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ZAP-2019-08

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<strong>ZAP</strong><br />

Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />

8 <strong>2019</strong><br />

17. April<br />

31. Jahrgang<br />

ISSN 0936-7292<br />

Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />

BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />

Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert<br />

P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />

Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />

} Mit dem <strong>ZAP</strong> Buchreport<br />

AUS DEM INHALT<br />

Kolumne<br />

Zeit für Recht oder: Verfahrensdauer als Kampfmittel (S. 373)<br />

Anwaltsmagazin<br />

Auslandsdienstreisen von Anwälten bald einfacher (S. 376) • EU‐Parlament beschließt<br />

Verbandsklage (S. 377) • Pläne zur Begrenzung von Vertragslaufzeiten (S. 379)<br />

Aufsätze<br />

Sachenbacher, Kindeswohl: Definition und rechtliche Einordnung (S. 395)<br />

Maaß, Urlaubsrecht: Aktuelle Hinweise für die anwaltliche Mandatspraxis (S. 399)<br />

Gatz, Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO (S. 407)<br />

Eilnachrichten<br />

EuGH: Widerrufsrecht beim Online-Kauf einer Matratze (S. 389)<br />

BVerfG: Erreichbarkeit des richterlichen Bereitschaftsdienstes (S. 394)<br />

BGH: Fristenkontrolle bei Führung eines elektronischen Fristenkalenders (S. 394)<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer


Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />

Kolumne – – 373–374<br />

Anwaltsmagazin – – 375–380<br />

Buchreport – – 381–388<br />

Eilnachrichten 1 59–64 389–394<br />

Sachenbacher, Kindeswohl: Definition, rechtliche<br />

Einordnung, Kontrolle der Ermessensausübung,<br />

Wechselmodell und Hinweise für die Anwaltspraxis 11 1485–1488 395–398<br />

Maaß, Urlaubsrecht: Aktuelle Hinweise für die<br />

anwaltliche Mandatspraxis 17 1359–1366 399–406<br />

Gatz, Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO 19 905–916 407–418<br />

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Redaktionsbeirat<br />

Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />

Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />

Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />

Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />

Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />

Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />

Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />

beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />

Gelsenkirchen • RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert,<br />

Düsseldorf • Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald,<br />

Vallendar • RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA<br />

Dr. Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst,<br />

Hannover/Solingen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund<br />

• RA Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn •<br />

RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />

Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RiOLG a.D. Heinrich Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr.<br />

Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt, Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />

PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />

RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln.<br />

Impressum<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />

schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />

Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />

Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />

(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />

dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />

Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />

Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />

Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 245,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />

ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />

Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />

service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Peggy von<br />

Schoenebeck – Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />

Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292


<strong>ZAP</strong><br />

Kolumne<br />

Kolumne<br />

Zeit für Recht oder: Verfahrensdauer als Kampfmittel<br />

Justiz an der Belastungsgrenze – so lautete Anfang<br />

des Jahres eine gängige Schlagzeile (u.a. <strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin 2/<strong>2019</strong>, S. 54) und das gilt wohl<br />

insbesondere für Verwaltungsgerichte, die u.a.<br />

wegen der Vielzahl von Asylverfahren völlig „am<br />

Anschlag“ sind.<br />

Hierzu zwei persönliche Beispiele: Die Studienplatzklage<br />

meiner Tochter dauerte so lange, dass<br />

der mit einstweiligem Rechtsschutz verfolgte<br />

Anspruch wegen Zeitablaufs über zwei Semester<br />

nicht mehr realisiert werden konnte. Und eine<br />

Klage gegen eine Regelbeurteilung dauert inzwischen,<br />

einschließlich Verwaltungsverfahren,<br />

deutlich über drei Jahre. Davon entfallen – nach<br />

schließlich erhobener Untätigkeitsklage – bereits<br />

über zwei Jahre auf das gerichtliche Verfahren, in<br />

dem außer Stillstand nichts passiert und der<br />

erstrebte Rechtsschutz wegen Ablaufs des Beurteilungszeitraums<br />

im Ergebnis nicht mehr<br />

erreicht werden kann. Doch selbst für einen<br />

Notartermin in einer einfachen Angelegenheit<br />

war ein Termin erst nach über einem Jahr zu<br />

bekommen.<br />

Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage<br />

auf, ob wir im Bereich der Justiz auf dem besten<br />

Wege zu einer „Bananenrepublik“ sind. Dieser<br />

Begriff beschreibt Staaten, deren Rechtssystem<br />

nicht funktioniert. Steht unsere Justiz vor<br />

einem Funktionsverlust, wenn es offensichtlich<br />

nicht nur die Ausnahme ist, dass Primäransprüche,<br />

selbst bei einem abschließenden<br />

Obsiegen, allein schon aufgrund von überlangen<br />

Verfahrensdauern nicht mehr realisiert werden<br />

können?<br />

Diese Erkenntnis ist inzwischen auch in der<br />

allgemeinen Wahrnehmung angekommen. Mit<br />

Blick auf die völlige Überlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit<br />

(wegen vermehrter Asylverfahren),<br />

stellt z.B. PETER HAHNE in seinem Buch<br />

„Schluss mit euren ewigen Mogelpackungen!“<br />

(S. 11) fest: „Justitia stöhnt und ächzt und der<br />

einfache Bürger, dessen Anliegen vielleicht dringend<br />

ist, hat das Nachsehen. Oder muss er mit<br />

den Folgen gerichtlicher Überlastung leben, besser<br />

gesagt: überleben?“<br />

Es gibt viele Bereiche, in denen Rechtsschutz<br />

und ein letztlich obsiegendes Urteil nichts wert<br />

sind, wenn dieser nicht rechtzeitig erfolgt. So<br />

werden z.B. im Strafprozess die Strafziele durch<br />

lange Verfahrensdauern vereitelt bzw. geschmälert,<br />

Studienplatzklagen gehen ins Leere.<br />

Klagen auf Baugenehmigungen oder Gewerbeerlaubnisse<br />

können existenzvernichtend sein,<br />

wenn sich durch Veränderungen am Finanzmarkt<br />

die Finanzierungsgrundlagen für den Antragsteller<br />

wesentlich geändert haben. Klagen<br />

gegen Regelbeurteilungen eines Beamten<br />

sind wirkungslos, wenn bis zu einer Entscheidung<br />

der folgende Beurteilungszeitraum bereits<br />

verstrichen ist. Tragisch kann es im Bereich<br />

des Sozialrechts etwa bei Klagen auf Übernahme<br />

von Behandlungskosten werden – hier<br />

kann eine lange Verfahrensdauer eine im<br />

wahrsten Sinne des Wortes „tödliche Wirkung“<br />

haben.<br />

Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass<br />

die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes<br />

weit mehr durch die lange Dauer der<br />

Verfahren, als durch eine ausgefeilte Rechtsdogmatik<br />

bedroht ist. Langdauernde Prozesse<br />

gehören zu den Grundübeln der Rechtspflege,<br />

aber das Problem verschärft sich. Verstöße<br />

gegen Art. 19 Abs. 4 GG und entsprechende<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 373


Kolumne<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Klagen vor dem Europäischen Gerichthof für<br />

Menschenrechte gegen die Bundesrepublik<br />

Deutschland haben den Gesetzgeber dann auch<br />

zum Erlass der §§ 198 ff. GVG, die Sanktionsnormen<br />

bzw. Entschädigungsregelungen bei Verletzung<br />

des gerichtlichen Beschleunigungsgebots<br />

enthalten, veranlasst.<br />

Was ist dies aber wert? Wenn überhaupt etwas,<br />

jedenfalls nicht viel. Zum einen können die<br />

Voraussetzungen des Anspruchs nur schwer<br />

festgestellt werden, weil abstrakt kaum definiert<br />

werden kann, was z.B. eine unangemessen lange<br />

Verfahrensdauer konkret ist. Weiterhin ist<br />

dem Haushaltsgesetzgeber kaum beizukommen,<br />

wenn er nicht für eine angemessene Ausstattung<br />

der Gerichte sorgt.<br />

Darüber hinaus scheint das Kalkül der überlangen<br />

Verfahrensdauer zu einem Kampfmittel und<br />

verfahrenstaktischen Instrument der rechtlichen<br />

Auseinandersetzung geworden zu sein. Der Umstand<br />

langer Verfahren wird in der Praxis erkennbar<br />

dahingehend ausgenutzt, um einen<br />

Anspruchsteller mürbe zu machen und auf der<br />

Zeitschiene auszuhungern. Das eine oder andere<br />

Gericht scheint es mitunter zu begrüßen, wenn<br />

eine Partei das Verfahren verzögert, birgt dies<br />

doch die Hoffnung, dass die Gegenpartei aufgibt<br />

und sich der Fall dann mit wenig Aufwand<br />

erledigen lässt.<br />

Schließlich dürften die Möglichkeiten der §§ 198<br />

ff. GVG für viele Kläger zu Recht theoretisch<br />

bleiben. Dies wohl auch deshalb, weil der<br />

Richter, der mit einer derartigen Klage konfrontiert<br />

ist, letztlich auch nur ein Mensch ist. Daher<br />

wird nach menschlichem Ermessen die Bereitschaft<br />

eines Richters, in einem solchen Fall<br />

wohlwollend zugunsten des Klägers, der dem<br />

Gericht Untätigkeit vorwirft, zu entscheiden,<br />

eher abnehmen.<br />

Bei allem Verständnis für die Belastung der<br />

Gerichte und der einzelnen Richter darf dies<br />

gleichwohl nicht dazu führen, dass die Rechtspflege<br />

funktionsunfähig wird. Um noch einmal<br />

auf eingangs genanntes Beispiel der Klage<br />

gegen eine Regelbeurteilung zurückzukommen:<br />

Wenn schon allein die Zuweisung an die richtige<br />

Kammer des Verwaltungsgerichts sechs<br />

Monate benötigt, ist dies kaum nachvollziehbar.<br />

Vergehen aber anschließend viele Monaten ohne<br />

eine Nachricht und wird auf Nachfrage zum<br />

Verfahrensstand mitgeteilt, das Gericht werde<br />

im März/April terminieren, verstreicht dieser<br />

Termin aber ergebnislos und erfolgt auf<br />

eine zweite höfliche Nachfrage, verbunden mit<br />

dem vorsichtigen Hinweis auf den bevorstehenden<br />

Ablauf des Beurteilungszeitraums, nur<br />

der Hinweis: „Aufgrund der nach wie vor erheblichen<br />

Belastung mit Asyleingängen und<br />

-verfahren ist derzeit eine Terminierung nicht<br />

absehbar. Die Kammer ist bemüht, einen<br />

Termin noch vor Oktober zu bestimmen“,<br />

ist dies ein bedenklicher Zustand hinsichtlich<br />

der Funktionsfähigkeit einer ordnungsgemäßen<br />

Rechtspflege. Der Vollständigkeit halber ist<br />

darauf hinzuweisen, dass dieser geplante Termin<br />

– natürlich (?) – ebenfalls reaktionslos verstrichen<br />

ist.<br />

Der Staat entzieht sich seiner aus Art. 6 EMRK<br />

und Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Verpflichtung<br />

zur sachgerechten Ausstattung, insbesondere<br />

der personellen Ausstattung der Gerichte, und<br />

lässt sowohl die betroffenen Richter als auch<br />

die rechtssuchenden Bürger in dieser Situation<br />

im Stich. Man darf gespannt bleiben, ob der Pakt<br />

für den Rechtsstaat, der u.a. 2.000 zusätzliche<br />

Stellen für Richter und Staatsanwälte beinhaltet,<br />

ausreichend ist. Denn: Rechtsschutz, der zu spät<br />

kommt, nutzt den Betroffenen wenig bis gar<br />

nichts.<br />

Ministerialrat Dr. STEFAN BRAUN, Stuttgart<br />

374 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Anwaltsmagazin<br />

Neuregelungen im April<br />

In diesen Tagen treten wieder einige Änderungen<br />

in Kraft. Sie betreffen vorwiegend den Gesundheitssektor,<br />

daneben die Bereiche Arbeit, Steuern<br />

und Energie. Im Einzelnen:<br />

• Organspenden<br />

Am 1. April in Kraft getreten ist eine Neuregelung,<br />

derzufolge Krankenhäuser, in denen Organe<br />

entnommen werden, besser dafür ausgestattet<br />

werden. Gleichzeitig bekommen Transplantationsbeauftragte<br />

mehr Zeit für ihre Aufgaben und<br />

sollen auf den Intensivstationen regelmäßig hinzugezogen<br />

werden, wenn Patientinnen und<br />

Patienten nach ärztlicher Beurteilung als Organspender<br />

in Betracht kommen. Darüber hinaus<br />

wird der gesamte Prozess der Organentnahme<br />

besser vergütet.<br />

• Schwangerschaftsabbrüche<br />

Bereits am 29. März sind Änderungen in § 219a<br />

StGB sowie im Schwangerschaftskonfliktgesetz<br />

in Kraft getreten, wonach Schwangere, die<br />

sich in einer Konfliktlage befinden, künftig einfacher<br />

an Informationen über einen Schwangerschaftsabbruch<br />

gelangen können. Qualitätsgesicherte<br />

Informationen werden nun auch von<br />

staatlichen oder staatlich beauftragten Stellen<br />

zur Verfügung gestellt. Ärztinnen und Ärzte,<br />

die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, werden<br />

künftig auf einer zentralen Liste der Bundesärztekammer<br />

aufgeführt. Diese Liste soll<br />

monatlich aktualisiert werden und ist für betroffene<br />

Frauen öffentlich im Internet einsehbar.<br />

Veröffentlicht wird die Liste von der Bundeszentrale<br />

für gesundheitliche Aufklärung. Ärzte<br />

und Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche<br />

vornehmen, dürfen jetzt auch darüber<br />

informieren.<br />

• Mindestlohn<br />

Der Mindestlohn für Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen<br />

ist mit Wirkung zum 1. April angehoben<br />

worden. Er beträgt jetzt bundesweit 15,72 € bzw.<br />

15,79 € brutto je Zeitstunde – je nach Qualifikation<br />

des Arbeitnehmers. Bis zum Jahr 2022 steigt das<br />

Mindestentgelt dann schrittweise auf 17,18 € bzw.<br />

17,70 € brutto je Zeitstunde. Diese Regelung gilt auch<br />

für Auftragnehmer des Bundes, die Ausbildungs- und<br />

Weiterbildungsdienstleistungen anbieten.<br />

• Steuerpauschale für Umzugskosten<br />

Wer aus beruflichen Gründen umziehen muss,<br />

kann seit dem 1. April höhere Pauschalen bei der<br />

Einkommensteuer in Anspruch nehmen. Sie steigen<br />

jetzt für Verheiratete, Lebenspartner und<br />

Gleichgestellte auf 1.622 €, für Ledige auf 811 €. Für<br />

jede weitere Person im Haushalt kann 357 €<br />

geltend gemacht werden. Fallen umzugsbedingt<br />

höhere Unterrichtskosten an, etwa weil die<br />

Kinder in der neuen Schule Nachhilfeunterricht<br />

benötigen, können dafür maximal weitere 2.045 €<br />

pro Jahr geltend gemacht werden.<br />

• Energieausweise für Gebäude<br />

Auch im April verlieren wieder einige Energieausweise<br />

für Wohngebäude ihre Gültigkeit. Die<br />

Bundesregierung weist darauf hin, dass bereits<br />

seit Anfang des Jahres Energieausweise, die seit<br />

2009 für Häuser der Baujahre 1966 und später<br />

ausgestellt worden sind, jetzt nach und nach<br />

ablaufen. Wer in naher Zukunft sein Haus verkaufen,<br />

vermieten oder verpachten will, sollte sich<br />

einen neuen Energieausweis in Form eines „Bedarfsausweises“<br />

ausstellen lassen. Dieser ist – wie<br />

schon der alte Energieausweis – für zehn Jahre<br />

gültig. Ab dem 1.7.<strong>2019</strong> laufen auch die ersten<br />

Energieausweise von Nichtwohngebäuden ab.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 375


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Auslandsdienstreisen von Anwälten<br />

bald einfacher<br />

Seit Mai 2010 muss bei geschäftlichen Aufenthalten<br />

im EU- und EFTA-Ausland die sog. A1-<br />

Bescheinigung beantragt werden. Diese bislang<br />

kaum bekannte Verpflichtung gilt für längerfristige<br />

Entsendungen und kurzzeitige Geschäftsreisen<br />

gleichermaßen. Sie geriet jüngst in den<br />

öffentlichen Fokus, weil seit dem 1.1.<strong>2019</strong> Arbeitgeber<br />

für ihre dienstreisenden Beschäftigten den<br />

Antrag gem. § 106 SGB IV verpflichtend elektronisch<br />

stellen müssen. Für Selbstständige gilt diese<br />

Neuerung noch nicht; sie beantragen die Bescheinigung<br />

weiterhin schriftlich. Grundlage ist<br />

die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung<br />

der Sozialsysteme. Die A1-Bescheinigung<br />

dient dazu, bei Auslandsreisen nachzuweisen,<br />

welches Sozialsystem für den Versicherten<br />

zuständig ist; so soll Sozialversicherungsbetrug<br />

verhindert werden. Dass diese Regelung auf<br />

Selbstständige wie etwa Rechtsanwälte nicht<br />

recht passt, hat kürzlich HUFF in der <strong>ZAP</strong> bemängelt<br />

(s. <strong>ZAP</strong> Kolumne 5/<strong>2019</strong>, S. 223).<br />

Nun ist jedoch Abhilfe in Sicht: Nach Informationen<br />

der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und<br />

des Deutschen Anwaltvereins (DAV) haben das<br />

Europäische Parlament und der Rat Mitte März<br />

eine politische Einigung zur Modernisierung der<br />

Regelungen zur Koordinierung der Sozialsysteme<br />

erzielt. Danach soll künftig für Geschäftsreisen<br />

keine A1-Bescheinigung mehr notwendig sein. Rat<br />

und Parlament müssen die Einigung noch formal<br />

annehmen. Es ist derzeit davon auszugehen, dass<br />

dies noch in dieser Legislaturperiode erfolgen<br />

wird.<br />

[Quellen: BRAK/DAV]<br />

Auswirkungen des Brexits auf den<br />

Datenschutz<br />

Im Falle eines ungeregelten Austritts Großbritanniens<br />

aus der EU wird das Königreich zu einem<br />

„Drittland“ im Sinne der Datenschutz-Grundverordnung<br />

(DSGVO). Seit dem 30.3.<strong>2019</strong>, 0 Uhr,<br />

müssen Datenübermittlungen zusätzlich den<br />

Vorgaben des Kapitel V der DSGVO (Art. 44 ff.<br />

DSGVO) entsprechen. Was dies in der Praxis für<br />

Rechtsanwälte mit sich bringt, hat die Bundesrechtsanwaltskammer<br />

(BRAK) in einem aktuellen<br />

Merkblatt zusammengefasst.<br />

Das vierseitige Informationsblatt mit dem Titel<br />

„Brexit und Datenübermittlung in Drittländer“<br />

enthält im Wesentlichen die verschiedenen denkbaren<br />

Fallgestaltungen und Verweise auf weitere<br />

ausführliche Merkblätter. Aufgeführt werden<br />

auch die relevanten Ausnahmetatbestände sowie<br />

eine kurze Anleitung mit dem Titel „Was genau ist<br />

jetzt zu tun?“. Eingestellt ist das Merkblatt auf der<br />

Webseite der BRAK unter https://www.brak.de/w/<br />

files/02_fuer_anwaelte/datenschutz/<strong>2019</strong>-03-21_daten<br />

uebermittlung-drittlaender_brexit_final.pdf.<br />

[Quelle: BRAK]<br />

PKH-Bekanntmachung geändert<br />

Mit der 2. Prozesskostenhilfebekanntmachung<br />

<strong>2019</strong> vom 21.2.<strong>2019</strong> (BGBl I, S. 161) hat das Bundesministerium<br />

der Justiz und für Verbraucherschutz<br />

die im Dezember 2018 festgelegten Beträge für<br />

<strong>2019</strong> (vgl. <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 3/<strong>2019</strong>, S. 112)<br />

geändert. Danach betragen die ab dem 1.1.<strong>2019</strong><br />

maßgebenden Beträge, die nach § 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 1<br />

Buchst. b und Nr. 2 ZPO vom Einkommen der Partei<br />

abzusetzen sind,<br />

1. für Parteien, die ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit<br />

erzielen, 224 €,<br />

2. für die Partei und ihren Ehegatten oder ihren<br />

Lebenspartner 492 €,<br />

3. für jede weitere Person, der die Partei aufgrund<br />

gesetzlicher Unterhaltspflicht Unterhalt leistet,<br />

in Abhängigkeit von deren Alter:<br />

a) Erwachsene 393 €,<br />

b) Jugendliche vom Beginn des 15. bis zur<br />

Vollendung des 18. Lebensjahres 373 €,<br />

c) Kinder vom Beginn des siebten bis zur<br />

Vollendung des 14. Lebensjahres 350 €,<br />

d) Kinder bis zur Vollendung des sechsten<br />

Lebensjahres 284 €. [Quelle: BMJV]<br />

Betreuervergütung soll steigen<br />

Die Bundesregierung will die Vergütung der beruflichen<br />

Betreuer anheben. Dazu hat sie kürzlich den<br />

Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung der Betreuer-<br />

und Vormündervergütung vorgelegt (vgl. BT-<br />

Drucks 19/8694). Ausgehend vom Koalitionsvertrag<br />

ist darin eine Erhöhung der Vergütung um 17 % in<br />

einem modernisierten System von Fallpauschalen<br />

vorgesehen.<br />

376 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Mit den vorgeschlagenen Änderungen solle eine<br />

„rechtstechnisch einfach und schnell umsetzbare,<br />

Qualitätsaspekte berücksichtigende und angemessene<br />

Anpassung“ der seit mehr als 13 Jahren<br />

unveränderten Vergütung beruflicher Betreuer<br />

erfolgen, die insbesondere auch geeignet ist, eine<br />

existenzsichernde Finanzierung der Betreuungsvereine<br />

sicherzustellen, heißt es im Entwurf.<br />

Daneben solle der zur Differenzierung der Vergütung<br />

verwendete Begriff „Heim“ durch zeitgemäße<br />

Begriffe ersetzt und so an die Vielfalt der<br />

Wohnformen für Menschen mit Unterstützungsbedarf<br />

angepasst werden.<br />

Ebenfalls erhöht werden sollen die Vergütungssätze<br />

für Berufsvormünder. Die bislang geltenden<br />

Sätze waren durch eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe<br />

auf der Grundlage einer Untersuchung<br />

aus dem Jahr 2003 bestimmt worden.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

EU-Parlament beschließt<br />

Verbandsklage<br />

Das EU-Parlament hat Ende März einen Richtlinienvorschlag<br />

über Verbandsklagen – COM (2018)<br />

184 – in erster Lesung mit deutlicher Mehrheit angenommen.<br />

Der Entwurf sieht u.a. vor, dass sog.<br />

qualifizierte Einrichtungen zwar auf Unterlassung<br />

und Abhilfe klagen, nicht jedoch einen Beschluss<br />

zur Feststellung einer Rechtsverletzung erwirken<br />

können. Um Klagemissbrauch zu vermeiden, werden<br />

zudem enge Kriterien für die Benennung<br />

der „qualifizierten Einrichtungen“ benannt. Die<br />

Klagebefugnis läge somit nicht bei Anwaltskanzleien.<br />

Weiterhin ist vorgesehen, dass sich die<br />

Bindungswirkung von Urteilen auch zugunsten<br />

der Unternehmen erstreckt.<br />

Anders als das EU-Parlament hat der Rat der EU<br />

allerdings noch keine Position zu dem Richtlinienvorschlag<br />

bezogen. Somit wird das Gesetzgebungsverfahren<br />

nun nicht mehr in der aktuellen Legislaturperiode<br />

behandelt werden können, sondern in die<br />

nächste Legislaturperiode übergehen.<br />

[Quelle: DAV]<br />

Zweifel am Wechselmodell im<br />

Familienrecht<br />

Das sog. Wechselmodell im Familienrecht, d.h. ein<br />

Modell, bei dem die Kinder von beiden getrenntlebenden<br />

Elternteilen im Wechsel zeitlich annähernd<br />

gleich lang betreut werden, war Mitte<br />

Februar Gegenstand der Anhörung von Sachverständigen<br />

im Rechtsausschuss des Deutschen<br />

Bundestags. Während eine Reihe von Abgeordneten<br />

das familienrechtliche Wechselmodell als<br />

gesetzlichen Regelfall einführen will, sind andere<br />

strikt dagegen. Bei der Anhörung wollten die<br />

Abgeordneten von den Sachverständigen vor<br />

allem wissen, wie mögliche Reformen im Umgangsrecht<br />

aussehen könnten, wie sich das<br />

Wechselmodell in finanzieller Hinsicht auf die<br />

Eltern auswirkt und wie der Staat bei einer<br />

stärkeren paritätischen Betreuung Unterstützung<br />

leisten kann.<br />

Mehrere Experten verwiesen in ihren Stellungnahmen<br />

auf die bereits seit Jahren z.T. heftig und<br />

auch ideologisch geführte Diskussion zum Thema<br />

Wechselmodell. Auch sähen weder das BVerfG<br />

noch der BGH eine Pflicht des Gesetzgebers,<br />

getrenntlebenden Eltern eine paritätische Betreuung<br />

vorzugeben.<br />

Die Vertreterin des Deutschen Juristinnenbundes<br />

plädierte im Ergebnis der jahrelangen Diskussion<br />

gegen eine Festschreibung des Wechselmodells<br />

als gesetzlichen Regelfall und für mit<br />

Bedacht geführte Diskussionen zu Änderungen<br />

im Kindesunterhalt. Zudem müssten tragfähige<br />

Lösungen für paritätische Betreuungsmodelle<br />

auch für getrenntlebende Eltern und ihre Kinder<br />

im Grundsicherungsbezug entwickelt werden.<br />

Sie betonte ebenso wie auch die anderen Sachverständigen,<br />

dass jede gesetzliche Änderung<br />

unter dem Vorbehalt des Kindeswohls zu stehen<br />

habe.<br />

Für die Vertreterin des Berufsverbands Deutscher<br />

Psychologinnen und Psychologen zeigt<br />

sich kein einheitliches Bild in den internationalen<br />

Forschungsergebnissen zum Thema Wechselmodell,<br />

wobei sich in Deutschland nur wenig<br />

Forschung dazu finde. Die Praxis zeige, dass es<br />

die Dominanz eines Modells aus der Kinderperspektive<br />

nicht geben könne. Vielmehr müsse<br />

im Einzelfall auf die Bedürfnisse des Kindes und<br />

die Familiensituation abgestellt werden.<br />

Die Bundesgeschäftsführerin des Verbands alleinerziehender<br />

Mütter und Väter warnte in<br />

ihrer Stellungnahme vor der Vorgabe des Wechselmodells<br />

als Regelfall durch den Gesetzgeber,<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 377


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

denn er verhindere damit die jeweils beste<br />

Lösung für das Kindeswohl. Deshalb sollten<br />

Eltern ihr Familienleben weiterhin autonom<br />

und individuell gestalten und sich für ein Betreuungsmodell<br />

entscheiden, welches den Bedürfnissen<br />

aller Beteiligten, aber vorrangig dem Wohl<br />

ihres Kindes Rechnung trägt. Nötig sei dabei eine<br />

ergebnisoffene Beratung. Sie gab ebenfalls zu<br />

bedenken, dass Vorteile eines Wechselmodells<br />

für Kinder wissenschaftlich nicht belegt und die<br />

langfristigen Wirkungen auf Kinder noch nicht<br />

ausreichend erforscht seien. Zudem stelle es<br />

hohe Anforderungen an alle Beteiligten und<br />

eigne sich nicht als gleichstellungspolitisches<br />

Instrument.<br />

ein, dass das Wechselmodell weder eine Lösung<br />

für jede Trennungsfamilie noch ein Allheilmittel<br />

für alle Probleme zwischen Trennungseltern<br />

ist.<br />

Für flexible Regelungen, die Eltern und Kindern<br />

zugutekommen, sprach sich der Vertreter des<br />

Interessenverbands Unterhalt und Familienrecht<br />

aus. Modelle dürften nicht praktischen<br />

Regelungen im Wege stehen. Am sichersten und<br />

gerechtesten werde die gemeinsame elterliche<br />

Sorge nach Trennung und Scheidung umgesetzt,<br />

wenn beide Elternteile ihre individuelle Regelung<br />

treffen. Hier sei das Wechselmodell eine mögliche<br />

Antwort.<br />

[Quelle: Bundestag]<br />

Die Vertreterin des Deutschen Anwaltvereins<br />

verwies auf die Rechtsprechung des BGH, wonach<br />

die Gerichte bei der Entscheidung über den<br />

Kindesumgang frei sind, und damit einem Wechselmodell<br />

nichts im Weg stehe. Dies sei eine gute<br />

Grundlage für eine Reform des Familienrechts.<br />

Eine Festlegung auf ein Modell sei dagegen nicht<br />

empfehlenswert. Stattdessen bräuchten die Eltern<br />

mehr staatliche Unterstützung, z.B. bei der<br />

Mediation. Ferner regte sie an, außergerichtliche<br />

Einigungen verbindlich zu machen.<br />

Ein Diplompsychologe vom Deutschen Jugendinstitut<br />

konstatierte ein wachsendes Interesse<br />

am Wechselmodell. Hier sei die Politik gefordert,<br />

Voraussetzungen zu schaffen. Keine Grundlage<br />

sehe er jedoch für die Einführung des Wechselmodells<br />

als Regelfall. Die Forschungsdirektorin<br />

des Jugendinstituts verwies auf das gestiegene<br />

Engagement der Väter in der Kinderbetreuung.<br />

Aus ihrer Sicht spreche dem Wechselmodell als<br />

Regelfall jedoch entgegen, dass es keine paritätische<br />

Rollenverteilung gebe. Sie sprach sich stattdessen<br />

dafür aus, die Elternautonomie weiter zu<br />

stärken.<br />

Eine Expertin von der Evangelischen Hochschule<br />

Nürnberg sprach sich dagegen für das Wechselmodell<br />

als „Leitbild“ aus. Die gesellschaftliche<br />

Realität habe sich geändert. Die von den meisten<br />

Eltern gelebte und gewünschte partnerschaftliche<br />

Aufteilung von Familienarbeit und Erwerbstätigkeit<br />

in der Partnerschaft werde nach Beendigung<br />

der Partnerschaft im Wechselmodell<br />

fortgesetzt. Auch stehe das Leitbild des Wechselmodells<br />

im Einklang mit Grundrechten von<br />

Kindern und Eltern. Sie schränkte jedoch<br />

Arzneimittelsicherheit wird<br />

weiter erhöht<br />

Erst kürzlich hatte der Gesetzgeber die Vorschriften<br />

im Bereich der Arzneimittelsicherheit verschärft<br />

(vgl. zuletzt <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 4/<strong>2019</strong>,<br />

S. 171). Nun soll weiter nachgelegt werden:<br />

Nach mehreren Arzneimittelskandalen reagiert<br />

die Bundesregierung mit einem Gesetzentwurf<br />

für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung<br />

– GSAV (s. BT-Drucks 19/8753). So soll die<br />

Zusammenarbeit zwischen den Behörden von<br />

Bund und Ländern verbessert werden, u.a. durch<br />

eine Informationspflicht über Rückrufe. Zugleich<br />

werden die Rückrufkompetenzen der Bundesoberbehörden<br />

bei Qualitätsmängeln oder dem<br />

Verdacht einer Arzneimittelfälschung erweitert.<br />

Es soll häufiger unangemeldete Kontrollen geben,<br />

etwa in Apotheken, die Krebsmittel (Zytostatika)<br />

selbst herstellen.<br />

Die Krankenkassen bekommen bei Produktmängeln,<br />

etwa bei einem Rückruf, einen Regressanspruch<br />

gegenüber den verantwortlichen<br />

Pharmafirmen. Bei ihren Rabattverträgen<br />

mit Arzneimittelherstellern soll künftig auch<br />

eine bedarfsgerechte Lieferfähigkeit berücksichtigt<br />

werden, um Liefer- und Versorgungsengpässen<br />

vorzubeugen. Heilpraktiker brauchen für<br />

die Herstellung verschreibungspflichtiger Arzneimittel<br />

künftig eine Erlaubnis.<br />

Der Gesetzentwurf beinhaltet zudem weitere<br />

Regelungen, die der Verbesserung der Arzneimittelversorgung<br />

dienen sollen. So soll die Selbst-<br />

378 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

verwaltung die Voraussetzungen für die Verwendung<br />

des elektronischen Rezepts schaffen.<br />

Auch sollen Apotheken künftig verschreibungspflichtige<br />

Arzneimittel auch nach einer Fernbehandlung,<br />

z.B. einer Videosprechstunde, abgeben<br />

können.<br />

Zudem soll verstärkt auf sog. Biosimilars zurückgegriffen<br />

werden. Es handelt es sich um biotechnologisch<br />

hergestellte Folgepräparate<br />

von Biopharmazeutika mit ähnlicher Wirkung.<br />

Weitere Neuerungen betreffen das Verbot der<br />

Herstellung von Frischzellen zur Anwendung am<br />

Menschen sowie die Versorgung mit medizinischem<br />

Cannabis. [Quelle: Bundestag]<br />

Pläne zur Begrenzung von<br />

Vertragslaufzeiten<br />

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />

(BMJV) plant offenbar die Begrenzung<br />

der Laufzeit von Verträgen. Wie mehrere<br />

Zeitschriften berichteten, sollen demnach<br />

Verbraucherverträge künftig per Änderung des<br />

AGB-Rechts nur noch für eine Laufzeit von<br />

maximal einem Jahr zulässig sein. Automatische<br />

Vertragsverlängerungen sollen nur noch um<br />

höchstens drei Monate möglich sein. Der Vorschlag<br />

sei Teil eines Bündels von Änderungen, mit<br />

denen Justizministerin BARLEY gegen Kostenfallen<br />

vorgehen wolle.<br />

Bereits im März soll das Ministerium Pläne zum<br />

Schutz der Verbraucher gegen „Kostenfallen“<br />

vorgelegt haben. Ein Eckpunkte-Papier, das auch<br />

neue Regeln für Telefonwerbung und für den<br />

telefonischen Abschluss von Verträgen empfiehlt,<br />

sieht für Telefon-, Strom- und auch Zeitschriftenabonnements<br />

künftig kürzere Kündigungsfristen<br />

vor. In vielen Bereichen, in denen<br />

unbefristete Verträge früher üblich gewesen<br />

seien, so wird aus dem Papier zitiert, würden<br />

heute Verbrauchern zu guten Konditionen oft<br />

nur noch Verträge mit zweijähriger Laufzeit<br />

angeboten, die sich automatisch um ein weiteres<br />

Jahr verlängerten, wenn sie nicht rechtzeitig<br />

gekündigt werden. Dies sei nicht mehr interessengerecht,<br />

die Verbraucher müssten sich leichter<br />

von Verträgen lösen können, die für sie<br />

entweder nicht vorteilhaft seien oder die sie<br />

schlicht nicht mehr brauchten.<br />

Wie weiter berichtet wird, hat sich die Ministerin<br />

bereits der Unterstützung aus den Koalitionsfraktionen<br />

versichert. Kritik kommt<br />

dagegen von Teilen der Opposition. Sie argumentieren,<br />

die Pläne des BMJV würden notwendig<br />

zu Kostensteigerungen führen, weil<br />

die Anbieter die Planungssicherheit aus den<br />

Vertragslaufzeiten verlieren und dies bei<br />

der Preisgestaltung berücksichtigen müssen.<br />

Für die Verbraucher sei am Ende also nichts<br />

gewonnen.<br />

[Red.]<br />

Keine doppelte Stimmabgabe bei<br />

der Europawahl<br />

Eine doppelte Stimmabgabe bei der bevorstehenden<br />

Wahl zum 9. Europäischen Parlament<br />

am 26. Mai ist strafbar. Darauf hat die Bundesregierung<br />

kürzlich hingewiesen. Kein Wahlberechtigter<br />

sei zugleich in einem anderen EU-<br />

Mitgliedsstaat wahlberechtigt (vgl. BT-Drucks<br />

19/8633).<br />

Wahlberechtigte EU-Ausländer, die in Deutschland<br />

leben, werden auf Antrag in das Wählerregister<br />

ihrer Wohnsitzgemeinde eingetragen<br />

und können dann dort wählen. Um eine mehrfache<br />

Stimmabgabe zu verhindern, muss der<br />

Wahlberechtigte eine eidesstattliche Versicherung<br />

abgeben, dass er sein Wahlrecht nur in<br />

Deutschland ausübt. Wird dem Antrag stattgegeben,<br />

übermittelt der Bundeswahlleiter die<br />

Daten des künftig in Deutschland an der Europawahl<br />

teilnehmenden ausländischen EU-Bürgers<br />

an dessen Herkunftsstaat. Dort wird er dann aus<br />

dem Wählerverzeichnis gestrichen.<br />

Wahlberechtigte mit mehreren EU-Staatsangehörigkeiten<br />

dürfen ebenfalls nur einmal wählen.<br />

Über die im jeweiligen Mitgliedsstaat wahlberechtigten<br />

eigenen Staatsangehörigen finde<br />

allerdings kein Informationsaustausch unter<br />

den EU-Staaten statt. Wer unbefugt wählt,<br />

macht sich den Angaben zufolge jedoch wegen<br />

Wahlfälschung strafbar.<br />

Nach Schätzungen des Bundeswahlleiters leben<br />

rund 3,8 Mio. ausländische Unionsbürger im<br />

wahlberechtigten Alter in Deutschland. Laut<br />

Mikrozensus lebten 2017 in Deutschland 785.000<br />

deutsche Staatsangehörige, die zugleich Staats-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 379


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

angehörige eines anderen EU-Landes waren,<br />

darunter auch solche im nicht wahlberechtigten<br />

Alter.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Lesbarkeit der anwaltlichen<br />

Unterschrift<br />

Wer das nächste Mal kurz vor Mitternacht schnell<br />

noch einen schriftwahrenden Schriftsatz ins Fax<br />

schieben will, sollte – trotz der Zeitnot – einen<br />

kurzen Moment innehalten und sich seine Unterschrift<br />

noch einmal näher besehen. Nur wer ganz<br />

sicher ist, dass diese aus dem Fax des Gerichts<br />

auch deutlich lesbar herauskommen wird, sollte<br />

dann zur Tat schreiten.<br />

Diesen Rat muss man jetzt leider mit Blick auf<br />

eine neue BGH-Entscheidung geben. Die Karlsruher<br />

Richter ließen kürzlich eine Rechtsanwältin<br />

„ins Messer“ laufen, die einen Originalschriftsatz<br />

mit blassblauer Tinte unterschrieben hatte, so<br />

dass ihre Unterschrift auf dem Empfänger-Fax<br />

nicht erkennbar war. Damit, so entschieden die<br />

Richter, war die Frist versäumt, und diese Fristversäumnis<br />

müsse sich der Mandant zurechnen<br />

lassen (BGH, Beschl. v. 31.1.<strong>2019</strong> – III ZB 88/18, vgl.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 198/<strong>2019</strong>). Als Konsequenz aus der<br />

Entscheidung müssen Anwälte somit sicherstellen,<br />

dass fristwahrende Schriftsätze an das Gericht<br />

immer kontrastreich unterschrieben sind,<br />

und zwar so, dass die Unterschrift auch später<br />

noch auf einer Faxkopie zu erkennen ist. Am<br />

besten sollte man daher mit schwarzer oder mindestens<br />

dunkelblauer Tinte unterzeichnen.<br />

Kritik an der Entscheidung gab es bereits aus<br />

den Reihen des Deutschen Anwaltvereins. Die<br />

Entscheidung sei fragwürdig. Sowohl das Berufungsgericht<br />

als auch der BGH hätten gar nicht<br />

angezweifelt, dass der – später per Post eingegangene<br />

– Originalschriftsatz von der Anwältin tatsächlich<br />

im Zeitpunkt der Erstellung der Faxkopie<br />

unterschrieben war. Ihr daher anzulasten, dass die<br />

Unterschrift nur auf dem Fax nicht erkennbar gewesen<br />

sei, bereite zumindest Unbehagen. [Red.]<br />

Personalia<br />

Ende März ist der Richter am BGH WOLFGANG<br />

WELLNER in den Ruhestand getreten. WELLNER<br />

wurde im Jahr 1999 zum Richter am BGH<br />

ernannt und gehörte seitdem dem vornehmlich<br />

für das Recht der unerlaubten Handlungen, das<br />

Arzthaftungsrecht und das Verkehrsunfallrecht<br />

zuständigen VI. Zivilsenat an. Seit 2002 war er<br />

darüber hinaus Vertreter der beisitzenden Mitglieder<br />

des Senats für Notarsachen. Auch war er<br />

ab 2002 Vertreter seines Senats im Gemeinsamen<br />

Senat der obersten Gerichtshöfe des<br />

Bundes und seit Dezember 2015 auch im Großen<br />

Senat für Zivilsachen. Für ihn rückt der bisherige<br />

Ministerialrat CORNELIUS BÖHM in den VI. Zivilsenat<br />

nach. BÖHM kommt vom Bayerischen Staatsministerium<br />

der Justiz. Zuvor war er von November<br />

2011 bis April 2015 Richter am OLG<br />

München.<br />

Bereits Anfang März ist der Richter am BSG<br />

Dr. BERNHARD KOLOCZEK mit Erreichen der Altersgrenze<br />

in den Ruhestand getreten. Herr Dr.<br />

KOLOCZEK kam, im Anschluss an eine mehrjährige<br />

Abordnung an das Bundesverfassungsgericht,<br />

im Jahr 2004 zum Bundessozialgericht. Dort<br />

war er zunächst in den Bereichen der Krankenund<br />

Arbeitslosenversicherung tätig, ab 2010<br />

gehörte er dem für die Rentenversicherung<br />

zuständigen 5. Senat an. Neben seiner richterlichen<br />

Tätigkeit war Dr. KOLOCZEK in der juristischen<br />

Ausbildung engagiert und ab 1992 als<br />

Prüfer für die Erste und später bis 2011 als Prüfer<br />

für die Zweite Juristische Staatsprüfung<br />

bestellt.<br />

[Quelle: BGH]<br />

<strong>ZAP</strong> Verzeichnisse in Vorbereitung<br />

Sie besitzen das Grundwerk zur <strong>ZAP</strong>? Dann<br />

versäumen Sie nicht, sich die neuen <strong>ZAP</strong> Verzeichnisse<br />

zur Aktualisierung Ihres Grundwerks<br />

zu bestellen. Bitte nutzen Sie dazu das Bestellformular<br />

auf der ersten Seite dieser <strong>ZAP</strong>-Ausgabe<br />

(vor der <strong>ZAP</strong> Kolumne).<br />

[Red.]<br />

380 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Buchreport<br />

Buchreport<br />

Berichte über juristische Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt aus der Sicht des anwaltlichen Praktikers.<br />

Lesen Sie hier, sortiert nach den einzelnen <strong>ZAP</strong> Fächern, welche Werke für die Mandatspraxis von<br />

Bedeutung sind.<br />

Sonstiges Vertragsrecht<br />

BGB Reisevertrag, §§ 651a–651y BGB, 2018, 962 S., C.H. Beck Verlag, 129 €<br />

Flugverspätung, schlechtes Essen im Hotel, Baulärm, fehlender Meerblick oder verschmutzte Strände… Diese<br />

oder viele andere Ärgernisse hat sicher jeder Anwalt schon von Mandanten oder Bekannten gehört oder<br />

selbst erfahren müssen. Ob und in welchem Umfang hier gegen wen Ansprüche geltend gemacht werden<br />

können, ist nicht immer ad hoc zu beantworten. Dieser Kommentar bietet die Lösung aus einer Hand. Der<br />

knapp 1.000-seitige Kommentar beinhaltet neben den seit 1.7.2018 geltenden und neugefassten Vorschriften<br />

zum deutschen Reisevertragsrecht auch die europarechtliche Fluggastrecht-VO. Das von Hochschulangehörigen<br />

und Richtern verfasste Werk überzeugt neben seiner Aktualität durch seine Praxisnähe.<br />

Detaillierte Übersichten, z.B. zu den Rechtsbehelfen des Reisenden, zur Minderungstabelle („Frankfurter<br />

Tabelle“) oder zu außergewöhnlichen Umständen i.S.d. Art. 5 Fluggastrechte-VO, sowie Praxishinweise<br />

runden das Werk ab. Lehrbuchartig und mit vielen Verweisen und Fundstellen wird insbesondere die zentrale<br />

Norm des reiserechtlichen Gewährleistungsrechts, § 651i BGB, besprochen. Die einzelnen Reisemängel<br />

werden unter umfassender Judikatur systematisch dargestellt. In der Praxis ist so eine schnelle Orientierung<br />

möglich. Von besonderer praktischer Bedeutung ist die ebenfalls lehrbuchartige und umfangreiche<br />

Darstellung der Fluggastrechte-VO. Auch hier wird der Praktiker durch eine klare Systematik schnell zur<br />

Lösung seiner rechtlichen Fragen geführt. Insbesondere Praktiker, die nicht täglich mit der Fluggastrecht-VO<br />

und den der Luftfahrt höchsteigenen (englischen) Begriffen betraut sind, lässt das Werk nicht im Regen<br />

stehen und erklärt luftfahrttypische Begriffe wie„Wet Lease“, „Dry Lease“ oder „Blocked-Space-Agreement“.<br />

Fazit: Ein Nachschlagewerk mit Handbuchcharakter, dass keine reisevertraglichen Fragen offenlässt.<br />

RA ANDY ZIEGENHARDT, Erfurt<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

HIMMELREICH/STAUB/KRUMM/NISSEN, Verkehrsunfallflucht, 7. Aufl. <strong>2019</strong>, 400 S., C.F. Müller Verlag, 49,99 €<br />

Strafverteidigung in Fällen der Verkehrsunfallflucht, § 142 StGB, steckt voller juristischer Musik und bietet<br />

einen bunten Blumenstrauß an Verteidigungsansätzen. Dies jedoch macht Strafverfolgung und -verteidigung<br />

fehleranfällig und dieses Praxishandbuch unverzichtbar. Wenn der Amtsanwalt mal wieder bei beschädigtem<br />

Firmenfahrzeug einer vorsteuerabzugsberechtigten GmbH die Umsatzsteuer zum Schaden zählt, und allein<br />

dadurch über die – zunehmend wackelnde – Grenze zum bedeutenden Fremdschaden springt; wenn<br />

nicht einmal die Polizei am Unfallort den Fremdschaden der Höhe nach richtig schätzen konnte; wenn<br />

niemand bei Staatsanwaltschaft und Gericht bei Erlass des Strafbefehls danach fragt, ob nicht im Verhältnis<br />

Arbeitnehmer/Arbeitgeber eine mutmaßliche Einwilligung in das „Sich-Entfernen“ greift oder zumindest ein<br />

Tatbestandsirrtum darüber vorliegen könnte: Ja, dann muss der Verteidiger sein Werkzeug kennen und<br />

beherrschen. In wie vielen Fällen z.B. kann der Anwalt für seinen Mandanten immerhin noch die Fahrerlaubnis<br />

„retten“, wenn es schon nicht zu Freispruch oder Einstellung reicht?! Mit diesem Buch hat jeder<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 381


Buchreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Verkehrsstrafrechter alles, was er für die erfolgreiche Strafverteidigung bei einer Verkehrsunfallflucht<br />

benötigt, griffbereit: Von der Mandatsannahme und der Verhinderung der Anklage bis zur peniblen Zerlegung<br />

der einzelnen Tatbestandsmerkmale findet sich praxisrelevant, übersichtlich strukturiert und auf den Punkt<br />

gebracht alles Wissenswerte. In mobilen Zeiten wird das Werk ergänzt durch die Rechtslage in europäischen<br />

Nachbarländern. In gebotener Kürze wird zu Nachschulungsmöglichkeiten, Fahreignungsregister und<br />

Verkehrsunfallflucht im Ausland referiert. Nicht fehlen darf die in der Praxis bedeutsame Abwehr des<br />

Versicherungsregresses, vor dem mancher Kollege im zivilrechtlichen Folgemandat zunächst mit großem<br />

Fragezeichen steht. Das i-Tüpfelchen sind 24 bodenständige Musterschreiben. Fazit: Mit diesem bewährten<br />

Praxisbuch ist der Verteidiger – ohne Wenn und Aber – der Staatsanwaltschaft und dem Amtsgericht<br />

regelmäßig eine Fahrzeuglänge voraus.<br />

RA, FA für Strafrecht HEIKO URBANZYK, Coesfeld<br />

WELLNER, BGH-Rechtsprechung zum Personenschaden, 2. Aufl. <strong>2019</strong>, 584 S., Deutscher Anwaltverlag, 59 €<br />

Der Personenschaden ist kompliziert und haftungsträchtig. Besser, man schlägt als bearbeitender<br />

Rechtsanwalt noch einmal in der Fachliteratur bzw. Rechtsprechung nach. Einen Überblick über wichtige<br />

Entscheidungen in diesem Bereich gibt das vorliegende Werk von WELLNER, der die Rechtsprechung des für<br />

das Schadensrecht zuständigen VI. Zivilsenats entscheidend mitgeprägt hat. Wie oft stößt der Praktiker auf<br />

Entscheidungen, deren maßgeblicher Inhalt erst einmal herauszufiltern wäre? Dafür ist im Massengeschäft<br />

der Unfallregulierung weder Zeit noch wird es durch das RVG entsprechend vergütet. Hier bietet der<br />

„WELLNER“ den schnelleren Zugriff: Die BGH-Entscheidungen werden jeweils durch Leitsatz, kompakte<br />

Darstellungen des Sachverhalts und anschließender rechtlicher Beurteilung mit Erwägungen des Gerichts<br />

sowie der Kommentierung des Autors vorgestellt. Die BGH-Quellen wurden durch Auslassung von<br />

Fundstellen ausgedünnt, so dass lediglich solche verblieben sind, die wertvoll sind. Das ist dem Ziel des Buchs<br />

angemessen, da Übersichtlichkeit und ein schneller Zugriff von solcher Vereinfachung leben. Letztere zielt<br />

insbesondere auf eine leichte Übertragbarkeit des konkreten BGH-Falls auf das entsprechend gelagerte<br />

eigene Mandat. Das übersichtliche Inhaltsverzeichnis ermöglicht beim Querlesen die Entscheidung, ob der<br />

Finger über den richtigen Entscheidungen schwebt. Neu ist das Kapitel „Prozessrecht, Rechtskraft und<br />

Schmerzensgeld“ das neben den Kapiteln „Problematische Personenschäden“, „Sozialversicherungsrechtliche<br />

Haftungsausschlüsse“, „Sonstige Haftungsausschlüsse und Haftungserleichterungen“, „Anspruchsübergänge<br />

und SVT-Regress“, „Mitverschulden, Kausalität und Zurechnungszusammenhang“ sowie „Erwerbsschaden“<br />

hinzugekommen ist. Wer sich näher von der Übersichtlichkeit der Sortierung, der Relevanz von Inhalt und<br />

Darstellungskonzept überzeugen möchte, findet eine kostenlose Leseprobe (29 Seiten) auf der Internetseite<br />

des Verlags. Fazit: Für den regelmäßig tätigen Schadens- und Verkehrsrechtler eine sinnvolle Anschaffung.<br />

RA, FA für Strafrecht HEIKO URBANZYK, Coesfeld<br />

BECK/LÖHLE (Hrsg.), Fehlerquellen bei polizeilichen Messverfahren, 12. Aufl. 2018, 528 S., Deutscher<br />

Anwaltverlag, 64 €<br />

Dieses Werk erinnert ein wenig an einen Ausspruch von LORIOT: „Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber<br />

sinnlos.“ Man kann also in Bußgeldsachen ohne das Werk von BECK/LÖHLE zu kennen verteidigen, das ist aber<br />

nicht ratsam. Das Buch an dieser Stelle ausführlich vorzustellen, hieße, dem im Verkehrsordnungswidrigkeitenrecht<br />

tätigen Anwalt die Arbeit zu erklären. Dennoch sei darauf hingewiesen, dass die Arbeitshilfen<br />

für die Praxis zu den Geschwindigkeitsmessverfahren (z.B. § 9 Rn 55 – Traffipax SpeedoPhot oder<br />

§13Rn133– LEIVTEC XV2) bereits dem Verteidiger eines Betroffenen ermöglichen, eine erste technische<br />

Vorprüfung zu übernehmen. Was in dieser Auflage klug verändert worden ist, ist die Zusammenführung der<br />

juristischen Bewertung mit der technischen Einordnung, so dass die jeweiligen Messverfahren nun<br />

zusammenhängend erörtert werden. Interessant sind auch die rechtlichen Ausführungen von Rechtsanwalt<br />

SIEGERT, der in § 1 den Ablauf des Bußgeldverfahrens ausführlich mit einem umfassenden Fußnotenapparat<br />

sowie Handlungshilfen in der Verteidigung darstellt. Gleiches gilt für seine Ausführungen in § 4 zur Eichung<br />

bzw. Konformitätserklärung. Ebenfalls hilfreich und offenkundig mit Blick auf die Verteidigung von<br />

Betroffenen gerichtet, ist die Formulierung möglicher Beweisfragen sowie die Aufzählung benötigter Daten<br />

bzw. Unterlagen für eine technische Begutachtung, die ggf. auch als Kopiervorlage in die Akte eingefügt<br />

werden können. Fazit: Rechtsanwälte sollten dieses Werk bei sich tragen, wenn sie in einer verkehrsrechtlichen<br />

Bußgeldangelegenheit verteidigen – alles andere wäre nicht ratsam.<br />

RAin, FAin für Straf- und für Verkehrsrecht, Mediatorin und Coach (zert. Univ.) GESINE REISERT<br />

382 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Buchreport<br />

NEIDHARDT/NISSEN, Bußgeldkataloge in Europa, 2. Aufl. 2018, 224 S., Deutscher Anwaltverlag, 29 €<br />

Die beiden profilierten und langjährigen ADAC-Juristen und Verfasser diverser Abhandlungen zum Verkehrsrecht<br />

mit Auslandsbezug, NEIDHARDT und NISSEN, haben die Bußgeldkataloge Europas in einen Überblick<br />

gebracht: Die Länder sind alphabetisch sortiert, jeweils untergliedert in „Polizei und Straßenverkehr" und<br />

in den eigentlichen Bußgeldkatalog. Für den Praktiker besonders wichtig, und für die Betroffenen entscheidend,<br />

ist die jeweilige Verfolgungspraxis – insbesondere die Bußenvollstreckung. Richtigerweise stellen<br />

die Autoren im Hinblick auf Großbritannien klar, dass offen ist, inwieweit die EU-Rahmenbeschlüsse noch<br />

Bestand nach einem etwaigen Brexit haben werden. Hilfreich sind die Hinweise zur Handhabung der<br />

Bußgeldkataloge, wenn etwa nur Obergrenzen von Bußgeldsätzen bestimmt sind. Insofern steht den<br />

Behörden bzw. der Polizei – wie in Polen beispielsweise – ein Ermessen zur Seite. Das Werk wird abgerundet<br />

mit einem knappen Anhang, der die EU-Rahmenbeschlüsse auszugsweise über die Vollstreckung<br />

von Geldsanktionen und auch die Erleichterung des grenzüberschreitenden Austauschs (Cross Border<br />

Enforcement/CBE) sowie des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen/IRG für die<br />

praktische Arbeit vervollständigen. Ein tabellarischer Überblick ist bereits auf Seite 10 für den Praktiker ein<br />

erster wichtiger Hinweis für die Frage der Geldbußen-Vollstreckung in Europa. Da die Autoren die jeweiligen<br />

Rechtsgrundlagen bezeichnen, ist eine vertiefte Suche ebenfalls möglich. Fazit: Für die tägliche<br />

Beratungspraxis eines mit dem Verkehrsrecht befassten Rechtsanwalts ist die Anschaffung schon allein<br />

deswegen zwingend, weil die differenzierte Übersetzung eines jeden Bußgeldkatalogs völlig außer<br />

Verhältnis stünde.<br />

RAin, FAin für Straf- und für Verkehrsrecht, Mediatorin und Coach (zert. Univ.) GESINE REISERT<br />

Nachlass/Erbrecht<br />

DOERING-STRIENING, Elternunterhalt und der Rückgriff des Sozialhilfeträgers, 1. Aufl. <strong>2019</strong>, 591 S.,<br />

zerb Verlag, 69 €<br />

Praxisnah, anschaulich, klar strukturiert – endlich ist ein Fachbuch erschienen, das das Thema Elternunterhalt<br />

und Sozialhilferegress umfassend behandelt. Als Folge der demografischen Entwicklung hat die Generation<br />

50 plus heute einen erhöhten Beratungsbedarf, was die Versorgung, Betreuung und den Unterhalt ihrer hoch<br />

betagten Eltern angeht. Dies stellt den Anwalt in der täglichen Beratungssituation vor Herausforderungen.<br />

Muss er doch sozial-, familien- und erbrechtliche Aspekte gleichermaßen berücksichtigen. Das übersichtliche<br />

Inhaltsverzeichnis, in dem z.B. „Eltern zu Hause“ und „Eltern in stationären Einrichtungen“ getrennt behandelt<br />

werden, ermöglicht es dem Nutzer, ohne langes Suchen schnell die Stelle des Werks zu finden, wo er<br />

Antworten auf seine Fragen findet. Dabei helfen ihm 61 Fallbeispiele, sich den komplexen Fragestellungen des<br />

Sozialrechts anzunähern. An vielen Stellen hat die Autorin DOERING-STRIENING, selbst erfahrene Fachanwältin<br />

für Familien- und Erbrecht sowie langjährige Dozentin, Grafiken und Übersichten eingestreut. Diese sind<br />

nützlich, um die Systematik der einzelnen Regelungsbereiche zu verstehen. Hilfreich ist dies insbesondere für<br />

noch unerfahrene Kollegen, um sich dem Thema anzunähern. Aber auch erfahrenen Kollegen dienen sie als<br />

Orientierungshilfe. Von den Beispielen ausgehend behandelt die Autorin die verschiedenen Themenbereiche<br />

dann umfassend, liefert die Lösungen und streut an passenden Stellen fett hervorgehobene Hinweise ein.<br />

Prüfschemata, die die Autorin eigens entwickelt hat, ermöglichen es außerdem, den eigenen Fall abzuprüfen<br />

und Lösungsansätze zu finden. Schließlich dienen Fazits und Zusammenfassungen insbesondere dem Nutzer<br />

unter Zeitdruck, sich rasch zu orientieren und Fragen zu klären. Fazit: Das Buch ist ein nützlicher, längst<br />

überfälliger Ratgeber, der sämtliche Fragestellungen rund um den Sozialhilferegress beantwortet. Er eignet<br />

sich für Sozial-, Familien- und Erbrechtler gleichermaßen und verdient einen Platz im Bücherregal.<br />

RAin, FAin für Erb- und Steuerrecht RUTH BOHNENKAMP, Düren<br />

Zivilprozessrecht<br />

ROSENBERG/SCHWAB/GOTTWALD, Zivilprozessrecht, 18. Aufl. 2018, 1.239 S., C.H. Beck Verlag, 139 €<br />

Dieses Lehrbuch des Zivilprozessrechts ist ein Klassiker. Generationen von Studenten, so sie denn neben<br />

den Repetitorien Interesse für das klassische Lehrbuch aufbrachten, haben sich bereits an diesem Werk<br />

orientiert. Die Prozessrechtswissenschaft ist maßgeblich von diesem Titel beeinflusst worden. An<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 383


Buchreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

alledem hat sich nichts geändert, seit GOTTWALD für das Buch verantwortlich ist. Er ist nicht etwa „nur“<br />

Herausgeber, sondern er hat auch diese 18. Neuauflage insgesamt verfasst. Es handelt sich also um ein<br />

Werk aus einem Guss. Aber ist es auch für den Praktiker von Interesse? Diese Frage ist uneingeschränkt<br />

zu bejahen. Warum? Die Formulierungskunst von GOTTWALD führt zu kurzen und prägnanten Ausführungen.<br />

Auch komplexe Zusammenhänge werden verständlich erörtert. Das gilt auch für alltägliche<br />

Fragen der Prozesspraxis, wie etwa die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs, die Richterablehnung,<br />

Zuständigkeitsfragen, Probleme der Zustellung, die Folgen der Verletzung des rechtlichen<br />

Gehörs, Prozesskostenhilfe und -finanzierung, Einzelheiten zur Klageerhebung und zum Verhalten des<br />

Beklagten auf die Klage, Notwendigkeit der Informationsbeschaffung und Beweis und die Rechtsmittelverfahren.<br />

Die Erläuterungen zur Berufung sind ein gutes Beispiel für die hohe Qualität des Werks.<br />

Nachdem allgemeine Fragen der Rechtsmittel stringent erläutert worden sind, wird in einem<br />

Folgekapitel die Berufung gründlich und durchaus praxisorientiert behandelt. Auch wenn GOTTWALD<br />

zum Berufungsverfahren eine eher engere Bindung des Berufungsgerichts an die Tatsachenfeststellungen<br />

I. Instanz vertritt, die nach meiner Auffassung problematisch ist (vgl. EICHELE/HIRTZ/OBERHEIM,<br />

Berufung im Zivilprozess, 5. Aufl. 2017, Kap. 7, S. 222), besticht die geschlossene und die aktuelle<br />

Rechtsprechung des BGH reflektierende Darstellung des Berufungsverfahrens in diesem Werk. Fazit:<br />

Der Griff zu diesem Lehrbuch veranlasst im besten Sinne zum eigenen Nachdenken, und zwar viel mehr,<br />

als dies ein Blick in die gängigen Kommentare tun könnte. Das Werk ist daher auch für die Anwaltspraxis<br />

in jeder Hinsicht empfehlenswert.<br />

RA Prof. Dr. BERND HIRTZ, Köln<br />

Sozialrecht<br />

DAU/DÜWELL/JOUSSEN (Hrsg.), Sozialgesetzbuch IX, 5. Aufl. <strong>2019</strong>, 2.016 S., Nomos Verlag, 148 €<br />

Mit dem Ziel, die Behindertenpolitik in Deutschland im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention<br />

weiterzuentwickeln, hat der Gesetzgeber Ende des Jahres 2016 das mehr als 100 Seiten Änderungstext<br />

umfassende Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen<br />

– Bundesteilhabegesetz, BTHG – verkündet (BGBl I 2016, S. 3234 ff.). Die wesentlichsten<br />

Änderungen betreffen die Sozialgesetzbücher IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen)<br />

und XII, aus dem das Eingliederungshilferecht herausgenommen und als Teil 2 (§§ 90 ff.) in das SGB IX<br />

eingefügt wurde. Die Änderungen, die das vor Verkündung des Gesetzes und im SGB IX geregelte Recht<br />

der schwerbehinderten Menschen betreffen, sind bereits zum 30.12.2016 in Kraft getreten. Seit dem<br />

1.1.2018 sind die bisherigen §§ 68 ff. SGB IX überdies verschoben in den Teil 3 des SGB IX (§§ 151 ff.). Das<br />

Inkrafttreten der übrigen Bestimmungen der Neuregelung erfolgt stufenweise bis zum Jahr 2023. Diese<br />

einführenden Hinweise belegen die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Neuauflage, die hier mit<br />

Stand Juli 2018 anzuzeigen ist. Der Kommentar informiert zuverlässig über die durch das Bundesteilhabegesetz<br />

bedingten umfassenden Rechtsänderungen, indem der gegenüber der Vorauflage erweiterte<br />

Autorenkreis ihre Auswirkungen darstellt und kritisch auf ihre Folgen für die Praxis überprüft. Kommentiert<br />

werden neben dem SGB IX die Wahlordnung Schwerbehindertenvertretungen sowie das<br />

Behindertengleichstellungsgesetz. Die Neuauflage berücksichtigt bereits das ab 2020 geltende Eingliederungshilferecht<br />

(§§ 90 ff. SGB IX). Fazit: Das Buch bietet der sozial- und arbeitsrechtlichen Praxis ein<br />

nahezu unentbehrliches Hilfsmittel, um die durch das BTHG bewirkten grundlegenden, zahlreichen<br />

Neuerungen für die Mandatsbearbeitung zu erfassen.<br />

RA, FA für Sozial- und für Arbeitsrecht Dr. ULRICH SARTORIUS, Breisach<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

NOBIS, Strafverteidigung vor dem Amtsgericht, 2. Aufl. 2018, 217 S., C.H. Beck Verlag, 49 €<br />

Das strafrechtliche Tagegeschäft findet mit 98 % aller Anklagen vor dem Amtsgericht statt. Für den dort<br />

Angeklagten ist sein Fall jedoch genauso der wichtigste Fall wie für denjenigen vor der Großen<br />

Strafkammer. Damit vor den Amtsgerichten so professionell verteidigt wird wie in den „großen Fällen“,<br />

gibt es dieses Buch – das einzige mit dieser Zielrichtung. Dankenswert und für den Anwalt bestimmt,<br />

der ständig am „Heimatgericht“ zu tun hat: Der Einstieg über den Umgang mit den Richtern, die der<br />

384 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Buchreport<br />

Verteidiger regelmäßig gegenüber hat. Es ist der Spagat zwischen Parteiverrat durch die eigennützige<br />

Absicht, es sich nicht mit dem Gericht verscherzen zu wollen und effektiver Verteidigung. „Hart und<br />

entschlossen in der Sache, aber stets fair und formwahrend“, fordert NOBIS. Es wäre schön, wenn<br />

Kollegen aus diesen Ausführungen etwas Grundsätzliches lernen. Der Leser profitiert von NOBIS‘<br />

Erfahrung durch effiziente Darstellung und gut nachvollziehbare, in die Tat umsetzbare Anleitungen. Die<br />

Zeiten des vertrödelten Ermittlungsverfahrens sind vorbei. Denn gerade hier werden durch moderne<br />

Strafverteidigung Weichen gestellt: Welche Schlüsse muss ich daraus ziehen, dass eine Akte gerade<br />

durch die Staatsanwaltschaft „versandt“ ist? Wie erreiche ich die Einstellung im Ermittlungsverfahren?<br />

Wie arbeite ich proaktiv auf den abgesprochenen Strafbefehl hin, wenn die Einstellung nicht erreicht<br />

werden kann? Daran schließen sich formelle und informelle Einflussmöglichkeiten für das Zwischenverfahren<br />

an. Kommt es hart auf hart findet der Leser rechtliche Grundlagen und Ratschläge für das<br />

Hauptverfahren: von Ablehnung über Beweisanträge, Fragetechnik und Pflichtverteidigung bis zum<br />

Tabu der Vollmachtsvorlage. Ein Kollege mit 20 Jahren Berufserfahrung berichtete, die zweite Auflage<br />

sei seine aktuelle Nachttischlektüre und lehrreich. Fazit: Rechtsanwälte lernen nie aus. Sowohl für den<br />

Junganwalt als auch für den alten Hasen ein nützlicher Begleiter speziell für das amtsgerichtliche<br />

Tagesgeschäft im Straf- und OWi-Verfahren.<br />

RA, FA für Strafrecht HEIKO URBANZYK, Coesfeld<br />

RINKLIN (Hrsg.), Der Strafprozess – Strategie und Taktik in der Hauptverhandlung, inkl. App,<br />

1. Aufl. <strong>2019</strong>, 1.500 S., Deubner Verlag, 179 € (bis 30.4.<strong>2019</strong>), 198 €<br />

Die Besonderheit des Buchs besteht darin, dass hier die zeitliche Abfolge der Hauptverhandlung<br />

abgebildet wird. Das erleichtert das Auffinden verschiedener Stichworte. Diesem ist zunächst eine<br />

Einführung in das Thema vorangestellt, an die sich prozesstaktische Hinweise und schließlich Muster<br />

anfügen. Manchem Muster ist zwar anzusehen, dass es nicht aus der Verteidigerfeder stammt, was<br />

jedoch der Benutzbarkeit keinen Abbruch tut. Hilfreich sind die Darstellung verschiedener Prozesssituationen<br />

(z.B. Kapitel 7 – Ausschluss der Öffentlichkeit), da rasch die eigene Situation abgeglichen<br />

werden kann. Wer in der Hektik der Verhandlung etwas sucht, wird sich daher zunächst in der<br />

Inhaltsübersicht nach dem auf ihn zutreffenden Kapitel umsehen. Diese umfassen beispielsweise die<br />

Zuständigkeit des Gerichts über die Ablehnung von Prozessbeteiligten, das Opening Statement wie auch<br />

Fragerechte und – sicher unvermeidlich – Beweiserhebungs- und Verwertungsverbote, das Beweisantragsrecht<br />

und schließlich Vorgespräche und Verständigungen im Strafprozess sowie wie auch die<br />

Nebenklage und das Adhäsionsverfahren. Hilfreich sind zudem die in der gedruckten Ausgabe optisch<br />

gut aufzufindenden Praxistipps und Hinweise, beispielsweise in Kapitel 15 „Zeugenvernehmung“ bei der<br />

Feststellung zum Zeugnisverweigerungsrecht von Berufsgeheimnisträgern und deren Hilfspersonen, die<br />

den aktuellen Stand des Geschehens dokumentieren und veranschaulichen. Praktisch ist zudem, dass<br />

das gesamte Produkt auch online bzw. über eine Webseite genutzt werden kann, da die Zugangsdaten<br />

mit dem Kauf des Werks vom Verlag übermittelt werden. Hier dürfte nur das viel gescholtene instabile<br />

Netz in den Gerichten der Anwendungspraxis Erschwernisse bescheren, sollte die Offlineversion nicht<br />

genutzt werden. Fazit: In jedem Fall verleiht das Werk für die Hauptverhandlung deutlich mehr<br />

Sicherheit als es ein Kommentar kann, da es auf die praktische Gestaltung des Prozesses verweist. Wer<br />

übrigens den hohen Adrenalinspiegel einer kontrovers geführten Hauptverhandlung unter Kontrolle<br />

halten will, dem kann die Anschaffung schon allein unter gesundheitlichen Aspekten nur angeraten<br />

werden.<br />

RAin, FAin für Straf- und für Verkehrsrecht, Mediatorin und Coach (zert. Univ.) GESINE REISERT<br />

JUNKER, Beweisantragsrecht im Strafprozess, 3. Aufl. <strong>2019</strong>, 248 S., <strong>ZAP</strong> Verlag, 49 €<br />

Zutreffend weist der Autor darauf hin, dass der richtig eingesetzte Beweisantrag Wirkung in diverse<br />

Richtungen entfalten kann: zum einen nämlich in die Erweiterung der Aufklärungspflichten, zum<br />

anderen in die Festschreibung des in der Beweisaufnahme ermittelten Sachverhalts zur Führung einer<br />

erfolgreichen Revision. Zunächst stellt JUNKER die Grundlagen der Beweisaufnahme dar, dann gliedert er<br />

den Beweisantrag in seinen verschiedenen Ausformungen auf. Schließlich kann über die Festschreibung<br />

von Beweisergebnissen die Anknüpfung an den vorinstanzlich gestellten Beweisantrag in der Revision<br />

erfolgreich ausgeführt werden, wie durch die Darstellung erfolgversprechender Rügen gezeigt wird. Das<br />

Werk erhält viele Formulierungsbeispiele, aber vor allen Dingen genaue Hinweise darauf, worauf im<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 385


Buchreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Einzelnen zu achten ist, sollten Beweisanträge gestellt werden. Auch macht sich der Verfasser die Mühe,<br />

über den Zeitpunkt der Antragstellung nachzudenken, um so frühzeitig auf den Gang des Verfahrens<br />

einzuwirken. Zudem werden die Ablehnungsgründe eines Beweisantrags (§ 2 I.) dargestellt, denn die<br />

Fehlerträchtigkeit dieser Ablehnungsentscheidungen kann Grundlage einer möglichen Revision sein. Der<br />

Verteidiger kann durch diese Ausführungen, die parallel zur Ablehnungsentscheidung gelesen werden<br />

sollten, die Aussicht einer Revision besser einschätzen. Insofern sollte daran erinnert werden, dass ein<br />

Ablehnungsbeschluss des Gerichts stets genau geprüft werden sollte, bevor weitere Prozesshandlungen,<br />

insbesondere der Fortgang der Verhandlung, erfolgen. Fazit: Die praxisgerechte Darstellung<br />

bzw. Fassung von Beweisanträgen zeichnet dieses Werk aus und ist eine große Hilfe in der<br />

strafprozessualen Praxis; das Werk ist daher uneingeschränkt zum Kauf zu empfehlen.<br />

RAin, FAin für Straf- und für Verkehrsrecht, Mediatorin und Coach (zert. Univ.) GESINE REISERT<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

TIETJE/RUPPRECHT, Personalmanagement für Anwaltskanzleien, 1. Aufl. 2018, 141 S., Deutscher<br />

Anwaltverlag, 39 €<br />

RONJA TIETJE, Vorsitzende des RENO-Bundesverbands, und GEORG RUPPRECHT, Rechtsanwalt in Bremen,<br />

haben es sich zur Aufgabe gemacht, das „Personalmanagement für Anwaltskanzleien“ in den Blick zu<br />

nehmen und dafür Sorge zu tragen, dass qualifiziertes Personal gefunden und zugleich gebunden wird.<br />

Die Folgen einer fehlenden Kanzleiorganisation sind nämlich ungestellte Rechnungen, chaotische Akten,<br />

falsch oder nicht notierte Fristen. Daher stehen im Wesentlichen die Kanzleimitarbeitenden, die im<br />

nichtanwaltlichen Bereich tätig sind, im Fokus des Buchs. Die Überlegungen sind unerlässlicher Teil<br />

eines fortwährenden Kanzleimanagements. Das Buch bietet einen Überblick zu den Rechtsformen der<br />

anwaltlichen Berufsausübung sowie dem eigentlichen Personalmanagement. Hierbei wird darauf<br />

geachtet, nach welchen Kriterien eine Kanzlei organisiert werden sollte, welcher Personalplanung es<br />

bedarf und wie geordnete Personalgespräche als Steuerungsinstrument zur Führung in den jeweiligen<br />

Hierarchien eingesetzt werden können. Das Kapitel zur Personalgewinnung bzw. -rekrutierung enthält<br />

Vorschläge für Stellenausschreibungen, die Gestaltung des Bewerbungsverfahrens und die rechtlichen<br />

Aspekte hierzu. Hilfreich ist sicherlich die Vorbereitung der Einarbeitungsphase, in der eine klare Struktur<br />

schon das erste Bindungselement sein sollte. Weitere wichtige Themen sind Personalführung sowie die<br />

Motivation von Mitarbeitern. Dabei ist hervorzuheben, dass ein gewichtiger Baustein hierfür in den<br />

Kommunikationsgrundsätzen verankert ist, die ebenfalls dargestellt werden. Dieser Abschnitt ist nicht<br />

nur im Personalmanagement wichtig, sondern hilft auch generell im Umgang mit Dritten und kann zum<br />

Lesen nur empfohlen werden. Ebenfalls enthalten sind die überwiegend rechtlichen Aspekte des Arbeitszeitmanagements<br />

und die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses, die das Buch abrunden. Fazit:<br />

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bei der sinkenden Zahl des ausgebildeten Fachpersonals die<br />

Anstrengungen des Kanzleiinhabers wachsen müssen, um den Anforderungen des Markts, vor allem<br />

aber den Bedürfnissen der Mitarbeitenden gerecht zu werden. Anregungen hierzu finden sich in dem<br />

Buch von TIETJE/RUPPRECHT.<br />

RAin, FAin für Strafrecht und für Verkehrsrecht, Mediatorin und Coach (zert. Univ.) GESINE REISERT<br />

Gebührenrecht<br />

N. SCHNEIDER, RVG Praxiswissen, 5. Aufl. <strong>2019</strong>, 597 S., Nomos Verlag, 44 €<br />

Der Name ist Programm: Ein Werk für Praktiker. Auf fast 600 Seiten gibt N. SCHNEIDER Antworten auf alle<br />

Fragen der Praxis zum RVG. Der Autor stellt zunächst die korrekte Vorgehensweise dar und erläutert<br />

diese mit sinnvollen Beispielrechnungen. Soweit vorhanden, werden verschiedene Ansichten genannt<br />

und die herrschende Meinung erläutert. Der Autor weist zudem auf besondere Fehlerquellen hin. So<br />

werden bei der in Vergütungsvereinbarungen beliebten 15-Minuten-Zeittaktklausel die Gefahren der<br />

Zählweise angefangener Takte aufgezeigt (S. 58), aber es folgt auch der Hinweis, wie das Problem zu<br />

lösen ist. Dies gilt ebenso für typische Praxistipps wie den, dass bei laufendem Unterhalt regelmäßig<br />

bereits mindestens ein Monat Rückstand fällig und dieser damit werterhöhend als 13. Monat zu<br />

386 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Buchreport<br />

berücksichtigen ist (S. 291). Die Rechtsprechung ist auf dem neuesten Stand. N. SCHNEIDER nimmt auch<br />

hier Stellung zu offenen Fragen. Während andere die Existenz der Zahlungsvereinbarungs-Einigungsgebühr<br />

gerade erst bemerkt haben, setzt sich der Autor schon kritisch mit der Rechtsprechung<br />

auseinander und lehnt die Ansicht des AG Vaihingen ab, nach der eine Sicherungsabtretung eine<br />

Wertreduzierung gem. § 31b RVG verhindern soll (S. 131). Hinsichtlich der Auslösung dieser Gebühr durch<br />

den Gerichtsvollzieher rückt er mit einer neuen, klar nachvollziehbaren Begründung von seiner<br />

bisherigen, an anderen Stellen vertretenen Ansicht ab (S. 128) und ist auch hier topaktuell. Gewonnen<br />

hat das Werk zudem noch durch die in dieser Auflage neu hinzugefügten Hinweise zur Kostenerstattung.<br />

Oft liegen gerade hier, z.B. bei der Erstattungsfähigkeit der Reisekosten, die Probleme der<br />

Praxis. Fazit: Das Buch RVG Praxiswissen kann nur uneingeschränkt empfohlen werden. Wenn der<br />

Autor zurückhaltend als Zielgruppe u.a. junge Rechtsanwälte und Wiedereinsteiger nennt, so greift dies<br />

zu kurz. Das Werk ist für jeden RVG-Praktiker ein Gewinn.<br />

Dipl.-RPfl. THOMAS SCHMIDT, Dozent FH f. Rechtspflege NRW, Bad Münstereifel<br />

Anwaltsformulare<br />

VORWERK (Hrsg.), Das Prozessformularbuch, inkl. Download der Muster, 11. Aufl. <strong>2019</strong>, 3.339 S.,<br />

Otto Schmidt Verlag, 149 €<br />

Zur Jahreswende 2018/<strong>2019</strong> sind Neuauflagen der drei hier vorgestellten und am Markt etablierten<br />

Prozessformularbücher erschienen. Die Werke sind durchaus unterschiedlich. Das von VOLKERT VORWERK<br />

mit souveräner Hand herausgegebene und in vielen Teilen von ihm verfasste Werk ist ein Klassiker. Es<br />

enthält weit mehr, als sein Titel ahnen lässt. Zu seinen Besonderheiten gehört, dass es – erklärtermaßen<br />

– zugleich Handbuch ist und dem Leser, wie es das Vorwort zu Recht formuliert, über das<br />

Zusammenspiel von Muster und erklärenden Erläuterungen die Gewissheit gibt, das Problem, das sich<br />

ihm im Rahmen der Prozessführung stellt, zutreffend zu lösen. VORWERK gelingt es, 37 Autorinnen und<br />

Autoren aus Anwalt- und Richterschaft „unter einen Hut“ zu bringen. Und dieser Hut sitzt und<br />

schmückt. Anhand des Prozessverlaufs wird zunächst zu jedem der einzelnen Verfahrensschritte die<br />

Rechtslage erläutert, bevor Praxistipps, Know-how-Hinweise, Checklisten und (insgesamt über 1.500)<br />

Muster folgen. Das Werk beginnt mit der Situation vor dem Verfahren. Ein erstes Buch behandelt<br />

alsdann den Verlauf des „normalen“ Zivilprozesses. Besonders gelungen und mit praktikablen Mustern<br />

durchsetzt ist der von VORWERK geschriebene Teil zum Berufungsrecht. Es folgen in Anlehnung an<br />

materiell-rechtliche Schwerpunkte (z.B. Kaufrecht, Mietrecht, WEG, Leasing, Produkthaftungsrecht,<br />

Gesellschaftsrecht, Wettbewerbsrecht) Darstellungen der Besonderheiten solcher Verfahren. In einem<br />

zweiten Buch wird – erstmals in dieser Form in der Neuauflage – das Verfahren in Familiensachen<br />

behandelt. Auf über 500 Seiten findet der Nutzer alles was er braucht. Im Abschlusskapitel werden die<br />

Besonderheiten arbeits- und sozialrechtlicher Streitigkeiten (auf rund 100 Seiten) dargestellt.<br />

Hervorzuheben ist, dass die Muster (ohne Erläuterungen) zum Download bereitstehen; die Zugangsdaten<br />

findet der Leser zu Beginn des Buchs. Fazit: (Auch) die Neuauflage des VORWERK ist ein<br />

Meisterwerk. Das Buch enthält mit Tipps, Anmerkungen und Formularen durch lange Rechtstradition<br />

konkretisiertes Erfahrungswissen.<br />

MES (Hrsg.), Beck’sches Prozessformularbuch, inkl. Download der Formulare, 14. Aufl. <strong>2019</strong>,<br />

3.000 S., C.H. Beck Verlag, 139 €<br />

Das von PETER MES herausgegebene und von zahlreichen Autoren aus Richterschaft und Anwaltschaft<br />

geschriebene Beck’sche Prozessformularbuch, dessen erste Auflage im Jahre 1980 erschienen ist, hat<br />

sich in jeder Hinsicht und zu Recht am Markt durchgesetzt. Auch dieses Werk folgt dem Prozessverlauf.<br />

Indessen gibt es einen wesentlichen Unterschied im Verhältnis zur Darstellung im VORWERK. Das<br />

Beck’sche Prozessformularbuch folgt dem Aufbau der bewährten Beck’schen Formularbücher: Nach der<br />

Präsentation der Formulare folgen rechtliche Erläuterungen und Hinweise. Während also der VORWERK<br />

zunächst die Verfahrenslage erläutert und im Rahmen dieser Erläuterungen Formulare liefert, geht das<br />

Beck’sche Prozessformularbuch von den Formularen aus und liefert alsdann Anmerkungen (durchaus<br />

mit weiterführenden Hinweisen auf Rechtsprechung und Literatur). Das Werk beginnt mit dem<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 387


Buchreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Mandatsverhältnis und folgt dann dem Verlauf des Zivilprozesses. Auch hier werden Klagen und Anträge<br />

im Zivilprozess zu ausgewählten Rechtsgebieten, wie etwa Kaufrecht, Miet- und Maklerrecht,<br />

Werkvertragsrecht, Reiserecht usw. behandelt. Eines der Themen behandelt auch Familiensachen, die<br />

– anders als im VORWERK – nicht eine eigene Darstellung in einem gesonderten Teil erfahren. Das<br />

Beck’sche Formularbuch ist eine Fundgrube für die in vielen Fachgebieten erforderlichen Anträge, z.B. im<br />

Gesellschaftsrecht, Kartellrecht, dem Recht des gewerblichen Rechtsschutzes und dem Vergaberecht.<br />

Besonderes Augenmerk wird auf die Zwangsvollstreckung gerichtet. Eine eigene und in sich<br />

verständliche Abteilung behandelt Formulare für den Arbeitsgerichtsprozess. Eine Besonderheit des<br />

Beck’schen Prozessformularbuchs ist es, dass nicht nur zivil-, arbeits- und sozialrechtliche Streitigkeiten<br />

behandelt werden, sondern ebenso das Verwaltungsstreitverfahren, das Verfassungsrecht und der<br />

Finanzgerichtsprozess. Die Formulare (ohne Erläuterungen) stehen zum Download bereit; die<br />

Zugangsdaten findet der Leser zu Beginn des Buchs. Fazit: Die Neuauflage des Beck’schen Prozessformularbuchs<br />

bietet mannigfache Formulierungsanregungen für das gesamte Verfahrensrecht, und<br />

dies zugleich praxisorientiert und auf hohem inhaltlichem Niveau.<br />

SAENGER/ULLRICH/SIEBERT (Hrsg.), ZPO, Kommentiertes Prozessformularbuch, inkl. Online-Zugang,<br />

4. Aufl. <strong>2019</strong>, 2.700 S., Nomos Verlag, 138 €<br />

Einen im Verhältnis zu den beiden vorbesprochenen Werken durchaus anderen Weg geht das in der<br />

Praxis sehr gut aufgenommene von INGO SAENGER, CHRISTOPH ULLRICH und OLIVER SIEBERT herausgegebene<br />

Kommentierte Prozessformularbuch zur Zivilprozessordnung (mit Familienverfahren und ZVG). Dieses<br />

Werk folgt nicht dem Prozessverlauf, sondern dem Inhalt von ZPO, FamFG, GVG und ZVG. Die Vorschriften<br />

der genannten Gesetze sind wiedergegeben. Dort, wo aus anwaltlicher oder richterlicher Sicht<br />

Handlungsbedarf besteht, für den Formulare hilfreich sind, werden Muster präsentiert und erläutert. Der<br />

Vorteil dieser am Gesetzeswortlaut orientierten Musterpräsentation liegt darin, dass der Leser die<br />

Muster dort findet, wo er sie aufgrund der prozessrechtlichen Vorschriften sucht. Nachteilig ist allenfalls,<br />

dass die prozessrechtlichen Vorschriften nicht unbedingt dem Verfahrensverlauf folgen. Außerdem sind<br />

bei zahlreichen Mustern durchaus verschiedene prozessrechtliche Normen zu beachten. Indessen ist<br />

dem Werk ein alphabetisches Musterverzeichnis vorangestellt, so dass auch der Leser, der sich nicht am<br />

Gesetzestext orientieren will, schnellen Zugriff findet. Eine weitere Besonderheit des SAENGER/ULLRICH/<br />

SIEBERT liegt darin, dass nicht nur Muster für die anwaltliche Tätigkeit präsentiert werden, sondern auch<br />

für die richterliche Aufgabe (z.B. Terminbestimmung, Beschlüsse, Urteile). Die Kenntnis dieser Muster –<br />

nebst Erläuterungen – ist durchaus auch aus anwaltlicher Sicht gewinnbringend. Besonders<br />

hervorzuheben ist die Vielzahl der präsentierten Muster, die auch auf materiell-rechtliche Besonderheiten<br />

Rücksicht nehmen. Zum Werk gehört ein persönlicher Online-Zugang (Zugriff auf den Volltext<br />

sowie die darin zitierten Gesetze und die Rechtsprechung). Fazit: Der Leser, der sich gern am<br />

Normengefüge der Verfahrensordnungen orientiert, wird hier zügig fündig und durch gute Qualität<br />

belohnt; vorteilhaft ist der Online-Zugang zur Rechtsprechung.<br />

Empfehlung:<br />

Ein Vergleich der drei hier besprochenen Werke führt zu unterschiedlichen Empfehlungen: Wer im Bereich<br />

des Zivilprozesses, des FamFG-Verfahrens, des Insolvenzverfahrens, der Zwangsvollstreckung und des Arbeitsgerichtsverfahrens<br />

sachkundige Erläuterungen zum Verfahrensverlauf und seiner Rechtsgrundlagen<br />

sucht und wer im Rahmen dieser Suche – durchaus detaillierte – Formulare verwenden möchte, ist mit dem<br />

VORWERK bestens bedient. Jeder, der ein zivilrechtliches Verfahren führt, darf darauf nicht verzichten. Das<br />

Beck’sche Prozessformularbuch erfasst neben den zivilrechtlichen Verfahren auch die anderen Verfahrensarten.<br />

Es liefert – angelehnt an den Verfahrensverlauf – Formulare mit Erläuterungen. Im Verhältnis zum<br />

VORWERK fällt der Erläuterungsteil (insbesondere für den Bereich der Zivilverfahren) knapper aus. Dem Generalisten<br />

werden alle praktisch relevanten Verfahrensarten präsentiert. Das Beck’sche Formularbuch ist das<br />

Werk der Wahl für den Leser, der nicht nur im weiten Bereich des Zivilrechts tätig sein will. Und das Werk<br />

von SAENGER/ULLRICH/SIEBERT orientiert sich an der gewohnten Kommentierung zu ZPO, FamFG und ZVG. Seine<br />

Besonderheit liegt in der Präsentation von Mustern auch für die richterliche Arbeit.<br />

RA Prof. Dr. BERND HIRTZ, Köln<br />

388 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 59<br />

Eilnachrichten<br />

Volltext-Service: Die Entscheidungsvolltexte zu den <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können Sie online kostenlos bei<br />

unserem Kooperationspartner juris abrufen, Anmeldung unter www.juris.de. Einzelheiten zum Anmeldevorgang<br />

finden Sie auf unserer Homepage www.zap-verlag.de/service. Sie sind Neu-Abonnent? Dann<br />

schicken Sie bitte eine E-Mail mit dem Betreff „Neu-Abonnement“ an freischaltcode-zap@zap-verlag.de<br />

und erhalten so Ihre Zugangsdaten.<br />

Kaufvertragsrecht<br />

Fernabsatz: Widerrufsrecht beim Onlinekauf einer Matratze<br />

(EuGH, Urt. v. 27.3.<strong>2019</strong> – C-681/17) • Das Widerrufsrecht der Verbraucher im Fall eines Onlinekaufs gilt<br />

auch für eine Matratze, deren Schutzfolie nach der Lieferung entfernt wurde. Wie bei einem<br />

Kleidungsstück kann davon ausgegangen werden, dass der Unternehmer in der Lage ist, die Matratze<br />

mittels einer Reinigung oder Desinfektion wieder verkehrsfähig zu machen, ohne dass dies<br />

den Erfordernissen des Gesundheitsschutzes oder der Hygiene widersprechen würde. Hinweis: Die<br />

Entscheidung erging auf Vorlage des BGH. Es galt die Frage zu beantworten, ob einer der<br />

Ausschlusstatbestände in der EU-Richtlinie 2011/83/EU (ABl 2011, L 304, S. 64) für das Widerrufsrecht<br />

erfüllt war (vgl. § 312g BGB). Dies verneinte der EuGH. Er stellte allerdings auch fest, dass der<br />

Verbraucher für etwaige Wertverluste der Ware haftet, wenn er sie über den zur Prüfung erforderlichen<br />

Umfang hinaus beansprucht hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 230/<strong>2019</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Wohnraummiete: Verjährung des mietrechtlichen Unterlassungsanspruchs<br />

(BGH, Urt. v. 19.12.2018 – XII ZR 5/18) • Im Rahmen eines Mietverhältnisses kann ein Unterlassungsanspruch<br />

wegen einer vertragswidrigen Nutzung der Mietsache nicht auf § 1004 BGB gestützt werden.<br />

Vielmehr ist allein § 541 BGB anwendbar. Nach § 541 BGB kann der Vermieter auf Unterlassung klagen,<br />

wenn der Mieter einen vertragswidrigen Gebrauch der Mietsache trotz Abmahnung fortsetzt. Der<br />

aus § 541 BGB folgende Anspruch des Vermieters gegen den Mieter auf Unterlassung eines<br />

vertragswidrigen Gebrauchs der Mietsache verjährt während des laufenden Mietverhältnisses nicht,<br />

solange die zweckwidrige Nutzung andauert. Auch Sinn und Zweck der Verjährungsvorschriften stehen<br />

der Annahme nicht entgegen, dass der Unterlassungsanspruch des Vermieters nach § 541 BGB während<br />

des laufenden Mietverhältnisses nicht verjähren kann. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 231/<strong>2019</strong><br />

Sonstiges Vertragsrecht<br />

Reiserecht: Verzögerte Abfertigung wegen Systemausfalls am Flughafen<br />

(BGH, Urt. v. 15.1.<strong>2019</strong> – X ZR 15/18) • Ein mehrstündiger Ausfall aller Computersysteme an den<br />

Abfertigungsschaltern eines Flughafenterminals, der einen erhöhten Aufwand bei der Abfertigung der<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 389


Fach 1, Seite 60 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />

Fluggäste zur Folge hat und damit den planmäßigen Start eines Flugs verhindert, kann außergewöhnliche<br />

Umstände i.S.d. Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO begründen. Welche Maßnahmen einem<br />

Luftverkehrsunternehmen zuzumuten sind, um zu vermeiden, dass außergewöhnliche Umstände zu<br />

einer großen Verspätung eines Flugs führen oder Anlass zu seiner Annullierung geben, bestimmt sich<br />

nach den Umständen des Einzelfalls; die Zumutbarkeit ist vom Tatrichter situationsabhängig zu beurteilen.<br />

Die Wirkung von Maßnahmen, zu denen die Parteien nicht vorgetragen haben und die sich<br />

auch nicht als zumutbar und erfolgversprechend aufdrängen, bedarf dabei keiner Aufklärung. Im<br />

Rahmen von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO sind lediglich Maßnahmen zu berücksichtigen, mit denen<br />

das ausführende Luftverkehrsunternehmen eine Annullierung oder Verspätung desjenigen Flugs hätte<br />

vermeiden können, der von dem außergewöhnliche Umstände begründenden Ereignis betroffen ist. Ob<br />

eine erheblich verspätete Ankunft eines auf diesen Flug sowie einen direkten Anschlussflug gebuchten<br />

Fluggastes an seinem Endziel durch eine Umbuchung auf einen anderen (Anschluss-)Flug verhindert<br />

werden kann, ist hingegen nur im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c FluggastrechteVO von<br />

Bedeutung. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 232/<strong>2019</strong><br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

WEG: Eigentümerhaftung für Verbindlichkeiten des Verbands<br />

(BGH, Urt. v. 26.10.2018 – V ZR 279/17) • Eine Haftung des Wohnungseigentümers gem. § 10 Abs. 8 S. 1<br />

WEG für Verbindlichkeiten des Verbands scheidet aus, wenn es sich um Ansprüche anderer Wohnungseigentümer<br />

handelt, die aus dem Gemeinschaftsverhältnis herrühren (sog. Sozialverbindlichkeiten).<br />

Hierzu gehören Aufwendungsersatzansprüche, die einem Wohnungseigentümer wegen der<br />

Tilgung einer Verbindlichkeit des Verbands zustehen, und zwar auch dann, wenn die Tilgung eine<br />

Notgeschäftsführungsmaßnahme i.S.d. § 21 Abs. 2 WEG ist; dies gilt unabhängig davon, ob eine<br />

Befriedigung aus dem Gemeinschaftsvermögen zu erwarten ist oder nicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 233/<strong>2019</strong><br />

Bank- und Kreditwesen<br />

Einlagengeschäft: Schadensersatzansprüche nach fehlgeschlagener Kapitalanlage<br />

(BGH, Urt. v. 16.10.2018 – VI ZR 459/17) • Eine Annahme von Geldern i.S.d. § 1 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 Alt. 2 KWG ist<br />

auch dann gegeben, wenn die Anleger nicht unmittelbar Bar- oder Buchgeld beim Kapitalnehmer einzahlen,<br />

sondern ihm (nur) Rechte und Ansprüche aus von ihnen gehaltenen Kapitallebensversicherungen<br />

abtreten, Zweck dieser Rechtsübertragung aber die Vereinnahmung des Rückkaufswertes durch<br />

den Kapitalnehmer ist und den Anlegern das den Rückkaufswert betreffende Auszahlungsrisiko nach<br />

den vertraglichen Vereinbarungen verbleibt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 234/<strong>2019</strong><br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Ordnungswidrigkeit: Nutzung eines Laptops am Steuer<br />

(OLG Köln, Beschl. v. 14.2.<strong>2019</strong> – 1 RBs 45/19) • Das Aufnehmen eines Laptops durch den Betroffenen<br />

auf seinen Schoß zu einem Zeitpunkt, zu dem nicht ausschließbar der Motor des Fahrzeugs an der<br />

Lichtzeichenanlage manuell ausgeschaltet ist, begründet kein (fortgesetztes) Aufnehmen des Geräts<br />

gem. § 23 Abs. 1a Nr. 1 StVO im Zeitpunkt des Losfahrens, wenn der Betroffene den Laptop beim<br />

Anfahren nicht in den Händen hält, sondern sich dieser auf seinem Schoß eingeklemmt zwischen<br />

Oberschenkel und Lenkrad befindet. Beim Anfahren an einer Lichtzeichenanlage unter weiterem<br />

„Tippen“ auf der Tastatur des Laptops scheidet eine noch erträgliche kurze Blickabwendung nach<br />

Maßgabe des § 23 Abs. 1a Nr. 2 StVO schon ihrer Natur nach aus; die festgestellte Benutzung erfordert<br />

jedenfalls mehr als einen nur kurzen Blickkontakt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 235/<strong>2019</strong><br />

390 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 61<br />

Versicherungsrecht<br />

Rechtsschutzversicherung: Risikoausschluss<br />

(BGH, Urt. v. 6.3.<strong>2019</strong> – IV ZR 72/18) • Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein<br />

durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und<br />

unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die<br />

Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse<br />

und damit auch auf seine Interessen an. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer versteht unter<br />

einem Arbeitsverhältnis das Dauerschuldverhältnis zwischen einem Arbeitnehmer und einem Arbeitgeber.<br />

Dass das Arbeitsverhältnis i.S.d. § 26 Abs. 3 Buchst. c ARB 1975/2001 auch von Anstellungsverträgen<br />

gesetzlicher Vertreter juristischer Personen abzugrenzen ist, wird sich dem durchschnittlichen,<br />

juristisch nicht vorgebildeten Versicherungsnehmer hingegen nicht erschließen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 236/<strong>2019</strong><br />

Familienrecht<br />

Nachehelicher Versorgungsausgleich: Beschränkung der Zulassung der Rechtsbeschwerde<br />

(BGH, Beschl. v. 27.2.<strong>2019</strong> – II ZB 183/16) • Eine Beschränkung der Zulassung der Rechtsbeschwerde<br />

muss nicht in der Beschlussformel angeordnet sein, sondern kann sich auch aus den Entscheidungsgründen<br />

ergeben, wenn sie sich diesen mit der erforderlichen Eindeutigkeit entnehmen lässt. Hat das<br />

Beschwerdegericht die Rechtsbeschwerde wegen einer Rechtsfrage zugelassen, die allein für einen<br />

eindeutig abgrenzbaren Teil des Verfahrensstoffs von Bedeutung ist, kann die gebotene Auslegung der<br />

Entscheidungsgründe ergeben, dass die Zulassung der Rechtsbeschwerde auf diesen Teil des Verfahrensstoffs<br />

beschränkt ist. Durch § 21 Abs. 3 VersAusglG soll dem Ausgleichsberechtigten die Realisierung<br />

der schuldrechtlichen Ausgleichsrente im Wege der Abtretung erleichtert und ihre unbeschränkte,<br />

auch über Pfändungsgrenzen hinausgehende Durchsetzung ermöglicht werden.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 237/<strong>2019</strong><br />

Nachlass/Erbrecht<br />

Nachlassverbindlichkeiten: Einkommensteuerschulden<br />

(BFH, Urt. v. 14.11.2018 – II R 34/15) • Die gegen den Erblasser festgesetzte Einkommensteuer kann auch<br />

dann als Nachlassverbindlichkeit abgezogen werden, wenn der Erblasser noch zu seinen Lebzeiten<br />

gegen die Steuerfestsetzung Einspruch eingelegt hat und Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen<br />

Bescheids gewährt wurde. Die Einlegung eines Einspruchs durch den Erblasser zu dessen<br />

Lebzeiten führt nicht dazu, dass die wirtschaftliche Belastung durch die festgesetzte Steuer wegfällt.<br />

Dasselbe gilt für die Gewährung der Aussetzung der Vollziehung. Bei der Ermittlung der Zahl der<br />

Beschäftigten einer Holdinggesellschaft sind die Arbeitnehmer von Gesellschaften, an denen eine<br />

Beteiligung besteht, nicht einzubeziehen (Rechtslage für Erwerbe bis einschließlich 6.6.2013).<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 238/<strong>2019</strong><br />

Zivilprozessrecht<br />

Fehlerhafte Zustellung: Amtspflichtverletzung eines Zustellungsbeamten<br />

(BGH, Urt. v. 21.2.<strong>2019</strong> – III ZR 115/18) • Ein Zustellungsbeamter, der entgegen den Vorschriften der ZPO<br />

eine Zustellung falsch bewirkt, verletzt eine Amtspflicht, die ihm sowohl dem Absender als auch dem<br />

Empfänger gegenüber obliegt. Der Mangel der unterbliebenen Zustellung einer beglaubigten Abschrift<br />

einer Klageschrift wird durch die von der Geschäftsstelle des Gerichts veranlasste Übermittlung einer<br />

einfachen Abschrift dieses Schriftstücks geheilt. Die förmlichen Zustellungsvorschriften sollen nicht zum<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 391


Fach 1, Seite 62 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />

Selbstzweck erstarren, sondern die Zustellung ist auch dann als bewirkt anzusehen, wenn der<br />

Zustellungszweck anderweitig, nämlich durch tatsächlichen Zugang, erreicht wird. Allerdings wirkt sich<br />

die Heilung des Zustellungsmangels nicht auf das Vorliegen einer Amtspflichtverletzung aus, sondern ist<br />

allein für den Eintritt und Umfang eines ersatzfähigen Schadens von Bedeutung.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 239/<strong>2019</strong><br />

Schiedsgerichtsverfahren: Aufhebung eines Schiedsspruchs wegen Mangelhaftigkeit<br />

(BGH, Beschl. v. 14.2.<strong>2019</strong> – IZB33/18)• Nach der ZPO bestimmt das Schiedsgericht seine Verfahrensregeln<br />

nach freiem Ermessen, soweit keine Vereinbarung der Parteien vorliegt und das Zehnte Buch der<br />

Zivilprozessordnung keine Regelung enthält. Begrenzt wird das Verfahrensermessen des Schiedsgerichts<br />

durch den verfahrensrechtlichen ordre public, der die unverzichtbaren Grundlagen für ein ordnungsgemäßes<br />

rechtsstaatliches Verfahren wie den Anspruch auf rechtliches Gehör oder das Gebot der Gleichbehandlung<br />

der Parteien umfasst. Zu diesen unverzichtbaren Normen für ein ordnungsgemäßes Verfahren zählt § 301<br />

ZPO (Teilurteil) nicht. Ein Bedürfnis, den dem Schiedsgericht insoweit gesetzlich zugestandenen Ermessensspielraum<br />

von vornherein und ohne erkennbare Notwendigkeit einzuschränken, besteht nicht.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 240/<strong>2019</strong><br />

Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />

Teilungsversteigerung: Kosten des Einstellungsverfahrens<br />

(BGH, Beschl. v. 10.1.<strong>2019</strong> – V ZB 19/18) • Bei der Entscheidung über den Einstellungsantrag eines<br />

Miteigentümers im laufenden Teilungsversteigerungsverfahren ergeht, ebenso wie bei der Entscheidung über<br />

den Einstellungsantrag des Schuldners im laufenden Zwangsversteigerungsverfahren, keine Kostenentscheidung<br />

nach den §§ 91 ff. ZPO.Hinweis: Ein Einstellungsantrag ist, anders als eine Erinnerung oder eine<br />

Beschwerde, nicht darauf gerichtet, eine Entscheidung des Vollstreckungsgerichts zu ändern. Der Antragsteller<br />

nutzt vielmehr eine im Verfahren vorgesehene Möglichkeit, eine bestimmte Entscheidung des<br />

Vollstreckungsgerichts (erstmalig) herbeizuführen. Antrag und Entscheidung des Vollstreckungsgerichts sind<br />

damit (unselbstständige) Teile des laufenden Zwangsversteigerungsverfahrens. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 241/<strong>2019</strong><br />

Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />

Vereinsrecht: Notabwicklung eines im Vereinsregister als erloschen eingetragenen Vereins<br />

(OLG Saarbrücken, Beschl. v. 5.11.2018 – 5 W 74/18) • Für die Ingangsetzung einer Notabwicklung für<br />

einen im Vereinsregister als erloschen eingetragenen Verein bedarf es einer Berechtigung. Das rechtliche<br />

Interesse an der Ingangsetzung einer Notabwicklung für den Verein, der im Grundbuch als Eigentümer<br />

mehrerer Grundstücke eingetragen ist, wird nicht schon dadurch begründet, dass der<br />

Antragstellende Kontakt zu dem aufgelösten Verein herstellen möchte, um herauszufinden, ob und ggf.<br />

zu welchen Konditionen dieser möglicherweise zur Veräußerung eines Grundstücks bereit wäre.<br />

Dadurch wird der Antragstellende nicht zum „Beteiligten“ des (Nachtrags-)Abwicklungsverfahrens.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 242/<strong>2019</strong><br />

Arbeitsrecht<br />

Betriebliche Altersversorgung: Anrechnungsverbot sonstiger Versorgungsbezüge<br />

(BAG, Urt. v. 11.12.2018 – 3 AZR 453/17) • Bei der Prüfung, ob ein sonstiger Versorgungsbezug i.S.v. § 5<br />

Abs. 2 S. 2 BetrAVG mindestens zur Hälfte auf Beiträgen des Arbeitgebers beruht, kann zwischen<br />

verschiedenen Beitragszeiten zu unterscheiden sein. Eine entsprechende Unterscheidung setzt jedoch<br />

voraus, dass die gezahlten Beiträge, auch bezogen auf die jeweils geleisteten Arbeitnehmer- und die<br />

Arbeitgeberbeiträge, den daraus resultierenden Rentenansprüchen zurechenbar sind.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 243/<strong>2019</strong><br />

392 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Eilnachrichten <strong>2019</strong> Fach 1, Seite 63<br />

Sozialrecht<br />

Arbeitslosengeld: Berücksichtigung des in der Freistellungsphase gezahlten Gehalts<br />

(BSG, Urt. v. 30.8.2018 – B 11 AL 15/17 R) • Das während einer unwiderruflichen Freistellung gezahlte und<br />

abgerechnete Arbeitsentgelt ist in die Bemessung des Arbeitslosengeldes einzubeziehen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 244/<strong>2019</strong><br />

Kostenübernahme: Rehabilitation bei Demenzkranken<br />

(LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 17.7.2018 – L 11 KR 1154/18) • Bei einer an Alzheimer mit fortgeschrittener<br />

Demenz erkrankten Versicherten ist weder die Rehabilitationsfähigkeit noch eine positive<br />

Rehabilitationsprognose ausgeschlossen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 245/<strong>2019</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Grundrechtsschutz: Bürgerbegehren im Bauplanungsrecht<br />

(BVerfG, Beschl. v. 22.2.<strong>2019</strong> – 2 BvR 2203/18) • Vertrauensleute eines Bürgerbegehrens als in einer Art<br />

organschaftlichem Verhältnis zur betreffenden Gemeinde stehende „Amtswalter“ können sich nicht auf<br />

Art. 19 Abs. 4 GG berufen. Zwar gelten die Grundrechte nach Art. 19 Abs. 3 GG auch für inländische<br />

juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind, nicht jedoch für<br />

inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts. Dies gilt auch für Gemeinden und ihre Organe<br />

und damit auch für die Vertrauenspersonen eines Bürgerbegehrens; ihre durch das Kommunalrecht<br />

zugewiesenen Rechte sind Teil der kommunalen Willensbildung. Hinweis: Damit scheiterte eine<br />

Verfassungsbeschwerde von Vertrauensleuten eines Bürgerbegehrens in Hessen, welches sich gegen<br />

einen gemeindlichen Aufstellungsbeschluss gewendet hatte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 246/<strong>2019</strong><br />

Steuerrecht<br />

Versicherungsbeiträge: Steuerpflicht von Zinsen aus Lebensversicherungen<br />

(BFH, Urt. v. 25.9.2018 – VIII R 3/15) • Die Gewährung eines zinslosen Darlehens führt nicht zu einer<br />

steuerschädlichen Verwendung der Darlehensvaluta eines mit einer Lebensversicherung besicherten<br />

Darlehens, die die Steuerpflicht der außerrechnungsmäßigen und rechnungsmäßigen Zinsen aus den<br />

Sparanteilen der Lebensversicherung zur Folge hat. Nicht steuerschädlich sind Darlehen, deren Finanzierungskosten<br />

unter keinen Umständen zu Werbungkosten oder Betriebsausgaben führen können.<br />

Nicht steuerschädlich sind nach dem Gesetzeswortlaut sowie der eindeutigen Gesetzesbegründung<br />

Finanzierungen, die von vornherein außerhalb der steuerlichen Einkunftsarten i.S.v. § 2 EStG stehen, also<br />

insb. der Finanzierung von Privatausgaben dienen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 247/<strong>2019</strong><br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

Schwere Brandstiftung: Konkrete Todesgefahr erforderlich<br />

(BGH, Urt. v. 16.8.2018 – 4 StR 162/18) • Wegen besonders schwerer Brandstiftung wird bestraft, wer einen<br />

anderen Menschen durch die Tat in die konkrete Gefahr des Todes bringt. Wann eine solche Gefahr<br />

gegeben ist, entzieht sich exakter wissenschaftlicher Umschreibung. Die Tathandlung muss aber jedenfalls<br />

über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus im Hinblick auf einen bestimmten Vorgang in<br />

eine kritische Situation für das geschützte Rechtsgut geführt haben; in dieser Situation muss – was nach<br />

der allgemeinen Lebenserfahrung aufgrund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die<br />

Sicherheit einer bestimmten Person so stark beeinträchtigt worden sein, dass es nur noch vom Zufall<br />

abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Allein der Umstand, dass sich Menschen in enger<br />

räumlicher Nähe zur Gefahrenquelle befinden, genügt noch nicht zur Annahme einer konkreten Gefahr.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 393


Fach 1, Seite 64 Eilnachrichten <strong>2019</strong><br />

Umgekehrt wird die Annahme einer Gefahr aber auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein Schaden<br />

ausgeblieben ist, weil sich der Gefährdete noch in Sicherheit bringen konnte. Erforderlich ist ein<br />

Geschehen, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, dass „das noch einmal gut<br />

gegangen sei“. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 248/<strong>2019</strong><br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Ermittlungsrichter: Erreichbarkeit des richterlichen Bereitschaftsdienstes<br />

(BVerfG, Beschl. v. 12.3.<strong>2019</strong> – 2 BvR 675/14) • Aus Art. 13 GG ergibt sich die verfassungsrechtliche<br />

Verpflichtung der Gerichte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters, auch durch die Einrichtung eines<br />

Bereitschaftsdienstes, zu sichern. Dieser muss bei Tage, d.h. zwischen 6 Uhr und 21 Uhr, uneingeschränkt<br />

erreichbar sein. Während der Nachtzeit ist ein solcher Bereitschaftsdienst jedenfalls bei einem Bedarf<br />

einzurichten, der über den Ausnahmefall hinausgeht. Die Prüfung eines solchen Bedarfs haben die<br />

Gerichtspräsidien nach pflichtgemäßem Ermessen in eigener Verantwortung vorzunehmen. Für die Art und<br />

Weise der Bedarfsermittlung steht ihnen ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu. Hinweis: Mit dieser<br />

Begründung hat das BVerfG auf die Verfassungsbeschwerde eines Beschuldigten hin die eine durch die<br />

Staatsanwaltschaft angeordnete nächtliche Durchsuchung bestätigenden Gerichtsbeschlüsse aufgehoben<br />

und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LG zurückverwiesen. Die Gerichte, so die Verfassungsrichter,<br />

hätten nicht geprüft, ob aus dem Richtervorbehalt in Art. 13 Abs. 2 GG eine Verpflichtung zur<br />

Einrichtung eines ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes für den maßgeblichen Zeitraum folgte.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 249/<strong>2019</strong><br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Anwaltshaftung: Fristenkontrolle bei Führung eines elektronischen Fristenkalenders<br />

(BGH, Beschl. v. 28.2.<strong>2019</strong> – III ZB 96/18) • Bei der Fristeingabe in den elektronischen Fristenkalender muss<br />

eine Kontrolle durch einen Ausdruck der eingegebenen Einzelvorgänge oder eines Fehlerprotokolls<br />

erfolgen. Unterbleibt eine derartige Kontrolle, so liegt ein anwaltliches Organisationsverschulden vor.<br />

Werden die Fristeingabe in den elektronischen Fristenkalender und die anschließende Eingabekontrolle in<br />

zwar mehrstufigen, aber ausschließlich EDV-gestützten und jeweils nur kurze Zeit benötigenden<br />

Arbeitsschritten am Bildschirm durchgeführt, besteht eine erhöhte Fehleranfälligkeit. Den Anforderungen,<br />

die an die Überprüfungssicherheit der elektronischen Kalenderführung zu stellen sind, wird durch eine<br />

solche Verfahrensweise nicht genügt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 250/<strong>2019</strong><br />

Gebührenrecht<br />

Kostenerstattung: Einreichung einer Schutzschrift<br />

(OLG Frankfurt, Beschl. v. 4.1.<strong>2019</strong> – 6 W 99/18) • Ist nach Einreichung einer Schutzschrift durch einen<br />

Rechtsanwalt der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgewiesen worden und hat die<br />

hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde ebenfalls keinen Erfolg, können dem Rechtsanwalt keine<br />

Gebührenansprüche für die Vertretung des Antragsgegners im Beschwerdeverfahren entstehen, wenn<br />

er und der Antragsgegner bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens von der Beschwerde keine<br />

Kenntnis hatten. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 251/<strong>2019</strong><br />

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394 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1485<br />

Kindeswohl<br />

Kindschaftsrecht<br />

Kindeswohl: Definition, rechtliche Einordnung, Kontrolle der Ermessensausübung,<br />

Wechselmodell und Hinweise für die Anwaltspraxis<br />

Von ULRIKE SACHENBACHER, Weitere Aufsicht führende Ri‘inAG, München<br />

Inhalt<br />

I. Einführung<br />

II. Definition und rechtliche Einordnung<br />

III. Kontrolle der Ermessensausübung<br />

IV. Kindeswohl im Wechselmodell<br />

V. Hinweise für die Anwaltspraxis<br />

I. Einführung<br />

Das Kindeswohl ist in keinem Verfahren eine Spielwiese für juristische Spitzfindigkeiten. In Fällen des<br />

Kindschaftsrechts produzieren verschiedene Instanzen – eventuell auch mit unterschiedlichen Ergebnissen –<br />

langfristig hohen emotionalen Stress im Familiensystem. Es kommt zu keiner Beruhigung für das betroffene<br />

Kind. Alle Verfahrensbeteiligten (Instanzgerichte, Eltern mit ihren Verfahrensbevollmächtigten, Verfahrensbeistand<br />

und Jugendamt) sind daher gehalten, zur Befriedung der Situation auch Kompromisse einzugehen<br />

und den Fokus ausschließlich auf das Kindeswohl zu richten. Die Praxis bestätigt, dass Verfahren, die nicht<br />

streitig entschieden werden, sondern in denen mit Hilfe aller Beteiligten im Helfersystem eine neue Elternautarkie<br />

und Elternkompetenz – auch durch Zwischenvereinbarungen – aufgebaut werden können, dem<br />

Kindeswohl dienen, da u.a. auch vermieden wird, dass in einer streitigen Eltern- und Paarbeziehung Sieger<br />

und Verlierer etabliert werden. Zum Erfolg tragen bei die Entwicklung gegenseitigen Vertrauens (auch durch<br />

Einbau von Kontrollen zum Wiederaufbau des beschädigten Vertrauens) sowie die Zusammenarbeit der<br />

Professionen, Kommunikationsgeschick in der Vermittlung eventueller Auflagen an die Eltern und das Wissen<br />

darum, dass ausschließlich juristische Lösungen selten bis nie tragfähige Lösungen sind.<br />

Eine entscheidende Erfolgskomponente ist aber vor allem die genaue Prüfung des unbestimmten<br />

Rechtsbegriffs „Kindeswohl“, der im Rahmen einer Ermessensprüfung seitens des Gerichts zunächst im<br />

Rahmen der Amtsermittlung gem. § 26 FamFG zu ermitteln ist und sodann nachvollziehbar auf Basis<br />

des korrekt gewählten Kindeswohlbegriffs zu begründen ist.<br />

II. Definition und rechtliche Einordnung<br />

Das Gesetz benennt im Rahmen einer Stufenleiter verschiedene Kindeswohlschwellen. In familienpsychologischen<br />

Sachverständigengutachten (bei Beweisbeschlusserlass und bei der Begutachtung<br />

selbst) sowie bei jeder gerichtlichen Entscheidung ist zwingend darauf zu achten, dass die gesetzlich<br />

korrekte Kindeswohlschwelle herangezogen wird.<br />

Hinweis:<br />

Ein Gutachten auf Basis einer falschen Einordnung des Kindeswohlbegriffs wegen der Nennung der unrichtigen<br />

Kindeswohlebene im Beweisbeschluss könnte, wenn der Fehler auf Gerichtsebene entstanden ist, durchaus<br />

einer Gerichtskostenniederschlagung nach § 20 FamGKG wegen unrichtiger Sachbehandlung zugänglich sein.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 395


Fach 11, Seite 1486<br />

Kindeswohl<br />

Familienrecht<br />

Die „Stufenleiter der Kindeswohlschwellen“ ist in folgende Skala unterteilt:<br />

• Die Stufe mit der intensivsten Eingriffsmöglichkeit ist die Kindeswohlgefährdung, zufinden in<br />

• §§ 1666, 1666a BGB, § 1684 Abs. 4 S. 2 BGB – Umgangseinschränkungen für längere Zeit oder auf<br />

Dauer,<br />

• § 1632 Abs. 4 BGB – Verbleibensanordnung zugunsten von Bezugspersonen/Pflegeeltern.<br />

• Eine extrem selten zu prüfende Ebene ist der unverhältnismäßige Nachteil für das Kind (§ 1748 Abs. 4<br />

BGB), z.B. Ersetzen der Einwilligung des Vaters bei Adoptionsvereitelung durch den leiblichen Vater<br />

trotz permanent fehlender Elternverantwortung (BVerfG NJW 2006, 827).<br />

• Eine für die Praxis sehr bedeutsame Ebene sind die triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig<br />

berührenden Gründe (§ 1696 BGB für jede Abänderung von Entscheidungen im Sorgerecht, beim<br />

Umgang und von gerichtlich gebilligten Umgangsvergleichen). Dies bedeutet, dass in zahlreichen<br />

Fällen der beantragten Umgangsabänderung eine höhere Kindeswohlschwelle gilt und nicht jede<br />

Kleinigkeit über eine Abänderung begehrt werden kann.<br />

• Die sehr häufig zugrunde zu legende Schwelle ist das Wohl des Kindes, in § 1697a BGB letztlich<br />

definiert als „entspricht dem Kindeswohl am besten“. Die Standardfälle sind hier:<br />

• § 1671 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB – Übertragung der elterlichen Sorge auf Erstantrag,<br />

• § 1684 Abs. 1 BGB – Entscheidung/Vergleich über den noch nicht gerichtlich geregelten Umgang<br />

und<br />

• § 1684 Abs. 4 S. 1 BGB – kurzfristige Umgangseinschränkung, z.B. durch Begleitung.<br />

Sonderfälle sind:<br />

• § 1618 Abs. 1 S. 4 BGB – Einbenennung,<br />

• § 1687 Abs. 2 BGB – Einschränkung der gemeinsamen elterlichen Sorge bei Getrenntleben sowie<br />

• § 1687b Abs. 3 BGB – Einschränkung der Befugnisse des Ehegatten des allein Sorgeberechtigten,<br />

selbst nicht Elternteil).<br />

• Eine weitere Stufe findet sich im Begriff „dient dem Kindeswohl“:<br />

• § 1685 BGB – Umgang von Bezugspersonen, z.B. Großeltern, und<br />

• § 1686a Abs. 1 Nr. 1 BGB – Umgangsrecht des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters.<br />

• Die niedrigste Kindeswohlebene formuliert das Gesetz mit „widerspricht nicht dem Kindeswohl“:<br />

• § 1626a Abs. 2 S. 1 BGB – im Rahmen des Antrags auf gemeinsame elterliche Sorge bei<br />

nichtehelichen Eltern,<br />

• § 1686a Abs. 1 Nr. 2 BGB – Auskunftsrecht des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters,<br />

• § 156 Abs. 2 FamFG – gerichtliche Billigung der Umgangsregelung,<br />

• §§ 1678 Abs. 2, 1680 Abs. 2 BGB – Ruhen der Sorge oder Tod des allein sorgeberechtigten<br />

Elternteils auf Dauer,<br />

• § 1686 BGB – Auskunftsanspruch über persönliche Verhältnisse des Kindes.<br />

Allerdings hebt der BGH auch bei der „negativen“ Kindeswohlprüfung nach § 1626a Abs. 2 S. 1 BGB<br />

den vorrangigen Maßstab für die Entscheidung auf das Kindeswohl i.S.v. § 1697a BGB auf Basis<br />

der zur Aufhebung der gemeinsamen Sorge nach § 1671 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB entwickelten Grundsätze<br />

hervor (BGH, Urt. v. 15.6.2016 – XII ZB 419/15 [Ls. 1]). Erst wenn sich nach erschöpfender Sachaufklärung<br />

nicht feststellen lässt, dass die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl widerspricht, ergibt<br />

sich aus der negativen Formulierung der Kindeswohlprüfung die (objektive) Feststellungslast dahin,<br />

dass im Zweifelsfall die Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge auszusprechen ist (BGH,<br />

Urt. v. 15.6.2016 – XII ZB 419/15 [Ls. 2]).<br />

396 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1487<br />

Kindeswohl<br />

III. Kontrolle der Ermessensausübung<br />

Jeder gerichtliche Beschluss ist streng auf die Abwägung von Einzelgesichtspunkten im konkreten Fall<br />

zu prüfen (BGH FamRZ 2010, 1060). Eine Entscheidung in Kindschaftsverfahren sollte – genauso wie die<br />

Schriftsätze der beteiligten Elternteile – die gesetzlichen Vorgaben der jeweiligen Kindeswohlschwelle<br />

gegliedert aufschlüsseln.<br />

Zur Übertragung der elterlichen Sorge im Rahmen der § 1671 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB oder des § 1626a Abs. 2<br />

S. 1 BGB sind vorrangig vier Kriterien zu prüfen, die keine Rangfolge darstellen. Der BGH (seit BGH<br />

FamRZ 1990, 392; FamRZ 2010 1060; FamRZ 2011, 796) wörtlich: „Alle Kriterien stehen aber letztlich nicht<br />

wie Tatbestandsmerkmale kumulativ nebeneinander; jedes von ihnen kann im Einzelfall mehr oder weniger<br />

bedeutsam für die Beurteilung sein, was dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Diese Entscheidung liegt<br />

letztlich in der Verantwortung des Tatrichters.“ Die Kriterien lauten wie folgt:<br />

• Der Kontinuitätsgrundsatz stellt ab auf Einheitlichkeit, Gleichmäßigkeit und Stabilität der Beziehungs-<br />

und Erziehungsverhältnisse sowie der Lebensumgebung.<br />

• Sehr wichtig ist der Wille des Kindes, soweit der in der nach § 159 FamFG zwingenden Anhörung<br />

geäußerte Wille mit dem Kindeswohl vereinbar ist und das Kind nach Reife und Alter zu einer<br />

Willensbildung im natürlichen Sinn in der Lage ist. Maßstab sind hier die Klarheit, die Konstanz, die<br />

Nachvollziehbarkeit, die Verständlichkeit sowie die Autonomie des geäußerten Willens einschließlich<br />

seiner Bildung.<br />

• Zu prüfen sind ferner die gesunden und angstfreien Bindungen des Kindes an Eltern und<br />

Geschwister.<br />

• Im Rahmen des sog. Förderprinzips zählen Eignung, Bereitschaft und Möglichkeit der Eltern zur<br />

Übernahme der für das Kindeswohl maßgeblichen Erziehung und Betreuung (u.a. Erziehungseignung,<br />

-kompetenz und Bindungstoleranz), wobei ein Defizit in der Erziehungseignung durch starke<br />

Bindungen des Kindes an den Elternteil kompensiert werden kann (OLG Hamm FamRZ 2017, 1225).<br />

IV. Kindeswohl im Wechselmodell<br />

Auch für die Installation des Wechselmodells, das der BGH im Umgangsrecht verortet hat (Beschl.<br />

v. 1.2.2017 – XII ZB 601/15, FamRZ 2017, 532 = FF 2017, 152), ist Maßstab jeglicher Regelung dabei das<br />

im konkreten Einzelfall festzustellende Kindeswohl i.S.v. § 1697a BGB unter Berücksichtigung der<br />

Grundrechtspositionen der Eltern und bei Prüfung der oben dargestellten anerkannten Kriterien des<br />

Kindeswohls (BGH, a.a.O., Rn 25). An dieser Stelle lässt der BGH allerdings offen, ob die Anordnung des<br />

Wechselmodells auch als Sorgerechtsentscheidung möglich sein könnte.<br />

Grundvoraussetzung für das Kindeswohl im Wechselmodell ist eine auf sichere Bindung beruhende<br />

tragfähige Beziehung des Kindes zu beiden Elternteilen. Die auf ein paritätisches Wechselmodell<br />

gerichtete Umgangsregelung setzt nach dem BGH darüber hinaus eine bestehende Kommunikationsund<br />

Kooperationsfähigkeit der Eltern voraus. Dem Kindeswohl entspricht es daher nicht, ein Wechselmodell<br />

zu dem Zweck anzuordnen, eine Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit erst herbeizuführen<br />

(BGH, a.a.O., Ls. 2). Ist das Verhältnis der Eltern erheblich konfliktbelastet, so liegt die auf ein<br />

paritätisches Wechselmodell gerichtete Anordnung i.d.R. nicht im wohlverstandenen Interesse des<br />

Kindes, wobei das Familiengericht zu einer umfassenden Aufklärung verpflichtet ist, welche Form des<br />

Umgangs dem Kindeswohl am besten entspricht (BGH, a.a.O., Ls. 3, 4).<br />

Hinweis:<br />

Allerdings hält der BGH die gerichtlich angeordnete Installation des Wechselmodells auch gegen den<br />

Willen eines Elternteils für möglich, wenn es dem Kindeswohl im konkreten Fall am meisten entspricht<br />

und setzt sich damit in Widerspruch zu einigen Oberlandesgerichten (so z.B. OLG Hamburg, Beschl. v.<br />

17.12.2015 – 2 UF 106/14, FamRZ 2016, 912).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 397


Fach 11, Seite 1488<br />

Kindeswohl<br />

Familienrecht<br />

Das Kindeswohl im paritätischen Wechselmodell setzt aber nach der Mehrheit der jüngst ergangenen<br />

OLG-Entscheidungen im Regelfall eine bestehende Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit der<br />

Eltern voraus sowie einen Elternkonsens über das Betreuungsmodell (u.a. OLG Brandenburg, Beschl.<br />

v. 15.2.2016 – 10 UF 213/14, FamRZ 2016, 1473). Ist das Verhältnis der Eltern erheblich konfliktbelastet, so<br />

liegt die Anordnung des Wechselmodells i.d.R. nicht im wohlverstandenen Interesse des Kindes. Dies gilt<br />

insbesondere dann, wenn die Wohnorte der Eltern weit auseinanderliegen und eine verlässliche Planung<br />

wegen ständig wechselnder Arbeitszeiten eines Elternteils nicht möglich ist (OLG Bremen, Beschl.<br />

v. 20.8.2018 – 4 UF 57/18, FamRZ 2018, 19<strong>08</strong>). Dies gilt insbesondere ab Einschulung des betroffenen<br />

Kindes (zur Vermeidung langer Schulwege bei Grundschulkindern und zur Lösung des Problems des<br />

Schulsprengels). Allerdings hält das OLG Hamm die Anordnung einer nahezu hälftigen Betreuung eines<br />

Vorschulkindes durch die Eltern auch bei weit entfernten Wohnorten für kindeswohlgerecht, wenn dies<br />

im Einzelfall beiden Eltern zeitlich und organisatorisch möglich ist (OLG Hamm, Beschl. v. 29.8.2017 –<br />

11 UF 89/17, FamRZ 2018, 1912).<br />

Praxishinweis:<br />

Insgesamt zeigt die Auswertung der obergerichtlichen Rechtsprechung zu den Einzelfällen des Wechselmodells,<br />

dass das Kindeswohl ausschließlich für den Einzelfall zu prüfen ist unter Auswertung der<br />

Belastbarkeit des Kindes, des gesamten Familiensystems (z.B. welche Arbeitszeiten, welche Flexibilität<br />

in den einzelnen Berufen der Eltern?) sowie der Erziehungsansätze der Eltern in ihrer Deckungsgleichheit<br />

oder Unterschiedlichkeit. Eine für die Beratung im Mandat wirklich gesicherte Leitlinie kann dieser<br />

Rechtsprechung nicht entnommen werden mit Ausnahme der Tatsache, dass im Hochkonfliktfall das<br />

Wechselmodell nicht installiert werden kann.<br />

V. Hinweise für die Anwaltspraxis<br />

Da es sich bei dem Begriff des „Kindeswohls“ um einen unbestimmten Rechtsbegriff im Gesetz<br />

handelt, ist die Kontrolle von gerichtlichen Entscheidungen vor allem im Bereich der Auswahl der<br />

richtigen Kindeswohlschwelle möglich. Insoweit wird angeregt, dass insbesondere Beweisbeschlüsse,<br />

die ein familienpsychologisches Gutachten anordnen, immer in Bezug auf die gewählte Kindeswohlschwelle<br />

kontrolliert werden. So lassen sich sehr kostenintensive Fehler langfristig durch die<br />

Instanzen vermeiden.<br />

Vorsicht wird im Übrigen angeraten, wenn Schriftsätze oder gerichtliche Entscheidungen nicht<br />

strukturiert wirken, sondern im Rahmen der Ermessenausübung bei der Bestimmung des Kindeswohls<br />

einem gehobenen Abituraufsatz im Fach Deutsch ähneln. Hier bedarf es strenger Eigen- und<br />

Fremdkontrolle, ob die von der Rechtsprechung festgelegten Kriterien tatsächlich getrennt voneinander<br />

in die Abwägung mit eingeflossen sind. Insbesondere sollte in diesem Bereich im Antragsverfahren<br />

nach §§ 1671, 1696 BGB darauf geachtet werden, dass die Einzelgesichtspunkte des<br />

Kindeswohls – Kontinuität, Wille des Kindes, Bindungen des Kindes an Eltern und Geschwister und<br />

Förderprinzip inkl. Erziehungskompetenz und Bindungstoleranz – getrennt voneinander beurteilt<br />

werden.<br />

Egal, welche Rolle der einzelne Verfahrensbeteiligte in einem Kindschaftsverfahren einnimmt, sollte die<br />

über allem stehende Erkenntnis sein – getragen vom jeweiligen beruflichen Ethos –, dass ausschließlich<br />

juristische Lösungen im Kindschaftsrecht selten bis nie tragfähig sind. Das Kindeswohl ist nämlich keine<br />

Spielwiese für juristische Spitzfindigkeiten.<br />

398 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Arbeitsrecht Fach 17, Seite 1359<br />

Urlaubsrecht – Update<br />

Individualarbeitsrecht<br />

Urlaubsrecht: Aktuelle Hinweise für die anwaltliche Mandatspraxis<br />

Von Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht Dr. KIRSTIN MAAß, Köln<br />

Inhalt<br />

I. Vorbemerkung<br />

II. Kein „automatischer“ Verfall von Urlaub<br />

1. Urlaubsanspruch im laufenden Kalenderjahr<br />

2. Urlaubsanspruch bei Krankheit<br />

III. Urlaubsabgeltung<br />

1. Beendigung des Arbeitsverhältnisses<br />

2. Vererbbarkeit des Anspruchs auf<br />

Urlaubsabgeltung<br />

IV. Kürzung des Urlaubs<br />

1. Elternzeit<br />

2. Sonderurlaub<br />

V. Fazit<br />

I. Vorbemerkung<br />

Urlaub und die mit ihm in Zusammenhang stehenden Regelungen sind – sowohl in rechtlicher als auch<br />

in tatsächlicher Hinsicht – in jedem Unternehmen stets ein großes Thema. Weitere Diskussionspunkte<br />

bietet dabei die aktuelle Rechtsprechung von EuGH und BAG. Selten hat ein arbeitsrechtliches Thema<br />

wie „Urlaub“ in der europäischen und nationalen Rechtsprechung in den letzten Jahren derart viel<br />

Aufmerksamkeit erfahren. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die aktuellste arbeitsgerichtliche<br />

Rechtsprechung.<br />

Literaturhinweis:<br />

MÜLLER, Grundzüge des Urlaubsrechts, <strong>ZAP</strong> F. 17, S. 1255 ff.<br />

II.<br />

Kein „automatischer“ Verfall von Urlaub<br />

1. Urlaubsanspruch im laufenden Kalenderjahr<br />

Das Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) ist – eigentlich – eindeutig. Gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG soll der Urlaub<br />

grundsätzlich im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Ein Übertragungsanspruch bis<br />

zum 31.3. des auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres oder darüber hinaus kann einzelvertraglich vereinbart<br />

werden oder ergibt sich teilweise aus Tarifverträgen. Ist die Gewährung des Urlaubs im laufenden Kalenderjahr<br />

entweder aus dringenden betrieblichen oder aus in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen,<br />

z.B. wegen einer Erkrankung, nicht möglich, wird der Urlaub kraft Gesetzes in das erste Kalendervierteljahr<br />

des Folgejahres übertragen.<br />

a) Bisherige Rechtsprechung<br />

Wird der Urlaub von dem Arbeitnehmer weder im laufenden Kalenderjahr noch im Übertragungszeitraum<br />

beantragt und genommen, galt bisher als fester Grundsatz des deutschen Urlaubsrechts, dass<br />

nicht genommener Urlaub am Jahresende verfällt, wenn der Arbeitnehmer ihn bis dahin nicht<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 399


Fach 17, Seite 1360<br />

Urlaubsrecht – Update<br />

Arbeitsrecht<br />

beantragt hat. Das BAG (Urt. v. 6.8.2013 – 9 AZR 956/11, NZA 2014, 545) vertrat bislang die Auffassung,<br />

dass Arbeitgeber nicht verpflichtet werden könnten, Arbeitnehmern Urlaub „aufzuzwingen“. Lediglich<br />

die „Nicht-Gewährung“, also die Verweigerung, von seitens des Arbeitnehmers rechtzeitig verlangtem<br />

und beantragtem Urlaub führte zu einem Anspruch auf Ersatzurlaub, der sich mit der Beendigung des<br />

Arbeitsverhältnisses in einen Abgeltungsanspruch des Arbeitnehmers wandelte. Die Initiative lag damit<br />

bei den Arbeitnehmern, die rechtzeitig zumindest einen Urlaubsantrag stellen mussten, wollten sie zum<br />

Ende des Jahres ihren Urlaubsanspruch nicht verlieren.<br />

b) Änderung der Rechtsprechung<br />

Nach der aktuellen Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 6.11.2018 – C-619/16, „Kreuziger“, <strong>ZAP</strong> EN-<br />

Nr. 650/2018 = NZA 2018, 1445 und C-684/16, „Max-Planck-Gesellschaft“, NZA 2018, 1474 und MAAß <strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin 23/<strong>2019</strong>, S. 1204 f.; vgl. auch schon EuGH, Urt. v. 12.6.2014 – C-118/13, „Bollacke“, NZA<br />

2014, 651), der sich das BAG (Urt. v. 19.2.<strong>2019</strong> – 9 AZR 541/15, bislang nur als Pressemitteilung 9/19<br />

vorliegend) nunmehr angeschlossen hat, erlischt der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers jedoch nicht<br />

(mehr) automatisch. Dem Arbeitnehmer darf danach sein Urlaubsanspruch nicht deshalb verwehrt<br />

werden, weil er ihn zuvor nicht aktiv geltend gemacht hat. Aufgrund seiner unterlegenen Position<br />

kommt ein Ausschluss allein dann in Betracht, wenn der Arbeitnehmer aus freien Stücken und bei voller<br />

Kenntnis der Konsequenzen auf die Ausübung seines Rechts auf Urlaub verzichtet hat.<br />

Infolgedessen muss der Arbeitgeber dafür sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist,<br />

seinen Jahresurlaub zu nehmen. Der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmer hierzu – ggf. förmlich –<br />

auffordern und ihn rechtzeitig und umfassend darüber aufklären, dass der Urlaub, falls der<br />

Arbeitnehmer ihn nicht nehmen sollte, verfallen wird. Der Arbeitgeber trägt in diesem Fall die<br />

Darlegungs- und Beweislast: Er muss nachweisen, dass er mit der entsprechenden Sorgfalt gehandelt<br />

hat. Allerdings stellen sowohl EuGH als auch BAG klar, dass der Arbeitgeber nicht gezwungen ist, dem<br />

Arbeitnehmer von sich aus Urlaub zu gewähren.<br />

Die Rechtsprechung des EuGH bezieht sich sowohl auf den Verfall von Urlaubstagen als auch auf die<br />

Ansprüche auf finanzielle Vergütung für nicht genommenen Urlaub. Beides darf nunmehr nicht<br />

automatisch untergehen, weil der Arbeitnehmer vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder in dem<br />

Kalenderjahr vor Ablauf des Bezugszeitraums keinen Urlaub beantragt hat.<br />

Beachte:<br />

Die Rechtsprechung des EuGH bezieht sich nicht nur auf zukünftige, sondern auch auf bereits erworbene<br />

Urlaubsansprüche.<br />

Folglich beziehen sich die Konsequenzen nicht nur auf die (Urlaubs-)Jahre ab 2018, sondern grundsätzlich<br />

auch auf die Jahre zuvor. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass jedenfalls nach der Rechtsprechung<br />

des EuGH (Urt. v. 29.11.2017, C-214/16, „King“, NZA 2017, 1591; anders bisher die Rechtsprechung<br />

des BAG zum sog. Schadensersatzanspruch auf Ersatzurlaubsgewährung: BAG, Urt. v.<br />

11.4.2006 – 9 AZR 523/05, AP Nr. 28 zu § 7 BUrlG Übertragung) wohl keine Verjährungsvorschriften<br />

greifen. Der EuGH sprach Herrn King in der vorbenannten Entscheidung einen rückwirkenden Anspruch<br />

auf Urlaubsabgeltung für 13 (!) Jahre zu. In der Entscheidung fehlt jeglicher Anhaltspunkt dafür, dass<br />

irgendeine zeitliche Begrenzung der Übertragung durch den EuGH in einem solchen Fall anerkannt<br />

würde. So stellt der EuGH ausdrücklich klar, dass die Übertragung der Regelfall ist und das Erlöschen<br />

nach einer gewissen Zeit die Ausnahme, für die sich Gründe ergeben müssen.<br />

Die vorstehende Rechtsprechung des EuGH hat folglich erhebliche Konsequenzen für den Umgang des<br />

Arbeitgebers mit den Urlaubsansprüchen der Arbeitnehmer! Werden weder Arbeitnehmer noch<br />

Arbeitgeber bezüglich des Jahresurlaubs aktiv, verfällt der gesetzliche Jahresurlaub – anders als bislang –<br />

nicht.<br />

400 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Arbeitsrecht Fach 17, Seite 1361<br />

Urlaubsrecht – Update<br />

c) Handlungsempfehlung für Arbeitgeber<br />

Arbeitgeber müssen ihre Arbeitnehmer künftig<br />

• ausdrücklich,<br />

• rechtzeitig und<br />

• (unmiss-)verständlich<br />

darüber aufklären, dass ihr Urlaub verfallen wird, wenn sie nicht rechtzeitig einen Urlaubsantrag stellen,<br />

so dass eine Urlaubsgewährung (noch) erfolgen kann.<br />

Dabei wird auch ein ausdrücklicher Hinweis auf die Höhe der noch vorhandenen Urlaubstage erforderlich<br />

werden. Eine bloße Erinnerung in Form eines allgemeinen Hinweises genügt nach den Ausführungen des<br />

EuGH nicht. Vielmehr ist nach dem EuGH eine „angemessene Aufklärung“ über die Folgen, d.h. den<br />

möglichen Verlust des Urlaubsanspruchs, erforderlich. Erst wenn der Arbeitnehmer dieser Aufforderung<br />

immer noch nicht nachkommt, verfallen Urlaubs- bzw. spätere Urlaubsabgeltungsansprüche.<br />

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass Arbeitgeber nach den Ausführungen des EuGH geeignete und<br />

konkrete organisatorische Maßnahmen zu ergreifen haben, um den Arbeitnehmern den Urlaub zu<br />

ermöglichen.<br />

Der bisherige Grundsatz, dass nicht genommener Urlaub zum Jahresende bzw. spätestens mit Ablauf<br />

des 31.3. des Folgejahrs verfällt, wenn er nicht beantragt wurde, gilt in Bezug auf den gesetzlichen<br />

Mindesturlaub nicht mehr. Arbeitgebern ist dringend zu empfehlen, ihre betrieblichen Urlaubsregelungen<br />

auf die neuen Anforderungen hin zu überprüfen und anzupassen.<br />

Hinweis:<br />

Arbeitgeber sollten genommene und insbesondere noch nicht genommene Urlaubstage sorgfältig dokumentieren<br />

und beispielsweise im Rahmen regelmäßiger Wiedervorlagen, aber auch in persönlichen<br />

Gesprächen mit den Arbeitnehmern in Erinnerung rufen. Um die ordnungsgemäße Aufklärung zu dokumentieren,<br />

sollten die entsprechenden Hinweise stets schriftlich festgehalten und entsprechende Empfangsbekenntnisse<br />

von den Arbeitnehmern eingeholt werden. Zudem sollten Arbeitnehmern spätestens<br />

zum Ende des dritten Jahresquartals unter Mitteilung der konkreter Anzahl ihrer Urlaubstage und der zu<br />

beachtenden Fristen persönlich, jedenfalls in Textform entsprechend informiert und aufgefordert werden,<br />

ihren Resturlaub bis zum Jahresende zu nehmen. Dabei sollten Vorkehrungen geschaffen werden, die den<br />

Zugang der jeweiligen Mitteilung bei dem einzelnen Arbeitnehmer zu Dokumentationszwecken nachweisen<br />

können. Allein ein Aushang an einem Schwarzen Brett ist insoweit unzureichend. Eine Rund-E-Mail genügt<br />

nur im Fall einer Lesebestätigung durch den Arbeitnehmer und ist zu Dokumentationszwecken daher nur<br />

bedingt geeignet. Hinzukommt, dass mit Blick auf die jeweils offenen Urlaubstage je Arbeitnehmer keine<br />

konkrete Unterrichtung des einzelnen Arbeitnehmers, sondern nur eine pauschale Information aller<br />

Arbeitnehmer über den Verfall der Urlaubsansprüche in Betracht kommt.<br />

Nach dem EuGH-Urteil sind weitere Einzelheiten der konkreten Handlungspflichten für den Arbeitgeber<br />

derzeit nicht geklärt. So werden weitere Entscheidungen der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung die<br />

Frage zu beantworten haben, welchen konkreten Umfang die den Arbeitgeber treffende Informationspflicht<br />

hat und wann eine Aufklärung als noch rechtzeitig zu qualifizieren ist. Ferner wird zu klären sein, in<br />

welcher Art und in welchem Ausmaß organisatorische Vorkehrungen nötig sind, um im Streitfall eine<br />

Exkulpation zu bewirken und somit etwaige Ansprüche von Arbeitnehmern abwehren zu können.<br />

Formulierungsbeispiel:<br />

Betreff: Verfall Ihres Urlaubs zum Ende des Jahres<br />

Sehr geehrte/r Frau/Herr (…),<br />

zurzeit beträgt Ihr Resturlaub für das Kalenderjahr (…) insgesamt noch (…) Urlaubstage. Wir möchten Sie<br />

bitten, diesen Resturlaub bis zum Jahresende in Anspruch zu nehmen. Bitte stimmen Sie Ihren Urlaub mit<br />

Ihrem Vorgesetzten bzw. Ihren Kollegen für das restliche Jahr zeitnah und verbindlich ab.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 401


Fach 17, Seite 1362<br />

Urlaubsrecht – Update<br />

Arbeitsrecht<br />

Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass Ihr vorgenannter Rest-Urlaubsanspruch grundsätzlich ersatzlos<br />

verfällt, falls Sie diesen nicht bis zum Jahresende in Anspruch genommen haben. Dies gilt nach § 7 Abs. 3<br />

S. 2 BUrlG lediglich dann nicht, wenn dringende betriebliche Gründe, wie z.B. termingebundene Aufträge,<br />

oder in Ihrer Person liegende Gründe, z.B. eine Arbeitsunfähigkeit, dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung<br />

müssen Sie Ihren Resturlaub bis zum 31.3. (Jahreszahl ergänzen) in Anspruch genommen haben,<br />

ansonsten verfällt er sodann.<br />

Für evtl. Rückfragen steht Ihnen Frau/Herr (…) aus unserer Personalabteilung zur Verfügung.<br />

Mit freundlichen Grüßen<br />

(Unterschrift)<br />

2. Urlaubsanspruch bei Krankheit<br />

a) Langzeiterkrankung<br />

Bereits vor dieser Entscheidung sorgte der EuGH mit einem Urteil zu einer anderen Fallkonstellation<br />

zum Verfall von Urlaub für Aufsehen. Nach den Urteilen in den Rechtssachen „Schultz-Hoff“ (EuGH, Urt.<br />

v. 20.1.2009 – C-350/06, NZA 2009, 135) und „KHS“ (EuGH, Urt. v. 22.11.2011 – C-214/10, NZA 2011, 1333)<br />

verfällt der Urlaubsanspruch langzeiterkrankter Arbeitnehmer dann nicht, wenn der Arbeitnehmer<br />

seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub krankheitsbedingt während des gesamten Bezugszeitraums<br />

oder eines Teils nicht ausüben konnte und seine Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des<br />

Übertragungszeitraums fortgedauert hat.<br />

b) Ansammeln von Urlaub<br />

Allerdings hat der EuGH auch eine Grenze für das Ansammeln von Urlaub gesetzt (EuGH, Urt. v.<br />

22.11.2011 – C-214/10, „KHS“, NZA 2011, 1333). Der langzeiterkrankte Arbeitnehmer kann seine Ansprüche<br />

auf Mindesturlaub nicht uneingeschränkt über mehrere Jahre ansammeln. Der Verfall von Mindesturlaubsansprüchen<br />

langzeiterkrankter Arbeitnehmer kann gesetzlich oder tariflich angeordnet werden,<br />

wenn der entsprechende Übertragungszeitraum hinreichend lang ist, um den Erholungszweck des<br />

Urlaubs für den Arbeitnehmer sicherzustellen. Als hinreichend lang sieht der EuGH einen Übertragungszeitraum<br />

von 15 Monaten nach Ablauf des Kalenderjahres an, für das der Mindestjahresurlaub<br />

entstanden ist. Das BAG (Urt. v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, NZA 2012, 1216) hat sich dieser Rechtsprechung<br />

angeschlossen.<br />

Setzt ein langzeiterkrankter Arbeitnehmer nach seiner Genesung die Arbeit fort, gehen nach einer<br />

Entscheidung des BAG (Urt. v. 9.8.2011 – 9 AZR 425/10, NZA 2012, 29) während der Arbeitsunfähigkeit<br />

angesammelte Ansprüche mit dem Ende des laufenden Kalenderjahres unter, in dem der Arbeitnehmer<br />

nach seiner Genesung die Arbeit fortsetzt. Dies gilt jedoch nur dann, wenn der Arbeitnehmer im<br />

aktuellen Urlaubsjahr so rechtzeitig wieder gesund wird, dass er seinen Urlaub in der verbleibenden Zeit<br />

noch nehmen kann. Dann muss er – um den Verfall des Urlaubs zu verhindern – seinen gesamten,<br />

während der Krankheitszeit angesammelten Urlaub im selben Kalenderjahr bzw. ggf. spätestens zum<br />

Ablauf des Übertragungszeitraums geltend machen.<br />

Hinweis:<br />

Der Erhalt der Urlaubsansprüche im Falle einer unterbliebenen Aufklärung seitens des Arbeitgebers in<br />

Bezug auf den Verfall von Urlaub zum Jahresende wirft Folgeprobleme im Hinblick auf die Gleichstellung<br />

zu langzeiterkrankten Arbeitnehmern auf. Um ein „Ansparen“ von Urlaubsansprüchen bei längerer Erkrankung<br />

zeitlich zu begrenzen, galt bislang, dass in Krankheitsfällen angesparter Urlaub spätestens<br />

15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres verfällt (BAG, Urt. v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, NZA 2012, 1216).<br />

In der Konsequenz würde dies jedoch zu einer Schlechterstellung führen. Auch hier besteht möglicherweise<br />

noch Klärungsbedarf.<br />

402 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Arbeitsrecht Fach 17, Seite 1363<br />

Urlaubsrecht – Update<br />

c) Handlungsempfehlung für Arbeitgeber<br />

Die vorgestellten europarechtlichen Vorgaben beziehen sich nur auf den gesetzlichen Mindesturlaub<br />

von vier Wochen jährlich (vgl. § 3 BUrlG). Weitergehender vertraglicher Mehrurlaub kann arbeitsvertraglich<br />

anderweitig geregelt werden (vgl. BAG, Urt. v. 12.11.2013 – 9 AZR 551/12, NZA 2014, 383).<br />

Hinweis:<br />

So sollte arbeitsvertraglich geregelt werden, dass der von dem Arbeitnehmer bereits genommene Urlaub<br />

zuerst auf den gesetzlichen Mindesturlaub angerechnet wird. Sodann sollte ausdrücklich vereinbart<br />

werden, dass nicht genommener vertraglicher Mehrurlaub grundsätzlich mit Ende des Jahres verfällt,<br />

unabhängig davon, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer dazu auffordert, den vertraglichen Mehrurlaub<br />

bis zum Ende des Kalenderjahres in Anspruch zu nehmen.<br />

Fehlt hingegen eine ausdrückliche arbeitsvertragliche Differenzierung zwischen gesetzlichen Mindesturlaub<br />

und den vertraglichen Mehrurlaub, ist von einer einheitlichen Handhabung entsprechend der<br />

europarechtlichen Vorgaben auszugehen.<br />

III. Urlaubsabgeltung<br />

Urlaub dient grundsätzlich der Erholung und ist daher in natura zu nehmen. Im bestehenden<br />

Arbeitsverhältnis darf der Urlaub nicht durch eine Urlaubsabgeltung ersetzt werden.<br />

1. Beendigung des Arbeitsverhältnisses<br />

Endet das Arbeitsverhältnis und kann der Urlaub dadurch nicht mehr gewährt und genommen werden,<br />

wandelt sich der Urlaubanspruch gem. § 7 Abs. 4 BUrlG in einen Urlaubsabgeltungsanspruch. Die<br />

Abgeltung von nicht in Anspruch genommenen Urlaub ist daher nur unter bestimmten Voraussetzungen<br />

bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses möglich. Endet das Arbeitsverhältnis durch eine<br />

Kündigung oder einvernehmlich, ergeben sich regelmäßig keine Probleme mit der Abgeltung.<br />

2. Vererbbarkeit des Anspruchs auf Urlaubsabgeltung<br />

a) Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Todesfalls beendet<br />

Problematisch ist jedoch, was mit noch nicht in natura genommenen Urlaubsansprüchen passiert, wenn<br />

das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers beendet wird. Grundsätzlich gilt, dass das<br />

gesamte Vermögen der verstorbenen Person auf den bzw. die Erben übergeht (sog. Gesamtrechtsnachfolge).<br />

Dies schließt bereits vom verstorbenen Arbeitnehmer erworbene Ansprüche auf Abgeltung<br />

von Urlaubsansprüchen mit ein. Das BAG hatte folglich in den Fällen, in denen das Arbeitsverhältnis, z.B.<br />

durch eine Kündigung oder einen Aufhebungsvertrag, bereits beendet war, als der Arbeitnehmer<br />

verstarb, einen Übergang des Urlaubsabgeltungsanspruchs auf die Erben anerkannt. Nach der Aufgabe<br />

der sog. Surrogationstheorie (BAG, Urt. v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, NZA 2012, 1<strong>08</strong>7) sah das BAG in dem<br />

Abgeltungsanspruch nicht mehr ein Surrogat des Urlaubsanspruchs, sondern einen reinen Geldanspruch,<br />

der im Wege der Universalsukzession gem. § 1922 BGB auf die Erben des Arbeitnehmers<br />

übergehen kann. In der beschriebenen Konstellation, dass das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des<br />

Todesfalls schon beendet ist, ist der Urlaubsabgeltungsanspruch bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses<br />

entstanden und geht als Bestandteil des Gesamtvermögens des Verstorbenen auf die Erben über<br />

(BAG, Urt. v. 22.9.2015 – 9 AZR 170/14, NZA 2016, 37).<br />

b) Bestehendes Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Todes<br />

Anders entschied das BAG bislang in Bezug auf den Urlaubsanspruch des verstorbenen Arbeitnehmers.<br />

Aufgrund der Rechtsnatur des Urlaubs – Freistellung von der höchstpersönlichen Arbeitsverpflichtung –<br />

ging das BAG lange Zeit davon aus, dass der zum Zeitpunkt des Todes (noch) bestehende Urlaubsanspruch<br />

untergehe, weil mit dem Tod des Arbeitnehmers die Verpflichtung zur Arbeit unter- und nicht<br />

auf die Erben übergehe (BAG, Urt. v. 20.9.2011 – 9 AZR 416/10, NZA 2012, 326). Erben könnten nicht von<br />

der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt werden. Konsequenterweise konnte bei dieser Betrachtung<br />

auch kein Abgeltungsanspruch der Erben entstehen. Dies beruhe auf dem Umstand, dass der<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 403


Fach 17, Seite 1364<br />

Urlaubsrecht – Update<br />

Arbeitsrecht<br />

Zeitpunkt des Versterbens wenigstens um eine logische Sekunde vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses<br />

liege und damit in dem Zeitpunkt, der für den Übergang der Erbmasse auf die Erben relevant ist, de facto<br />

kein Urlaubsabgeltungsanspruch bestehe. Bestandteil der Erbmasse war danach „lediglich“ der Anspruch<br />

des verstorbenen Arbeitnehmers auf Gewährung von bezahltem Urlaub, das heißt Befreiung von<br />

der Arbeitspflicht unter Zahlung der Urlaubsvergütung.<br />

Bereits durch die Entscheidung des EuGH in Sachen „Bollacke“ (EuGH, Urt. v. 12.6.2014 – C-118/13, NZA<br />

2014, 651) wurde diese Rechtsprechung jedoch aufgebrochen. In diesem Fall verstarb der Arbeitnehmer<br />

während des laufenden Arbeitsverhältnisses und besaß noch offene Urlaubsansprüche (nicht: Urlaubsabgeltungsansprüche!).<br />

Nach dem Urteil des EuGH geht auch in dieser Konstellation der Urlaubsanspruch<br />

des verstorbenen Arbeitnehmers auf die Erben über. Der EuGH wies insbesondere darauf hin,<br />

dass der einschlägige Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) nicht dahin ausgelegt<br />

werden könne, dass der Anspruch durch den Tod des Arbeitnehmers untergehe. Der EuGH urteilte, der<br />

Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub sei ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der<br />

Europäischen Union, von dem nicht abgewichen werden dürfe. Es könne nicht entscheidend sein, ob der<br />

Verstorbene bereits bei seinem Arbeitgeber einen Antrag auf Abgeltung gestellt habe.<br />

Das BAG legte sodann dem EuGH die Frage vor, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 oder Art. 31 Abs. 2 der<br />

Charta dem Erben eines während des Arbeitsverhältnisses verstorbenen Arbeitnehmers einen<br />

Anspruch auf einen finanziellen Ausgleich für den dem Arbeitnehmer vor seinem Tod zustehenden<br />

Mindestjahresurlaub einräume, was nach § 7 Abs. 4 BUrlG i.V.m. § 1922 Abs. 1 BGB ausgeschlossen sei.<br />

Diese Frage bejahte der EuGH in den Sachen „Bauer“ und „Willmeroth“ mit den Urteilen vom 6.11.2018<br />

(C-569/16, „Bauer“ und C-570/16, „Willmeroth“, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 643/2018 = NZA 2018, 1467). Der EuGH<br />

führte aus, dass die entsprechenden nationalen Regelungen entweder richtlinienkonform ausgelegt<br />

werden oder aber für den Fall, dass dies nicht möglich sei, unangewendet bleiben müssen. Er bekräftigte<br />

erneut, dass der Urlaubsanspruch zwei gleichgewichtige Komponenten beinhalte – zum<br />

einen die Befreiung von der Arbeitspflicht zwecks Erholung und Entspannung des Arbeitnehmers und<br />

zum anderen die Bezahlung auf der anderen Seite. Im Falle des Todes des Arbeitnehmers während der<br />

Fortdauer des Arbeitsverhältnisses gehe nur der erste Teil unter, der zweite bleibe jedoch bestehen.<br />

Voraussetzung für den Zahlungsanspruch sei lediglich die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und<br />

das Bestehen der Urlaubsansprüche zu diesem Zeitpunkt. Die Ursache der Beendigung sei dagegen<br />

unerheblich.<br />

Ausgehend von dieser Rechtsprechung des EuGH hat sich nunmehr das BAG in seinem Urt. v. 22.1.<strong>2019</strong><br />

(9 AZR 45/16, bislang nur als Pressemitteilung 1/19 vorliegend) entschieden, das deutsche Urlaubsrecht<br />

unionsgerecht auszulegen. Die nach dem europäischen Unionsrecht gebotene Auslegung der §§ 1, 7<br />

Abs. 4 BUrlG ergebe, dass der Resturlaub auch dann abzugelten sei, wenn das Arbeitsverhältnis durch<br />

den Tod des Arbeitnehmers ende. Der EuGH habe entschieden, dass der durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie<br />

2003/88/EG gewährleistete Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub nicht mit dem Tod des<br />

Arbeitnehmers im laufenden Arbeitsverhältnis untergehen dürfe, ohne dass ein Anspruch auf finanzielle<br />

Vergütung für diesen Urlaub bestehe, der im Wege der Erbfolge auf den Rechtsnachfolger des<br />

Arbeitnehmers überzugehen hat. Daraus folge für die richtlinienkonforme Auslegung von §§ 1, 7 Abs. 4<br />

BUrlG, dass die Vergütungskomponente des Anspruchs auf den vor dem Tod nicht mehr genommenen<br />

Jahresurlaub als Bestandteil des Vermögens Teil der Erbmasse werde.<br />

Folglich ist zukünftig bei einem Versterben des Arbeitnehmers der nicht genommene Urlaub – wie bei<br />

einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Kündigung oder Aufhebungsvertrag – durch Zahlung<br />

an den oder die Erben abzugelten. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass infolge der weiteren aktuellen<br />

Entscheidungen des EuGH bzw. des BAG zur Frage des Urlaubsverfalls ohne Urlaubsantrag und bei<br />

länger andauernder Erkrankung des (später versterbenden) Arbeitnehmers das Erbe mit Blick auf den<br />

Urlaub durchaus einen finanziell nicht unerheblichen Punkt darstellen kann.<br />

404 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Arbeitsrecht Fach 17, Seite 1365<br />

Urlaubsrecht – Update<br />

c) Handlungsempfehlung für Arbeitgeber<br />

Will der Arbeitgeber verhindern, dass noch nach längerer Zeit die Erben seines ehemaligen Arbeitnehmers<br />

Urlaubsabgeltungsansprüche geltend machen, sollten in Arbeitsverträgen Ausschlussfristen<br />

vereinbart werden. Solche Klauseln sehen vor, dass alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb<br />

einer bestimmten Frist – von mindestens drei Monaten – geltend zu machen sind. Während Urlaubsansprüche<br />

von Ausschlussfristen nicht erfasst werden, da sie einem eigenständigen Fristenregime<br />

unterliegen, unterfallen ihnen hingegen Ansprüche auf Urlaubsabgeltung. Bei Verwendung wirksamer<br />

Ausschlussfristen besteht folglich nur für einen überschaubaren, kurzen Zeitraum eine Unsicherheit<br />

für den Arbeitgeber darüber, ob er einen finanziellen Ausgleich für nicht genommenen Urlaub des<br />

verstorbenen Arbeitnehmers an dessen Erben zu zahlen hat. Für die Erben des verstorbenen<br />

Arbeitnehmers bedeutet eine solche Regelung, dass sie Ansprüche auf finanziellen Ausgleich rechtzeitig<br />

vor Ablauf der vertraglichen Ausschlussfrist geltend machen müssen.<br />

Hinweis:<br />

Darüber hinaus kann der Arbeitgeber für den arbeitsvertraglichen Mehrurlaub vertraglich regeln, dass<br />

etwaige Resturlaubsansprüche nicht vererblich sind. Hierzu ist allerdings – wie bei dem Verfall von Urlaubsansprüchen<br />

zum Ende eines Kalenderjahres – eine Differenzierung zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaub<br />

und dem vertraglich vereinbarten Mehrurlaub in der Arbeitsvertragsbestimmung erforderlich.<br />

IV.<br />

Kürzung des Urlaubs<br />

1. Elternzeit<br />

Der Arbeitgeber muss vor Beginn der Elternzeit nicht in Anspruch genommenen Urlaub nach der<br />

Elternzeit im laufenden oder im darauffolgenden Kalenderjahr gewähren. Endet das Arbeitsverhältnis<br />

während der Elternzeit oder direkt im Anschluss an die Elternzeit, so muss der noch nicht genommene<br />

Urlaub abgegolten werden.<br />

Allerdings kann der Arbeitgeber gem. § 17 Abs. 1 BEEG für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit den<br />

Urlaubsanspruch um ein Zwölftel kürzen, sofern der Arbeitnehmer während der Elternzeit keine<br />

Teilzeitbeschäftigung bei ihm ausübt. Dazu muss der Arbeitgeber von dieser Kürzungsbefugnis<br />

Gebrauch machen. Eine automatische Kürzung tritt nicht ein! Die Kürzung muss während des<br />

bestehenden Arbeitsverhältnisses und kann vor, während und nach der Elternzeit erklärt werden.<br />

Mit der Entscheidung in der Sache „Dicu“ vom 4.10.2018 hat der EuGH nunmehr bestätigt, dass eine<br />

solche Kürzungsmöglichkeit mit dem Unionsrecht vereinbar ist (EuGH, Urt. v. 4.10.2018 – C-12/17, Dicu,<br />

NZA 2018, 1323).<br />

Praxishinweis:<br />

Es bietet sich an, mit Bestätigung der Elternzeit (vgl. § 16 Abs. 1 S. 6 BBEG) bereits eine entsprechende<br />

Kürzungserklärung auszusprechen.<br />

Das BAG hat in einem aktuellen Urteil (v. 19.3.<strong>2019</strong> – 9 AZR 362/18, bislang nur als Pressemitteilung<br />

16/19 vorliegend) die vorstehende Kürzungsmöglichkeit und damit seine bisherige Rechtsprechung<br />

nochmals bestätigt: In dem zugrunde liegenden Urteil hatte die Arbeitnehmerin bis Ende 2015<br />

Elternzeit in Anspruch genommen. Das Arbeitsverhältnis endete zum 30.6.2016. Im März 2016<br />

beantragte die Arbeitnehmerin Urlaub unter Einbeziehung der während der Elternzeit entstandenen<br />

Urlaubsansprüche. Der Arbeitgeber erteilte im April den im ersten Halbjahr des Jahres 2016<br />

entstandenen Urlaub, den auf die Elternzeit entfallenden Urlaub lehnte er ab.<br />

Das BAG gab dem Arbeitgeber recht: Die Kürzungsmöglichkeit der Urlaubsansprüche während der<br />

Elternzeit sei europarechtskonform. Das Kürzungsrecht erfasst auch den vertraglichen Mehrurlaub,<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 405


Fach 17, Seite 1366<br />

Urlaubsrecht – Update<br />

Arbeitsrecht<br />

wenn die Arbeitsvertragsparteien für diesen keine von § 17 Abs. 1 BEEG abweichende Regelung getroffen<br />

haben. Die Ablehnung des Urlaubs noch im laufenden Arbeitsverhältnis legte der Senat als Kürzungserklärung<br />

aus.<br />

Hinweis:<br />

Zu beachten ist zudem, dass nur für volle Monate der Elternzeit eine Kürzung des Urlaubsanspruchs<br />

erfolgen darf, nicht aber für solche, die nur anteilig in die Elternzeit fallen.<br />

Schließt sich an eine Elternzeit eine weitere Elternzeit an, so verfällt der Urlaubsanspruch nicht.<br />

Vielmehr erhöht sich der zu übertragende Urlaubsanspruch um die Kalenderjahre, die Elternzeit<br />

genommen werden. Er ist auch in diesem Fall im laufenden oder nächsten Kalenderjahr vom Arbeitnehmer<br />

zu nehmen bzw. vom Arbeitgeber zu gewähren.<br />

2. Sonderurlaub<br />

In einer weiteren Entscheidung hat das BAG (Urt. v. 19.3.<strong>2019</strong> – 9 AZR 315/17, bislang nur als<br />

Pressemitteilung 15/19 vorliegend) nunmehr seine bisherige Rechtsprechung zum gesetzlichen<br />

Urlaubsanspruch bei unbezahlten Sonderurlaub geändert.<br />

Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG (Urt. v. 6.5.2014 – 9 AZR 678/12, NZA 2014, 959) konnten<br />

gesetzliche Urlaubsansprüche auch dann entstehen, wenn der Arbeitnehmer sich auf (seinen eigenen<br />

Wunsch hin) im unbezahlten Sonderurlaub befand. Dieser Sichtweise hat das BAG nunmehr eine Absage<br />

erteilt. Nimmt ein Arbeitnehmer für ein Kalenderjahr durchgehend unbezahlten Sonderurlaub, dann<br />

steht ihm mangels einer Arbeitspflicht kein Anspruch auf Erholungsurlaub zu. Zu berücksichtigen sei,<br />

dass die Arbeitsvertragsparteien ihre Hauptleistungspflichten durch die Vereinbarung von Sonderurlaub<br />

vorübergehend ausgesetzt haben.<br />

In dem jetzt entschiedenen Fall gewährte die Arbeitgeberin der seit vielen Jahren bei ihr beschäftigten<br />

Arbeitnehmerin wunschgemäß in der Zeit vom 1.9.2013 bis zum 31.8.2014 unbezahlten Sonderurlaub, der<br />

einvernehmlich bis zum 31.8.2015 verlängert wurde. Nach Beendigung des Sonderurlaubs verlangt die<br />

Arbeitnehmerin von der beklagten Arbeitgeberin, ihr den gesetzlichen Mindesturlaub von 20 Arbeitstagen<br />

für das Jahr 2014 zu gewähren. Das BAG lehnte den von der Arbeitnehmerin geltend gemachten<br />

Urlaubsanspruch ab und gab somit der Arbeitgeberin recht.<br />

Hinweis:<br />

Ausgehend von der Pressemitteilung des BAG ist mit Blick auf die Praxis entscheidend, dass die Arbeitnehmerin<br />

nicht (nur) „einseitig“ durch die Arbeitgeberin von ihrer Arbeitspflicht vorübergehend befreit<br />

wurde, sondern dass diese vorübergehende Freistellung von der Arbeitsleistung auf einer mit der Arbeitgeberin<br />

abgeschlossenen Vereinbarung beruhte. In diesem Fall haben beide Arbeitsvertragsparteien<br />

gemeinsam die Hauptleistungspflichten suspendiert. In der Praxis sollte auf eine entsprechende Dokumentation<br />

geachtet werden, da das BAG offenbar auf den Willen beider Vertragsparteien abstellt.<br />

V. Fazit<br />

Der vorstehende Rechtsprechungsüberblick zeigt, dass der EuGH immer wieder die Systematik des<br />

deutschen Urlaubsrechts geradezu auf den Kopf stellt. Im Rahmen der Ausarbeitung von Arbeitsvertragsregelungen<br />

ist daher zu raten, die aktuelle europarechtliche und höchstrichterliche deutsche<br />

Rechtsprechung stets im Blick zu haben und die sich daraus ergebenden Vorgaben – bezogen auf das<br />

jeweilige Arbeitsverhältnis – sorgfältig umzusetzen. Denn auch wirtschaftlich erlangt die Urlaubsthematik<br />

mehr und mehr an Bedeutung.<br />

406 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 905<br />

Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />

Verwaltungsprozessrecht<br />

Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO<br />

Von Richter am BVerwG DR. STEPHAN GATZ, Leipzig<br />

Inhalt<br />

I. Einführung<br />

II. System des § 80 VwGO<br />

1. Grundsatz des § 80 Abs. 1 VwGO<br />

2. Ausnahmen nach § 80 Abs. 2 VwGO<br />

3. Regelungen des § 80 Abs. 5 VwGO<br />

III. Aussetzungsantrag in der gerichtlichen<br />

Prüfung<br />

1. Zulässigkeit des Antrags<br />

2. Begründetheit des Antrags<br />

3. Tenorierung<br />

4. Dauer der aufschiebenden Wirkung<br />

5. Beschwerdeverfahren<br />

6. Änderungsverfahren<br />

7. Streitwert<br />

I. Einführung<br />

Die Verwaltungsgerichtsordnung gewährt vorläufigen Rechtsschutz gegenüber behördlichen Einzelakten<br />

nach den §§ 80 bis 80b VwGO und nach § 123 Abs. 1 VwGO, wobei die §§ 80 ff. VwGO Spezialregelungen<br />

gegenüber dem Auffangtatbestand des § 123 Abs. 1 VwGO sind. Dies folgt unmittelbar aus § 123 Abs. 5<br />

VwGO, der die Geltung des § 123 Abs. 1 bis 3 VwGO für die Fälle der §§ 80, 80a VwGO ausschließt.<br />

Die primäre Funktion des vorläufigen Rechtsschutzes, der durch die §§ 80 ff. VwGO und § 123 Abs. 1 VwGO<br />

lückenlos gewährleistet wird, besteht darin, die Effektivität des Hauptsacherechtsschutzes zu sichern. Der<br />

Rechtsschutzsuchende soll davor geschützt werden, dass vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens irreversible<br />

Zustände geschaffen werden, die eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr zulassen (BVerfG NJW 1995,<br />

950, 951). Daneben hat der vorläufige Rechtsschutz eine interimistische Funktion. Soll das Hauptsacheverfahren<br />

zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes offen gehalten werden, bedarf es abschließender gerichtlicher<br />

Zwischenentscheidungen, die den Zeitraum bis zur Entscheidung der Hauptsache überbrücken. Das<br />

Gericht hat vorläufige Anordnungen zu treffen, die den zwischen den Beteiligten bestehenden Streit über die<br />

Hauptsache für die Dauer dieses Zwischenstadiums endgültig regeln und ihn damit zugleich auf Zeit befrieden.<br />

Die Rechtsprechung zum vorläufigen Rechtsschutz ist in der Rechtsprechung weitestgehend gefestigt<br />

und, wie in anderen Rechtsgebieten auch, teilweise von unterschiedlichen Auffassungen geprägt. Hierauf<br />

hat sich der Rechtsuchende einzustellen.<br />

II. System des § 80 VwGO<br />

1. Grundsatz des § 80 Abs. 1 VwGO<br />

§ 80 VwGO enthält in Absatz 1 Satz 1 die Grundregel, dass Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende<br />

Wirkung haben. Bei einem Verwaltungsakt als allein statthaftem Gegenstand dieser Rechts-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 407


Fach 19, Seite 906<br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />

mittel (§§ 42 Abs. 1, 68, 69 VwGO), der dem Adressaten eine Geldleistung, ein Tun, Dulden oder Unterlassen<br />

auferlegt, bedeutet aufschiebende Wirkung, dass für deren Dauer der angefochtene Verwaltungsakt nicht<br />

befolgt zu werden braucht (BVerwGE 63, 74, 77) und nicht vollzogen werden darf (BVerwGE 99, 109, 112). Die<br />

Behörde darf den mit aufschiebender Wirkung angefochtenen Verwaltungsakt auch nicht zum Anlass für<br />

Folgemaßnahmen nehmen. Zum Beispiel darf sie den ausgewiesenen Ausländer nicht daran hindern, erneut<br />

in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten (OVG Schleswig NVwZ-RR 1993, 437, 438).<br />

§ 80 Abs. 1 S. 2 VwGO stellt klar, dass die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage<br />

auch für rechtsgestaltende und feststellende Verwaltungsakte gilt. Rechtsgestaltend ist ein<br />

Verwaltungsakt, durch den Rechtsbeziehungen unmittelbar begründet, aufgehoben oder geändert<br />

werden, beispielweise die Aufhebung einer Genehmigung im Wege des Widerrufs oder der Rücknahme.<br />

Der feststellende Verwaltungsakt dient der Feststellung von Tatsachen oder Rechtsfolgen, z.B. der<br />

Feststellung, dass ein Beamtenverhältnis wegen einer strafgerichtlichen Verurteilung des Beamten gem.<br />

§ 24 Abs. 1 S. 1 BeamtStG kraft Gesetzes zu einem bestimmten Zeitpunkt erloschen ist. Durch die<br />

aufschiebende Wirkung wird der Fortbestand der bisherigen Rechtslage fingiert, d.h. die Behörde hat<br />

jede Maßnahme zu unterlassen, die den Eintritt der in dem rechtsgestaltenden Verwaltungsakt<br />

verfügten Rechtsänderung voraussetzt (BVerwG BUCHHOLZ 310 § 80 VwGO Nr. 23), bzw. darf aus der<br />

getroffenen Feststellung keine rechtlichen oder tatsächlichen Folgen ziehen (VGH Mannheim DVBl. 1976,<br />

548, 549). So wird die Behörde durch den Suspensiveffekt beispielweise daran gehindert, nach<br />

widerrufener Gaststättenerlaubnis gem. § 31 GastG i.V.m. § 15 Abs. 2 S. 1 GewO die Gaststätte zu<br />

schließen. Da der Gaststättenbetreiber so zu behandeln ist, als wäre er noch Erlaubnisinhaber, liegt ein<br />

ungenehmigter Betrieb als Voraussetzung für die Verhinderung seiner Fortsetzung nicht vor. Im Fall der<br />

Feststellung der Beendigung des Dienstverhältnisses nach § 24 Abs. 1 S. 1 BeamtenStG zwingt der<br />

Suspensiveffekt dazu, den ehemaligen Beamten als dienstlich noch aktiven Beamten zu behandeln.<br />

Nach § 80 Abs. 1 S. 2 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage ferner beim Verwaltungsakt mit<br />

Doppelwirkung (§ 80a VwGO) aufschiebende Wirkung. Der Verwaltungsakt mit Doppelwirkung ist ein<br />

Verwaltungsakt, der entweder den Adressaten begünstigt und gleichzeitig einen anderen belastet oder den<br />

Adressaten belastet und dadurch einen anderen begünstigt. Die aufschiebende Wirkung bedeutet: Ficht der<br />

von einer Baugenehmigung (begünstigender Verwaltungsakt) nachteilig in seinen Rechten betroffene<br />

Nachbar die Genehmigung an, so darf von ihr für die Dauer der aufschiebenden Wirkung kein Gebrauch<br />

gemacht und das genehmigte Vorhaben nicht verwirklicht werden. Ficht der von einer Betriebsuntersagung<br />

(belastender Verwaltungsakt) Betroffene die Untersagungsverfügung an, darf der emittierende Betrieb, der<br />

das Objekt der angeordneten Schließung bildet, unter dem Schutz der aufschiebenden Wirkung vorerst<br />

weitergeführt werden und bleiben die Nachbarn bis auf Weiteres den schädlichen Immissionen ausgesetzt.<br />

Hinweis:<br />

Umstritten ist, ob dem unzulässigen Hauptsacherechtsbehelf aufschiebende Wirkung zukommt (s. im<br />

Einzelnen FINKELNBURG/DOMBERT/KÜLPMANN, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl.<br />

2017, Rn 646 ff.). Für die bedeutsamste Fallgestaltung, den verfristeten Rechtsbehelf, hat sich die Meinung<br />

in Rechtsprechung und Literatur (BVerwGE 20, 240, 243; VGH Kassel ESVGH 21, 97, 99; VGH Mannheim<br />

VBlBW 1992, 152; OVG Weimar LKV 1994, 4<strong>08</strong>; KOPP/SCHENKE, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 80 Rn 130; SCHOCH/<br />

SCHNEIDER/BIER, VwGO, § 80 Rn 84) dahingehend verfestigt, dass ein verfristeter Rechtsbehelf keine aufschiebende<br />

Wirkung hat, weil es zu keiner gerichtlichen Überprüfung des Verwaltungsakts mehr kommen<br />

kann und deshalb für die Sicherung der Effektivität des Rechtsschutzes in der Hauptsache kein Raum ist.<br />

Etwas anderes ist lediglich dann anzunehmen, wenn der durch einen bestandskräftigen Verwaltungsakt<br />

Belastete einen noch nicht beschiedenen, nicht offensichtlich aussichtslosen Antrag auf Wiedereinsetzung<br />

in den vorigen Stand gestellt hat (KOPP/SCHENKE, a.a.O., § 80 Rn 130).<br />

2. Ausnahmen nach § 80 Abs. 2 VwGO<br />

In den in § 80 Abs. 2 VwGO abschließend aufgezählten Fällen ist die aufschiebende Wirkung ausgeschlossen.<br />

Die Regelung dient der Sicherung der Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Sicherstellung<br />

4<strong>08</strong> <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 907<br />

Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />

der Vollziehbarkeit der dafür erforderlichen Verwaltungsakte. Auch soll sich der Adressat seinen Verpflichtungen<br />

nicht einfach durch Einlegung eines Rechtsmittels entziehen können.<br />

a) Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten<br />

Nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO entfällt die aufschiebende Wirkung bei der Anforderung von<br />

öffentlichen Abgaben und Kosten. Die Bestimmung soll in erster Linie gewährleisten, dass die Finanzierung<br />

notwendiger öffentlicher Aufgaben nicht gefährdet wird.<br />

Öffentliche Abgaben i.S.v. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO sind nicht alle einem öffentlichen Gemeinwesen<br />

geschuldeten Leistungen, sondern nur diejenigen, die eine Finanzierungsfunktion für den öffentlichen<br />

Haushalt haben und damit dem öffentlichen Interesse an einem steten Zufluss der zur Finanzierung der<br />

öffentlichen Haushalte bestimmten Abgaben den Vorrang vor dem Interesse des Abgabenschuldners<br />

einräumen, nicht vor Eintritt der Bestandskraft des Heranziehungsbescheids zahlen zu müssen. Abgaben<br />

sind hiernach Steuern, soweit für sie der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist, also die Gemeindesteuern (z.B.<br />

Grundsteuer, Zweitwohnungssteuer), Gebühren (z.B. Kanalbenutzungsgebühren, Kindergartengebühren)<br />

und Beiträge (z.B. Erschließungsbeiträge einschließlich der Vorauszahlungen nach §§ 127 ff. BauGB, Beiträge<br />

für die Mitgliedschaft in berufsständischen Interessenvertretungen). Sonstige nach festen Sätzen bestimmte<br />

öffentlich-rechtliche Geldleistungen fallen unter § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO, wenn sie zumindest in<br />

nennenswertem Umfang der Deckung des Finanzierungsbedarfs eines Gemeinwesens dienen, wie z.B. die<br />

Kreisumlage (OVG Saarlouis KStZ 1994, 112).<br />

Keine Abgaben i.S.d. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO sind Geldforderungen, die primär anderen Zwecken als<br />

der Finanzierung des öffentlichen Haushalts dienen. Dazu gehört der Anspruch einer Gemeinde auf<br />

Erstattung von Kosten einer Hausanschlussleitung zum öffentlichen Kanalnetz, d.h. der Leitungsstrecke<br />

auf dem Privatgrundstück zwischen Kontrollschacht/Übergabestelle an der Grundstücksgrenze<br />

und dem Gebäude. Bei diesem Anspruch handelt es sich nämlich um einen satzungsrechtlich geregelten,<br />

dem zivilrechtlichen Aufwendungsersatz für eine Geschäftsführung ohne Auftrag nachgebildeten<br />

Anspruch. Er gilt dem Ersatz von Aufwendungen, die bei der Wahrnehmung einer Verpflichtung des<br />

Schuldners, der Herstellung von Hausanschlussleitungen in Erfüllung seiner Anschlussverpflichtung,<br />

entstanden sind. Diese Kosten stellen einen reinen Durchlaufposten dar, nicht eine Einnahmequelle, aus<br />

der ganz allgemein Ausgaben bestritten werden können (OVG Greifswald NVwZ-RR 2001, 401, 402).<br />

Praxishinweis:<br />

Dies wird in der anwaltlichen Praxis gelegentlich übersehen, weil die Kosten für die Hausanschlussleitungen<br />

nicht unterschieden werden von den Kanalbaubeiträgen, d.h. den Beiträgen für das öffentliche<br />

Kanalnetz (Hauptsammler, Klärwerk etc.), deren Anforderung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO sofort<br />

vollziehbar ist.<br />

Ebenfalls nicht zu den Abgaben i.S.d. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO zählt die Ausgleichsabgabe, die<br />

Arbeitgeber gem. § 160 Abs. 1 S. 1 SGB IX für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz für schwerbehinderte<br />

Menschen entrichten müssen, solange sie die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen nicht<br />

beschäftigen. Die Ausgleichsabgabe soll den Arbeitgeber zur Erfüllung der Quote veranlassen und dient<br />

dem Kostenausgleich zwischen den Arbeitgebern, die ihre Pflicht zur Beschäftigung Schwerbehinderter<br />

erfüllen, und denen, die dieser Pflicht nicht nachkommen. Einnahmeerzielung ist nicht ihr Zweck.<br />

Der Begriff der öffentlichen Kosten bezieht sich allein auf die Verwaltungsgebühren und Auslagen, die in<br />

einem Verwaltungsverfahren für die öffentlich-rechtliche Tätigkeit einer Behörde nach Maßgabe des jeweils<br />

anzuwenden Verwaltungskostenrechts und den dort normierten Tatbeständen entstanden sind (OVG<br />

Magdeburg NVwZ-RR 2017, 347 Rn 9). Deshalb unterfallen der Nr. 1 weder die Kosten, die die Polizeibehörde<br />

für die unmittelbare Ausführung von Maßnahmen ohne einen vorausgegangenen Verwaltungsakt gegen<br />

den Störer geltend macht (VGH Mannheim NVwZ 1986, 933), noch die Kosten, die im Rahmen der<br />

Vollstreckung eines Verwaltungsakts anfallen (FINKELNBURG/DOMBERT/KÜLPMANN, a.a.O., Rn 690).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 409


Fach 19, Seite 9<strong>08</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />

b) Unaufschiebbare Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten<br />

§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO schließt die aufschiebende Wirkung bei unaufschiebbaren Anordnungen und<br />

Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten aus. Zur Vollzugspolizei sind Schutz- und Bereitschaftspolizei<br />

zu rechnen, nicht jedoch die polizeilichen Ordnungsbehörden (OVG Münster OVGE 34, 240, 242, betr.<br />

Kreisordnungsbehörde). Ihre Verwaltungsakte sind unaufschiebbar, wenn der mit ihnen beabsichtigte<br />

Zweck mit hoher Wahrscheinlichkeit nur bei sofortiger Durchsetzung erreichbar ist. Dies ist u.a. bei<br />

verkehrsregelnden Maßnahmen oder der Auflösung einer Versammlung der Fall. Den verkehrsregelnden<br />

Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten stehen die Verkehrsregelungen durch Verkehrszeichen gleich<br />

(BVerwG NJW 1982, 348; NVwZ 1988, 623).<br />

c) Sonstige durch Bundes- oder Landesgesetz vorgeschriebene Fälle<br />

Nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO entfällt die aufschiebende Wirkung in den durch Bundesgesetz oder<br />

durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen<br />

Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen.<br />

Der Bundesgesetzgeber hat die aufschiebende Wirkung namentlich in ordnungsrechtlichen (z.B. § 84<br />

Abs. 1 AufenthG, § 75 AsylG), wirtschaftsrechtlichen (z.B. § 6a Abs. 2 S. 3 VermG, § 12 Abs. 1 InVorG),<br />

fachplanungsrechtlichen (§ 18e Abs. 2 S. 1 AEG, § 43e Abs. 1 S. 1 EnWG, § 17 Abs. 2 S. 9 FStrG, § 10 Abs. 4 S. 1<br />

LuftVG, § 29 Abs. 6 S. 2 PBefG, § 5 Abs. 2 S. 1 VerkPBG, § 14e Abs. 2 S. 1 WaStrG), bau- und<br />

raumordnungsrechtlichen (z.B. § 212a Abs. 1, Abs. 2 BauGB, § 12 Abs. 3 ROG) sowie wehrrechtlichen (z.B.<br />

§35S.1WPflG, § 74 ZDG) Bestimmungen ausgeschlossen. Nicht unter Nr. 3 fallen die Ermächtigungen zu<br />

vorläufigen Regelungen, z.B. die Ermächtigung zur Erteilung vorläufiger Erlaubnisse für den Linienverkehr<br />

nach § 20 PBefG. Bei ihnen handelt es sich nicht um Regelungen der Vollziehbarkeit von<br />

Verwaltungsakten, sondern um Vorschriften, die den Erlass vorläufiger Verwaltungsakte ermöglichen,<br />

die ihrerseits in vollem Umfang dem § 80 VwGO unterliegen (KOPP/SCHENKE, a.a.O., § 80 Rn 67).<br />

Der wichtigste Regelungsbereich, in dem die Länder den Suspensiveffekt regelmäßig ausgeschlossen<br />

haben, ist derjenige der Verwaltungsvollstreckung. Soweit es um die Vollstreckung von Verwaltungsakten<br />

geht, die unter Anwendung von Bundesrecht erlassen worden sind, ist die Ermächtigung zum<br />

Ausschluss des Suspensiveffekts in § 80 Abs. 2 S. 2 VwGO enthalten. Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung<br />

sind Verwaltungsakte nach Maßgabe der Verwaltungsvollstreckungsgesetze, d.h. Androhung,<br />

Anordnung und Festsetzung von Zwangsmitteln, Anforderung des Kostenvorschusses für die<br />

Ersatzvornahme, Pfändung von Forderungen oder Sachen sowie sonstige Vollstreckungsakte, die ihre<br />

Rechtsgrundlagen im sonstigen Bundes- oder Landesrecht haben.<br />

d) Anordnung der sofortigen Vollziehung durch eine Behörde<br />

§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO ermächtigt die (Ausgangs- und Widerspruchs-)Behörde, imkonkreten Fall<br />

die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise, befristet, mit einer Auflage, unter einer Bedingung usw.<br />

durch Anordnung der sofortigen Vollziehung auszuschließen. Voraussetzung ist ein besonderes<br />

öffentliches oder überwiegendes Interesse eines Beteiligten hieran. Dieses Interesse ist nicht identisch<br />

mit dem öffentlichen Interesse, das dem Erlass eines jeden Verwaltungsakts zugrunde liegt, sondern<br />

geht darüber hinaus (BVerfG NVwZ 2005, 1053, 1054). Die Vollziehung des Verwaltungsakts muss so<br />

dringlich sein, dass es gerechtfertigt ist, den Anspruch des Einzelnen auf vorläufige Bewahrung des<br />

Status quo zurückzustellen. Ob das der Fall ist, ist im Wege der Abwägung zu ermitteln, in die alle mit<br />

dem Vollzug des Verwaltungsakts unmittelbar verbundenen bzw. dem Vollzug entgegenstehenden<br />

Interessen einzustellen sind.<br />

3. Regelungen des § 80 Abs. 5 VwGO<br />

a) Aussetzungsantrag gem. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO<br />

Nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache – das ist das Gericht, bei dem die<br />

Hauptsache bereits anhängig ist bzw. wenn noch keine Klage erhoben ist, dort, wo die Klage zu erheben<br />

wäre – auf Antrag die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage in den Fällen des<br />

410 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 909<br />

Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />

§ 80 Abs. 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen, im Fall des § 80 Abs. 5 Abs. 2 S. 1<br />

Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Die Regelung nimmt ihrem Wortlaut und ihrer<br />

Zielrichtung nach Bezug auf § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO (OVG Münster DÖV 1983, 1024, 1025). Aus dessen<br />

Formulierung, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, ergibt sich,<br />

dass nur der der Anfechtungsklage vorausgehende Widerspruch, d.h. der Anfechtungswiderspruch,<br />

gemeint ist. An einen Verpflichtungswiderspruch kann grundsätzlich kein Aussetzungsantrag geknüpft<br />

werden. Es ist deshalb verfehlt, wenn sich ein Betroffener gegen die Versagung einer Genehmigung mit<br />

Widerspruch und Aussetzungsantrag in der Erwartung zur Wehr setzt, die genehmigungsbedürftige<br />

Tätigkeit für die Dauer des Hauptsacheverfahrens ausüben zu dürfen. Die Erhebung eines Widerspruchs<br />

gegen die Versagung einer Genehmigung ändert nichts daran, dass die zur Genehmigung gestellte<br />

Tätigkeit verboten bleibt. Vorläufiger Rechtsschutz ist hier nur über § 123 Abs. 1 VwGO zu erreichen.<br />

Hinweis:<br />

Etwas anderes gilt allerdings dort, wo die Ablehnung eines beantragten Verwaltungsakts eine über sie<br />

hinausreichende Belastungswirkung entfaltet. Dies ist nur ausnahmsweise der Fall, z.B. bei der Ablehnung<br />

eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung einer ausländerrechtlichen Aufenthaltsgenehmigung. Die<br />

Ablehnung hat zur Folge, dass die Fiktion des erlaubten Aufenthalts nach § 81 Abs. 3 S. 1, Abs. 4 S. 1 AufenthG<br />

endet. Hier muss ein Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO gegen die Versagung der Aufenthaltsgenehmigung<br />

gerichtet werden, damit durch die Suspendierung der Versagung die Fiktion wieder aufleben kann (OVG<br />

Bremen EzAR-NF 33 Nr. 27).<br />

b) Folgenbeseitigung nach § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO<br />

Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung schon vollzogen – was auch der Fall<br />

ist, wenn der Betroffene unter dem Druck drohender Vollstreckung von sich aus den Verwaltungsakt<br />

befolgt hat (VGH Kassel NVwZ 1995, 1027, 1029) –, kann das Gericht nach § 80 Abs. 5 Abs. 5 S. 3 VwGO<br />

die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Bestimmung ermächtigt das Gericht zur Folgenbeseitigung.<br />

Sie hat rein verfahrensrechtliche Bedeutung (OVG Greifswald GewArch 1996, 76, 77),<br />

während die materielle Grundlage der allgemeine Folgenbeseitigungsanspruch i.V.m. dem einschlägigen<br />

materiellen Recht ist (OVG Münster a.a.O.).<br />

Hinweis:<br />

Zu beachten ist, dass sich ein Eilantrag nicht auf die Aufhebung von Vollzugsmaßnahmen nach Satz 3 beschränken<br />

darf. Es bedarf zusätzlich eines – nur auf Antrag zulässigen – Ausspruchs über die Aussetzung der<br />

Vollziehung nach Satz 1, weil die Aufhebung der Vollziehung notwendig auch die Beseitigung der Vollziehbarkeit<br />

des Verwaltungsakts, die die Grundlage der Vollziehung gebildet hat, voraussetzt (VGH Mannheim<br />

NJW 1979, 2528).<br />

Die Aufhebung der Vollziehung eines erledigten Verwaltungsakts ist allerdings nicht mehr möglich, da<br />

ein solcher Verwaltungsakt nicht mit einem Aussetzungsantrag angegriffen werden kann (FINKELNBURG/<br />

DOMBERT/KÜLPMANN, a.a.O., Rn 1024).<br />

III. Aussetzungsantrag in der gerichtlichen Prüfung<br />

Wie bei einer Klage nimmt das Gericht auch bei einem Aussetzungsantrag eine zweigeteilte Prüfung<br />

nach Zulässigkeit und Begründetheit vor.<br />

1. Zulässigkeit des Antrags<br />

a) Allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzungen<br />

Die Zulässigkeit eines Aussetzungsantrags setzt voraus, dass der Verwaltungsrechtsweg (§ 40 Abs. 1<br />

VwGO) gegeben ist. Da der Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung des Suspensiveffekts von<br />

Widerspruch und Anfechtungsklage abzielt, muss er gegen einen nach § 80 Abs. 2 VwGO sofort<br />

vollziehbaren Verwaltungsakt (§ 35 VwVfG) gerichtet sein. Ausnahmsweise kann auch ein Verwaltungs-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 411


Fach 19, Seite 910<br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />

akt, der nicht sofort vollziehbar ist, Gegenstand eines Aussetzungsantrags sein, und zwar dann, wenn die<br />

Behörde die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs in Frage stellt. Gegenüber drohenden<br />

Verwaltungsakten ist nicht das Aussetzungsverfahren, sondern allenfalls das Verfahren nach § 123 Abs. 1<br />

VwGO statthaft. Erforderlich ist ferner die Antragsbefugnis in analoger Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO.<br />

b) Besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen<br />

aa) Vorherige oder gleichzeitige Einlegung eines Rechtsbehelfs zur Hauptsache<br />

Streitig ist, ob die Zulässigkeit eines Aussetzungsantrags von der vorherigen oder gleichzeitigen<br />

Einlegung eines Rechtsbehelfs in der Hauptsache abhängig ist (bejahend OVG Münster NVwZ-RR 1996,<br />

184; OVG Weimar LKV 1994, 4<strong>08</strong>; OVG Koblenz NJW 1995, 1043; REDEKER/VON OERTZEN, VwGO, 16. Aufl.<br />

2014, § 80 Rn 54; verneinend VGH München DVBl. 1988, 590, 591; VGH Mannheim DVBl. 1995, 303; KOPP/<br />

SCHENKE, a.a.O., § 80 Rn 139). Richtig ist, dass jedenfalls zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein<br />

Rechtsbehelf in der Hauptsache eingelegt sein muss (EYERMANN, VwGO, 15. Aufl. <strong>2019</strong>, § 80 Rn 51); denn<br />

die Anordnung oder Wiederherstellung des Suspensiveffekts von Widerspruch und Anfechtungsklage<br />

setzt die Einlegung eines solchen Rechtsmittels denkgesetzlich voraus. Die Annahme, ein Gericht werde<br />

die aufschiebende Wirkung eines noch einzulegenden Rechtsbehelfs anordnen oder wiederherstellen,<br />

wäre lebensfremd. Realistischerweise hat das Gericht die beiden Optionen, entweder den Antrag sofort<br />

mangels Rechtsschutzbedürfnisses abzulehnen oder die Einlegung des Rechtsbehelfs abzuwarten. Ein<br />

Zeitgewinn lässt sich mit einem vorgezogenen Eilantrag nicht erzielen.<br />

bb) Antragsgegner<br />

Richtiger Antragsgegner ist in analoger Anwendung des § 78 Abs. 1 VwGO grundsätzlich die Körperschaft<br />

oder, wenn das Landesrecht dies vorsieht, deren Behörde, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen<br />

hat. Ob dies auch gilt, wenn die Widerspruchsbehörde die sofortige Vollziehung angeordnet hat, wird<br />

kontrovers beurteilt. Während die überwiegende Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum wegen des<br />

akzessorischen Charakters des Eilverfahrens zum Hauptsacheverfahren auch hier die Ausgangsbehörde<br />

als richtigen Antragsgegner ansieht (VGH Kassel NVwZ 1990, 677; OVG Lüneburg NJW 1989, 2147, 2148;<br />

VGH Mannheim NVwZ 1995, 1220, 1221; VGH München BayVBl. 1984, 598; FINKELNBURG/DOMBERT/KÜLPMANN,<br />

a.a.O., Rn 903), ist nach der gegenteiligen Auffassung der Aussetzungsantrag gegen die Widerspruchsbehörde<br />

zu richten, weil diese hinsichtlich des Erlasses der Vollzugsanordnung Ausgangsbehörde sei (OVG<br />

Münster NJW 1995, 2242; VG Dessau LKV 1997, 264; REDEKER/VON OERTZEN, a.a.O., § 80 Rn 56b).<br />

cc) Antragsfrist<br />

Die VwGO setzt für einen Aussetzungsantrag keine Frist. Es gibt aber andere Gesetze, die (unterschiedlich<br />

lange) Fristen vorsehen. So muss etwa ein Aussetzungsantrag gegen eine Abschiebungsanordnung<br />

innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe gestellt werden (§ 34a Abs. 2 S. 1 AsylG). Für Aussetzungsanträge<br />

gegen Planfeststellungsbeschlüsse gilt eine Frist von einem Monat nach Zustellung (§ 18e Abs. 2<br />

S. 2 AEG, § 43e Abs. 1 S. 2 EnWG, § 17e Abs. 2 S. 2 FStrG, § 10 Abs. 4 S. 2 LuftVG, § 29 Abs. 6 S. 3 PBefG, § 5<br />

Abs. 2 S. 2 VerkPBG, § 14e Abs. 2 S. 2 WaStrG). In der Rechtsmittelbelehrung ist auf die jeweilige Frist<br />

hinzuweisen. Fehlt der Hinweis, wird die spezialgesetzlich normierte Frist jedenfalls dann durch die<br />

Jahresfrist des § 58 Abs. 2 S. 1 VwGO ersetzt, wenn die Geltung des § 58 VwGO ausdrücklich angeordnet<br />

ist, wie in § 18e Abs. 2 S. 4 AEG, § 43a Abs. 1 S. 4 EnWG, § 17e Abs. 2 S. 4 FStrG, § 10 Abs. 4 S. 3 LuftVG, § 14e<br />

Abs. 3 S. 3 WaStrG. Die Frage, ob bei Fehlen einer spezialgesetzlichen Verweisung, wie in § 34a AsylG, § 29<br />

PBefG, § 5 VerkPBG, § 58 VwGO entsprechend anwendbar ist, wird unterschiedlich beantwortet (dafür<br />

KOPP/SCHENKE, a.a.O., § 58 Rn 5; a.A. OVG Lüneburg NVwZ-RR 1995, 177, 178: keine planwidrige<br />

Regelungslücke).<br />

dd) Behördliches Vorverfahren?<br />

Die gerichtliche Entscheidung über einen Aussetzungsantrag hat grundsätzlich nicht zur Voraussetzung,<br />

dass der Antragsteller zuvor bei der Ausgangs- oder Widerspruchsbehörde erfolglos um<br />

vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht hat. Eine Ausnahme ist nach § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO für den Fall<br />

eines Aussetzungsantrags gegen die Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten vorgesehen,<br />

412 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 911<br />

Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />

und zwar auch dann, wenn ein Vorverfahren nach § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO nicht erforderlich ist (VGH<br />

Kassel NVwZ-RR 1995, 235). Das in § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO vorgeschriebene besondere Vorverfahren wird<br />

durch Klage und Einlassung der Verwaltung darauf zur Sache nicht ersetzt (KOPP/SCHENKE, a.a.O., § 80<br />

Rn 184) und kann als Zugangsvoraussetzung auch nicht nachgeholt werden (VGH Kassel DVBl. 1994,<br />

805, 806; OVG Berlin-Brandenburg NVwZ 2006, 356).<br />

2. Begründetheit des Antrags<br />

Nach dem Wortlaut des § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO, wonach das Gericht der Hauptsache die aufschiebende<br />

Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage anordnen bzw. wiederherstellen „kann“, ist die<br />

Entscheidung in das Ermessen des Gerichts gestellt. Kennzeichnend für eine Ermessensentscheidung ist<br />

eine Interessenabwägung. Nach welchen Maßstäben diese vorzunehmen ist, sagt § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO<br />

nicht. In Rechtsprechung und Literatur ist allerdings geklärt, dass es allein oder zumindest auch auf die<br />

Erfolgsaussichten des Widerspruchs oder der Anfechtungsklage ankommt. Zu prüfen ist also in erster<br />

Linie, ob sich der Verwaltungsakt im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtmäßig oder<br />

rechtswidrig erweisen wird. Die Rechtmäßigkeitsprüfung hat dabei im Regelfall nur summarisch zu<br />

erfolgen (OVG Bautzen LKV 1995, 121; VGH Mannheim NVwZ 1995, 716). Dem Charakter eines<br />

Eilverfahrens ist eine ins Einzelne gehende Klärung des Sachverhalts und von Rechtsfragen fremd. Etwas<br />

anderes hat dann zu gelten, d.h. die Sach- und Rechtslage ist abschließend zu prüfen, wenn das<br />

Eilverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige<br />

Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, z.B. im Fall einer vorzeitigen<br />

Besitzeinweisung zugunsten eines Braunkohletagebaus, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende,<br />

besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (BVerfG NVwZ 2017, 149 Rn 20).<br />

a) Begründetheit in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 3 VwGO<br />

Nach § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO hat die Aussetzung der Vollziehung bei öffentlichen Abgaben und Kosten<br />

zu erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts<br />

bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch<br />

überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Diese Regelung, die sich an die<br />

Ausgangs- und die Widerspruchsbehörde richtet, findet bei der gerichtlichen Anordnung des<br />

Suspensiveffekts in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO entsprechende Anwendung (BVerwG<br />

BayVBl. 1982, 442; OVG Hamburg NVwZ-RR 1992, 318, 319; OVG Schleswig NVwZ-RR 1992, 106, 107).<br />

Nach Auffassung des OVG Hamburg (a.a.O.), des OVG Koblenz (DVBl. 1984, 1134, 1135), des VGH<br />

Mannheim (VBlBW 1983, 246), des OVG Münster (NVwZ-RR 1994, 617) und des OVG Saarlouis<br />

(DÖV 1987, 1115) ist die Rechtmäßigkeit eines Heranziehungsbescheids ernstlich zweifelhaft, wenn<br />

der Erfolg des Rechtsmittels im Hauptsacheverfahren wahrscheinlicher ist als der Misserfolg.<br />

Demgegenüber halten es das BVerwG (a.a.O.), das OVG Lüneburg (NVwZ-RR 1989, 328) und das<br />

OVG Schleswig (a.a.O.) für ausreichend, wenn der Erfolg ebenso wahrscheinlich ist wie der Misserfolg.<br />

Eine unbillige Härte ist anzunehmen, wenn durch die sofortige Vollziehung für den Betroffenen<br />

Nachteile entstehen, die über die eigentliche Zahlung hinausgehen und die nicht oder nur schwer<br />

wiedergutzumachen sind (VGH München BayVBl. 1988, 727). Das ist beispielsweise der Fall, wenn die<br />

Vollziehung zum Konkurs oder zur Existenzvernichtung des Pflichtigen führen würde. § 80 Abs. 4 S. 3<br />

VwGO lässt eine Aussetzung zur Vermeidung persönlicher Härten nicht auch aus allgemeinen<br />

sachlichen Billigkeitsgründen zu (OVG Münster NVwZ-RR 1999, 210, 211).<br />

Nicht nur im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO, sondern auch in den Konstellationen des § 80 Abs. 2 S. 1<br />

Nr. 2 und 3 VwGO hat der Gesetzgeber die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der<br />

sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und dem Aussetzungsinteresse des Rechtsmittelführers<br />

regelmäßig zugunsten des öffentlichen Interesses vorgenommen (BVerfG NVwZ 2004, 93, 94). Wenn er<br />

im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO die Risikoverteilung zugunsten des Rechtsmittelführers bei<br />

ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts umkehrt, so gibt es keinen einleuchtenden<br />

Grund, in den Fällen der Nr. 2 und 3 anders zu verfahren. Die Annahme ist deshalb berechtigt,<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 413


Fach 19, Seite 912<br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />

dass § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO keine auf § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO begrenzte Sonderregelung darstellt (VGH<br />

Mannheim VBlBW 1992, 433; VGH München BayVBl. 1986, 24; a.A. OVG Lüneburg NVwZ-RR 1989, 328;<br />

KOPP/SCHENKE, a.a.O., § 80 Rn 116).<br />

Hinweis:<br />

Auch in den Fällen der Nr. 2 und 3 besteht an der sofortigen Vollziehung kein öffentliches Interesse, wenn<br />

ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen. Einer nochmaligen Interessenabwägung<br />

im Einzelfall bedarf es nicht, weil sie schon vom Gesetzgeber generalisierend antizipiert worden ist.<br />

Dass das Gesetz im Falle des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO den Sofortvollzug eines Verwaltungsakts,<br />

dessen Rechtmäßigkeit nicht ernstlich zweifelhaft ist, nur im Regelfall und nicht stets als geboten<br />

erachtet, hat der 4. Senat des BVerwG betont (BUCHHOLZ 407.4 § 17 FStrG Nr. 98). Der gesetzliche<br />

Ausschluss der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs hat lediglich zur Folge, dass die Behörde<br />

von der Pflicht nach § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO entbunden wird, das öffentliche Interesse an der sofortigen<br />

Vollziehung im Verwaltungsverfahren besonders zu begründen. Sie muss aber im gerichtlichen<br />

Verfahren näher darlegen, aus welchen Interessenpositionen sie für sich die Befugnis ableitet, den<br />

Verwaltungsakt vor dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu vollziehen.<br />

b) Begründetheit im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO<br />

aa) Verstoß gegen § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO<br />

Anders als in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 3 ist im Fall der Nr. 4 der Interessenabwägung die<br />

Prüfung vorgelagert, ob die Behörde dem formalen Erfordernis des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO gerecht<br />

geworden ist. Danach ist das besondere Interesse an einem behördlich angeordneten Sofortvollzug<br />

schriftlich zu begründen. Hiervon kann gem. § 80 Abs. 3 S. 2 VwGO nur abgesehen werden, wenn die<br />

Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder<br />

Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.<br />

§ 80 Abs. 3 S. 1 VwGO enthält zum einen eine formelle Komponente, indem er eine eigenständige,<br />

äußerlich erkennbare Begründung für die Vollziehungsanordnung verlangt (vgl. OVG Hamburg<br />

InfAuslR 1986, 203). Der Adressat und das Gericht brauchen den Bescheid nicht dahingehend<br />

durchzukämmen, ob sich irgendwo zwischen den Gründen für den Erlass des Verwaltungsakts auch<br />

die Gründe für die Anordnung der sofortigen Vollziehung finden. Auch wenn die Gründe für die<br />

Anordnung des Sofortvollzugs dem Adressaten bereits bekannt oder ohne Weiteres erkennbar sind, ist<br />

eine eigenständige Begründung nicht entbehrlich (OVG Hamburg InfAuslR 1984, 72, 73; OVG Weimar<br />

ThürVBl. 1994, 137, 139).<br />

§ 80 Abs. 3 S. 1 VwGO verlangt zum anderen einen bestimmten Mindestinhalt. Die Behörde hat die<br />

wesentlichen tatsächlichen oder rechtlichen Gründe darzulegen, die im konkreten Fall ein Interesse<br />

am Sofortvollzug ergeben und die zu ihrer Entscheidung geführt haben, wegen dieses besonderen<br />

Interesses von der Befugnis nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO Gebrauch zu machen (VGH München<br />

BayVBl. 1982, 756, 757). Als Begründung genügt namentlich nicht eine bloße Wiederholung der den<br />

Verwaltungsakt tragenden Gründe, die Berufung auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts (VGH<br />

Kassel NVwZ 1985, 918), die Verwendung stereotyper, formelhafter, allgemeiner und daher nichtssagender<br />

Wendungen oder die Wiederholung des Textes des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO (VGH<br />

Mannheim NJW 1977, 165).<br />

Die Anforderungen des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO sind allerdings weniger streng, wenn, was insbesondere<br />

bei Verwaltungsakten der Gefahrenabwehr vorkommen kann, sich die für den Erlass des Verwaltungsakts<br />

maßgebenden Gründe mit denen für den Sofortvollzug decken. In diesen Fällen ist der Vorschrift<br />

genügt, wenn die Behörde auf die Begründung des Verwaltungsakts verweist und deutlich macht, dass<br />

sich aus den Gründen für den Erlass des Verwaltungsakts im konkreten Fall auch das Vollziehungsinteresse<br />

ergibt (VGH Kassel DÖV 1974, 605).<br />

414 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 913<br />

Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />

Ob in analoger Anwendung des § 45 Abs. 2 VwVfG eine fehlende Begründung nachgeholt oder eine<br />

fehlerhafte Begründung durch eine fehlerfreie ersetzt werden kann, ist umstritten (bejahend OVG<br />

Greifswald NVwZ-RR 1999, 409; einschränkend OVG Koblenz DVBl. 1985, 1077, 1078: Nachholung nur bis zur<br />

Stellung des Aussetzungsantrags möglich; verneinend OVG Hamburg a.a.O.; OVG Lüneburg RdL 1987, 335).<br />

Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet es, dass die Gerichte, die eine Heilung eines Begründungsmangels<br />

noch im gerichtlichen Verfahren für zulässig halten, denjenigen Antragstellern, die einen<br />

Aussetzungsantrag allein wegen fehlender oder fehlerhafter Begründung gestellt haben, nach der Heilung<br />

die Gelegenheit geben, zur Abwendung der Kostenfolge des § 154 Abs. 1, 2 VwGO die Hauptsache für erledigt<br />

zu erklären.<br />

bb) Interessenabwägung bei § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 Alt. 1 VwGO<br />

§ 80 Abs. 5 VwGO beschränkt die Befugnis des Gerichts nicht auf die Prüfung, ob die von der Behörde<br />

aufgezeigten Gründe die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtfertigen. Das Gericht muss eigenständig<br />

und losgelöst von der vorangegangenen behördlichen Vollzugsanordnung entscheiden, ob der Suspensiveffekt<br />

von Widerspruch und Anfechtungsklage wiederherzustellen ist (VGH München GewArch 1993, 170).<br />

Auch im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 Alt. 1 VwGO hat sich das Gericht an den Erfolgsaussichten des<br />

Hauptsacherechtsbehelfs zu orientieren. Dabei gilt, dass das Aussetzungsinteresse des Betroffenen<br />

umso gewichtiger ist, je größer die Erfolgsaussichten sind. Je geringer diese sind, umso höher müssen die<br />

erfolgsunabhängigen Interessen des Antragstellers sein, um eine Aussetzung zu rechtfertigen (VGH<br />

Mannheim VBlBW 1997, 391).<br />

Ergibt eine summarische Prüfung des Gerichts, dass Widerspruch und Anfechtungsklage wegen<br />

offensichtlicher Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts erfolglos bleiben werden, werden mit anderen<br />

Worten die Erfolgsaussichten mit Null bewertet, soll nach wohl überwiegender Meinung in der<br />

Rechtsprechung (BVerwG DVBl. 1974, 566; VGH München GewArch 1982, 238, 239; OVG Münster<br />

OVGE 35, 125, 126) das Vollziehungsinteresse der Behörde überwiegen, weil es nicht Aufgabe des<br />

Eilverfahrens sei, Rechtspositionen einzuräumen oder zu bewahren, die einem Hauptsacheverfahren<br />

erkennbar nicht standhalten. Mit dem Gesetz vereinbar ist diese Ansicht nicht (VGH Mannheim a.a.O.;<br />

VGH Kassel MDR 1992, 315; OVG Lüneburg GewArch 1984, 380). § 80 Abs. 1 VwGO nimmt es hin, dass<br />

auch einem Rechtsbehelf gegen einen offensichtlich rechtmäßigen Verwaltungsakt aufschiebende<br />

Wirkung zukommt, während § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO den Ausschluss des Suspensiveffekts von einem<br />

besonderen öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung abhängig macht. Das allgemeine<br />

öffentliche Interesse an der Vollziehung eines erkennbar rechtmäßigen Verwaltungsakts genügt nicht.<br />

Ist nach summarischer Prüfung der Hauptsacherechtsbehelf offensichtlich erfolgreich, soll das Suspensivinteresse<br />

des Betroffenen jedes öffentliche Vollzugsinteresse überwiegen (OVG Hamburg NJW 1981, 1750;<br />

VGH Kassel a.a.O.). Auch gegen diese Meinung bestehen Bedenken. So kann z.B. eine für sofort vollziehbare<br />

Regelung der Dienstbereitschaft eines Apothekers nach § 23 ApBetrO – aus welchen Gründen immer –<br />

offensichtlich rechtswidrig sein; gleichwohl kann es geboten sein, den Sofortvollzug (befristet) zu<br />

bestätigen, um eine akute Gefährdung der Arzneimittelversorgung der Bevölkerung zu verhindern. Das<br />

BVerwG wertet den voraussichtlichen Erfolg des Hauptsacherechtsbehelfs denn auch nur als wesentliches<br />

Indiz dafür, dass die Vollziehung des Verwaltungsakts bis zur Entscheidung in der Hauptsache suspendiert<br />

werden muss (BVerwG BauR 2015, 968, 969 zu § 47 Abs. 6 VwGO).<br />

Die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs sind – von den Einschränkungen abgesehen, die das<br />

BVerfG (a.a.O.) formuliert hat – nach alledem nur ein abwägungserheblicher Belang und entbinden nicht<br />

davon, anhand zusätzlicher Kriterien zu ermitteln, wessen Interesse für die Dauer des Hauptsacheverfahrens<br />

der Vorrang gebührt. Erforderlich ist insoweit eine Ermittlung, Gegenüberstellung und Gewichtung<br />

der Nachteile, die zu Lasten des Allgemeininteresses eintreten, wenn die Vollziehung des<br />

Verwaltungsakts während des Hauptsacheverfahrens unterbleibt, und der Nachteile eines sofortigen<br />

Vollzugs für den Betroffenen. Zu dessen Gunsten fällt insbesondere der etwaige Umstand in die Waagschale,<br />

dass der Sofortvollzug irreparable oder nur schwer rückgängig zu machende Folgen bei ihm auslöst.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 415


Fach 19, Seite 914<br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />

cc) Interessenabwägung bei § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 Alt. 2 VwGO<br />

Ist der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig, ist der Aussetzungsantrag zurückzuweisen<br />

(VGH Mannheim VBlBW 1982, 267, 269). Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig, so<br />

ist der Antrag erfolgreich, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich die Rechte des anfechtenden Dritten<br />

verletzt (FINKELNBURG/DOMBERT/KÜLPMANN, a.a.O., Rn 1068). Bei offenem Ausgang der Hauptsache hat das<br />

Gericht unter Abwägung aller Umstände, insbesondere der Vollzugs- und Suspensivfolgen, zu prüfen,<br />

ob das Interesse des Begünstigten am Sofortvollzug das Interesse des Drittbetroffenen an der<br />

aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs überwiegt. Dabei darf vom Gericht zugunsten des<br />

Begünstigten auch ein eventuell bestehendes Interesse der Öffentlichkeit oder sonstiger Beteiligter an<br />

der Anordnung der sofortigen Vollziehung berücksichtigt werden (BVerfGE 51, 268, 280; OVG Lüneburg<br />

DVBl. 1979, 693, 695).<br />

c) Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage<br />

Der für die Sach- und Rechtslage maßgebliche Zeitpunkt der Prüfung, ob der angefochtene<br />

Verwaltungsakt im Hauptsacheverfahren voraussichtlich Bestand haben wird, richtet sich nach dem<br />

materiellen Recht (BVerwG DÖV 1991, 297 und BVerwGE 120, 246, 250). Kommt es hiernach auf den<br />

Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung an, gilt dies grundsätzlich auch für das Aussetzungsverfahren.<br />

Ist der erforderliche Widerspruchsbescheid noch nicht ergangen, ist auf die Sach- und<br />

Rechtslage zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung über den Aussetzungsantrag abzustellen (VGH<br />

Kassel NVwZ 1992, 393; a.A. VGH München NVwZ-RR 1993, 327: Zeitpunkt der behördlichen<br />

Ausgangsentscheidung). Der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist auch generell maßgebend<br />

für die erfolgsunabhängige Interessenabwägung (VGH Kassel NVwZ 1991, 88, 90 ff.) und die Beurteilung<br />

eines besonderen Vollzugsinteresses (VGH Mannheim GewArch 1993, 291).<br />

3. Tenorierung<br />

In den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 3 VwGO ordnet das Gericht, wenn der Aussetzungsantrag<br />

zulässig und begründet ist, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs oder der Anfechtungsklage<br />

ganz oder teilweise an. Die Anordnung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen<br />

Auflagen abhängig gemacht sowie befristet werden. Insoweit gilt § 80 Abs. 5 S. 4 und 5 VwGO<br />

entsprechend (VGH Kassel ESVGH 24, 194, 195).<br />

Im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO stellt das Gericht, ggf. nach Maßgabe des § 80 Abs. 5 S. 4 und 5<br />

VwGO, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs ganz oder teilweise wieder her. Ob dies auch gilt,<br />

wenn der Aussetzungsantrag wegen eines Verstoßes gegen § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO Erfolg hat, ist streitig<br />

(dafür VGH Kassel NVwZ-RR 1989, 627; OVG Magdeburg DVBl. 1994, 8<strong>08</strong>; dagegen VGH Mannheim<br />

VBlBW 1996, 297, 298; OVG Schleswig NVwZ-RR 1996, 148, 149; OVG Weimar DÖV 1994, 1014:<br />

Aufhebung der Vollziehungsanordnung).<br />

Die aufschiebende Wirkung nur des Widerspruchs wird sowohl angeordnet oder wiederhergestellt,<br />

wenn der Verwaltungsakt noch nicht Gegenstand einer Anfechtungsklage geworden ist, als auch,<br />

wenn eine Anfechtungsklage bereits erhoben ist oder während des Eilverfahrens erhoben wird. Nur<br />

wenn der Klage kein Widerspruchsverfahren vorausgeht, wird die aufschiebende Wirkung der Klage<br />

angeordnet oder wiederhergestellt. Der Suspensiveffekt wird bei den unter § 80 Abs. 1 VwGO<br />

fallenden Verwaltungsakten von dem ersten mit aufschiebender Wirkung ausgestatteten Rechtsbehelf<br />

ausgelöst und dauert nach Maßgabe des § 80b VwGO bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit<br />

des Verwaltungsakts an.<br />

Praxishinweis:<br />

Gelegentlich begegnet den Gerichten der Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs und der<br />

(bereits erhobenen oder ggf. noch zu erhebenden) Anfechtungsklage anzuordnen oder wiederherzustellen.<br />

Ein solcher Antrag ist insoweit nicht erforderlich, als er die Anfechtungsklage einbezieht.<br />

416 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19, Seite 915<br />

Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />

Berühmt sich die Behörde zu Unrecht der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsakts, stellt das<br />

Gericht fest, dass der Widerspruch oder die Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung hat (OVG<br />

Hamburg NVwZ-RR 1999, 145).<br />

Zwischen dem Erlass eines Verwaltungsakts, der kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist, oder der<br />

Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Behörde und der Entscheidung des Gerichts über<br />

einen Eilantrag vergeht i.d.R. eine gewisse Zeitspanne. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es mit<br />

einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht sein Bewenden haben kann, sondern<br />

eine abschließende Prüfung der Sach- und Rechtslage angezeigt ist (vgl. dazu BVerfG NVwZ 2017,<br />

149 Rn 20). Um zu verhindern, dass in der Zwischenzeit irreparable Nachteile für den Betroffenen<br />

eintreten, ist es geboten, dass das Gericht die Behörde auffordert, bis zur Entscheidung im<br />

Eilverfahren auf Vollstreckungsmaßnahmen zu verzichten. Kommt die Behörde der Aufforderung<br />

nicht nach, obliegt es dem Gericht, den Verzicht durch einen sog. Hängebeschluss förmlich<br />

aufzugeben (BVerfG NVwZ 2014, 363 Rn 8). Der Tenor lautet dann, dass die aufschiebende Wirkung<br />

des Rechtsbehelfs zur Hauptsache bis zur Entscheidung des Gerichts über den Eilantrag angeordnet/<br />

wiederhergestellt wird.<br />

4. Dauer der aufschiebenden Wirkung<br />

Die aufschiebende Wirkung beginnt rückwirkend mit dem Erlass des Verwaltungsakts (BVerwG<br />

DÖV 1973, 787). Sie endet nach § 80b Abs. 1 S. 1 Alt. 1 VwGO auf jeden Fall mit seiner Unanfechtbarkeit.<br />

Hiervon gibt es keine Ausnahme. Vor Eintritt der Bestandskraft endet der Suspensiveffekt, wenn die<br />

Anfechtungsklage im ersten Rechtszug abgewiesen worden ist, gem. § 80b Abs. 1 S. 1 Alt. 2 VwGO<br />

spätestens drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist des gegen die abweisende<br />

Entscheidung gegebenen Rechtsmittels.<br />

Hinweis:<br />

Gemeint ist hier die zweimonatige Begründungsfrist des § 124a Abs. 3 S. 1 VwGO bzw. die einmonatige<br />

Begründungsfrist des § 124a Abs. 6 S. 1 VwGO und nicht die zweimonatige Frist des § 124a Abs. 4 S. 4<br />

VwGO für die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung (VGH München DVBl. 1997, 663, 664;<br />

BADER/FUNKE-KAISER/STUHLFAUTH/VON ALBEDYLL, VwGO, 7. Aufl. 2018, § 80b Rn 9; a.A. OVG Münster NVwZ<br />

2002, 76).<br />

Dies gilt nach § 80b Abs. 1 S. 2 VwGO auch, wenn die Vollziehung durch die Behörde ausgesetzt oder die<br />

aufschiebende Wirkung durch das Gericht wiederhergestellt oder angeordnet worden ist, es sei denn,<br />

die Behörde hat die Vollziehung bis zur Unanfechtbarkeit ausgesetzt.<br />

§ 80b Abs. 2 VwGO ermächtigt das OVG, auf Antrag die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung<br />

anzuordnen. Um keine Lücke im vorläufigen Rechtsschutz entstehen zu lassen, kann der Antrag schon<br />

vor Wegfall des Suspensiveffekts gleichzeitig mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt<br />

werden (OVG Greifswald a.a.O.). In Fällen, in denen eine Berufung nicht statthaft ist, sondern nur eine<br />

Revision zum BVerwG in Betracht kommt, wäre es allerdings unsinnig, wenn das OVG, das in der<br />

Hauptsache mit dem angefochtenen Verwaltungsakt nicht befasst ist, als entscheidungsbefugt<br />

angesehen werden würde. Deshalb muss hier das für das Rechtsmittel in der Hauptsache zuständige<br />

Gericht, also das BVerwG, zuständig sein. „Oberverwaltungsgericht“ ist bei § 80b Abs. 2 VwGO also so<br />

zu verstehen, dass das Rechtsmittelgericht gemeint ist (BVerwGE 129, 58 Rn 11; KOPP/SCHENKE, a.a.O.,<br />

§ 80b Rn 14).<br />

5. Beschwerdeverfahren<br />

Sofern die Beschwerde nicht spezialgesetzlich ausgeschlossen ist (z.B. durch § 80 AsylG), ist sie nach<br />

§ 146 Abs. 1 VwGO statthaft und muss nach § 146 Abs. 4 S. 1 VwGO innerhalb eines Monats nach<br />

Bekanntgabe der Entscheidung des VG begründet werden. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits<br />

mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, beim OVG einzureichen (§ 146 Abs. 4 S. 2 VwGO). Sie muss<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong> 417


Fach 19, Seite 916<br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Vorläufiger Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 VwGO)<br />

einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern<br />

oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen (§ 146 Abs. 4<br />

S. 3 VwGO).<br />

Hinweis:<br />

Gemäß § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO prüft das OVG nur die dargelegten Gründe. Sein Beschluss ist unanfechtbar.<br />

Eine Beschwerde zum BVerwG ist wegen § 152 Abs. 1 VwGO unzulässig.<br />

6. Änderungsverfahren<br />

Gemäß § 80 Abs. 7 S. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach<br />

§ 80 Abs. 5 VwGO jederzeit aufheben oder ändern. Ist die Hauptsache noch bei dem Gericht anhängig,<br />

das den Beschluss nach § 80 Abs. 5 VwGO gefasst hat, so hat dieses Gericht über die Änderung zu<br />

entscheiden. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Änderung verlagert sich auf das<br />

Rechtsmittelgericht zu dem Zeitpunkt, zu dem es selbst zum Gericht der Hauptsache wird (BVerwGE<br />

124, 201, 203). Für die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts gelten die gleichen Grundsätze wie für eine<br />

Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO. Das bedeutet, dass das Rechtsmittelgericht eine eigene<br />

Abwägungsentscheidung trifft und sich nicht auf die Prüfung beschränkt, ob die vorangegangene<br />

Entscheidung formell und materiell richtig ist; denn die Entscheidung nach § 80 Abs. 7 S. 1 VwGO<br />

ist keine Rechtsmittelentscheidung gegen die in der Vorinstanz im Verfahren des einstweiligen<br />

Rechtsschutzes getroffene Entscheidung (BVerwG BauR 2016, 1770).<br />

Gemäß § 80 Abs. 7 S. 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter<br />

oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.<br />

Maßgeblich für die Stellung der Beteiligten in einem Änderungsverfahren ist die Interessenlage in<br />

diesem Verfahren, nicht die Beteiligtenstellung im vorausgegangenen Aussetzungsverfahren nach<br />

§ 80 Abs. 5 VwGO (BVerwG NVwZ-RR 2016, 357 Rn 4). Das kann zu einem Rollenwechsel führen. Wer<br />

als Nachbar nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen eine Baugenehmigung vorgeht, sieht sich mit der<br />

Baugenehmigungsbehörde als Antragsgegnerin und dem Bauherrn als notwendig Beizuladendem<br />

(§ 65 Abs. 2 VwGO) konfrontiert. Hat der Antragsteller Erfolg, muss der Beigeladene die Bauarbeiten<br />

einstellen. Ändert sich später die Sach- oder Rechtslage, kann der Beigeladene im Wege eines<br />

Änderungsantrags versuchen, den gerichtlichen Eilbeschluss aus der Welt zu schaffen. Weil das<br />

Änderungsverfahren kein Rechtsmittelverfahren ist, ist die Stellung der Verfahrensbeteiligten<br />

eigenständig zu bestimmen. Angreifer und damit Antragsteller im Änderungsverfahren ist der<br />

Bauherr, der den vorausgegangenen Eilbeschluss bekämpft. Der Nachbar als Nutznießer dieses<br />

Beschlusses wird Antragsgegner, die Baugenehmigungsbehörde notwendig Beigeladene (KÜLPMANN<br />

jurisPR-BVerwG 6/2016 Anm. 4).<br />

7. Streitwert<br />

Nach Nr. 1.5 des aktuellen Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327),<br />

der zwar nicht verbindlich ist, an den sich die Verwaltungsgerichte aber im Interesse der Einheitlichkeit<br />

und Berechenbarkeit der Rechtsprechung zu halten pflegen, beträgt der Streitwert in<br />

Eilverfahren i.d.R. ½, in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO und bei allen anderen auf bezifferte<br />

Geldleistungen gerichteten Verwaltungsakten ¼ des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden<br />

Streitwerts. In Eilverfahren, die die Entscheidung in der Sache ganz oder teilweise vorwegnehmen,<br />

kann der Streitwert bis zur Höhe des für das Hauptverfahren anzunehmenden Streitwerts angehoben<br />

werden.<br />

418 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 17.4.<strong>2019</strong>

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