br />
nichtanwaltlichen Bereich tätig sind, im Fokus des Buchs. Die Überlegungen sind unerlässlicher Teil<br />
eines fortwährenden Kanzleimanagements. Das Buch bietet einen Überblick zu den Rechtsformen der<br />
anwaltlichen Berufsausübung sowie dem eigentlichen Personalmanagement. Hierbei wird darauf<br />
geachtet, nach welchen Kriterien eine Kanzlei organisiert werden sollte, welcher Personalplanung es<br />
bedarf und wie geordnete Personalgespräche als Steuerungsinstrument zur Führung in den jeweiligen<br />
Hierarchien eingesetzt werden können. Das Kapitel zur Personalgewinnung bzw. -rekrutierung enthält<br />
Vorschläge für Stellenausschreibungen, die Gestaltung des Bewerbungsverfahrens und die rechtlichen<br />
Aspekte hierzu. Hilfreich ist sicherlich die Vorbereitung der Einarbeitungsphase, in der eine klare Struktur<br />
schon das erste Bindungselement sein sollte. Weitere wichtige Themen sind Personalführung sowie die<br />
Motivation von Mitarbeitern. Dabei ist hervorzuheben, dass ein gewichtiger Baustein hierfür in den<br />
Kommunikationsgrundsätzen verankert ist, die ebenfalls dargestellt werden. Dieser Abschnitt ist nicht<br />
nur im Personalmanagement wichtig, sondern hilft auch generell im Umgang mit Dritten und kann zum<br />
Lesen nur empfohlen werden. Ebenfalls enthalten sind die überwiegend rechtlichen Aspekte des Arbeitszeitmanagements<br />
und die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses, die das Buch abrunden. Fazit:<br />
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bei der sinkenden Zahl des ausgebildeten Fachpersonals die<br />
Anstrengungen des Kanzleiinhabers wachsen müssen, um den Anforderungen des Markts, vor allem<br />
aber den Bedürfnissen der Mitarbeitenden gerecht zu werden. Anregungen hierzu finden sich in dem<br />
Buch von TIETJE/RUPPRECHT.<br />
RAin, FAin für Strafrecht und für Verkehrsrecht, Mediatorin und Coach (zert. Univ.) GESINE REISERT<br />
Gebührenrecht<br />
N. SCHNEIDER, RVG Praxiswissen, 5. Aufl. <strong>2019</strong>, 597 S., Nomos Verlag, 44 €<br />
Der Name ist Programm: Ein Werk für Praktiker. Auf fast 600 Seiten gibt N. SCHNEIDER Antworten auf alle<br />
Fragen der Praxis zum RVG. Der Autor stellt zunächst die korrekte Vorgehensweise dar und erläutert<br />
diese mit sinnvollen Beispielrechnungen. Soweit vorhanden, werden verschiedene Ansichten genannt<br />
und die herrschende Meinung erläutert. Der Autor weist zudem auf besondere Fehlerquellen hin. So<br />
werden bei der in Vergütungsvereinbarungen beliebten 15-Minuten-Zeittaktklausel die Gefahren der<br />
Zählweise angefangener Takte aufgezeigt (S. 58), aber es folgt auch der Hinweis, wie das Problem zu<br />
lösen ist. Dies gilt ebenso für typische Praxistipps wie den, dass bei laufendem Unterhalt regelmäßig<br />
bereits mindestens ein Monat Rückstand fällig und dieser damit werterhöhend als 13. Monat zu<br />
386 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Buchreport<br />
berücksichtigen ist (S. 291). Die Rechtsprechung ist auf dem neuesten Stand. N. SCHNEIDER nimmt auch<br />
hier Stellung zu offenen Fragen. Während andere die Existenz der Zahlungsvereinbarungs-Einigungsgebühr<br />
gerade erst bemerkt haben, setzt sich der Autor schon kritisch mit der Rechtsprechung<br />
auseinander und lehnt die Ansicht des AG Vaihingen ab, nach der eine Sicherungsabtretung eine<br />
Wertreduzierung gem. § 31b RVG verhindern soll (S. 131). Hinsichtlich der Auslösung dieser Gebühr durch<br />
den Gerichtsvollzieher rückt er mit einer neuen, klar nachvollziehbaren Begründung von seiner<br />
bisherigen, an anderen Stellen vertretenen Ansicht ab (S. 128) und ist auch hier topaktuell. Gewonnen<br />
hat das Werk zudem noch durch die in dieser Auflage neu hinzugefügten Hinweise zur Kostenerstattung.<br />
Oft liegen gerade hier, z.B. bei der Erstattungsfähigkeit der Reisekosten, die Probleme der<br />
Praxis. Fazit: Das Buch RVG Praxiswissen kann nur uneingeschränkt empfohlen werden. Wenn der<br />
Autor zurückhaltend als Zielgruppe u.a. junge Rechtsanwälte und Wiedereinsteiger nennt, so greift dies<br />
zu kurz. Das Werk ist für jeden RVG-Praktiker ein Gewinn.<br />
Dipl.-RPfl. THOMAS SCHMIDT, Dozent FH f. Rechtspflege NRW, Bad Münstereifel<br />
Anwaltsformulare<br />
VORWERK (Hrsg.), Das Prozessformularbuch, inkl. Download der Muster, 11. Aufl. <strong>2019</strong>, 3.339 S.,<br />
Otto Schmidt Verlag, 149 €<br />
Zur Jahreswende 2018/<strong>2019</strong> sind Neuauflagen der drei hier vorgestellten und am Markt etablierten<br />
Prozessformularbücher erschienen. Die Werke sind durchaus unterschiedlich. Das von VOLKERT VORWERK<br />
mit souveräner Hand herausgegebene und in vielen Teilen von ihm verfasste Werk ist ein Klassiker. Es<br />
enthält weit mehr, als sein Titel ahnen lässt. Zu seinen Besonderheiten gehört, dass es – erklärtermaßen<br />
– zugleich Handbuch ist und dem Leser, wie es das Vorwort zu Recht formuliert, über das<br />
Zusammenspiel von Muster und erklärenden Erläuterungen die Gewissheit gibt, das Problem, das sich<br />
ihm im Rahmen der Prozessführung stellt, zutreffend zu lösen. VORWERK gelingt es, 37 Autorinnen und<br />
Autoren aus Anwalt- und Richterschaft „unter einen Hut“ zu bringen. Und dieser Hut sitzt und<br />
schmückt. Anhand des Prozessverlaufs wird zunächst zu jedem der einzelnen Verfahrensschritte die<br />
Rechtslage erläutert, bevor Praxistipps, Know-how-Hinweise, Checklisten und (insgesamt über 1.500)<br />
Muster folgen. Das Werk beginnt mit der Situation vor dem Verfahren. Ein erstes Buch behandelt<br />
alsdann den Verlauf des „normalen“ Zivilprozesses. Besonders gelungen und mit praktikablen Mustern<br />
durchsetzt ist der von VORWERK geschriebene Teil zum Berufungsrecht. Es folgen in Anlehnung an<br />
materiell-rechtliche Schwerpunkte (z.B. Kaufrecht, Mietrecht, WEG, Leasing, Produkthaftungsrecht,<br />
Gesellschaftsrecht, Wettbewerbsrecht) Darstellungen der Besonderheiten solcher Verfahren. In einem<br />
zweiten Buch wird – erstmals in dieser Form in der Neuauflage – das Verfahren in Familiensachen<br />
behandelt. Auf über 500 Seiten findet der Nutzer alles was er braucht. Im Abschlusskapitel werden die<br />
Besonderheiten arbeits- und sozialrechtlicher Streitigkeiten (auf rund 100 Seiten) dargestellt.<br />
Hervorzuheben ist, dass die Muster (ohne Erläuterungen) zum Download bereitstehen; die Zugangsdaten<br />
findet der Leser zu Beginn des Buchs. Fazit: (Auch) die Neuauflage des VORWERK ist ein<br />
Meisterwerk. Das Buch enthält mit Tipps, Anmerkungen und Formularen durch lange Rechtstradition<br />
konkretisiertes Erfahrungswissen.<br />
MES (Hrsg.), Beck’sches Prozessformularbuch, inkl. Download der Formulare, 14. Aufl. <strong>2019</strong>,<br />
3.000 S., C.H. Beck Verlag, 139 €<br />
Das von PETER MES herausgegebene und von zahlreichen Autoren aus Richterschaft und Anwaltschaft<br />
geschriebene Beck’sche Prozessformularbuch, dessen erste Auflage im Jahre 1980 erschienen ist, hat<br />
sich in jeder Hinsicht und zu Recht am Markt durchgesetzt. Auch dieses Werk folgt dem Prozessverlauf.<br />
Indessen gibt es einen wesentlichen Unterschied im Verhältnis zur Darstellung im VORWERK. Das<br />
Beck’sche Prozessformularbuch folgt dem Aufbau der bewährten Beck’schen Formularbücher: Nach der<br />
Präsentation der Formulare folgen rechtliche Erläuterungen und Hinweise. Während also der VORWERK<br />
zunächst die Verfahrenslage erläutert und im Rahmen dieser Erläuterungen Formulare liefert, geht das<br />
Beck’sche Prozessformularbuch von den Formularen aus und liefert alsdann Anmerkungen (durchaus<br />
mit weiterführenden Hinweisen auf Rechtsprechung und Literatur). Das Werk beginnt mit dem<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 387
Buchreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Mandatsverhältnis und folgt dann dem Verlauf des Zivilprozesses. Auch hier werden Klagen und Anträge<br />
im Zivilprozess zu ausgewählten Rechtsgebieten, wie etwa Kaufrecht, Miet- und Maklerrecht,<br />
Werkvertragsrecht, Reiserecht usw. behandelt. Eines der Themen behandelt auch Familiensachen, die<br />
– anders als im VORWERK – nicht eine eigene Darstellung in einem gesonderten Teil erfahren. Das<br />
Beck’sche Formularbuch ist eine Fundgrube für die in vielen Fachgebieten erforderlichen Anträge, z.B. im<br />
Gesellschaftsrecht, Kartellrecht, dem Recht des gewerblichen Rechtsschutzes und dem Vergaberecht.<br />
Besonderes Augenmerk wird auf die Zwangsvollstreckung gerichtet. Eine eigene und in sich<br />
verständliche Abteilung behandelt Formulare für den Arbeitsgerichtsprozess. Eine Besonderheit des<br />
Beck’schen Prozessformularbuchs ist es, dass nicht nur zivil-, arbeits- und sozialrechtliche Streitigkeiten<br />
behandelt werden, sondern ebenso das Verwaltungsstreitverfahren, das Verfassungsrecht und der<br />
Finanzgerichtsprozess. Die Formulare (ohne Erläuterungen) stehen zum Download bereit; die<br />
Zugangsdaten findet der Leser zu Beginn des Buchs. Fazit: Die Neuauflage des Beck’schen Prozessformularbuchs<br />
bietet mannigfache Formulierungsanregungen für das gesamte Verfahrensrecht, und<br />
dies zugleich praxisorientiert und auf hohem inhaltlichem Niveau.<br />
SAENGER/ULLRICH/SIEBERT (Hrsg.), ZPO, Kommentiertes Prozessformularbuch, inkl. Online-Zugang,<br />
4. Aufl. <strong>2019</strong>, 2.700 S., Nomos Verlag, 138 €<br />
Einen im Verhältnis zu den beiden vorbesprochenen Werken durchaus anderen Weg geht das in der<br />
Praxis sehr gut aufgenommene von INGO SAENGER, CHRISTOPH ULLRICH und OLIVER SIEBERT herausgegebene<br />
Kommentierte Prozessformularbuch zur Zivilprozessordnung (mit Familienverfahren und ZVG). Dieses<br />
Werk folgt nicht dem Prozessverlauf, sondern dem Inhalt von ZPO, FamFG, GVG und ZVG. Die Vorschriften<br />
der genannten Gesetze sind wiedergegeben. Dort, wo aus anwaltlicher oder richterlicher Sicht<br />
Handlungsbedarf besteht, für den Formulare hilfreich sind, werden Muster präsentiert und erläutert. Der<br />
Vorteil dieser am Gesetzeswortlaut orientierten Musterpräsentation liegt darin, dass der Leser die<br />
Muster dort findet, wo er sie aufgrund der prozessrechtlichen Vorschriften sucht. Nachteilig ist allenfalls,<br />
dass die prozessrechtlichen Vorschriften nicht unbedingt dem Verfahrensverlauf folgen. Außerdem sind<br />
bei zahlreichen Mustern durchaus verschiedene prozessrechtliche Normen zu beachten. Indessen ist<br />
dem Werk ein alphabetisches Musterverzeichnis vorangestellt, so dass auch der Leser, der sich nicht am<br />
Gesetzestext orientieren will, schnellen Zugriff findet. Eine weitere Besonderheit des SAENGER/ULLRICH/<br />
SIEBERT liegt darin, dass nicht nur Muster für die anwaltliche Tätigkeit präsentiert werden, sondern auch<br />
für die richterliche Aufgabe (z.B. Terminbestimmung, Beschlüsse, Urteile). Die Kenntnis dieser Muster –<br />
nebst Erläuterungen – ist durchaus auch aus anwaltlicher Sicht gewinnbringend. Besonders<br />
hervorzuheben ist die Vielzahl der präsentierten Muster, die auch auf materiell-rechtliche Besonderheiten<br />
Rücksicht nehmen. Zum Werk gehört ein persönlicher Online-Zugang (Zugriff auf den Volltext<br />
sowie die darin zitierten Gesetze und die Rechtsprechung). Fazit: Der Leser, der sich gern am<br />
Normengefüge der Verfahrensordnungen orientiert, wird hier zügig fündig und durch gute Qualität<br />
belohnt; vorteilhaft ist der Online-Zugang zur Rechtsprechung.<br />
Empfehlung:<br />
Ein Vergleich der drei hier besprochenen Werke führt zu unterschiedlichen Empfehlungen: Wer im Bereich<br />
des Zivilprozesses, des FamFG-Verfahrens, des Insolvenzverfahrens, der Zwangsvollstreckung und des Arbeitsgerichtsverfahrens<br />
sachkundige Erläuterungen zum Verfahrensverlauf und seiner Rechtsgrundlagen<br />
sucht und wer im Rahmen dieser Suche – durchaus detaillierte – Formulare verwenden möchte, ist mit dem<br />
VORWERK bestens bedient. Jeder, der ein zivilrechtliches Verfahren führt, darf darauf nicht verzichten. Das<br />
Beck’sche Prozessformularbuch erfasst neben den zivilrechtlichen Verfahren auch die anderen Verfahrensarten.<br />
Es liefert – angelehnt an den Verfahrensverlauf – Formulare mit Erläuterungen. Im Verhältnis zum<br />
VORWERK fällt der Erläuterungsteil (insbesondere für den Bereich der Zivilverfahren) knapper aus. Dem Generalisten<br />
werden alle praktisch relevanten Verfahrensarten präsentiert. Das Beck’sche Formularbuch ist das<br />
Werk der Wahl für den Leser, der nicht nur im weiten Bereich des Zivilrechts tätig sein will. Und das Werk<br />
von SAENGER/ULLRICH/SIEBERT orientiert sich an der gewohnten Kommentierung zu ZPO, FamFG und ZVG. Seine<br />
Besonderheit liegt in der Präsentation von Mustern auch für die richterliche Arbeit.<br />
RA Prof. Dr. BERND HIRTZ, Köln<br />
388 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 59<br />
Eilnachrichten<br />
Volltext-Service: Die Entscheidungsvolltexte zu den <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können Sie online kostenlos bei<br />
unserem Kooperationspartner juris abrufen, Anmeldung unter www.juris.de. Einzelheiten zum Anmeldevorgang<br />
finden Sie auf unserer Homepage www.zap-verlag.de/service. Sie sind Neu-Abonnent? Dann<br />
schicken Sie bitte eine E-Mail mit dem Betreff „Neu-Abonnement“ an freischaltcode-zap@zap-verlag.de<br />
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Kaufvertragsrecht<br />
Fernabsatz: Widerrufsrecht beim Onlinekauf einer Matratze<br />
(EuGH, Urt. v. 27.3.<strong>2019</strong> – C-681/17) • Das Widerrufsrecht der Verbraucher im Fall eines Onlinekaufs gilt<br />
auch für eine Matratze, deren Schutzfolie nach der Lieferung entfernt wurde. Wie bei einem<br />
Kleidungsstück kann davon ausgegangen werden, dass der Unternehmer in der Lage ist, die Matratze<br />
mittels einer Reinigung oder Desinfektion wieder verkehrsfähig zu machen, ohne dass dies<br />
den Erfordernissen des Gesundheitsschutzes oder der Hygiene widersprechen würde. Hinweis: Die<br />
Entscheidung erging auf Vorlage des BGH. Es galt die Frage zu beantworten, ob einer der<br />
Ausschlusstatbestände in der EU-Richtlinie 2011/83/EU (ABl 2011, L 304, S. 64) für das Widerrufsrecht<br />
erfüllt war (vgl. § 312g BGB). Dies verneinte der EuGH. Er stellte allerdings auch fest, dass der<br />
Verbraucher für etwaige Wertverluste der Ware haftet, wenn er sie über den zur Prüfung erforderlichen<br />
Umfang hinaus beansprucht hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 230/<strong>2019</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Wohnraummiete: Verjährung des mietrechtlichen Unterlassungsanspruchs<br />
(BGH, Urt. v. 19.12.2018 – XII ZR 5/18) • Im Rahmen eines Mietverhältnisses kann ein Unterlassungsanspruch<br />
wegen einer vertragswidrigen Nutzung der Mietsache nicht auf § 1004 BGB gestützt werden.<br />
Vielmehr ist allein § 541 BGB anwendbar. Nach § 541 BGB kann der Vermieter auf Unterlassung klagen,<br />
wenn der Mieter einen vertragswidrigen Gebrauch der Mietsache trotz Abmahnung fortsetzt. Der<br />
aus § 541 BGB folgende Anspruch des Vermieters gegen den Mieter auf Unterlassung eines<br />
vertragswidrigen Gebrauchs der Mietsache verjährt während des laufenden Mietverhältnisses nicht,<br />
solange die zweckwidrige Nutzung andauert. Auch Sinn und Zweck der Verjährungsvorschriften stehen<br />
der Annahme nicht entgegen, dass der Unterlassungsanspruch des Vermieters nach § 541 BGB während<br />
des laufenden Mietverhältnisses nicht verjähren kann. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 231/<strong>2019</strong><br />
Sonstiges Vertragsrecht<br />
Reiserecht: Verzögerte Abfertigung wegen Systemausfalls am Flughafen<br />
(BGH, Urt. v. 15.1.<strong>2019</strong> – X ZR 15/18) • Ein mehrstündiger Ausfall aller Computersysteme an den<br />
Abfertigungsschaltern eines Flughafenterminals, der einen erhöhten Aufwand bei der Abfertigung der<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 389
Fach 1, Seite 60 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />
Fluggäste zur Folge hat und damit den planmäßigen Start eines Flugs verhindert, kann außergewöhnliche<br />
Umstände i.S.d. Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO begründen. Welche Maßnahmen einem<br />
Luftverkehrsunternehmen zuzumuten sind, um zu vermeiden, dass außergewöhnliche Umstände zu<br />
einer großen Verspätung eines Flugs führen oder Anlass zu seiner Annullierung geben, bestimmt sich<br />
nach den Umständen des Einzelfalls; die Zumutbarkeit ist vom Tatrichter situationsabhängig zu beurteilen.<br />
Die Wirkung von Maßnahmen, zu denen die Parteien nicht vorgetragen haben und die sich<br />
auch nicht als zumutbar und erfolgversprechend aufdrängen, bedarf dabei keiner Aufklärung. Im<br />
Rahmen von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO sind lediglich Maßnahmen zu berücksichtigen, mit denen<br />
das ausführende Luftverkehrsunternehmen eine Annullierung oder Verspätung desjenigen Flugs hätte<br />
vermeiden können, der von dem außergewöhnliche Umstände begründenden Ereignis betroffen ist. Ob<br />
eine erheblich verspätete Ankunft eines auf diesen Flug sowie einen direkten Anschlussflug gebuchten<br />
Fluggastes an seinem Endziel durch eine Umbuchung auf einen anderen (Anschluss-)Flug verhindert<br />
werden kann, ist hingegen nur im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c FluggastrechteVO von<br />
Bedeutung. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 232/<strong>2019</strong><br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
WEG: Eigentümerhaftung für Verbindlichkeiten des Verbands<br />
(BGH, Urt. v. 26.10.2018 – V ZR 279/17) • Eine Haftung des Wohnungseigentümers gem. § 10 Abs. 8 S. 1<br />
WEG für Verbindlichkeiten des Verbands scheidet aus, wenn es sich um Ansprüche anderer Wohnungseigentümer<br />
handelt, die aus dem Gemeinschaftsverhältnis herrühren (sog. Sozialverbindlichkeiten).<br />
Hierzu gehören Aufwendungsersatzansprüche, die einem Wohnungseigentümer wegen der<br />
Tilgung einer Verbindlichkeit des Verbands zustehen, und zwar auch dann, wenn die Tilgung eine<br />
Notgeschäftsführungsmaßnahme i.S.d. § 21 Abs. 2 WEG ist; dies gilt unabhängig davon, ob eine<br />
Befriedigung aus dem Gemeinschaftsvermögen zu erwarten ist oder nicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 233/<strong>2019</strong><br />
Bank- und Kreditwesen<br />
Einlagengeschäft: Schadensersatzansprüche nach fehlgeschlagener Kapitalanlage<br />
(BGH, Urt. v. 16.10.2018 – VI ZR 459/17) • Eine Annahme von Geldern i.S.d. § 1 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 Alt. 2 KWG ist<br />
auch dann gegeben, wenn die Anleger nicht unmittelbar Bar- oder Buchgeld beim Kapitalnehmer einzahlen,<br />
sondern ihm (nur) Rechte und Ansprüche aus von ihnen gehaltenen Kapitallebensversicherungen<br />
abtreten, Zweck dieser Rechtsübertragung aber die Vereinnahmung des Rückkaufswertes durch<br />
den Kapitalnehmer ist und den Anlegern das den Rückkaufswert betreffende Auszahlungsrisiko nach<br />
den vertraglichen Vereinbarungen verbleibt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 234/<strong>2019</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Ordnungswidrigkeit: Nutzung eines Laptops am Steuer<br />
(OLG Köln, Beschl. v. 14.2.<strong>2019</strong> – 1 RBs 45/19) • Das Aufnehmen eines Laptops durch den Betroffenen<br />
auf seinen Schoß zu einem Zeitpunkt, zu dem nicht ausschließbar der Motor des Fahrzeugs an der<br />
Lichtzeichenanlage manuell ausgeschaltet ist, begründet kein (fortgesetztes) Aufnehmen des Geräts<br />
gem. § 23 Abs. 1a Nr. 1 StVO im Zeitpunkt des Losfahrens, wenn der Betroffene den Laptop beim<br />
Anfahren nicht in den Händen hält, sondern sich dieser auf seinem Schoß eingeklemmt zwischen<br />
Oberschenkel und Lenkrad befindet. Beim Anfahren an einer Lichtzeichenanlage unter weiterem<br />
„Tippen“ auf der Tastatur des Laptops scheidet eine noch erträgliche kurze Blickabwendung nach<br />
Maßgabe des § 23 Abs. 1a Nr. 2 StVO schon ihrer Natur nach aus; die festgestellte Benutzung erfordert<br />
jedenfalls mehr als einen nur kurzen Blickkontakt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 235/<strong>2019</strong><br />
390 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 61<br />
Versicherungsrecht<br />
Rechtsschutzversicherung: Risikoausschluss<br />
(BGH, Urt. v. 6.3.<strong>2019</strong> – IV ZR 72/18) • Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein<br />
durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und<br />
unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die<br />
Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse<br />
und damit auch auf seine Interessen an. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer versteht unter<br />
einem Arbeitsverhältnis das Dauerschuldverhältnis zwischen einem Arbeitnehmer und einem Arbeitgeber.<br />
Dass das Arbeitsverhältnis i.S.d. § 26 Abs. 3 Buchst. c ARB 1975/2001 auch von Anstellungsverträgen<br />
gesetzlicher Vertreter juristischer Personen abzugrenzen ist, wird sich dem durchschnittlichen,<br />
juristisch nicht vorgebildeten Versicherungsnehmer hingegen nicht erschließen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 236/<strong>2019</strong><br />
Familienrecht<br />
Nachehelicher Versorgungsausgleich: Beschränkung der Zulassung der Rechtsbeschwerde<br />
(BGH, Beschl. v. 27.2.<strong>2019</strong> – II ZB 183/16) • Eine Beschränkung der Zulassung der Rechtsbeschwerde<br />
muss nicht in der Beschlussformel angeordnet sein, sondern kann sich auch aus den Entscheidungsgründen<br />
ergeben, wenn sie sich diesen mit der erforderlichen Eindeutigkeit entnehmen lässt. Hat das<br />
Beschwerdegericht die Rechtsbeschwerde wegen einer Rechtsfrage zugelassen, die allein für einen<br />
eindeutig abgrenzbaren Teil des Verfahrensstoffs von Bedeutung ist, kann die gebotene Auslegung der<br />
Entscheidungsgründe ergeben, dass die Zulassung der Rechtsbeschwerde auf diesen Teil des Verfahrensstoffs<br />
beschränkt ist. Durch § 21 Abs. 3 VersAusglG soll dem Ausgleichsberechtigten die Realisierung<br />
der schuldrechtlichen Ausgleichsrente im Wege der Abtretung erleichtert und ihre unbeschränkte,<br />
auch über Pfändungsgrenzen hinausgehende Durchsetzung ermöglicht werden.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 237/<strong>2019</strong><br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Nachlassverbindlichkeiten: Einkommensteuerschulden<br />
(BFH, Urt. v. 14.11.2018 – II R 34/15) • Die gegen den Erblasser festgesetzte Einkommensteuer kann auch<br />
dann als Nachlassverbindlichkeit abgezogen werden, wenn der Erblasser noch zu seinen Lebzeiten<br />
gegen die Steuerfestsetzung Einspruch eingelegt hat und Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen<br />
Bescheids gewährt wurde. Die Einlegung eines Einspruchs durch den Erblasser zu dessen<br />
Lebzeiten führt nicht dazu, dass die wirtschaftliche Belastung durch die festgesetzte Steuer wegfällt.<br />
Dasselbe gilt für die Gewährung der Aussetzung der Vollziehung. Bei der Ermittlung der Zahl der<br />
Beschäftigten einer Holdinggesellschaft sind die Arbeitnehmer von Gesellschaften, an denen eine<br />
Beteiligung besteht, nicht einzubeziehen (Rechtslage für Erwerbe bis einschließlich 6.6.2013).<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 238/<strong>2019</strong><br />
Zivilprozessrecht<br />
Fehlerhafte Zustellung: Amtspflichtverletzung eines Zustellungsbeamten<br />
(BGH, Urt. v. 21.2.<strong>2019</strong> – III ZR 115/18) • Ein Zustellungsbeamter, der entgegen den Vorschriften der ZPO<br />
eine Zustellung falsch bewirkt, verletzt eine Amtspflicht, die ihm sowohl dem Absender als auch dem<br />
Empfänger gegenüber obliegt. Der Mangel der unterbliebenen Zustellung einer beglaubigten Abschrift<br />
einer Klageschrift wird durch die von der Geschäftsstelle des Gerichts veranlasste Übermittlung einer<br />
einfachen Abschrift dieses Schriftstücks geheilt. Die förmlichen Zustellungsvorschriften sollen nicht zum<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 391
Fach 1, Seite 62 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />
Selbstzweck erstarren, sondern die Zustellung ist auch dann als bewirkt anzusehen, wenn der<br />
Zustellungszweck anderweitig, nämlich durch tatsächlichen Zugang, erreicht wird. Allerdings wirkt sich<br />
die Heilung des Zustellungsmangels nicht auf das Vorliegen einer Amtspflichtverletzung aus, sondern ist<br />
allein für den Eintritt und Umfang eines ersatzfähigen Schadens von Bedeutung.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 239/<strong>2019</strong><br />
Schiedsgerichtsverfahren: Aufhebung eines Schiedsspruchs wegen Mangelhaftigkeit<br />
(BGH, Beschl. v. 14.2.<strong>2019</strong> – IZB33/18)• Nach der ZPO bestimmt das Schiedsgericht seine Verfahrensregeln<br />
nach freiem Ermessen, soweit keine Vereinbarung der Parteien vorliegt und das Zehnte Buch der<br />
Zivilprozessordnung keine Regelung enthält. Begrenzt wird das Verfahrensermessen des Schiedsgerichts<br />
durch den verfahrensrechtlichen ordre public, der die unverzichtbaren Grundlagen für ein ordnungsgemäßes<br />
rechtsstaatliches Verfahren wie den Anspruch auf rechtliches Gehör oder das Gebot der Gleichbehandlung<br />
der Parteien umfasst. Zu diesen unverzichtbaren Normen für ein ordnungsgemäßes Verfahren zählt § 301<br />
ZPO (Teilurteil) nicht. Ein Bedürfnis, den dem Schiedsgericht insoweit gesetzlich zugestandenen Ermessensspielraum<br />
von vornherein und ohne erkennbare Notwendigkeit einzuschränken, besteht nicht.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 240/<strong>2019</strong><br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Teilungsversteigerung: Kosten des Einstellungsverfahrens<br />
(BGH, Beschl. v. 10.1.<strong>2019</strong> – V ZB 19/18) • Bei der Entscheidung über den Einstellungsantrag eines<br />
Miteigentümers im laufenden Teilungsversteigerungsverfahren ergeht, ebenso wie bei der Entscheidung über<br />
den Einstellungsantrag des Schuldners im laufenden Zwangsversteigerungsverfahren, keine Kostenentscheidung<br />
nach den §§ 91 ff. ZPO.Hinweis: Ein Einstellungsantrag ist, anders als eine Erinnerung oder eine<br />
Beschwerde, nicht darauf gerichtet, eine Entscheidung des Vollstreckungsgerichts zu ändern. Der Antragsteller<br />
nutzt vielmehr eine im Verfahren vorgesehene Möglichkeit, eine bestimmte Entscheidung des<br />
Vollstreckungsgerichts (erstmalig) herbeizuführen. Antrag und Entscheidung des Vollstreckungsgerichts sind<br />
damit (unselbstständige) Teile des laufenden Zwangsversteigerungsverfahrens. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 241/<strong>2019</strong><br />
Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />
Vereinsrecht: Notabwicklung eines im Vereinsregister als erloschen eingetragenen Vereins<br />
(OLG Saarbrücken, Beschl. v. 5.11.2018 – 5 W 74/18) • Für die Ingangsetzung einer Notabwicklung für<br />
einen im Vereinsregister als erloschen eingetragenen Verein bedarf es einer Berechtigung. Das rechtliche<br />
Interesse an der Ingangsetzung einer Notabwicklung für den Verein, der im Grundbuch als Eigentümer<br />
mehrerer Grundstücke eingetragen ist, wird nicht schon dadurch begründet, dass der<br />
Antragstellende Kontakt zu dem aufgelösten Verein herstellen möchte, um herauszufinden, ob und ggf.<br />
zu welchen Konditionen dieser möglicherweise zur Veräußerung eines Grundstücks bereit wäre.<br />
Dadurch wird der Antragstellende nicht zum „Beteiligten“ des (Nachtrags-)Abwicklungsverfahrens.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 242/<strong>2019</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Betriebliche Altersversorgung: Anrechnungsverbot sonstiger Versorgungsbezüge<br />
(BAG, Urt. v. 11.12.2018 – 3 AZR 453/17) • Bei der Prüfung, ob ein sonstiger Versorgungsbezug i.S.v. § 5<br />
Abs. 2 S. 2 BetrAVG mindestens zur Hälfte auf Beiträgen des Arbeitgebers beruht, kann zwischen<br />
verschiedenen Beitragszeiten zu unterscheiden sein. Eine entsprechende Unterscheidung setzt jedoch<br />
voraus, dass die gezahlten Beiträge, auch bezogen auf die jeweils geleisteten Arbeitnehmer- und die<br />
Arbeitgeberbeiträge, den daraus resultierenden Rentenansprüchen zurechenbar sind.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 243/<strong>2019</strong><br />
392 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 63<br />
Sozialrecht<br />
Arbeitslosengeld: Berücksichtigung des in der Freistellungsphase gezahlten Gehalts<br />
(BSG, Urt. v. 30.8.2018 – B 11 AL 15/17 R) • Das während einer unwiderruflichen Freistellung gezahlte und<br />
abgerechnete Arbeitsentgelt ist in die Bemessung des Arbeitslosengeldes einzubeziehen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 244/<strong>2019</strong><br />
Kostenübernahme: Rehabilitation bei Demenzkranken<br />
(LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 17.7.2018 – L 11 KR 1154/18) • Bei einer an Alzheimer mit fortgeschrittener<br />
Demenz erkrankten Versicherten ist weder die Rehabilitationsfähigkeit noch eine positive<br />
Rehabilitationsprognose ausgeschlossen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 245/<strong>2019</strong><br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Grundrechtsschutz: Bürgerbegehren im Bauplanungsrecht<br />
(BVerfG, Beschl. v. 22.2.<strong>2019</strong> – 2 BvR 2203/18) • Vertrauensleute eines Bürgerbegehrens als in einer Art<br />
organschaftlichem Verhältnis zur betreffenden Gemeinde stehende „Amtswalter“ können sich nicht auf<br />
Art. 19 Abs. 4 GG berufen. Zwar gelten die Grundrechte nach Art. 19 Abs. 3 GG auch für inländische<br />
juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind, nicht jedoch für<br />
inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts. Dies gilt auch für Gemeinden und ihre Organe<br />
und damit auch für die Vertrauenspersonen eines Bürgerbegehrens; ihre durch das Kommunalrecht<br />
zugewiesenen Rechte sind Teil der kommunalen Willensbildung. Hinweis: Damit scheiterte eine<br />
Verfassungsbeschwerde von Vertrauensleuten eines Bürgerbegehrens in Hessen, welches sich gegen<br />
einen gemeindlichen Aufstellungsbeschluss gewendet hatte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 246/<strong>2019</strong><br />
Steuerrecht<br />
Versicherungsbeiträge: Steuerpflicht von Zinsen aus Lebensversicherungen<br />
(BFH, Urt. v. 25.9.2018 – VIII R 3/15) • Die Gewährung eines zinslosen Darlehens führt nicht zu einer<br />
steuerschädlichen Verwendung der Darlehensvaluta eines mit einer Lebensversicherung besicherten<br />
Darlehens, die die Steuerpflicht der außerrechnungsmäßigen und rechnungsmäßigen Zinsen aus den<br />
Sparanteilen der Lebensversicherung zur Folge hat. Nicht steuerschädlich sind Darlehen, deren Finanzierungskosten<br />
unter keinen Umständen zu Werbungkosten oder Betriebsausgaben führen können.<br />
Nicht steuerschädlich sind nach dem Gesetzeswortlaut sowie der eindeutigen Gesetzesbegründung<br />
Finanzierungen, die von vornherein außerhalb der steuerlichen Einkunftsarten i.S.v. § 2 EStG stehen, also<br />
insb. der Finanzierung von Privatausgaben dienen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 247/<strong>2019</strong><br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />
Schwere Brandstiftung: Konkrete Todesgefahr erforderlich<br />
(BGH, Urt. v. 16.8.2018 – 4 StR 162/18) • Wegen besonders schwerer Brandstiftung wird bestraft, wer einen<br />
anderen Menschen durch die Tat in die konkrete Gefahr des Todes bringt. Wann eine solche Gefahr<br />
gegeben ist, entzieht sich exakter wissenschaftlicher Umschreibung. Die Tathandlung muss aber jedenfalls<br />
über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus im Hinblick auf einen bestimmten Vorgang in<br />
eine kritische Situation für das geschützte Rechtsgut geführt haben; in dieser Situation muss – was nach<br />
der allgemeinen Lebenserfahrung aufgrund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die<br />
Sicherheit einer bestimmten Person so stark beeinträchtigt worden sein, dass es nur noch vom Zufall<br />
abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Allein der Umstand, dass sich Menschen in enger<br />
räumlicher Nähe zur Gefahrenquelle befinden, genügt noch nicht zur Annahme einer konkreten Gefahr.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 393
Fach 1, Seite 64 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />
Umgekehrt wird die Annahme einer Gefahr aber auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein Schaden<br />
ausgeblieben ist, weil sich der Gefährdete noch in Sicherheit bringen konnte. Erforderlich ist ein<br />
Geschehen, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, dass „das noch einmal gut<br />
gegangen sei“. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 248/<strong>2019</strong><br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Ermittlungsrichter: Erreichbarkeit des richterlichen Bereitschaftsdienstes<br />
(BVerfG, Beschl. v. 12.3.<strong>2019</strong> – 2 BvR 675/14) • Aus Art. 13 GG ergibt sich die verfassungsrechtliche<br />
Verpflichtung der Gerichte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters, auch durch die Einrichtung eines<br />
Bereitschaftsdienstes, zu sichern. Dieser muss bei Tage, d.h. zwischen 6 Uhr und 21 Uhr, uneingeschränkt<br />
erreichbar sein. Während der Nachtzeit ist ein solcher Bereitschaftsdienst jedenfalls bei einem Bedarf<br />
einzurichten, der über den Ausnahmefall hinausgeht. Die Prüfung eines solchen Bedarfs haben die<br />
Gerichtspräsidien nach pflichtgemäßem Ermessen in eigener Verantwortung vorzunehmen. Für die Art und<br />
Weise der Bedarfsermittlung steht ihnen ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu. Hinweis: Mit dieser<br />
Begründung hat das BVerfG auf die Verfassungsbeschwerde eines Beschuldigten hin die eine durch die<br />
Staatsanwaltschaft angeordnete nächtliche Durchsuchung bestätigenden Gerichtsbeschlüsse aufgehoben<br />
und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LG zurückverwiesen. Die Gerichte, so die Verfassungsrichter,<br />
hätten nicht geprüft, ob aus dem Richtervorbehalt in Art. 13 Abs. 2 GG eine Verpflichtung zur<br />
Einrichtung eines ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes für den maßgeblichen Zeitraum folgte.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 249/<strong>2019</strong><br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Anwaltshaftung: Fristenkontrolle bei Führung eines elektronischen Fristenkalenders<br />
(BGH, Beschl. v. 28.2.<strong>2019</strong> – III ZB 96/18) • Bei der Fristeingabe in den elektronischen Fristenkalender muss<br />
eine Kontrolle durch einen Ausdruck der eingegebenen Einzelvorgänge oder eines Fehlerprotokolls<br />
erfolgen. Unterbleibt eine derartige Kontrolle, so liegt ein anwaltliches Organisationsverschulden vor.<br />
Werden die Fristeingabe in den elektronischen Fristenkalender und die anschließende Eingabekontrolle in<br />
zwar mehrstufigen, aber ausschließlich EDV-gestützten und jeweils nur kurze Zeit benötigenden<br />
Arbeitsschritten am Bildschirm durchgeführt, besteht eine erhöhte Fehleranfälligkeit. Den Anforderungen,<br />
die an die Überprüfungssicherheit der elektronischen Kalenderführung zu stellen sind, wird durch eine<br />
solche Verfahrensweise nicht genügt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 250/<strong>2019</strong><br />
Gebührenrecht<br />
Kostenerstattung: Einreichung einer Schutzschrift<br />
(OLG Frankfurt, Beschl. v. 4.1.<strong>2019</strong> – 6 W 99/18) • Ist nach Einreichung einer Schutzschrift durch einen<br />
Rechtsanwalt der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgewiesen worden und hat die<br />
hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde ebenfalls keinen Erfolg, können dem Rechtsanwalt keine<br />
Gebührenansprüche für die Vertretung des Antragsgegners im Beschwerdeverfahren entstehen, wenn<br />
er und der Antragsgegner bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens von der Beschwerde keine<br />
Kenntnis hatten. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 251/<strong>2019</strong><br />
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394 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1485<br />
Kindeswohl<br />
Kindschaftsrecht<br />
Kindeswohl: Definition, rechtliche Einordnung, Kontrolle der Ermessensausübung,<br />
Wechselmodell und Hinweise für die Anwaltspraxis<br />
Von ULRIKE SACHENBACHER, Weitere Aufsicht führende Ri‘inAG, München<br />
Inhalt<br />
I. Einführung<br />
II. Definition und rechtliche Einordnung<br />
III. Kontrolle der Ermessensausübung<br />
IV. Kindeswohl im Wechselmodell<br />
V. Hinweise für die Anwaltspraxis<br />
I. Einführung<br />
Das Kindeswohl ist in keinem Verfahren eine Spielwiese für juristische Spitzfindigkeiten. In Fällen des<br />
Kindschaftsrechts produzieren verschiedene Instanzen – eventuell auch mit unterschiedlichen Ergebnissen –<br />
langfristig hohen emotionalen Stress im Familiensystem. Es kommt zu keiner Beruhigung für das betroffene<br />
Kind. Alle Verfahrensbeteiligten (Instanzgerichte, Eltern mit ihren Verfahrensbevollmächtigten, Verfahrensbeistand<br />
und Jugendamt) sind daher gehalten, zur Befriedung der Situation auch Kompromisse einzugehen<br />
und den Fokus ausschließlich auf das Kindeswohl zu richten. Die Praxis bestätigt, dass Verfahren, die nicht<br />
streitig entschieden werden, sondern in denen mit Hilfe aller Beteiligten im Helfersystem eine neue Elternautarkie<br />
und Elternkompetenz – auch durch Zwischenvereinbarungen – aufgebaut werden können, dem<br />
Kindeswohl dienen, da u.a. auch vermieden wird, dass in einer streitigen Eltern- und Paarbeziehung Sieger<br />
und Verlierer etabliert werden. Zum Erfolg tragen bei die Entwicklung gegenseitigen Vertrauens (auch durch<br />
Einbau von Kontrollen zum Wiederaufbau des beschädigten Vertrauens) sowie die Zusammenarbeit der<br />
Professionen, Kommunikationsgeschick in der Vermittlung eventueller Auflagen an die Eltern und das Wissen<br />
darum, dass ausschließlich juristische Lösungen selten bis nie tragfähige Lösungen sind.<br />
Eine entscheidende Erfolgskomponente ist aber vor allem die genaue Prüfung des unbestimmten<br />
Rechtsbegriffs „Kindeswohl“, der im Rahmen einer Ermessensprüfung seitens des Gerichts zunächst im<br />
Rahmen der Amtsermittlung gem. § 26 FamFG zu ermitteln ist und sodann nachvollziehbar auf Basis<br />
des korrekt gewählten Kindeswohlbegriffs zu begründen ist.<br />
II. Definition und rechtliche Einordnung<br />
Das Gesetz benennt im Rahmen einer Stufenleiter verschiedene Kindeswohlschwellen. In familienpsychologischen<br />
Sachverständigengutachten (bei Beweisbeschlusserlass und bei der Begutachtung<br />
selbst) sowie bei jeder gerichtlichen Entscheidung ist zwingend darauf zu achten, dass die gesetzlich<br />
korrekte Kindeswohlschwelle herangezogen wird.<br />
Hinweis:<br />
Ein Gutachten auf Basis einer falschen Einordnung des Kindeswohlbegriffs wegen der Nennung der unrichtigen<br />
Kindeswohlebene im Beweisbeschluss könnte, wenn der Fehler auf Gerichtsebene entstanden ist, durchaus<br />
einer Gerichtskostenniederschlagung nach § 20 FamGKG wegen unrichtiger Sachbehandlung zugänglich sein.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 395
Fach 11, Seite 1486<br />
Kindeswohl<br />
Familienrecht<br />
Die „Stufenleiter der Kindeswohlschwellen“ ist in folgende Skala unterteilt:<br />
• Die Stufe mit der intensivsten Eingriffsmöglichkeit ist die Kindeswohlgefährdung, zufinden in<br />
• §§ 1666, 1666a BGB, § 1684 Abs. 4 S. 2 BGB – Umgangseinschränkungen für längere Zeit oder auf<br />
Dauer,<br />
• § 1632 Abs. 4 BGB – Verbleibensanordnung zugunsten von Bezugspersonen/Pflegeeltern.<br />
• Eine extrem selten zu prüfende Ebene ist der unverhältnismäßige Nachteil für das Kind (§ 1748 Abs. 4<br />
BGB), z.B. Ersetzen der Einwilligung des Vaters bei Adoptionsvereitelung durch den leiblichen Vater<br />
trotz permanent fehlender Elternverantwortung (BVerfG NJW 2006, 827).<br />
• Eine für die Praxis sehr bedeutsame Ebene sind die triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig<br />
berührenden Gründe (§ 1696 BGB für jede Abänderung von Entscheidungen im Sorgerecht, beim<br />
Umgang und von gerichtlich gebilligten Umgangsvergleichen). Dies bedeutet, dass in zahlreichen<br />
Fällen der beantragten Umgangsabänderung eine höhere Kindeswohlschwelle gilt und nicht jede<br />
Kleinigkeit über eine Abänderung begehrt werden kann.<br />
• Die sehr häufig zugrunde zu legende Schwelle ist das Wohl des Kindes, in § 1697a BGB letztlich<br />
definiert als „entspricht dem Kindeswohl am besten“. Die Standardfälle sind hier:<br />
• § 1671 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB – Übertragung der elterlichen Sorge auf Erstantrag,<br />
• § 1684 Abs. 1 BGB – Entscheidung/Vergleich über den noch nicht gerichtlich geregelten Umgang<br />
und<br />
• § 1684 Abs. 4 S. 1 BGB – kurzfristige Umgangseinschränkung, z.B. durch Begleitung.<br />
Sonderfälle sind:<br />
• § 1618 Abs. 1 S. 4 BGB – Einbenennung,<br />
• § 1687 Abs. 2 BGB – Einschränkung der gemeinsamen elterlichen Sorge bei Getrenntleben sowie<br />
• § 1687b Abs. 3 BGB – Einschränkung der Befugnisse des Ehegatten des allein Sorgeberechtigten,<br />
selbst nicht Elternteil).<br />
• Eine weitere Stufe findet sich im Begriff „dient dem Kindeswohl“:<br />
• § 1685 BGB – Umgang von Bezugspersonen, z.B. Großeltern, und<br />
• § 1686a Abs. 1 Nr. 1 BGB – Umgangsrecht des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters.<br />
• Die niedrigste Kindeswohlebene formuliert das Gesetz mit „widerspricht nicht dem Kindeswohl“:<br />
• § 1626a Abs. 2 S. 1 BGB – im Rahmen des Antrags auf gemeinsame elterliche Sorge bei<br />
nichtehelichen Eltern,<br />
• § 1686a Abs. 1 Nr. 2 BGB – Auskunftsrecht des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters,<br />
• § 156 Abs. 2 FamFG – gerichtliche Billigung der Umgangsregelung,<br />
• §§ 1678 Abs. 2, 1680 Abs. 2 BGB – Ruhen der Sorge oder Tod des allein sorgeberechtigten<br />
Elternteils auf Dauer,<br />
• § 1686 BGB – Auskunftsanspruch über persönliche Verhältnisse des Kindes.<br />
Allerdings hebt der BGH auch bei der „negativen“ Kindeswohlprüfung nach § 1626a Abs. 2 S. 1 BGB<br />
den vorrangigen Maßstab für die Entscheidung auf das Kindeswohl i.S.v. § 1697a BGB auf Basis<br />
der zur Aufhebung der gemeinsamen Sorge nach § 1671 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB entwickelten Grundsätze<br />
hervor (BGH, Urt. v. 15.6.2016 – XII ZB 419/15 [Ls. 1]). Erst wenn sich nach erschöpfender Sachaufklärung<br />
nicht feststellen lässt, dass die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl widerspricht, ergibt<br />
sich aus der negativen Formulierung der Kindeswohlprüfung die (objektive) Feststellungslast dahin,<br />
dass im Zweifelsfall die Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge auszusprechen ist (BGH,<br />
Urt. v. 15.6.2016 – XII ZB 419/15 [Ls. 2]).<br />
396 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1487<br />
Kindeswohl<br />
III. Kontrolle der Ermessensausübung<br />
Jeder gerichtliche Beschluss ist streng auf die Abwägung von Einzelgesichtspunkten im konkreten Fall<br />
zu prüfen (BGH FamRZ 2010, 1060). Eine Entscheidung in Kindschaftsverfahren sollte – genauso wie die<br />
Schriftsätze der beteiligten Elternteile – die gesetzlichen Vorgaben der jeweiligen Kindeswohlschwelle<br />
gegliedert aufschlüsseln.<br />
Zur Übertragung der elterlichen Sorge im Rahmen der § 1671 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB oder des § 1626a Abs. 2<br />
S. 1 BGB sind vorrangig vier Kriterien zu prüfen, die keine Rangfolge darstellen. Der BGH (seit BGH<br />
FamRZ 1990, 392; FamRZ 2010 1060; FamRZ 2011, 796) wörtlich: „Alle Kriterien stehen aber letztlich nicht<br />
wie Tatbestandsmerkmale kumulativ nebeneinander; jedes von ihnen kann im Einzelfall mehr oder weniger<br />
bedeutsam für die Beurteilung sein, was dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Diese Entscheidung liegt<br />
letztlich in der Verantwortung des Tatrichters.“ Die Kriterien lauten wie folgt:<br />
• Der Kontinuitätsgrundsatz stellt ab auf Einheitlichkeit, Gleichmäßigkeit und Stabilität der Beziehungs-<br />
und Erziehungsverhältnisse sowie der Lebensumgebung.<br />
• Sehr wichtig ist der Wille des Kindes, soweit der in der nach § 159 FamFG zwingenden Anhörung<br />
geäußerte Wille mit dem Kindeswohl vereinbar ist und das Kind nach Reife und Alter zu einer<br />
Willensbildung im natürlichen Sinn in der Lage ist. Maßstab sind hier die Klarheit, die Konstanz, die<br />
Nachvollziehbarkeit, die Verständlichkeit sowie die Autonomie des geäußerten Willens einschließlich<br />
seiner Bildung.<br />
• Zu prüfen sind ferner die gesunden und angstfreien Bindungen des Kindes an Eltern und<br />
Geschwister.<br />
• Im Rahmen des sog. Förderprinzips zählen Eignung, Bereitschaft und Möglichkeit der Eltern zur<br />
Übernahme der für das Kindeswohl maßgeblichen Erziehung und Betreuung (u.a. Erziehungseignung,<br />
-kompetenz und Bindungstoleranz), wobei ein Defizit in der Erziehungseignung durch starke<br />
Bindungen des Kindes an den Elternteil kompensiert werden kann (OLG Hamm FamRZ 2017, 1225).<br />
IV. Kindeswohl im Wechselmodell<br />
Auch für die Installation des Wechselmodells, das der BGH im Umgangsrecht verortet hat (Beschl.<br />
v. 1.2.2017 – XII ZB 601/15, FamRZ 2017, 532 = FF 2017, 152), ist Maßstab jeglicher Regelung dabei das<br />
im konkreten Einzelfall festzustellende Kindeswohl i.S.v. § 1697a BGB unter Berücksichtigung der<br />
Grundrechtspositionen der Eltern und bei Prüfung der oben dargestellten anerkannten Kriterien des<br />
Kindeswohls (BGH, a.a.O., Rn 25). An dieser Stelle lässt der BGH allerdings offen, ob die Anordnung des<br />
Wechselmodells auch als Sorgerechtsentscheidung möglich sein könnte.<br />
Grundvoraussetzung für das Kindeswohl im Wechselmodell ist eine auf sichere Bindung beruhende<br />
tragfähige Beziehung des Kindes zu beiden Elternteilen. Die auf ein paritätisches Wechselmodell<br />
gerichtete Umgangsregelung setzt nach dem BGH darüber hinaus eine bestehende Kommunikationsund<br />
Kooperationsfähigkeit der Eltern voraus. Dem Kindeswohl entspricht es daher nicht, ein Wechselmodell<br />
zu dem Zweck anzuordnen, eine Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit erst herbeizuführen<br />
(BGH, a.a.O., Ls. 2). Ist das Verhältnis der Eltern erheblich konfliktbelastet, so liegt die auf ein<br />
paritätisches Wechselmodell gerichtete Anordnung i.d.R. nicht im wohlverstandenen Interesse des<br />
Kindes, wobei das Familiengericht zu einer umfassenden Aufklärung verpflichtet ist, welche Form des<br />
Umgangs dem Kindeswohl am besten entspricht (BGH, a.a.O., Ls. 3, 4).<br />
Hinweis:<br />
Allerdings hält der BGH die gerichtlich angeordnete Installation des Wechselmodells auch gegen den<br />
Willen eines Elternteils für möglich, wenn es dem Kindeswohl im konkreten Fall am meisten entspricht<br />
und setzt sich damit in Widerspruch zu einigen Oberlandesgerichten (so z.B. OLG Hamburg, Beschl. v.<br />
17.12.2015 – 2 UF 106/14, FamRZ 2016, 912).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 397
Fach 11, Seite 1488<br />
Kindeswohl<br />
Familienrecht<br />
Das Kindeswohl im paritätischen Wechselmodell setzt aber nach der Mehrheit der jüngst ergangenen<br />
OLG-Entscheidungen im Regelfall eine bestehende Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit der<br />
Eltern voraus sowie einen Elternkonsens über das Betreuungsmodell (u.a. OLG Brandenburg, Beschl.<br />
v. 15.2.2016 – 10 UF 213/14, FamRZ 2016, 1473). Ist das Verhältnis der Eltern erheblich konfliktbelastet, so<br />
liegt die Anordnung des Wechselmodells i.d.R. nicht im wohlverstandenen Interesse des Kindes. Dies gilt<br />
insbesondere dann, wenn die Wohnorte der Eltern weit auseinanderliegen und eine verlässliche Planung<br />
wegen ständig wechselnder Arbeitszeiten eines Elternteils nicht möglich ist (OLG Bremen, Beschl.<br />
v. 20.8.2018 – 4 UF 57/18, FamRZ 2018, 19<strong>08</strong>). Dies gilt insbesondere ab Einschulung des betroffenen<br />
Kindes (zur Vermeidung langer Schulwege bei Grundschulkindern und zur Lösung des Problems des<br />
Schulsprengels). Allerdings hält das OLG Hamm die Anordnung einer nahezu hälftigen Betreuung eines<br />
Vorschulkindes durch die Eltern auch bei weit entfernten Wohnorten für kindeswohlgerecht, wenn dies<br />
im Einzelfall beiden Eltern zeitlich und organisatorisch möglich ist (OLG Hamm, Beschl. v. 29.8.2017 –<br />
11 UF 89/17, FamRZ 2018, 1912).<br />
Praxishinweis:<br />
Insgesamt zeigt die Auswertung der obergerichtlichen Rechtsprechung zu den Einzelfällen des Wechselmodells,<br />
dass das Kindeswohl ausschließlich für den Einzelfall zu prüfen ist unter Auswertung der<br />
Belastbarkeit des Kindes, des gesamten Familiensystems (z.B. welche Arbeitszeiten, welche Flexibilität<br />
in den einzelnen Berufen der Eltern?) sowie der Erziehungsansätze der Eltern in ihrer Deckungsgleichheit<br />
oder Unterschiedlichkeit. Eine für die Beratung im Mandat wirklich gesicherte Leitlinie kann dieser<br />
Rechtsprechung nicht entnommen werden mit Ausnahme der Tatsache, dass im Hochkonfliktfall das<br />
Wechselmodell nicht installiert werden kann.<br />
V. Hinweise für die Anwaltspraxis<br />
Da es sich bei dem Begriff des „Kindeswohls“ um einen unbestimmten Rechtsbegriff im Gesetz<br />
handelt, ist die Kontrolle von gerichtlichen Entscheidungen vor allem im Bereich der Auswahl der<br />
richtigen Kindeswohlschwelle möglich. Insoweit wird angeregt, dass insbesondere Beweisbeschlüsse,<br />
die ein familienpsychologisches Gutachten anordnen, immer in Bezug auf die gewählte Kindeswohlschwelle<br />
kontrolliert werden. So lassen sich sehr kostenintensive Fehler langfristig durch die<br />
Instanzen vermeiden.<br />
Vorsicht wird im Übrigen angeraten, wenn Schriftsätze oder gerichtliche Entscheidungen nicht<br />
strukturiert wirken, sondern im Rahmen der Ermessenausübung bei der Bestimmung des Kindeswohls<br />
einem gehobenen Abituraufsatz im Fach Deutsch ähneln. Hier bedarf es strenger Eigen- und<br />
Fremdkontrolle, ob die von der Rechtsprechung festgelegten Kriterien tatsächlich getrennt voneinander<br />
in die Abwägung mit eingeflossen sind. Insbesondere sollte in diesem Bereich im Antragsverfahren<br />
nach §§ 1671, 1696 BGB darauf geachtet werden, dass die Einzelgesichtspunkte des<br />
Kindeswohls – Kontinuität, Wille des Kindes, Bindungen des Kindes an Eltern und Geschwister und<br />
Förderprinzip inkl. Erziehungskompetenz und Bindungstoleranz – getrennt voneinander beurteilt<br />
werden.<br />
Egal, welche Rolle der einzelne Verfahrensbeteiligte in einem Kindschaftsverfahren einnimmt, sollte die<br />
über allem stehende Erkenntnis sein – getragen vom jeweiligen beruflichen Ethos –, dass ausschließlich<br />
juristische Lösungen im Kindschaftsrecht selten bis nie tragfähig sind. Das Kindeswohl ist nämlich keine<br />
Spielwiese für juristische Spitzfindigkeiten.<br />
398 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
Arbeitsrecht Fach 17, Seite 1359<br />
Urlaubsrecht – Update<br />
Individualarbeitsrecht<br />
Urlaubsrecht: Aktuelle Hinweise für die anwaltliche Mandatspraxis<br />
Von Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht Dr. KIRSTIN MAAß, Köln<br />
Inhalt<br />
I. Vorbemerkung<br />
II. Kein „automatischer“ Verfall von Urlaub<br />
1. Urlaubsanspruch im laufenden Kalenderjahr<br />
2. Urlaubsanspruch bei Krankheit<br />
III. Urlaubsabgeltung<br />
1. Beendigung des Arbeitsverhältnisses<br />
2. Vererbbarkeit des Anspruchs auf<br />
Urlaubsabgeltung<br />
IV. Kürzung des Urlaubs<br />
1. Elternzeit<br />
2. Sonderurlaub<br />
V. Fazit<br />
I. Vorbemerkung<br />
Urlaub und die mit ihm in Zusammenhang stehenden Regelungen sind – sowohl in rechtlicher als auch<br />
in tatsächlicher Hinsicht – in jedem Unternehmen stets ein großes Thema. Weitere Diskussionspunkte<br />
bietet dabei die aktuelle Rechtsprechung von EuGH und BAG. Selten hat ein arbeitsrechtliches Thema<br />
wie „Urlaub“ in der europäischen und nationalen Rechtsprechung in den letzten Jahren derart viel<br />
Aufmerksamkeit erfahren. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die aktuellste arbeitsgerichtliche<br />
Rechtsprechung.<br />
Literaturhinweis:<br />
MÜLLER, Grundzüge des Urlaubsrechts, <strong>ZAP</strong> F. 17, S. 1255 ff.<br />
II.<br />
Kein „automatischer“ Verfall von Urlaub<br />
1. Urlaubsanspruch im laufenden Kalenderjahr<br />
Das Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) ist – eigentlich – eindeutig. Gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG soll der Urlaub<br />
grundsätzlich im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Ein Übertragungsanspruch bis<br />
zum 31.3. des auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres oder darüber hinaus kann einzelvertraglich vereinbart<br />
werden oder ergibt sich teilweise aus Tarifverträgen. Ist die Gewährung des Urlaubs im laufenden Kalenderjahr<br />
entweder aus dringenden betrieblichen oder aus in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen,<br />
z.B. wegen einer Erkrankung, nicht möglich, wird der Urlaub kraft Gesetzes in das erste Kalendervierteljahr<br />
des Folgejahres übertragen.<br />
a) Bisherige Rechtsprechung<br />
Wird der Urlaub von dem Arbeitnehmer weder im laufenden Kalenderjahr noch im Übertragungszeitraum<br />
beantragt und genommen, galt bisher als fester Grundsatz des deutschen Urlaubsrechts, dass<br />
nicht genommener Urlaub am Jahresende verfällt, wenn der Arbeitnehmer ihn bis dahin nicht<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 399
Fach 17, Seite 1360<br />
Urlaubsrecht – Update<br />
Arbeitsrecht<br />
beantragt hat. Das BAG (Urt. v. 6.8.2013 – 9 AZR 956/11, NZA 2014, 545) vertrat bislang die Auffassung,<br />
dass Arbeitgeber nicht verpflichtet werden könnten, Arbeitnehmern Urlaub „aufzuzwingen“. Lediglich<br />
die „Nicht-Gewährung“, also die Verweigerung, von seitens des Arbeitnehmers rechtzeitig verlangtem<br />
und beantragtem Urlaub führte zu einem Anspruch auf Ersatzurlaub, der sich mit der Beendigung des<br />
Arbeitsverhältnisses in einen Abgeltungsanspruch des Arbeitnehmers wandelte. Die Initiative lag damit<br />
bei den Arbeitnehmern, die rechtzeitig zumindest einen Urlaubsantrag stellen mussten, wollten sie zum<br />
Ende des Jahres ihren Urlaubsanspruch nicht verlieren.<br />
b) Änderung der Rechtsprechung<br />
Nach der aktuellen Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 6.11.2018 – C-619/16, „Kreuziger“, <strong>ZAP</strong> EN-<br />
Nr. 650/2018 = NZA 2018, 1445 und C-684/16, „Max-Planck-Gesellschaft“, NZA 2018, 1474 und MAAß <strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin 23/<strong>2019</strong>, S. 1204 f.; vgl. auch schon EuGH, Urt. v. 12.6.2014 – C-118/13, „Bollacke“, NZA<br />
2014, 651), der sich das BAG (Urt. v. 19.2.<strong>2019</strong> – 9 AZR 541/15, bislang nur als Pressemitteilung 9/19<br />
vorliegend) nunmehr angeschlossen hat, erlischt der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers jedoch nicht<br />
(mehr) automatisch. Dem Arbeitnehmer darf danach sein Urlaubsanspruch nicht deshalb verwehrt<br />
werden, weil er ihn zuvor nicht aktiv geltend gemacht hat. Aufgrund seiner unterlegenen Position<br />
kommt ein Ausschluss allein dann in Betracht, wenn der Arbeitnehmer aus freien Stücken und bei voller<br />
Kenntnis der Konsequenzen auf die Ausübung seines Rechts auf Urlaub verzichtet hat.<br />
Infolgedessen muss der Arbeitgeber dafür sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist,<br />
seinen Jahresurlaub zu nehmen. Der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmer hierzu – ggf. förmlich –<br />
auffordern und ihn rechtzeitig und umfassend darüber aufklären, dass der Urlaub, falls der<br />
Arbeitnehmer ihn nicht nehmen sollte, verfallen wird. Der Arbeitgeber trägt in diesem Fall die<br />
Darlegungs- und Beweislast: Er muss nachweisen, dass er mit der entsprechenden Sorgfalt gehandelt<br />
hat. Allerdings stellen sowohl EuGH als auch BAG klar, dass der Arbeitgeber nicht gezwungen ist, dem<br />
Arbeitnehmer von sich aus Urlaub zu gewähren.<br />
Die Rechtsprechung des EuGH bezieht sich sowohl auf den Verfall von Urlaubstagen als auch auf die<br />
Ansprüche auf finanzielle Vergütung für nicht genommenen Urlaub. Beides darf nunmehr nicht<br />
automatisch untergehen, weil der Arbeitnehmer vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder in dem<br />
Kalenderjahr vor Ablauf des Bezugszeitraums keinen Urlaub beantragt hat.<br />
Beachte:<br />
Die Rechtsprechung des EuGH bezieht sich nicht nur auf zukünftige, sondern auch auf bereits erworbene<br />
Urlaubsansprüche.<br />
Folglich beziehen sich die Konsequenzen nicht nur auf die (Urlaubs-)Jahre ab 2018, sondern grundsätzlich<br />
auch auf die Jahre zuvor. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass jedenfalls nach der Rechtsprechung<br />
des EuGH (Urt. v. 29.11.2017, C-214/16, „King“, NZA 2017, 1591; anders bisher die Rechtsprechung<br />
des BAG zum sog. Schadensersatzanspruch auf Ersatzurlaubsgewährung: BAG, Urt. v.<br />
11.4.2006 – 9 AZR 523/05, AP Nr. 28 zu § 7 BUrlG Übertragung) wohl keine Verjährungsvorschriften<br />
greifen. Der EuGH sprach Herrn King in der vorbenannten Entscheidung einen rückwirkenden Anspruch<br />
auf Urlaubsabgeltung für 13 (!) Jahre zu. In der Entscheidung fehlt jeglicher Anhaltspunkt dafür, dass<br />
irgendeine zeitliche Begrenzung der Übertragung durch den EuGH in einem solchen Fall anerkannt<br />
würde. So stellt der EuGH ausdrücklich klar, dass die Übertragung der Regelfall ist und das Erlöschen<br />
nach einer gewissen Zeit die Ausnahme, für die sich Gründe ergeben müssen.<br />
Die vorstehende Rechtsprechung des EuGH hat folglich erhebliche Konsequenzen für den Umgang des<br />
Arbeitgebers mit den Urlaubsansprüchen der Arbeitnehmer! Werden weder Arbeitnehmer noch<br />
Arbeitgeber bezüglich des Jahresurlaubs aktiv, verfällt der gesetzliche Jahresurlaub – anders als bislang –<br />
nicht.<br />
400 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
Arbeitsrecht Fach 17, Seite 1361<br />
Urlaubsrecht – Update<br />
c) Handlungsempfehlung für Arbeitgeber<br />
Arbeitgeber müssen ihre Arbeitnehmer künftig<br />
• ausdrücklich,<br />
• rechtzeitig und<br />
• (unmiss-)verständlich<br />
darüber aufklären, dass ihr Urlaub verfallen wird, wenn sie nicht rechtzeitig einen Urlaubsantrag stellen,<br />
so dass eine Urlaubsgewährung (noch) erfolgen kann.<br />
Dabei wird auch ein ausdrücklicher Hinweis auf die Höhe der noch vorhandenen Urlaubstage erforderlich<br />
werden. Eine bloße Erinnerung in Form eines allgemeinen Hinweises genügt nach den Ausführungen des<br />
EuGH nicht. Vielmehr ist nach dem EuGH eine „angemessene Aufklärung“ über die Folgen, d.h. den<br />
möglichen Verlust des Urlaubsanspruchs, erforderlich. Erst wenn der Arbeitnehmer dieser Aufforderung<br />
immer noch nicht nachkommt, verfallen Urlaubs- bzw. spätere Urlaubsabgeltungsansprüche.<br />
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass Arbeitgeber nach den Ausführungen des EuGH geeignete und<br />
konkrete organisatorische Maßnahmen zu ergreifen haben, um den Arbeitnehmern den Urlaub zu<br />
ermöglichen.<br />
Der bisherige Grundsatz, dass nicht genommener Urlaub zum Jahresende bzw. spätestens mit Ablauf<br />
des 31.3. des Folgejahrs verfällt, wenn er nicht beantragt wurde, gilt in Bezug auf den gesetzlichen<br />
Mindesturlaub nicht mehr. Arbeitgebern ist dringend zu empfehlen, ihre betrieblichen Urlaubsregelungen<br />
auf die neuen Anforderungen hin zu überprüfen und anzupassen.<br />
Hinweis:<br />
Arbeitgeber sollten genommene und insbesondere noch nicht genommene Urlaubstage sorgfältig dokumentieren<br />
und beispielsweise im Rahmen regelmäßiger Wiedervorlagen, aber auch in persönlichen<br />
Gesprächen mit den Arbeitnehmern in Erinnerung rufen. Um die ordnungsgemäße Aufklärung zu dokumentieren,<br />
sollten die entsprechenden Hinweise stets schriftlich festgehalten und entsprechende Empfangsbekenntnisse<br />
von den Arbeitnehmern eingeholt werden. Zudem sollten Arbeitnehmern spätestens<br />
zum Ende des dritten Jahresquartals unter Mitteilung der konkreter Anzahl ihrer Urlaubstage und der zu<br />
beachtenden Fristen persönlich, jedenfalls in Textform entsprechend informiert und aufgefordert werden,<br />
ihren Resturlaub bis zum Jahresende zu nehmen. Dabei sollten Vorkehrungen geschaffen werden, die den<br />
Zugang der jeweiligen Mitteilung bei dem einzelnen Arbeitnehmer zu Dokumentationszwecken nachweisen<br />
können. Allein ein Aushang an einem Schwarzen Brett ist insoweit unzureichend. Eine Rund-E-Mail genügt<br />
nur im Fall einer Lesebestätigung durch den Arbeitnehmer und ist zu Dokumentationszwecken daher nur<br />
bedingt geeignet. Hinzukommt, dass mit Blick auf die jeweils offenen Urlaubstage je Arbeitnehmer keine<br />
konkrete Unterrichtung des einzelnen Arbeitnehmers, sondern nur eine pauschale Information aller<br />
Arbeitnehmer über den Verfall der Urlaubsansprüche in Betracht kommt.<br />
Nach dem EuGH-Urteil sind weitere Einzelheiten der konkreten Handlungspflichten für den Arbeitgeber<br />
derzeit nicht geklärt. So werden weitere Entscheidungen der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung die<br />
Frage zu beantworten haben, welchen konkreten Umfang die den Arbeitgeber treffende Informationspflicht<br />
hat und wann eine Aufklärung als noch rechtzeitig zu qualifizieren ist. Ferner wird zu klären sein, in<br />
welcher Art und in welchem Ausmaß organisatorische Vorkehrungen nötig sind, um im Streitfall eine<br />
Exkulpation zu bewirken und somit etwaige Ansprüche von Arbeitnehmern abwehren zu können.<br />
Formulierungsbeispiel:<br />
Betreff: Verfall Ihres Urlaubs zum Ende des Jahres<br />
Sehr geehrte/r Frau/Herr (…),<br />
zurzeit beträgt Ihr Resturlaub für das Kalenderjahr (…) insgesamt noch (…) Urlaubstage. Wir möchten Sie<br />
bitten, diesen Resturlaub bis zum Jahresende in Anspruch zu nehmen. Bitte stimmen Sie Ihren Urlaub mit<br />
Ihrem Vorgesetzten bzw. Ihren Kollegen für das restliche Jahr zeitnah und verbindlich ab.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 401
Fach 17, Seite 1362<br />
Urlaubsrecht – Update<br />
Arbeitsrecht<br />
Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass Ihr vorgenannter Rest-Urlaubsanspruch grundsätzlich ersatzlos<br />
verfällt, falls Sie diesen nicht bis zum Jahresende in Anspruch genommen haben. Dies gilt nach § 7 Abs. 3<br />
S. 2 BUrlG lediglich dann nicht, wenn dringende betriebliche Gründe, wie z.B. termingebundene Aufträge,<br />
oder in Ihrer Person liegende Gründe, z.B. eine Arbeitsunfähigkeit, dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung<br />
müssen Sie Ihren Resturlaub bis zum 31.3. (Jahreszahl ergänzen) in Anspruch genommen haben,<br />
ansonsten verfällt er sodann.<br />
Für evtl. Rückfragen steht Ihnen Frau/Herr (…) aus unserer Personalabteilung zur Verfügung.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
(Unterschrift)<br />
2. Urlaubsanspruch bei Krankheit<br />
a) Langzeiterkrankung<br />
Bereits vor dieser Entscheidung sorgte der EuGH mit einem Urteil zu einer anderen Fallkonstellation<br />
zum Verfall von Urlaub für Aufsehen. Nach den Urteilen in den Rechtssachen „Schultz-Hoff“ (EuGH, Urt.<br />
v. 20.1.2009 – C-350/06, NZA 2009, 135) und „KHS“ (EuGH, Urt. v. 22.11.2011 – C-214/10, NZA 2011, 1333)<br />
verfällt der Urlaubsanspruch langzeiterkrankter Arbeitnehmer dann nicht, wenn der Arbeitnehmer<br />
seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub krankheitsbedingt während des gesamten Bezugszeitraums<br />
oder eines Teils nicht ausüben konnte und seine Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des<br />
Übertragungszeitraums fortgedauert hat.<br />
b) Ansammeln von Urlaub<br />
Allerdings hat der EuGH auch eine Grenze für das Ansammeln von Urlaub gesetzt (EuGH, Urt. v.<br />
22.11.2011 – C-214/10, „KHS“, NZA 2011, 1333). Der langzeiterkrankte Arbeitnehmer kann seine Ansprüche<br />
auf Mindesturlaub nicht uneingeschränkt über mehrere Jahre ansammeln. Der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen<br />
langzeiterkrankter Arbeitnehmer kann gesetzlich oder tariflich angeordnet werden,<br />
wenn der entsprechende Übertragungszeitraum hinreichend lang ist, um den Erholungszweck des<br />
Urlaubs für den Arbeitnehmer sicherzustellen. Als hinreichend lang sieht der EuGH einen Übertragungszeitraum<br />
von 15 Monaten nach Ablauf des Kalenderjahres an, für das der Mindestjahresurlaub<br />
entstanden ist. Das BAG (Urt. v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, NZA 2012, 1216) hat sich dieser Rechtsprechung<br />
angeschlossen.<br />
Setzt ein langzeiterkrankter Arbeitnehmer nach seiner Genesung die Arbeit fort, gehen nach einer<br />
Entscheidung des BAG (Urt. v. 9.8.2011 – 9 AZR 425/10, NZA 2012, 29) während der Arbeitsunfähigkeit<br />
angesammelte Ansprüche mit dem Ende des laufenden Kalenderjahres unter, in dem der Arbeitnehmer<br />
nach seiner Genesung die Arbeit fortsetzt. Dies gilt jedoch nur dann, wenn der Arbeitnehmer im<br />
aktuellen Urlaubsjahr so rechtzeitig wieder gesund wird, dass er seinen Urlaub in der verbleibenden Zeit<br />
noch nehmen kann. Dann muss er – um den Verfall des Urlaubs zu verhindern – seinen gesamten,<br />
während der Krankheitszeit angesammelten Urlaub im selben Kalenderjahr bzw. ggf. spätestens zum<br />
Ablauf des Übertragungszeitraums geltend machen.<br />
Hinweis:<br />
Der Erhalt der Urlaubsansprüche im Falle einer unterbliebenen Aufklärung seitens des Arbeitgebers in<br />
Bezug auf den Verfall von Urlaub zum Jahresende wirft Folgeprobleme im Hinblick auf die Gleichstellung<br />
zu langzeiterkrankten Arbeitnehmern auf. Um ein „Ansparen“ von Urlaubsansprüchen bei längerer Erkrankung<br />
zeitlich zu begrenzen, galt bislang, dass in Krankheitsfällen angesparter Urlaub spätestens<br />
15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres verfällt (BAG, Urt. v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, NZA 2012, 1216).<br />
In der Konsequenz würde dies jedoch zu einer Schlechterstellung führen. Auch hier besteht möglicherweise<br />
noch Klärungsbedarf.<br />
402 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
Arbeitsrecht Fach 17, Seite 1363<br />
Urlaubsrecht – Update<br />
c) Handlungsempfehlung für Arbeitgeber<br />
Die vorgestellten europarechtlichen Vorgaben beziehen sich nur auf den gesetzlichen Mindesturlaub<br />
von vier Wochen jährlich (vgl. § 3 BUrlG). Weitergehender vertraglicher Mehrurlaub kann arbeitsvertraglich<br />
anderweitig geregelt werden (vgl. BAG, Urt. v. 12.11.2013 – 9 AZR 551/12, NZA 2014, 383).<br />
Hinweis:<br />
So sollte arbeitsvertraglich geregelt werden, dass der von dem Arbeitnehmer bereits genommene Urlaub<br />
zuerst auf den gesetzlichen Mindesturlaub angerechnet wird. Sodann sollte ausdrücklich vereinbart<br />
werden, dass nicht genommener vertraglicher Mehrurlaub grundsätzlich mit Ende des Jahres verfällt,<br />
unabhängig davon, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer dazu auffordert, den vertraglichen Mehrurlaub<br />
bis zum Ende des Kalenderjahres in Anspruch zu nehmen.<br />
Fehlt hingegen eine ausdrückliche arbeitsvertragliche Differenzierung zwischen gesetzlichen Mindesturlaub<br />
und den vertraglichen Mehrurlaub, ist von einer einheitlichen Handhabung entsprechend der<br />
europarechtlichen Vorgaben auszugehen.<br />
III. Urlaubsabgeltung<br />
Urlaub dient grundsätzlich der Erholung und ist daher in natura zu nehmen. Im bestehenden<br />
Arbeitsverhältnis darf der Urlaub nicht durch eine Urlaubsabgeltung ersetzt werden.<br />
1. Beendigung des Arbeitsverhältnisses<br />
Endet das Arbeitsverhältnis und kann der Urlaub dadurch nicht mehr gewährt und genommen werden,<br />
wandelt sich der Urlaubanspruch gem. § 7 Abs. 4 BUrlG in einen Urlaubsabgeltungsanspruch. Die<br />
Abgeltung von nicht in Anspruch genommenen Urlaub ist daher nur unter bestimmten Voraussetzungen<br />
bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses möglich. Endet das Arbeitsverhältnis durch eine<br />
Kündigung oder einvernehmlich, ergeben sich regelmäßig keine Probleme mit der Abgeltung.<br />
2. Vererbbarkeit des Anspruchs auf Urlaubsabgeltung<br />
a) Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Todesfalls beendet<br />
Problematisch ist jedoch, was mit noch nicht in natura genommenen Urlaubsansprüchen passiert, wenn<br />
das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers beendet wird. Grundsätzlich gilt, dass das<br />
gesamte Vermögen der verstorbenen Person auf den bzw. die Erben übergeht (sog. Gesamtrechtsnachfolge).<br />
Dies schließt bereits vom verstorbenen Arbeitnehmer erworbene Ansprüche auf Abgeltung<br />
von Urlaubsansprüchen mit ein. Das BAG hatte folglich in den Fällen, in denen das Arbeitsverhältnis, z.B.<br />
durch eine Kündigung oder einen Aufhebungsvertrag, bereits beendet war, als der Arbeitnehmer<br />
verstarb, einen Übergang des Urlaubsabgeltungsanspruchs auf die Erben anerkannt. Nach der Aufgabe<br />
der sog. Surrogationstheorie (BAG, Urt. v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, NZA 2012, 1<strong>08</strong>7) sah das BAG in dem<br />
Abgeltungsanspruch nicht mehr ein Surrogat des Urlaubsanspruchs, sondern einen reinen Geldanspruch,<br />
der im Wege der Universalsukzession gem. § 1922 BGB auf die Erben des Arbeitnehmers<br />
übergehen kann. In der beschriebenen Konstellation, dass das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des<br />
Todesfalls schon beendet ist, ist der Urlaubsabgeltungsanspruch bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses<br />
entstanden und geht als Bestandteil des Gesamtvermögens des Verstorbenen auf die Erben über<br />
(BAG, Urt. v. 22.9.2015 – 9 AZR 170/14, NZA 2016, 37).<br />
b) Bestehendes Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Todes<br />
Anders entschied das BAG bislang in Bezug auf den Urlaubsanspruch des verstorbenen Arbeitnehmers.<br />
Aufgrund der Rechtsnatur des Urlaubs – Freistellung von der höchstpersönlichen Arbeitsverpflichtung –<br />
ging das BAG lange Zeit davon aus, dass der zum Zeitpunkt des Todes (noch) bestehende Urlaubsanspruch<br />
untergehe, weil mit dem Tod des Arbeitnehmers die Verpflichtung zur Arbeit unter- und nicht<br />
auf die Erben übergehe (BAG, Urt. v. 20.9.2011 – 9 AZR 416/10, NZA 2012, 326). Erben könnten nicht von<br />
der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt werden. Konsequenterweise konnte bei dieser Betrachtung<br />
auch kein Abgeltungsanspruch der Erben entstehen. Dies beruhe auf dem Umstand, dass der<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 403
Fach 17, Seite 1364<br />
Urlaubsrecht – Update<br />
Arbeitsrecht<br />
Zeitpunkt des Versterbens wenigstens um eine logische Sekunde vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses<br />
liege und damit in dem Zeitpunkt, der für den Übergang der Erbmasse auf die Erben relevant ist, de facto<br />
kein Urlaubsabgeltungsanspruch bestehe. Bestandteil der Erbmasse war danach „lediglich“ der Anspruch<br />
des verstorbenen Arbeitnehmers auf Gewährung von bezahltem Urlaub, das heißt Befreiung von<br />
der Arbeitspflicht unter Zahlung der Urlaubsvergütung.<br />
Bereits durch die Entscheidung des EuGH in Sachen „Bollacke“ (EuGH, Urt. v. 12.6.2014 – C-118/13, NZA<br />
2014, 651) wurde diese Rechtsprechung jedoch aufgebrochen. In diesem Fall verstarb der Arbeitnehmer<br />
während des laufenden Arbeitsverhältnisses und besaß noch offene Urlaubsansprüche (nicht: Urlaubsabgeltungsansprüche!).<br />
Nach dem Urteil des EuGH geht auch in dieser Konstellation der Urlaubsanspruch<br />
des verstorbenen Arbeitnehmers auf die Erben über. Der EuGH wies insbesondere darauf hin,<br />
dass der einschlägige Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) nicht dahin ausgelegt<br />
werden könne, dass der Anspruch durch den Tod des Arbeitnehmers untergehe. Der EuGH urteilte, der<br />
Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub sei ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der<br />
Europäischen Union, von dem nicht abgewichen werden dürfe. Es könne nicht entscheidend sein, ob der<br />
Verstorbene bereits bei seinem Arbeitgeber einen Antrag auf Abgeltung gestellt habe.<br />
Das BAG legte sodann dem EuGH die Frage vor, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 oder Art. 31 Abs. 2 der<br />
Charta dem Erben eines während des Arbeitsverhältnisses verstorbenen Arbeitnehmers einen<br />
Anspruch auf einen finanziellen Ausgleich für den dem Arbeitnehmer vor seinem Tod zustehenden<br />
Mindestjahresurlaub einräume, was nach § 7 Abs. 4 BUrlG i.V.m. § 1922 Abs. 1 BGB ausgeschlossen sei.<br />
Diese Frage bejahte der EuGH in den Sachen „Bauer“ und „Willmeroth“ mit den Urteilen vom 6.11.2018<br />
(C-569/16, „Bauer“ und C-570/16, „Willmeroth“, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 643/2018 = NZA 2018, 1467). Der EuGH<br />
führte aus, dass die entsprechenden nationalen Regelungen entweder richtlinienkonform ausgelegt<br />
werden oder aber für den Fall, dass dies nicht möglich sei, unangewendet bleiben müssen. Er bekräftigte<br />
erneut, dass der Urlaubsanspruch zwei gleichgewichtige Komponenten beinhalte – zum<br />
einen die Befreiung von der Arbeitspflicht zwecks Erholung und Entspannung des Arbeitnehmers und<br />
zum anderen die Bezahlung auf der anderen Seite. Im Falle des Todes des Arbeitnehmers während der<br />
Fortdauer des Arbeitsverhältnisses gehe nur der erste Teil unter, der zweite bleibe jedoch bestehen.<br />
Voraussetzung für den Zahlungsanspruch sei lediglich die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und<br />
das Bestehen der Urlaubsansprüche zu diesem Zeitpunkt. Die Ursache der Beendigung sei dagegen<br />
unerheblich.<br />
Ausgehend von dieser Rechtsprechung des EuGH hat sich nunmehr das BAG in seinem Urt. v. 22.1.<strong>2019</strong><br />
(9 AZR 45/16, bislang nur als Pressemitteilung 1/19 vorliegend) entschieden, das deutsche Urlaubsrecht<br />
unionsgerecht auszulegen. Die nach dem europäischen Unionsrecht gebotene Auslegung der §§ 1, 7<br />
Abs. 4 BUrlG ergebe, dass der Resturlaub auch dann abzugelten sei, wenn das Arbeitsverhältnis durch<br />
den Tod des Arbeitnehmers ende. Der EuGH habe entschieden, dass der durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie<br />
2003/88/EG gewährleistete Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub nicht mit dem Tod des<br />
Arbeitnehmers im laufenden Arbeitsverhältnis untergehen dürfe, ohne dass ein Anspruch auf finanzielle<br />
Vergütung für diesen Urlaub bestehe, der im Wege der Erbfolge auf den Rechtsnachfolger des<br />
Arbeitnehmers überzugehen hat. Daraus folge für die richtlinienkonforme Auslegung von §§ 1, 7 Abs. 4<br />
BUrlG, dass die Vergütungskomponente des Anspruchs auf den vor dem Tod nicht mehr genommenen<br />
Jahresurlaub als Bestandteil des Vermögens Teil der Erbmasse werde.<br />
Folglich ist zukünftig bei einem Versterben des Arbeitnehmers der nicht genommene Urlaub – wie bei<br />
einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Kündigung oder Aufhebungsvertrag – durch Zahlung<br />
an den oder die Erben abzugelten. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass infolge der weiteren aktuellen<br />
Entscheidungen des EuGH bzw. des BAG zur Frage des Urlaubsverfalls ohne Urlaubsantrag und bei<br />
länger andauernder Erkrankung des (später versterbenden) Arbeitnehmers das Erbe mit Blick auf den<br />
Urlaub durchaus einen finanziell nicht unerheblichen Punkt darstellen kann.<br />
404 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
Arbeitsrecht Fach 17, Seite 1365<br />
Urlaubsrecht – Update<br />
c) Handlungsempfehlung für Arbeitgeber<br />
Will der Arbeitgeber verhindern, dass noch nach längerer Zeit die Erben seines ehemaligen Arbeitnehmers<br />
Urlaubsabgeltungsansprüche geltend machen, sollten in Arbeitsverträgen Ausschlussfristen<br />
vereinbart werden. Solche Klauseln sehen vor, dass alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb<br />
einer bestimmten Frist – von mindestens drei Monaten – geltend zu machen sind. Während Urlaubsansprüche<br />
von Ausschlussfristen nicht erfasst werden, da sie einem eigenständigen Fristenregime<br />
unterliegen, unterfallen ihnen hingegen Ansprüche auf Urlaubsabgeltung. Bei Verwendung wirksamer<br />
Ausschlussfristen besteht folglich nur für einen überschaubaren, kurzen Zeitraum eine Unsicherheit<br />
für den Arbeitgeber darüber, ob er einen finanziellen Ausgleich für nicht genommenen Urlaub des<br />
verstorbenen Arbeitnehmers an dessen Erben zu zahlen hat. Für die Erben des verstorbenen<br />
Arbeitnehmers bedeutet eine solche Regelung, dass sie Ansprüche auf finanziellen Ausgleich rechtzeitig<br />
vor Ablauf der vertraglichen Ausschlussfrist geltend machen müssen.<br />
Hinweis:<br />
Darüber hinaus kann der Arbeitgeber für den arbeitsvertraglichen Mehrurlaub vertraglich regeln, dass<br />
etwaige Resturlaubsansprüche nicht vererblich sind. Hierzu ist allerdings – wie bei dem Verfall von Urlaubsansprüchen<br />
zum Ende eines Kalenderjahres – eine Differenzierung zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaub<br />
und dem vertraglich vereinbarten Mehrurlaub in der Arbeitsvertragsbestimmung erforderlich.<br />
IV.<br />
Kürzung des Urlaubs<br />
1. Elternzeit<br />
Der Arbeitgeber muss vor Beginn der Elternzeit nicht in Anspruch genommenen Urlaub nach der<br />
Elternzeit im laufenden oder im darauffolgenden Kalenderjahr gewähren. Endet das Arbeitsverhältnis<br />
während der Elternzeit oder direkt im Anschluss an die Elternzeit, so muss der noch nicht genommene<br />
Urlaub abgegolten werden.<br />
Allerdings kann der Arbeitgeber gem. § 17 Abs. 1 BEEG für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit den<br />
Urlaubsanspruch um ein Zwölftel kürzen, sofern der Arbeitnehmer während der Elternzeit keine<br />
Teilzeitbeschäftigung bei ihm ausübt. Dazu muss der Arbeitgeber von dieser Kürzungsbefugnis<br />
Gebrauch machen. Eine automatische Kürzung tritt nicht ein! Die Kürzung muss während des<br />
bestehenden Arbeitsverhältnisses und kann vor, während und nach der Elternzeit erklärt werden.<br />
Mit der Entscheidung in der Sache „Dicu“ vom 4.10.2018 hat der EuGH nunmehr bestätigt, dass eine<br />
solche Kürzungsmöglichkeit mit dem Unionsrecht vereinbar ist (EuGH, Urt. v. 4.10.2018 – C-12/17, Dicu,<br />
NZA 2018, 1323).<br />
Praxishinweis:<br />
Es bietet sich an, mit Bestätigung der Elternzeit (vgl. § 16 Abs. 1 S. 6 BBEG) bereits eine entsprechende<br />
Kürzungserklärung auszusprechen.<br />
Das BAG hat in einem aktuellen Urteil (v. 19.3.<strong>2019</strong> – 9 AZR 362/18, bislang nur als Pressemitteilung<br />
16/19 vorliegend) die vorstehende Kürzungsmöglichkeit und damit seine bisherige Rechtsprechung<br />
nochmals bestätigt: In dem zugrunde liegenden Urteil hatte die Arbeitnehmerin bis Ende 2015<br />
Elternzeit in Anspruch genommen. Das Arbeitsverhältnis endete zum 30.6.2016. Im März 2016<br />
beantragte die Arbeitnehmerin Urlaub unter Einbeziehung der während der Elternzeit entstandenen<br />
Urlaubsansprüche. Der Arbeitgeber erteilte im April den im ersten Halbjahr des Jahres 2016<br />
entstandenen Urlaub, den auf die Elternzeit entfallenden Urlaub lehnte er ab.<br />
Das BAG gab dem Arbeitgeber recht: Die Kürzungsmöglichkeit der Urlaubsansprüche während der<br />
Elternzeit sei europarechtskonform. Das Kürzungsrecht erfasst auch den vertraglichen Mehrurlaub,<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 405
Fach 17, Seite 1366<br />
Urlaubsrecht – Update<br />
Arbeitsrecht<br />
wenn die Arbeitsvertragsparteien für diesen keine von § 17 Abs. 1 BEEG abweichende Regelung getroffen<br />
haben. Die Ablehnung des Urlaubs noch im laufenden Arbeitsverhältnis legte der Senat als Kürzungserklärung<br />
aus.<br />
Hinweis:<br />
Zu beachten ist zudem, dass nur für volle Monate der Elternzeit eine Kürzung des Urlaubsanspruchs<br />
erfolgen darf, nicht aber für solche, die nur anteilig in die Elternzeit fallen.<br />
Schließt sich an eine Elternzeit eine weitere Elternzeit an, so verfällt der Urlaubsanspruch nicht.<br />
Vielmehr erhöht sich der zu übertragende Urlaubsanspruch um die Kalenderjahre, die Elternzeit<br />
genommen werden. Er ist auch in diesem Fall im laufenden oder nächsten Kalenderjahr vom Arbeitnehmer<br />
zu nehmen bzw. vom Arbeitgeber zu gewähren.<br />
2. Sonderurlaub<br />
In einer weiteren Entscheidung hat das BAG (Urt. v. 19.3.<strong>2019</strong> – 9 AZR 315/17, bislang nur als<br />
Pressemitteilung 15/19 vorliegend) nunmehr seine bisherige Rechtsprechung zum gesetzlichen<br />
Urlaubsanspruch bei unbezahlten Sonderurlaub geändert.<br />
Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG (Urt. v. 6.5.2014 – 9 AZR 678/12, NZA 2014, 959) konnten<br />
gesetzliche Urlaubsansprüche auch dann entstehen, wenn der Arbeitnehmer sich auf (seinen eigenen<br />
Wunsch hin) im unbezahlten Sonderurlaub befand. Dieser Sichtweise hat das BAG nunmehr eine Absage<br />
erteilt. Nimmt ein Arbeitnehmer für ein Kalenderjahr durchgehend unbezahlten Sonderurlaub, dann<br />
steht ihm mangels einer Arbeitspflicht kein Anspruch auf Erholungsurlaub zu. Zu berücksichtigen sei,<br />
dass die Arbeitsvertragsparteien ihre Hauptleistungspflichten durch die Vereinbarung von Sonderurlaub<br />
vorübergehend ausgesetzt haben.<br />
In dem jetzt entschiedenen Fall gewährte die Arbeitgeberin der seit vielen Jahren bei ihr beschäftigten<br />
Arbeitnehmerin wunschgemäß in der Zeit vom 1.9.2013 bis zum 31.8.2014 unbezahlten Sonderurlaub, der<br />
einvernehmlich bis zum 31.8.2015 verlängert wurde. Nach Beendigung des Sonderurlaubs verlangt die<br />
Arbeitnehmerin von der beklagten Arbeitgeberin, ihr den gesetzlichen Mindesturlaub von 20 Arbeitstagen<br />
für das Jahr 2014 zu gewähren. Das BAG lehnte den von der Arbeitnehmerin geltend gemachten<br />
Urlaubsanspruch ab und gab somit der Arbeitgeberin recht.<br />
Hinweis:<br />
Ausgehend von der Pressemitteilung des BAG ist mit Blick auf die Praxis entscheidend, dass die Arbeitnehmerin<br />
nicht (nur) „einseitig“ durch die Arbeitgeberin von ihrer Arbeitspflicht vorübergehend befreit<br />
wurde, sondern dass diese vorübergehende Freistellung von der Arbeitsleistung auf einer mit der Arbeitgeberin<br />
abgeschlossenen Vereinbarung beruhte. In diesem Fall haben beide Arbeitsvertragsparteien<br />
gemeinsam die Hauptleistungspflichten suspendiert. In der Praxis sollte auf eine entsprechende Dokumentation<br />
geachtet werden, da das BAG offenbar auf den Willen beider Vertragsparteien abstellt.<br />
V. Fazit<br />
Der vorstehende Rechtsprechungsüberblick zeigt, dass der EuGH immer wieder die Systematik des<br />
deutschen Urlaubsrechts geradezu auf den Kopf stellt. Im Rahmen der Ausarbeitung von Arbeitsvertragsregelungen<br />
ist daher zu raten, die aktuelle europarechtliche und höchstrichterliche deutsche<br />
Rechtsprechung stets im Blick zu haben und die sich daraus ergebenden Vorgaben – bezogen auf das<br />
jeweilige Arbeitsverhältnis – sorgfältig umzusetzen. Denn auch wirtschaftlich erlangt die Urlaubsthematik<br />
mehr und mehr an Bedeutung.<br />
406 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 905<br />
Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />
Verwaltungsprozessrecht<br />
Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO<br />
Von Richter am BVerwG DR. STEPHAN GATZ, Leipzig<br />
Inhalt<br />
I. Einführung<br />
II. System des § 80 VwGO<br />
1. Grundsatz des § 80 Abs. 1 VwGO<br />
2. Ausnahmen nach § 80 Abs. 2 VwGO<br />
3. Regelungen des § 80 Abs. 5 VwGO<br />
III. Aussetzungsantrag in der gerichtlichen<br />
Prüfung<br />
1. Zulässigkeit des Antrags<br />
2. Begründetheit des Antrags<br />
3. Tenorierung<br />
4. Dauer der aufschiebenden Wirkung<br />
5. Beschwerdeverfahren<br />
6. Änderungsverfahren<br />
7. Streitwert<br />
I. Einführung<br />
Die Verwaltungsgerichtsordnung gewährt vorläufigen Rechtsschutz gegenüber behördlichen Einzelakten<br />
nach den §§ 80 bis 80b VwGO und nach § 123 Abs. 1 VwGO, wobei die §§ 80 ff. VwGO Spezialregelungen<br />
gegenüber dem Auffangtatbestand des § 123 Abs. 1 VwGO sind. Dies folgt unmittelbar aus § 123 Abs. 5<br />
VwGO, der die Geltung des § 123 Abs. 1 bis 3 VwGO für die Fälle der §§ 80, 80a VwGO ausschließt.<br />
Die primäre Funktion des vorläufigen Rechtsschutzes, der durch die §§ 80 ff. VwGO und § 123 Abs. 1 VwGO<br />
lückenlos gewährleistet wird, besteht darin, die Effektivität des Hauptsacherechtsschutzes zu sichern. Der<br />
Rechtsschutzsuchende soll davor geschützt werden, dass vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens irreversible<br />
Zustände geschaffen werden, die eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr zulassen (BVerfG NJW 1995,<br />
950, 951). Daneben hat der vorläufige Rechtsschutz eine interimistische Funktion. Soll das Hauptsacheverfahren<br />
zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes offen gehalten werden, bedarf es abschließender gerichtlicher<br />
Zwischenentscheidungen, die den Zeitraum bis zur Entscheidung der Hauptsache überbrücken. Das<br />
Gericht hat vorläufige Anordnungen zu treffen, die den zwischen den Beteiligten bestehenden Streit über die<br />
Hauptsache für die Dauer dieses Zwischenstadiums endgültig regeln und ihn damit zugleich auf Zeit befrieden.<br />
Die Rechtsprechung zum vorläufigen Rechtsschutz ist in der Rechtsprechung weitestgehend gefestigt<br />
und, wie in anderen Rechtsgebieten auch, teilweise von unterschiedlichen Auffassungen geprägt. Hierauf<br />
hat sich der Rechtsuchende einzustellen.<br />
II. System des § 80 VwGO<br />
1. Grundsatz des § 80 Abs. 1 VwGO<br />
§ 80 VwGO enthält in Absatz 1 Satz 1 die Grundregel, dass Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende<br />
Wirkung haben. Bei einem Verwaltungsakt als allein statthaftem Gegenstand dieser Rechts-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 407
Fach 19, Seite 906<br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />
mittel (§§ 42 Abs. 1, 68, 69 VwGO), der dem Adressaten eine Geldleistung, ein Tun, Dulden oder Unterlassen<br />
auferlegt, bedeutet aufschiebende Wirkung, dass für deren Dauer der angefochtene Verwaltungsakt nicht<br />
befolgt zu werden braucht (BVerwGE 63, 74, 77) und nicht vollzogen werden darf (BVerwGE 99, 109, 112). Die<br />
Behörde darf den mit aufschiebender Wirkung angefochtenen Verwaltungsakt auch nicht zum Anlass für<br />
Folgemaßnahmen nehmen. Zum Beispiel darf sie den ausgewiesenen Ausländer nicht daran hindern, erneut<br />
in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten (OVG Schleswig NVwZ-RR 1993, 437, 438).<br />
§ 80 Abs. 1 S. 2 VwGO stellt klar, dass die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage<br />
auch für rechtsgestaltende und feststellende Verwaltungsakte gilt. Rechtsgestaltend ist ein<br />
Verwaltungsakt, durch den Rechtsbeziehungen unmittelbar begründet, aufgehoben oder geändert<br />
werden, beispielweise die Aufhebung einer Genehmigung im Wege des Widerrufs oder der Rücknahme.<br />
Der feststellende Verwaltungsakt dient der Feststellung von Tatsachen oder Rechtsfolgen, z.B. der<br />
Feststellung, dass ein Beamtenverhältnis wegen einer strafgerichtlichen Verurteilung des Beamten gem.<br />
§ 24 Abs. 1 S. 1 BeamtStG kraft Gesetzes zu einem bestimmten Zeitpunkt erloschen ist. Durch die<br />
aufschiebende Wirkung wird der Fortbestand der bisherigen Rechtslage fingiert, d.h. die Behörde hat<br />
jede Maßnahme zu unterlassen, die den Eintritt der in dem rechtsgestaltenden Verwaltungsakt<br />
verfügten Rechtsänderung voraussetzt (BVerwG BUCHHOLZ 310 § 80 VwGO Nr. 23), bzw. darf aus der<br />
getroffenen Feststellung keine rechtlichen oder tatsächlichen Folgen ziehen (VGH Mannheim DVBl. 1976,<br />
548, 549). So wird die Behörde durch den Suspensiveffekt beispielweise daran gehindert, nach<br />
widerrufener Gaststättenerlaubnis gem. § 31 GastG i.V.m. § 15 Abs. 2 S. 1 GewO die Gaststätte zu<br />
schließen. Da der Gaststättenbetreiber so zu behandeln ist, als wäre er noch Erlaubnisinhaber, liegt ein<br />
ungenehmigter Betrieb als Voraussetzung für die Verhinderung seiner Fortsetzung nicht vor. Im Fall der<br />
Feststellung der Beendigung des Dienstverhältnisses nach § 24 Abs. 1 S. 1 BeamtenStG zwingt der<br />
Suspensiveffekt dazu, den ehemaligen Beamten als dienstlich noch aktiven Beamten zu behandeln.<br />
Nach § 80 Abs. 1 S. 2 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage ferner beim Verwaltungsakt mit<br />
Doppelwirkung (§ 80a VwGO) aufschiebende Wirkung. Der Verwaltungsakt mit Doppelwirkung ist ein<br />
Verwaltungsakt, der entweder den Adressaten begünstigt und gleichzeitig einen anderen belastet oder den<br />
Adressaten belastet und dadurch einen anderen begünstigt. Die aufschiebende Wirkung bedeutet: Ficht der<br />
von einer Baugenehmigung (begünstigender Verwaltungsakt) nachteilig in seinen Rechten betroffene<br />
Nachbar die Genehmigung an, so darf von ihr für die Dauer der aufschiebenden Wirkung kein Gebrauch<br />
gemacht und das genehmigte Vorhaben nicht verwirklicht werden. Ficht der von einer Betriebsuntersagung<br />
(belastender Verwaltungsakt) Betroffene die Untersagungsverfügung an, darf der emittierende Betrieb, der<br />
das Objekt der angeordneten Schließung bildet, unter dem Schutz der aufschiebenden Wirkung vorerst<br />
weitergeführt werden und bleiben die Nachbarn bis auf Weiteres den schädlichen Immissionen ausgesetzt.<br />
Hinweis:<br />
Umstritten ist, ob dem unzulässigen Hauptsacherechtsbehelf aufschiebende Wirkung zukommt (s. im<br />
Einzelnen FINKELNBURG/DOMBERT/KÜLPMANN, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl.<br />
2017, Rn 646 ff.). Für die bedeutsamste Fallgestaltung, den verfristeten Rechtsbehelf, hat sich die Meinung<br />
in Rechtsprechung und Literatur (BVerwGE 20, 240, 243; VGH Kassel ESVGH 21, 97, 99; VGH Mannheim<br />
VBlBW 1992, 152; OVG Weimar LKV 1994, 4<strong>08</strong>; KOPP/SCHENKE, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 80 Rn 130; SCHOCH/<br />
SCHNEIDER/BIER, VwGO, § 80 Rn 84) dahingehend verfestigt, dass ein verfristeter Rechtsbehelf keine aufschiebende<br />
Wirkung hat, weil es zu keiner gerichtlichen Überprüfung des Verwaltungsakts mehr kommen<br />
kann und deshalb für die Sicherung der Effektivität des Rechtsschutzes in der Hauptsache kein Raum ist.<br />
Etwas anderes ist lediglich dann anzunehmen, wenn der durch einen bestandskräftigen Verwaltungsakt<br />
Belastete einen noch nicht beschiedenen, nicht offensichtlich aussichtslosen Antrag auf Wiedereinsetzung<br />
in den vorigen Stand gestellt hat (KOPP/SCHENKE, a.a.O., § 80 Rn 130).<br />
2. Ausnahmen nach § 80 Abs. 2 VwGO<br />
In den in § 80 Abs. 2 VwGO abschließend aufgezählten Fällen ist die aufschiebende Wirkung ausgeschlossen.<br />
Die Regelung dient der Sicherung der Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Sicherstellung<br />
4<strong>08</strong> <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 907<br />
Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />
der Vollziehbarkeit der dafür erforderlichen Verwaltungsakte. Auch soll sich der Adressat seinen Verpflichtungen<br />
nicht einfach durch Einlegung eines Rechtsmittels entziehen können.<br />
a) Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten<br />
Nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO entfällt die aufschiebende Wirkung bei der Anforderung von<br />
öffentlichen Abgaben und Kosten. Die Bestimmung soll in erster Linie gewährleisten, dass die Finanzierung<br />
notwendiger öffentlicher Aufgaben nicht gefährdet wird.<br />
Öffentliche Abgaben i.S.v. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO sind nicht alle einem öffentlichen Gemeinwesen<br />
geschuldeten Leistungen, sondern nur diejenigen, die eine Finanzierungsfunktion für den öffentlichen<br />
Haushalt haben und damit dem öffentlichen Interesse an einem steten Zufluss der zur Finanzierung der<br />
öffentlichen Haushalte bestimmten Abgaben den Vorrang vor dem Interesse des Abgabenschuldners<br />
einräumen, nicht vor Eintritt der Bestandskraft des Heranziehungsbescheids zahlen zu müssen. Abgaben<br />
sind hiernach Steuern, soweit für sie der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist, also die Gemeindesteuern (z.B.<br />
Grundsteuer, Zweitwohnungssteuer), Gebühren (z.B. Kanalbenutzungsgebühren, Kindergartengebühren)<br />
und Beiträge (z.B. Erschließungsbeiträge einschließlich der Vorauszahlungen nach §§ 127 ff. BauGB, Beiträge<br />
für die Mitgliedschaft in berufsständischen Interessenvertretungen). Sonstige nach festen Sätzen bestimmte<br />
öffentlich-rechtliche Geldleistungen fallen unter § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO, wenn sie zumindest in<br />
nennenswertem Umfang der Deckung des Finanzierungsbedarfs eines Gemeinwesens dienen, wie z.B. die<br />
Kreisumlage (OVG Saarlouis KStZ 1994, 112).<br />
Keine Abgaben i.S.d. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO sind Geldforderungen, die primär anderen Zwecken als<br />
der Finanzierung des öffentlichen Haushalts dienen. Dazu gehört der Anspruch einer Gemeinde auf<br />
Erstattung von Kosten einer Hausanschlussleitung zum öffentlichen Kanalnetz, d.h. der Leitungsstrecke<br />
auf dem Privatgrundstück zwischen Kontrollschacht/Übergabestelle an der Grundstücksgrenze<br />
und dem Gebäude. Bei diesem Anspruch handelt es sich nämlich um einen satzungsrechtlich geregelten,<br />
dem zivilrechtlichen Aufwendungsersatz für eine Geschäftsführung ohne Auftrag nachgebildeten<br />
Anspruch. Er gilt dem Ersatz von Aufwendungen, die bei der Wahrnehmung einer Verpflichtung des<br />
Schuldners, der Herstellung von Hausanschlussleitungen in Erfüllung seiner Anschlussverpflichtung,<br />
entstanden sind. Diese Kosten stellen einen reinen Durchlaufposten dar, nicht eine Einnahmequelle, aus<br />
der ganz allgemein Ausgaben bestritten werden können (OVG Greifswald NVwZ-RR 2001, 401, 402).<br />
Praxishinweis:<br />
Dies wird in der anwaltlichen Praxis gelegentlich übersehen, weil die Kosten für die Hausanschlussleitungen<br />
nicht unterschieden werden von den Kanalbaubeiträgen, d.h. den Beiträgen für das öffentliche<br />
Kanalnetz (Hauptsammler, Klärwerk etc.), deren Anforderung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO sofort<br />
vollziehbar ist.<br />
Ebenfalls nicht zu den Abgaben i.S.d. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO zählt die Ausgleichsabgabe, die<br />
Arbeitgeber gem. § 160 Abs. 1 S. 1 SGB IX für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz für schwerbehinderte<br />
Menschen entrichten müssen, solange sie die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen nicht<br />
beschäftigen. Die Ausgleichsabgabe soll den Arbeitgeber zur Erfüllung der Quote veranlassen und dient<br />
dem Kostenausgleich zwischen den Arbeitgebern, die ihre Pflicht zur Beschäftigung Schwerbehinderter<br />
erfüllen, und denen, die dieser Pflicht nicht nachkommen. Einnahmeerzielung ist nicht ihr Zweck.<br />
Der Begriff der öffentlichen Kosten bezieht sich allein auf die Verwaltungsgebühren und Auslagen, die in<br />
einem Verwaltungsverfahren für die öffentlich-rechtliche Tätigkeit einer Behörde nach Maßgabe des jeweils<br />
anzuwenden Verwaltungskostenrechts und den dort normierten Tatbeständen entstanden sind (OVG<br />
Magdeburg NVwZ-RR 2017, 347 Rn 9). Deshalb unterfallen der Nr. 1 weder die Kosten, die die Polizeibehörde<br />
für die unmittelbare Ausführung von Maßnahmen ohne einen vorausgegangenen Verwaltungsakt gegen<br />
den Störer geltend macht (VGH Mannheim NVwZ 1986, 933), noch die Kosten, die im Rahmen der<br />
Vollstreckung eines Verwaltungsakts anfallen (FINKELNBURG/DOMBERT/KÜLPMANN, a.a.O., Rn 690).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 409
Fach 19, Seite 9<strong>08</strong><br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />
b) Unaufschiebbare Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten<br />
§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO schließt die aufschiebende Wirkung bei unaufschiebbaren Anordnungen und<br />
Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten aus. Zur Vollzugspolizei sind Schutz- und Bereitschaftspolizei<br />
zu rechnen, nicht jedoch die polizeilichen Ordnungsbehörden (OVG Münster OVGE 34, 240, 242, betr.<br />
Kreisordnungsbehörde). Ihre Verwaltungsakte sind unaufschiebbar, wenn der mit ihnen beabsichtigte<br />
Zweck mit hoher Wahrscheinlichkeit nur bei sofortiger Durchsetzung erreichbar ist. Dies ist u.a. bei<br />
verkehrsregelnden Maßnahmen oder der Auflösung einer Versammlung der Fall. Den verkehrsregelnden<br />
Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten stehen die Verkehrsregelungen durch Verkehrszeichen gleich<br />
(BVerwG NJW 1982, 348; NVwZ 1988, 623).<br />
c) Sonstige durch Bundes- oder Landesgesetz vorgeschriebene Fälle<br />
Nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO entfällt die aufschiebende Wirkung in den durch Bundesgesetz oder<br />
durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen<br />
Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen.<br />
Der Bundesgesetzgeber hat die aufschiebende Wirkung namentlich in ordnungsrechtlichen (z.B. § 84<br />
Abs. 1 AufenthG, § 75 AsylG), wirtschaftsrechtlichen (z.B. § 6a Abs. 2 S. 3 VermG, § 12 Abs. 1 InVorG),<br />
fachplanungsrechtlichen (§ 18e Abs. 2 S. 1 AEG, § 43e Abs. 1 S. 1 EnWG, § 17 Abs. 2 S. 9 FStrG, § 10 Abs. 4 S. 1<br />
LuftVG, § 29 Abs. 6 S. 2 PBefG, § 5 Abs. 2 S. 1 VerkPBG, § 14e Abs. 2 S. 1 WaStrG), bau- und<br />
raumordnungsrechtlichen (z.B. § 212a Abs. 1, Abs. 2 BauGB, § 12 Abs. 3 ROG) sowie wehrrechtlichen (z.B.<br />
§35S.1WPflG, § 74 ZDG) Bestimmungen ausgeschlossen. Nicht unter Nr. 3 fallen die Ermächtigungen zu<br />
vorläufigen Regelungen, z.B. die Ermächtigung zur Erteilung vorläufiger Erlaubnisse für den Linienverkehr<br />
nach § 20 PBefG. Bei ihnen handelt es sich nicht um Regelungen der Vollziehbarkeit von<br />
Verwaltungsakten, sondern um Vorschriften, die den Erlass vorläufiger Verwaltungsakte ermöglichen,<br />
die ihrerseits in vollem Umfang dem § 80 VwGO unterliegen (KOPP/SCHENKE, a.a.O., § 80 Rn 67).<br />
Der wichtigste Regelungsbereich, in dem die Länder den Suspensiveffekt regelmäßig ausgeschlossen<br />
haben, ist derjenige der Verwaltungsvollstreckung. Soweit es um die Vollstreckung von Verwaltungsakten<br />
geht, die unter Anwendung von Bundesrecht erlassen worden sind, ist die Ermächtigung zum<br />
Ausschluss des Suspensiveffekts in § 80 Abs. 2 S. 2 VwGO enthalten. Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung<br />
sind Verwaltungsakte nach Maßgabe der Verwaltungsvollstreckungsgesetze, d.h. Androhung,<br />
Anordnung und Festsetzung von Zwangsmitteln, Anforderung des Kostenvorschusses für die<br />
Ersatzvornahme, Pfändung von Forderungen oder Sachen sowie sonstige Vollstreckungsakte, die ihre<br />
Rechtsgrundlagen im sonstigen Bundes- oder Landesrecht haben.<br />
d) Anordnung der sofortigen Vollziehung durch eine Behörde<br />
§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO ermächtigt die (Ausgangs- und Widerspruchs-)Behörde, imkonkreten Fall<br />
die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise, befristet, mit einer Auflage, unter einer Bedingung usw.<br />
durch Anordnung der sofortigen Vollziehung auszuschließen. Voraussetzung ist ein besonderes<br />
öffentliches oder überwiegendes Interesse eines Beteiligten hieran. Dieses Interesse ist nicht identisch<br />
mit dem öffentlichen Interesse, das dem Erlass eines jeden Verwaltungsakts zugrunde liegt, sondern<br />
geht darüber hinaus (BVerfG NVwZ 2005, 1053, 1054). Die Vollziehung des Verwaltungsakts muss so<br />
dringlich sein, dass es gerechtfertigt ist, den Anspruch des Einzelnen auf vorläufige Bewahrung des<br />
Status quo zurückzustellen. Ob das der Fall ist, ist im Wege der Abwägung zu ermitteln, in die alle mit<br />
dem Vollzug des Verwaltungsakts unmittelbar verbundenen bzw. dem Vollzug entgegenstehenden<br />
Interessen einzustellen sind.<br />
3. Regelungen des § 80 Abs. 5 VwGO<br />
a) Aussetzungsantrag gem. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO<br />
Nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache – das ist das Gericht, bei dem die<br />
Hauptsache bereits anhängig ist bzw. wenn noch keine Klage erhoben ist, dort, wo die Klage zu erheben<br />
wäre – auf Antrag die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage in den Fällen des<br />
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Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 909<br />
Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />
§ 80 Abs. 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen, im Fall des § 80 Abs. 5 Abs. 2 S. 1<br />
Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Die Regelung nimmt ihrem Wortlaut und ihrer<br />
Zielrichtung nach Bezug auf § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO (OVG Münster DÖV 1983, 1024, 1025). Aus dessen<br />
Formulierung, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, ergibt sich,<br />
dass nur der der Anfechtungsklage vorausgehende Widerspruch, d.h. der Anfechtungswiderspruch,<br />
gemeint ist. An einen Verpflichtungswiderspruch kann grundsätzlich kein Aussetzungsantrag geknüpft<br />
werden. Es ist deshalb verfehlt, wenn sich ein Betroffener gegen die Versagung einer Genehmigung mit<br />
Widerspruch und Aussetzungsantrag in der Erwartung zur Wehr setzt, die genehmigungsbedürftige<br />
Tätigkeit für die Dauer des Hauptsacheverfahrens ausüben zu dürfen. Die Erhebung eines Widerspruchs<br />
gegen die Versagung einer Genehmigung ändert nichts daran, dass die zur Genehmigung gestellte<br />
Tätigkeit verboten bleibt. Vorläufiger Rechtsschutz ist hier nur über § 123 Abs. 1 VwGO zu erreichen.<br />
Hinweis:<br />
Etwas anderes gilt allerdings dort, wo die Ablehnung eines beantragten Verwaltungsakts eine über sie<br />
hinausreichende Belastungswirkung entfaltet. Dies ist nur ausnahmsweise der Fall, z.B. bei der Ablehnung<br />
eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung einer ausländerrechtlichen Aufenthaltsgenehmigung. Die<br />
Ablehnung hat zur Folge, dass die Fiktion des erlaubten Aufenthalts nach § 81 Abs. 3 S. 1, Abs. 4 S. 1 AufenthG<br />
endet. Hier muss ein Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO gegen die Versagung der Aufenthaltsgenehmigung<br />
gerichtet werden, damit durch die Suspendierung der Versagung die Fiktion wieder aufleben kann (OVG<br />
Bremen EzAR-NF 33 Nr. 27).<br />
b) Folgenbeseitigung nach § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO<br />
Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung schon vollzogen – was auch der Fall<br />
ist, wenn der Betroffene unter dem Druck drohender Vollstreckung von sich aus den Verwaltungsakt<br />
befolgt hat (VGH Kassel NVwZ 1995, 1027, 1029) –, kann das Gericht nach § 80 Abs. 5 Abs. 5 S. 3 VwGO<br />
die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Bestimmung ermächtigt das Gericht zur Folgenbeseitigung.<br />
Sie hat rein verfahrensrechtliche Bedeutung (OVG Greifswald GewArch 1996, 76, 77),<br />
während die materielle Grundlage der allgemeine Folgenbeseitigungsanspruch i.V.m. dem einschlägigen<br />
materiellen Recht ist (OVG Münster a.a.O.).<br />
Hinweis:<br />
Zu beachten ist, dass sich ein Eilantrag nicht auf die Aufhebung von Vollzugsmaßnahmen nach Satz 3 beschränken<br />
darf. Es bedarf zusätzlich eines – nur auf Antrag zulässigen – Ausspruchs über die Aussetzung der<br />
Vollziehung nach Satz 1, weil die Aufhebung der Vollziehung notwendig auch die Beseitigung der Vollziehbarkeit<br />
des Verwaltungsakts, die die Grundlage der Vollziehung gebildet hat, voraussetzt (VGH Mannheim<br />
NJW 1979, 2528).<br />
Die Aufhebung der Vollziehung eines erledigten Verwaltungsakts ist allerdings nicht mehr möglich, da<br />
ein solcher Verwaltungsakt nicht mit einem Aussetzungsantrag angegriffen werden kann (FINKELNBURG/<br />
DOMBERT/KÜLPMANN, a.a.O., Rn 1024).<br />
III. Aussetzungsantrag in der gerichtlichen Prüfung<br />
Wie bei einer Klage nimmt das Gericht auch bei einem Aussetzungsantrag eine zweigeteilte Prüfung<br />
nach Zulässigkeit und Begründetheit vor.<br />
1. Zulässigkeit des Antrags<br />
a) Allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzungen<br />
Die Zulässigkeit eines Aussetzungsantrags setzt voraus, dass der Verwaltungsrechtsweg (§ 40 Abs. 1<br />
VwGO) gegeben ist. Da der Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung des Suspensiveffekts von<br />
Widerspruch und Anfechtungsklage abzielt, muss er gegen einen nach § 80 Abs. 2 VwGO sofort<br />
vollziehbaren Verwaltungsakt (§ 35 VwVfG) gerichtet sein. Ausnahmsweise kann auch ein Verwaltungs-<br />
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Fach 19, Seite 910<br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />
akt, der nicht sofort vollziehbar ist, Gegenstand eines Aussetzungsantrags sein, und zwar dann, wenn die<br />
Behörde die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs in Frage stellt. Gegenüber drohenden<br />
Verwaltungsakten ist nicht das Aussetzungsverfahren, sondern allenfalls das Verfahren nach § 123 Abs. 1<br />
VwGO statthaft. Erforderlich ist ferner die Antragsbefugnis in analoger Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO.<br />
b) Besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen<br />
aa) Vorherige oder gleichzeitige Einlegung eines Rechtsbehelfs zur Hauptsache<br />
Streitig ist, ob die Zulässigkeit eines Aussetzungsantrags von der vorherigen oder gleichzeitigen<br />
Einlegung eines Rechtsbehelfs in der Hauptsache abhängig ist (bejahend OVG Münster NVwZ-RR 1996,<br />
184; OVG Weimar LKV 1994, 4<strong>08</strong>; OVG Koblenz NJW 1995, 1043; REDEKER/VON OERTZEN, VwGO, 16. Aufl.<br />
2014, § 80 Rn 54; verneinend VGH München DVBl. 1988, 590, 591; VGH Mannheim DVBl. 1995, 303; KOPP/<br />
SCHENKE, a.a.O., § 80 Rn 139). Richtig ist, dass jedenfalls zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein<br />
Rechtsbehelf in der Hauptsache eingelegt sein muss (EYERMANN, VwGO, 15. Aufl. <strong>2019</strong>, § 80 Rn 51); denn<br />
die Anordnung oder Wiederherstellung des Suspensiveffekts von Widerspruch und Anfechtungsklage<br />
setzt die Einlegung eines solchen Rechtsmittels denkgesetzlich voraus. Die Annahme, ein Gericht werde<br />
die aufschiebende Wirkung eines noch einzulegenden Rechtsbehelfs anordnen oder wiederherstellen,<br />
wäre lebensfremd. Realistischerweise hat das Gericht die beiden Optionen, entweder den Antrag sofort<br />
mangels Rechtsschutzbedürfnisses abzulehnen oder die Einlegung des Rechtsbehelfs abzuwarten. Ein<br />
Zeitgewinn lässt sich mit einem vorgezogenen Eilantrag nicht erzielen.<br />
bb) Antragsgegner<br />
Richtiger Antragsgegner ist in analoger Anwendung des § 78 Abs. 1 VwGO grundsätzlich die Körperschaft<br />
oder, wenn das Landesrecht dies vorsieht, deren Behörde, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen<br />
hat. Ob dies auch gilt, wenn die Widerspruchsbehörde die sofortige Vollziehung angeordnet hat, wird<br />
kontrovers beurteilt. Während die überwiegende Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum wegen des<br />
akzessorischen Charakters des Eilverfahrens zum Hauptsacheverfahren auch hier die Ausgangsbehörde<br />
als richtigen Antragsgegner ansieht (VGH Kassel NVwZ 1990, 677; OVG Lüneburg NJW 1989, 2147, 2148;<br />
VGH Mannheim NVwZ 1995, 1220, 1221; VGH München BayVBl. 1984, 598; FINKELNBURG/DOMBERT/KÜLPMANN,<br />
a.a.O., Rn 903), ist nach der gegenteiligen Auffassung der Aussetzungsantrag gegen die Widerspruchsbehörde<br />
zu richten, weil diese hinsichtlich des Erlasses der Vollzugsanordnung Ausgangsbehörde sei (OVG<br />
Münster NJW 1995, 2242; VG Dessau LKV 1997, 264; REDEKER/VON OERTZEN, a.a.O., § 80 Rn 56b).<br />
cc) Antragsfrist<br />
Die VwGO setzt für einen Aussetzungsantrag keine Frist. Es gibt aber andere Gesetze, die (unterschiedlich<br />
lange) Fristen vorsehen. So muss etwa ein Aussetzungsantrag gegen eine Abschiebungsanordnung<br />
innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe gestellt werden (§ 34a Abs. 2 S. 1 AsylG). Für Aussetzungsanträge<br />
gegen Planfeststellungsbeschlüsse gilt eine Frist von einem Monat nach Zustellung (§ 18e Abs. 2<br />
S. 2 AEG, § 43e Abs. 1 S. 2 EnWG, § 17e Abs. 2 S. 2 FStrG, § 10 Abs. 4 S. 2 LuftVG, § 29 Abs. 6 S. 3 PBefG, § 5<br />
Abs. 2 S. 2 VerkPBG, § 14e Abs. 2 S. 2 WaStrG). In der Rechtsmittelbelehrung ist auf die jeweilige Frist<br />
hinzuweisen. Fehlt der Hinweis, wird die spezialgesetzlich normierte Frist jedenfalls dann durch die<br />
Jahresfrist des § 58 Abs. 2 S. 1 VwGO ersetzt, wenn die Geltung des § 58 VwGO ausdrücklich angeordnet<br />
ist, wie in § 18e Abs. 2 S. 4 AEG, § 43a Abs. 1 S. 4 EnWG, § 17e Abs. 2 S. 4 FStrG, § 10 Abs. 4 S. 3 LuftVG, § 14e<br />
Abs. 3 S. 3 WaStrG. Die Frage, ob bei Fehlen einer spezialgesetzlichen Verweisung, wie in § 34a AsylG, § 29<br />
PBefG, § 5 VerkPBG, § 58 VwGO entsprechend anwendbar ist, wird unterschiedlich beantwortet (dafür<br />
KOPP/SCHENKE, a.a.O., § 58 Rn 5; a.A. OVG Lüneburg NVwZ-RR 1995, 177, 178: keine planwidrige<br />
Regelungslücke).<br />
dd) Behördliches Vorverfahren?<br />
Die gerichtliche Entscheidung über einen Aussetzungsantrag hat grundsätzlich nicht zur Voraussetzung,<br />
dass der Antragsteller zuvor bei der Ausgangs- oder Widerspruchsbehörde erfolglos um<br />
vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht hat. Eine Ausnahme ist nach § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO für den Fall<br />
eines Aussetzungsantrags gegen die Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten vorgesehen,<br />
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Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />
und zwar auch dann, wenn ein Vorverfahren nach § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO nicht erforderlich ist (VGH<br />
Kassel NVwZ-RR 1995, 235). Das in § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO vorgeschriebene besondere Vorverfahren wird<br />
durch Klage und Einlassung der Verwaltung darauf zur Sache nicht ersetzt (KOPP/SCHENKE, a.a.O., § 80<br />
Rn 184) und kann als Zugangsvoraussetzung auch nicht nachgeholt werden (VGH Kassel DVBl. 1994,<br />
805, 806; OVG Berlin-Brandenburg NVwZ 2006, 356).<br />
2. Begründetheit des Antrags<br />
Nach dem Wortlaut des § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO, wonach das Gericht der Hauptsache die aufschiebende<br />
Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage anordnen bzw. wiederherstellen „kann“, ist die<br />
Entscheidung in das Ermessen des Gerichts gestellt. Kennzeichnend für eine Ermessensentscheidung ist<br />
eine Interessenabwägung. Nach welchen Maßstäben diese vorzunehmen ist, sagt § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO<br />
nicht. In Rechtsprechung und Literatur ist allerdings geklärt, dass es allein oder zumindest auch auf die<br />
Erfolgsaussichten des Widerspruchs oder der Anfechtungsklage ankommt. Zu prüfen ist also in erster<br />
Linie, ob sich der Verwaltungsakt im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtmäßig oder<br />
rechtswidrig erweisen wird. Die Rechtmäßigkeitsprüfung hat dabei im Regelfall nur summarisch zu<br />
erfolgen (OVG Bautzen LKV 1995, 121; VGH Mannheim NVwZ 1995, 716). Dem Charakter eines<br />
Eilverfahrens ist eine ins Einzelne gehende Klärung des Sachverhalts und von Rechtsfragen fremd. Etwas<br />
anderes hat dann zu gelten, d.h. die Sach- und Rechtslage ist abschließend zu prüfen, wenn das<br />
Eilverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige<br />
Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, z.B. im Fall einer vorzeitigen<br />
Besitzeinweisung zugunsten eines Braunkohletagebaus, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende,<br />
besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (BVerfG NVwZ 2017, 149 Rn 20).<br />
a) Begründetheit in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 3 VwGO<br />
Nach § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO hat die Aussetzung der Vollziehung bei öffentlichen Abgaben und Kosten<br />
zu erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts<br />
bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch<br />
überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Diese Regelung, die sich an die<br />
Ausgangs- und die Widerspruchsbehörde richtet, findet bei der gerichtlichen Anordnung des<br />
Suspensiveffekts in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO entsprechende Anwendung (BVerwG<br />
BayVBl. 1982, 442; OVG Hamburg NVwZ-RR 1992, 318, 319; OVG Schleswig NVwZ-RR 1992, 106, 107).<br />
Nach Auffassung des OVG Hamburg (a.a.O.), des OVG Koblenz (DVBl. 1984, 1134, 1135), des VGH<br />
Mannheim (VBlBW 1983, 246), des OVG Münster (NVwZ-RR 1994, 617) und des OVG Saarlouis<br />
(DÖV 1987, 1115) ist die Rechtmäßigkeit eines Heranziehungsbescheids ernstlich zweifelhaft, wenn<br />
der Erfolg des Rechtsmittels im Hauptsacheverfahren wahrscheinlicher ist als der Misserfolg.<br />
Demgegenüber halten es das BVerwG (a.a.O.), das OVG Lüneburg (NVwZ-RR 1989, 328) und das<br />
OVG Schleswig (a.a.O.) für ausreichend, wenn der Erfolg ebenso wahrscheinlich ist wie der Misserfolg.<br />
Eine unbillige Härte ist anzunehmen, wenn durch die sofortige Vollziehung für den Betroffenen<br />
Nachteile entstehen, die über die eigentliche Zahlung hinausgehen und die nicht oder nur schwer<br />
wiedergutzumachen sind (VGH München BayVBl. 1988, 727). Das ist beispielsweise der Fall, wenn die<br />
Vollziehung zum Konkurs oder zur Existenzvernichtung des Pflichtigen führen würde. § 80 Abs. 4 S. 3<br />
VwGO lässt eine Aussetzung zur Vermeidung persönlicher Härten nicht auch aus allgemeinen<br />
sachlichen Billigkeitsgründen zu (OVG Münster NVwZ-RR 1999, 210, 211).<br />
Nicht nur im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO, sondern auch in den Konstellationen des § 80 Abs. 2 S. 1<br />
Nr. 2 und 3 VwGO hat der Gesetzgeber die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der<br />
sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und dem Aussetzungsinteresse des Rechtsmittelführers<br />
regelmäßig zugunsten des öffentlichen Interesses vorgenommen (BVerfG NVwZ 2004, 93, 94). Wenn er<br />
im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO die Risikoverteilung zugunsten des Rechtsmittelführers bei<br />
ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts umkehrt, so gibt es keinen einleuchtenden<br />
Grund, in den Fällen der Nr. 2 und 3 anders zu verfahren. Die Annahme ist deshalb berechtigt,<br />
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Fach 19, Seite 912<br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />
dass § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO keine auf § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO begrenzte Sonderregelung darstellt (VGH<br />
Mannheim VBlBW 1992, 433; VGH München BayVBl. 1986, 24; a.A. OVG Lüneburg NVwZ-RR 1989, 328;<br />
KOPP/SCHENKE, a.a.O., § 80 Rn 116).<br />
Hinweis:<br />
Auch in den Fällen der Nr. 2 und 3 besteht an der sofortigen Vollziehung kein öffentliches Interesse, wenn<br />
ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen. Einer nochmaligen Interessenabwägung<br />
im Einzelfall bedarf es nicht, weil sie schon vom Gesetzgeber generalisierend antizipiert worden ist.<br />
Dass das Gesetz im Falle des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO den Sofortvollzug eines Verwaltungsakts,<br />
dessen Rechtmäßigkeit nicht ernstlich zweifelhaft ist, nur im Regelfall und nicht stets als geboten<br />
erachtet, hat der 4. Senat des BVerwG betont (BUCHHOLZ 407.4 § 17 FStrG Nr. 98). Der gesetzliche<br />
Ausschluss der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs hat lediglich zur Folge, dass die Behörde<br />
von der Pflicht nach § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO entbunden wird, das öffentliche Interesse an der sofortigen<br />
Vollziehung im Verwaltungsverfahren besonders zu begründen. Sie muss aber im gerichtlichen<br />
Verfahren näher darlegen, aus welchen Interessenpositionen sie für sich die Befugnis ableitet, den<br />
Verwaltungsakt vor dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu vollziehen.<br />
b) Begründetheit im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO<br />
aa) Verstoß gegen § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO<br />
Anders als in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 3 ist im Fall der Nr. 4 der Interessenabwägung die<br />
Prüfung vorgelagert, ob die Behörde dem formalen Erfordernis des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO gerecht<br />
geworden ist. Danach ist das besondere Interesse an einem behördlich angeordneten Sofortvollzug<br />
schriftlich zu begründen. Hiervon kann gem. § 80 Abs. 3 S. 2 VwGO nur abgesehen werden, wenn die<br />
Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder<br />
Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.<br />
§ 80 Abs. 3 S. 1 VwGO enthält zum einen eine formelle Komponente, indem er eine eigenständige,<br />
äußerlich erkennbare Begründung für die Vollziehungsanordnung verlangt (vgl. OVG Hamburg<br />
InfAuslR 1986, 203). Der Adressat und das Gericht brauchen den Bescheid nicht dahingehend<br />
durchzukämmen, ob sich irgendwo zwischen den Gründen für den Erlass des Verwaltungsakts auch<br />
die Gründe für die Anordnung der sofortigen Vollziehung finden. Auch wenn die Gründe für die<br />
Anordnung des Sofortvollzugs dem Adressaten bereits bekannt oder ohne Weiteres erkennbar sind, ist<br />
eine eigenständige Begründung nicht entbehrlich (OVG Hamburg InfAuslR 1984, 72, 73; OVG Weimar<br />
ThürVBl. 1994, 137, 139).<br />
§ 80 Abs. 3 S. 1 VwGO verlangt zum anderen einen bestimmten Mindestinhalt. Die Behörde hat die<br />
wesentlichen tatsächlichen oder rechtlichen Gründe darzulegen, die im konkreten Fall ein Interesse<br />
am Sofortvollzug ergeben und die zu ihrer Entscheidung geführt haben, wegen dieses besonderen<br />
Interesses von der Befugnis nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO Gebrauch zu machen (VGH München<br />
BayVBl. 1982, 756, 757). Als Begründung genügt namentlich nicht eine bloße Wiederholung der den<br />
Verwaltungsakt tragenden Gründe, die Berufung auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts (VGH<br />
Kassel NVwZ 1985, 918), die Verwendung stereotyper, formelhafter, allgemeiner und daher nichtssagender<br />
Wendungen oder die Wiederholung des Textes des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO (VGH<br />
Mannheim NJW 1977, 165).<br />
Die Anforderungen des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO sind allerdings weniger streng, wenn, was insbesondere<br />
bei Verwaltungsakten der Gefahrenabwehr vorkommen kann, sich die für den Erlass des Verwaltungsakts<br />
maßgebenden Gründe mit denen für den Sofortvollzug decken. In diesen Fällen ist der Vorschrift<br />
genügt, wenn die Behörde auf die Begründung des Verwaltungsakts verweist und deutlich macht, dass<br />
sich aus den Gründen für den Erlass des Verwaltungsakts im konkreten Fall auch das Vollziehungsinteresse<br />
ergibt (VGH Kassel DÖV 1974, 605).<br />
414 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 913<br />
Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />
Ob in analoger Anwendung des § 45 Abs. 2 VwVfG eine fehlende Begründung nachgeholt oder eine<br />
fehlerhafte Begründung durch eine fehlerfreie ersetzt werden kann, ist umstritten (bejahend OVG<br />
Greifswald NVwZ-RR 1999, 409; einschränkend OVG Koblenz DVBl. 1985, 1077, 1078: Nachholung nur bis zur<br />
Stellung des Aussetzungsantrags möglich; verneinend OVG Hamburg a.a.O.; OVG Lüneburg RdL 1987, 335).<br />
Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet es, dass die Gerichte, die eine Heilung eines Begründungsmangels<br />
noch im gerichtlichen Verfahren für zulässig halten, denjenigen Antragstellern, die einen<br />
Aussetzungsantrag allein wegen fehlender oder fehlerhafter Begründung gestellt haben, nach der Heilung<br />
die Gelegenheit geben, zur Abwendung der Kostenfolge des § 154 Abs. 1, 2 VwGO die Hauptsache für erledigt<br />
zu erklären.<br />
bb) Interessenabwägung bei § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 Alt. 1 VwGO<br />
§ 80 Abs. 5 VwGO beschränkt die Befugnis des Gerichts nicht auf die Prüfung, ob die von der Behörde<br />
aufgezeigten Gründe die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtfertigen. Das Gericht muss eigenständig<br />
und losgelöst von der vorangegangenen behördlichen Vollzugsanordnung entscheiden, ob der Suspensiveffekt<br />
von Widerspruch und Anfechtungsklage wiederherzustellen ist (VGH München GewArch 1993, 170).<br />
Auch im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 Alt. 1 VwGO hat sich das Gericht an den Erfolgsaussichten des<br />
Hauptsacherechtsbehelfs zu orientieren. Dabei gilt, dass das Aussetzungsinteresse des Betroffenen<br />
umso gewichtiger ist, je größer die Erfolgsaussichten sind. Je geringer diese sind, umso höher müssen die<br />
erfolgsunabhängigen Interessen des Antragstellers sein, um eine Aussetzung zu rechtfertigen (VGH<br />
Mannheim VBlBW 1997, 391).<br />
Ergibt eine summarische Prüfung des Gerichts, dass Widerspruch und Anfechtungsklage wegen<br />
offensichtlicher Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts erfolglos bleiben werden, werden mit anderen<br />
Worten die Erfolgsaussichten mit Null bewertet, soll nach wohl überwiegender Meinung in der<br />
Rechtsprechung (BVerwG DVBl. 1974, 566; VGH München GewArch 1982, 238, 239; OVG Münster<br />
OVGE 35, 125, 126) das Vollziehungsinteresse der Behörde überwiegen, weil es nicht Aufgabe des<br />
Eilverfahrens sei, Rechtspositionen einzuräumen oder zu bewahren, die einem Hauptsacheverfahren<br />
erkennbar nicht standhalten. Mit dem Gesetz vereinbar ist diese Ansicht nicht (VGH Mannheim a.a.O.;<br />
VGH Kassel MDR 1992, 315; OVG Lüneburg GewArch 1984, 380). § 80 Abs. 1 VwGO nimmt es hin, dass<br />
auch einem Rechtsbehelf gegen einen offensichtlich rechtmäßigen Verwaltungsakt aufschiebende<br />
Wirkung zukommt, während § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO den Ausschluss des Suspensiveffekts von einem<br />
besonderen öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung abhängig macht. Das allgemeine<br />
öffentliche Interesse an der Vollziehung eines erkennbar rechtmäßigen Verwaltungsakts genügt nicht.<br />
Ist nach summarischer Prüfung der Hauptsacherechtsbehelf offensichtlich erfolgreich, soll das Suspensivinteresse<br />
des Betroffenen jedes öffentliche Vollzugsinteresse überwiegen (OVG Hamburg NJW 1981, 1750;<br />
VGH Kassel a.a.O.). Auch gegen diese Meinung bestehen Bedenken. So kann z.B. eine für sofort vollziehbare<br />
Regelung der Dienstbereitschaft eines Apothekers nach § 23 ApBetrO – aus welchen Gründen immer –<br />
offensichtlich rechtswidrig sein; gleichwohl kann es geboten sein, den Sofortvollzug (befristet) zu<br />
bestätigen, um eine akute Gefährdung der Arzneimittelversorgung der Bevölkerung zu verhindern. Das<br />
BVerwG wertet den voraussichtlichen Erfolg des Hauptsacherechtsbehelfs denn auch nur als wesentliches<br />
Indiz dafür, dass die Vollziehung des Verwaltungsakts bis zur Entscheidung in der Hauptsache suspendiert<br />
werden muss (BVerwG BauR 2015, 968, 969 zu § 47 Abs. 6 VwGO).<br />
Die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs sind – von den Einschränkungen abgesehen, die das<br />
BVerfG (a.a.O.) formuliert hat – nach alledem nur ein abwägungserheblicher Belang und entbinden nicht<br />
davon, anhand zusätzlicher Kriterien zu ermitteln, wessen Interesse für die Dauer des Hauptsacheverfahrens<br />
der Vorrang gebührt. Erforderlich ist insoweit eine Ermittlung, Gegenüberstellung und Gewichtung<br />
der Nachteile, die zu Lasten des Allgemeininteresses eintreten, wenn die Vollziehung des<br />
Verwaltungsakts während des Hauptsacheverfahrens unterbleibt, und der Nachteile eines sofortigen<br />
Vollzugs für den Betroffenen. Zu dessen Gunsten fällt insbesondere der etwaige Umstand in die Waagschale,<br />
dass der Sofortvollzug irreparable oder nur schwer rückgängig zu machende Folgen bei ihm auslöst.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 415
Fach 19, Seite 914<br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />
cc) Interessenabwägung bei § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 Alt. 2 VwGO<br />
Ist der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig, ist der Aussetzungsantrag zurückzuweisen<br />
(VGH Mannheim VBlBW 1982, 267, 269). Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig, so<br />
ist der Antrag erfolgreich, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich die Rechte des anfechtenden Dritten<br />
verletzt (FINKELNBURG/DOMBERT/KÜLPMANN, a.a.O., Rn 1068). Bei offenem Ausgang der Hauptsache hat das<br />
Gericht unter Abwägung aller Umstände, insbesondere der Vollzugs- und Suspensivfolgen, zu prüfen,<br />
ob das Interesse des Begünstigten am Sofortvollzug das Interesse des Drittbetroffenen an der<br />
aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs überwiegt. Dabei darf vom Gericht zugunsten des<br />
Begünstigten auch ein eventuell bestehendes Interesse der Öffentlichkeit oder sonstiger Beteiligter an<br />
der Anordnung der sofortigen Vollziehung berücksichtigt werden (BVerfGE 51, 268, 280; OVG Lüneburg<br />
DVBl. 1979, 693, 695).<br />
c) Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage<br />
Der für die Sach- und Rechtslage maßgebliche Zeitpunkt der Prüfung, ob der angefochtene<br />
Verwaltungsakt im Hauptsacheverfahren voraussichtlich Bestand haben wird, richtet sich nach dem<br />
materiellen Recht (BVerwG DÖV 1991, 297 und BVerwGE 120, 246, 250). Kommt es hiernach auf den<br />
Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung an, gilt dies grundsätzlich auch für das Aussetzungsverfahren.<br />
Ist der erforderliche Widerspruchsbescheid noch nicht ergangen, ist auf die Sach- und<br />
Rechtslage zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung über den Aussetzungsantrag abzustellen (VGH<br />
Kassel NVwZ 1992, 393; a.A. VGH München NVwZ-RR 1993, 327: Zeitpunkt der behördlichen<br />
Ausgangsentscheidung). Der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist auch generell maßgebend<br />
für die erfolgsunabhängige Interessenabwägung (VGH Kassel NVwZ 1991, 88, 90 ff.) und die Beurteilung<br />
eines besonderen Vollzugsinteresses (VGH Mannheim GewArch 1993, 291).<br />
3. Tenorierung<br />
In den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 3 VwGO ordnet das Gericht, wenn der Aussetzungsantrag<br />
zulässig und begründet ist, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs oder der Anfechtungsklage<br />
ganz oder teilweise an. Die Anordnung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen<br />
Auflagen abhängig gemacht sowie befristet werden. Insoweit gilt § 80 Abs. 5 S. 4 und 5 VwGO<br />
entsprechend (VGH Kassel ESVGH 24, 194, 195).<br />
Im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO stellt das Gericht, ggf. nach Maßgabe des § 80 Abs. 5 S. 4 und 5<br />
VwGO, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs ganz oder teilweise wieder her. Ob dies auch gilt,<br />
wenn der Aussetzungsantrag wegen eines Verstoßes gegen § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO Erfolg hat, ist streitig<br />
(dafür VGH Kassel NVwZ-RR 1989, 627; OVG Magdeburg DVBl. 1994, 8<strong>08</strong>; dagegen VGH Mannheim<br />
VBlBW 1996, 297, 298; OVG Schleswig NVwZ-RR 1996, 148, 149; OVG Weimar DÖV 1994, 1014:<br />
Aufhebung der Vollziehungsanordnung).<br />
Die aufschiebende Wirkung nur des Widerspruchs wird sowohl angeordnet oder wiederhergestellt,<br />
wenn der Verwaltungsakt noch nicht Gegenstand einer Anfechtungsklage geworden ist, als auch,<br />
wenn eine Anfechtungsklage bereits erhoben ist oder während des Eilverfahrens erhoben wird. Nur<br />
wenn der Klage kein Widerspruchsverfahren vorausgeht, wird die aufschiebende Wirkung der Klage<br />
angeordnet oder wiederhergestellt. Der Suspensiveffekt wird bei den unter § 80 Abs. 1 VwGO<br />
fallenden Verwaltungsakten von dem ersten mit aufschiebender Wirkung ausgestatteten Rechtsbehelf<br />
ausgelöst und dauert nach Maßgabe des § 80b VwGO bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit<br />
des Verwaltungsakts an.<br />
Praxishinweis:<br />
Gelegentlich begegnet den Gerichten der Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs und der<br />
(bereits erhobenen oder ggf. noch zu erhebenden) Anfechtungsklage anzuordnen oder wiederherzustellen.<br />
Ein solcher Antrag ist insoweit nicht erforderlich, als er die Anfechtungsklage einbezieht.<br />
416 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 915<br />
Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />
Berühmt sich die Behörde zu Unrecht der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsakts, stellt das<br />
Gericht fest, dass der Widerspruch oder die Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung hat (OVG<br />
Hamburg NVwZ-RR 1999, 145).<br />
Zwischen dem Erlass eines Verwaltungsakts, der kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist, oder der<br />
Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Behörde und der Entscheidung des Gerichts über<br />
einen Eilantrag vergeht i.d.R. eine gewisse Zeitspanne. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es mit<br />
einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht sein Bewenden haben kann, sondern<br />
eine abschließende Prüfung der Sach- und Rechtslage angezeigt ist (vgl. dazu BVerfG NVwZ 2017,<br />
149 Rn 20). Um zu verhindern, dass in der Zwischenzeit irreparable Nachteile für den Betroffenen<br />
eintreten, ist es geboten, dass das Gericht die Behörde auffordert, bis zur Entscheidung im<br />
Eilverfahren auf Vollstreckungsmaßnahmen zu verzichten. Kommt die Behörde der Aufforderung<br />
nicht nach, obliegt es dem Gericht, den Verzicht durch einen sog. Hängebeschluss förmlich<br />
aufzugeben (BVerfG NVwZ 2014, 363 Rn 8). Der Tenor lautet dann, dass die aufschiebende Wirkung<br />
des Rechtsbehelfs zur Hauptsache bis zur Entscheidung des Gerichts über den Eilantrag angeordnet/<br />
wiederhergestellt wird.<br />
4. Dauer der aufschiebenden Wirkung<br />
Die aufschiebende Wirkung beginnt rückwirkend mit dem Erlass des Verwaltungsakts (BVerwG<br />
DÖV 1973, 787). Sie endet nach § 80b Abs. 1 S. 1 Alt. 1 VwGO auf jeden Fall mit seiner Unanfechtbarkeit.<br />
Hiervon gibt es keine Ausnahme. Vor Eintritt der Bestandskraft endet der Suspensiveffekt, wenn die<br />
Anfechtungsklage im ersten Rechtszug abgewiesen worden ist, gem. § 80b Abs. 1 S. 1 Alt. 2 VwGO<br />
spätestens drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist des gegen die abweisende<br />
Entscheidung gegebenen Rechtsmittels.<br />
Hinweis:<br />
Gemeint ist hier die zweimonatige Begründungsfrist des § 124a Abs. 3 S. 1 VwGO bzw. die einmonatige<br />
Begründungsfrist des § 124a Abs. 6 S. 1 VwGO und nicht die zweimonatige Frist des § 124a Abs. 4 S. 4<br />
VwGO für die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung (VGH München DVBl. 1997, 663, 664;<br />
BADER/FUNKE-KAISER/STUHLFAUTH/VON ALBEDYLL, VwGO, 7. Aufl. 2018, § 80b Rn 9; a.A. OVG Münster NVwZ<br />
2002, 76).<br />
Dies gilt nach § 80b Abs. 1 S. 2 VwGO auch, wenn die Vollziehung durch die Behörde ausgesetzt oder die<br />
aufschiebende Wirkung durch das Gericht wiederhergestellt oder angeordnet worden ist, es sei denn,<br />
die Behörde hat die Vollziehung bis zur Unanfechtbarkeit ausgesetzt.<br />
§ 80b Abs. 2 VwGO ermächtigt das OVG, auf Antrag die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung<br />
anzuordnen. Um keine Lücke im vorläufigen Rechtsschutz entstehen zu lassen, kann der Antrag schon<br />
vor Wegfall des Suspensiveffekts gleichzeitig mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt<br />
werden (OVG Greifswald a.a.O.). In Fällen, in denen eine Berufung nicht statthaft ist, sondern nur eine<br />
Revision zum BVerwG in Betracht kommt, wäre es allerdings unsinnig, wenn das OVG, das in der<br />
Hauptsache mit dem angefochtenen Verwaltungsakt nicht befasst ist, als entscheidungsbefugt<br />
angesehen werden würde. Deshalb muss hier das für das Rechtsmittel in der Hauptsache zuständige<br />
Gericht, also das BVerwG, zuständig sein. „Oberverwaltungsgericht“ ist bei § 80b Abs. 2 VwGO also so<br />
zu verstehen, dass das Rechtsmittelgericht gemeint ist (BVerwGE 129, 58 Rn 11; KOPP/SCHENKE, a.a.O.,<br />
§ 80b Rn 14).<br />
5. Beschwerdeverfahren<br />
Sofern die Beschwerde nicht spezialgesetzlich ausgeschlossen ist (z.B. durch § 80 AsylG), ist sie nach<br />
§ 146 Abs. 1 VwGO statthaft und muss nach § 146 Abs. 4 S. 1 VwGO innerhalb eines Monats nach<br />
Bekanntgabe der Entscheidung des VG begründet werden. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits<br />
mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, beim OVG einzureichen (§ 146 Abs. 4 S. 2 VwGO). Sie muss<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 417
Fach 19, Seite 916<br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />
einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern<br />
oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen (§ 146 Abs. 4<br />
S. 3 VwGO).<br />
Hinweis:<br />
Gemäß § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO prüft das OVG nur die dargelegten Gründe. Sein Beschluss ist unanfechtbar.<br />
Eine Beschwerde zum BVerwG ist wegen § 152 Abs. 1 VwGO unzulässig.<br />
6. Änderungsverfahren<br />
Gemäß § 80 Abs. 7 S. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach<br />
§ 80 Abs. 5 VwGO jederzeit aufheben oder ändern. Ist die Hauptsache noch bei dem Gericht anhängig,<br />
das den Beschluss nach § 80 Abs. 5 VwGO gefasst hat, so hat dieses Gericht über die Änderung zu<br />
entscheiden. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Änderung verlagert sich auf das<br />
Rechtsmittelgericht zu dem Zeitpunkt, zu dem es selbst zum Gericht der Hauptsache wird (BVerwGE<br />
124, 201, 203). Für die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts gelten die gleichen Grundsätze wie für eine<br />
Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO. Das bedeutet, dass das Rechtsmittelgericht eine eigene<br />
Abwägungsentscheidung trifft und sich nicht auf die Prüfung beschränkt, ob die vorangegangene<br />
Entscheidung formell und materiell richtig ist; denn die Entscheidung nach § 80 Abs. 7 S. 1 VwGO<br />
ist keine Rechtsmittelentscheidung gegen die in der Vorinstanz im Verfahren des einstweiligen<br />
Rechtsschutzes getroffene Entscheidung (BVerwG BauR 2016, 1770).<br />
Gemäß § 80 Abs. 7 S. 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter<br />
oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.<br />
Maßgeblich für die Stellung der Beteiligten in einem Änderungsverfahren ist die Interessenlage in<br />
diesem Verfahren, nicht die Beteiligtenstellung im vorausgegangenen Aussetzungsverfahren nach<br />
§ 80 Abs. 5 VwGO (BVerwG NVwZ-RR 2016, 357 Rn 4). Das kann zu einem Rollenwechsel führen. Wer<br />
als Nachbar nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen eine Baugenehmigung vorgeht, sieht sich mit der<br />
Baugenehmigungsbehörde als Antragsgegnerin und dem Bauherrn als notwendig Beizuladendem<br />
(§ 65 Abs. 2 VwGO) konfrontiert. Hat der Antragsteller Erfolg, muss der Beigeladene die Bauarbeiten<br />
einstellen. Ändert sich später die Sach- oder Rechtslage, kann der Beigeladene im Wege eines<br />
Änderungsantrags versuchen, den gerichtlichen Eilbeschluss aus der Welt zu schaffen. Weil das<br />
Änderungsverfahren kein Rechtsmittelverfahren ist, ist die Stellung der Verfahrensbeteiligten<br />
eigenständig zu bestimmen. Angreifer und damit Antragsteller im Änderungsverfahren ist der<br />
Bauherr, der den vorausgegangenen Eilbeschluss bekämpft. Der Nachbar als Nutznießer dieses<br />
Beschlusses wird Antragsgegner, die Baugenehmigungsbehörde notwendig Beigeladene (KÜLPMANN<br />
jurisPR-BVerwG 6/2016 Anm. 4).<br />
7. Streitwert<br />
Nach Nr. 1.5 des aktuellen Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327),<br />
der zwar nicht verbindlich ist, an den sich die Verwaltungsgerichte aber im Interesse der Einheitlichkeit<br />
und Berechenbarkeit der Rechtsprechung zu halten pflegen, beträgt der Streitwert in<br />
Eilverfahren i.d.R. ½, in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO und bei allen anderen auf bezifferte<br />
Geldleistungen gerichteten Verwaltungsakten ¼ des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden<br />
Streitwerts. In Eilverfahren, die die Entscheidung in der Sache ganz oder teilweise vorwegnehmen,<br />
kann der Streitwert bis zur Höhe des für das Hauptverfahren anzunehmenden Streitwerts angehoben<br />
werden.<br />
418 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>