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Fedora 1 Saat des Bösen

Das seltsame Verhalten der Kreaturen nahe ihres Heimatdorfes weckt Sofies Neugierde. Während sie versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen, deckt sie Geheimnisse auf, die augenscheinlich mit dem Verschwinden ihrer Schwester in Verbindung stehen könnten. Als sie auf ihrer Suche von einem Monster angegriffen wird, rettet sie ein Rudel Werwölfe. Schnell fasst sie Vertrauen zu dem Alphawolf Luc, der ihr eine Welt offenbart, in der sich alles, was sie bisher zu wissen glaubte, als Lüge entpuppt.

Das seltsame Verhalten der Kreaturen nahe ihres Heimatdorfes weckt Sofies Neugierde.
Während sie versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen, deckt sie Geheimnisse auf,
die augenscheinlich mit dem Verschwinden ihrer Schwester in Verbindung stehen könnten.

Als sie auf ihrer Suche von einem Monster angegriffen wird, rettet sie ein Rudel Werwölfe.
Schnell fasst sie Vertrauen zu dem Alphawolf Luc, der ihr eine Welt offenbart, in der sich alles,
was sie bisher zu wissen glaubte, als Lüge entpuppt.

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Jeanette Peters<br />

<strong>Saat</strong> <strong>des</strong> <strong>Bösen</strong><br />

<strong>Fedora</strong> Chronik I


F e d o r a C h r o n i k I : S a a t d e s B ö s e n<br />

© 2 0 1 8 J e a n e t t e P e t e r s<br />

C o v e r g e s t a l t u n g : J e a n e t t e P e t e r s<br />

Te x t : J e a n e t t e P e t e r s<br />

Te x t g e s t a l t u n g : J e a n e t t e P e t e r s<br />

L e k t o r a t : A n n a Te r e s<br />

K o r r e k t o r a t : M i a C a r o n<br />

B i l d m a t e r i a l : p i x a b a y . c o m ; A d o b e s t o c k<br />

J e a n e t t e P e t e r s<br />

D ö r w e r s t r a ß e 6 8<br />

4 4 3 5 9 D o r t m u n d<br />

G e r m a n y<br />

I S B N : 9 7 8 1 7 9 0 8 1 4 3 5 0<br />

E m a i l : L e s e e u l e n – v e r l a g @ g m x . d e


F ü r S o f i e ,<br />

d e r N a m e n p a t r o n i n m e i n e r H a u p t p r o t a g o n i s t i n .<br />

D e i n s t a r k e r W i l l e u n d d e i n e e i n n e h m e n d e A r t<br />

f i n d e n s i c h a u c h i n d e r P r o t a g o n i s t i n d i e s e s B u c h e s<br />

w i e d e r .


<strong>Fedora</strong><br />

7


8


Prolog<br />

ichter Nebel verschluckte sämtliche Geräusche <strong>des</strong> Wal<strong>des</strong>.<br />

Kein Tier war zu hören. Nicht einmal der Wind schien sich<br />

in dieser verhängnisvollen Stunde bemerkbar machen zu<br />

wollen.<br />

Gehetzte Schritte kurzer Beine durchbrachen diese Stille.<br />

Angestrengter Atem begleitete sie. Ein Kind lief verängstigt zwischen<br />

den Bäumen umher, ein Mädchen von gerade mal elf<br />

Jahren. Halb blind durch den Nebel, fiel sie immer wieder über<br />

Äste, Wurzeln und die eigenen Füße. Hände und Knie waren<br />

inzwischen blutig von den unzähligen Versuchen, ihre Stürze<br />

abzufangen. Hektisch sah das Kind sich um, in der Hoffnung ein<br />

Versteck zu entdecken. Wo könnten sie ihre Verfolger nicht<br />

finden? Welcher Schlupfwinkel wäre gut genug?<br />

Resignierend schüttelte sie den Kopf. Sie würde sich nicht verbergen<br />

können. Nicht vor ihnen! Tränen sammelten sich in ihren<br />

Augen. Schniefend wischte sie sich mit dem Ärmel ihrer Jacke<br />

über die Augen. Dann lief sie stolpernd weiter. Wie lange konnte<br />

sie noch durchhalten? Gab es überhaupt eine Chance, ihnen zu<br />

entkommen?<br />

Der Nebel und die Kälte setzten ihr zu. Neben der Anstrengung,<br />

ihren Verfolgern zu entkommen, merkte sie, wie ihre Kräfte<br />

immer mehr schwanden. Ihre Schuhe waren vollkommen durchnässt.<br />

Sie zitterte mittlerweile nicht mehr nur vor Angst.<br />

9


Sie musste bald ein Versteck finden! Die Geschwindigkeit<br />

konnte sie nicht mehr lange durchhalten. Ein Unterschlupf, der<br />

ihr die Möglichkeit gab, sich ein wenig auszuruhen. Würde sie<br />

heute Nacht sterben, wenn es ihr nicht gelang, vor den Jägern zu<br />

fliehen? Würden sie sie töten? Oder erlag sie am Ende einfach der<br />

Kälte und erfror?<br />

Sie blieb nochmal einen Augenblick stehen, um zu lauschen.<br />

Nichts war zu hören. Doch nur, weil sie nichts hören konnte,<br />

bedeutete dies nicht, dass ihre Verfolger aufgegeben hatten.<br />

Wenn sie nur genau wüsste, wo sie sich befand. Sie könnte<br />

sicherlich nach Hause finden. Doch sie hatte keine Ahnung.<br />

Sie dachte an ihre Mutter und ihre kleine Schwester. Würden sie<br />

sie vermissen? Suchten sie bereits nach ihr? Sie war nicht die Erste,<br />

die verschwand.<br />

Immer, wenn ein Kind nicht wieder nach Hause kam, machte<br />

sich das gesamte Dorf auf die Suche. Wenn man die Vermissten<br />

nicht fand, glaubte man, eine der Kreaturen, die dort lebten,<br />

hätten sie gefressen. Doch das hier … das war viel schlimmer.<br />

Das Mädchen stolperte erneut. Nun fand sie nicht die Kraft,<br />

wieder aufzustehen. Mit großer Mühe stemmte sie sich auf Hände<br />

und Knie, und kroch voran. Vielleicht konnte sie weit genug in<br />

das Unterholz kriechen, um gut genug versteckt zu sein. Wenn<br />

nicht …<br />

Das Knacken von Zweigen ließ sie erstarren. Schwere, sichere<br />

Schritte näherten sich ihr mit rasantem Tempo. In Gedanken<br />

entschuldigte sie sich bei ihrer kleinen Schwester. Nach dem Tod<br />

<strong>des</strong> Vaters hatte sie ihr versprochen, immer auf sie aufzupassen. Sie<br />

würde dieses Versprechen nicht halten können.<br />

Inzwischen machte sie sich nicht mehr die Mühe, ihre Tränen<br />

wegzuwischen. Sie sackte in sich zusammen und wartete auf das<br />

unvermeidliche Ende.<br />

10


Das seltsame Verhalten<br />

der Werwolfe<br />

ofie stellte den Eimer ab und hielt einen Augenblick inne.<br />

Erschöpft und durchgefroren zog sie die Jacke enger um sich.<br />

Die Hälfte <strong>des</strong> Rückweges lag bereits hinter ihr. Der Brunnen<br />

lag in der Dorfmitte. Das Haus, in dem sie und ihre Mutter<br />

lebten, befand sich ein Stück außerhalb.<br />

Früher hatten sie nahe bei der Gemeinschaft gelebt. Doch das<br />

war vorher gewesen – vor dem Verschwinden ihrer Schwester. Als<br />

sie in das andere Haus gezogen waren, hatte ihre Mutter ihr<br />

erklärt, sie könne die mitleidigen Blicke nicht ertragen. Sofie<br />

waren sie nie aufgefallen. Dies war nun schon neun Jahre her.<br />

Neun Jahre … und dennoch dachte sie jeden Tag an ihre ältere<br />

Schwester. Der Tag ihres Verschwindens war ihr immer noch stark<br />

im Gedächtnis geblieben. Damals war sie neun Jahre alt gewesen.<br />

Zu Beginn hatte sie immer viel nach Beatrice gefragt. Schnell war<br />

ihr aufgefallen, wie traurig ihre Mutter diese Erkundigungen<br />

machten. Inzwischen stellte sie keine Fragen mehr. Und ihre<br />

Mutter? Auch sie sprach nie über Beatrice. Es war, als hätte es ihre<br />

Schwester nie gegeben.<br />

Die Menschen im Dorf sprachen ebenfalls nicht über Bea oder<br />

die anderen Kinder, die im Laufe der Jahre verschwunden waren.<br />

11


Man suchte die Wälder eine Weile nach ihnen ab – blieb die<br />

Suche erfolglos, entschied man, dass sie von einer der Kreaturen<br />

entführt und verspeist worden waren. Sofie konnte das nicht glauben.<br />

Sie wollte es nicht glauben!<br />

Sicher, sie wusste, wie gefährlich die Bewohner <strong>des</strong> Wal<strong>des</strong> sein<br />

konnten. Vor Ghoulen und Werwölfen musste man sich in Acht<br />

nehmen. Auch die Vampire, die nachts im Wald umhersteiften,<br />

waren alles andere als harmlos. Doch seit dem Verschwinden ihrer<br />

Schwester hatte sie versucht, mehr über jene Kreaturen herauszufinden.<br />

Ghoule ernährten sich von Toten. Also wären die verschwundenen<br />

Kinder nur tot interessant für sie. Die Wölfe hielten<br />

sich von den Wäldern nahe <strong>des</strong> Dorfes fern. Zu viele von ihnen<br />

waren den Waffen der Männer und der Magie – die einige der<br />

Dorfältesten in sich trugen – zum Opfer gefallen. Und die Vampire?<br />

Diese brauchten mehr Blut, als ein Kind ihnen geben<br />

konnte. Sie würden einen Erwachsenen als Beute bevorzugen.<br />

Es war also nicht wahrscheinlich, dass sie die Schuld trugen. Die<br />

Ursache musste also eine andere sein. Doch Sofie konnte nicht<br />

offen fragen. Verschwand jemand aus dem Dorf, betrauerte man<br />

denjenigen eine kurze Zeit und sprach dann nie wieder über ihn.<br />

Sie wollte Antworten. Doch niemand sonst schien es zu kümmern.<br />

So blieb ihr nichts anderes übrig, als im Geheimen Nachforschungen<br />

anzustellen.<br />

Seufzend schüttelte sie die düsteren Gedanken ab. Sie sollte das<br />

Wasser nach Hause bringen. Ihre Mutter benötigte es. Lustlos griff<br />

sie nach dem Eimer, der vor ihr auf dem Boden stand und machte<br />

sich wieder auf den Weg.<br />

»Sofie, bist du das?«<br />

»Ja, Mama«, gab sie zur Antwort. Wer sollte es sonst sein? Sie<br />

füllte das Wasser in den Kessel und stellte den Eimer neben den<br />

Spülstein.<br />

Ihre Mutter kam aus dem Schlafraum und betrat die Küche.<br />

»Du warst lange fort«, stellte sie fest.<br />

Sofie runzelte die Stirn. War sie wirklich derart lange weg<br />

gewesen? Bis auf ihre kurze Pause war sie nicht abgelenkt worden.<br />

12


Konnte es sein, dass sie dermaßen in Gedanken versunken<br />

gewesen war? Ihre Mutter sah sie immer noch an und schien auf<br />

eine Erklärung zu warten. Sofie rang sich ein Lächeln ab. »Ich<br />

musste auf dem Weg Pause machen. Der Eimer kam mir heute<br />

schwerer vor, als sonst.«<br />

Die Erklärung schien zu genügen. Zumin<strong>des</strong>t nickte Meylin<br />

knapp und wandte sich dann der kleinen Kochstelle zu. Sofie<br />

blickte sich in dem bescheiden eingerichteten Wohnraum um. Ihr<br />

Heim bestand ausschließlich aus dem Schlafzimmer, das Sofie und<br />

ihre Mutter sich teilten, und dem Wohnraum, der aus der Kochstelle<br />

und einer Sitzecke bestand.<br />

Plötzlich befiel Sofie ein Gefühl der Beklemmung. Sie musste<br />

raus hier. Ohne einen triftigen Grund ließe Meylin sie jedoch<br />

nicht gehen. Seit dem Verschwinden ihrer Schwester war ihre<br />

Mutter übervorsichtig geworden. Wenn sie wüsste, wie oft Sofie<br />

sich heimlich hinausschlich, um die angrenzenden Wälder zu<br />

durchsuchen …<br />

»Wenn du noch etwas mit dem Essen brauchst, kann ich Beeren<br />

sammeln gehen«, bot Sofie an.<br />

Der Blick, den sie erntete, verhieß nichts Gutes. »Du weißt, ich<br />

möchte nicht, dass du alleine herumstreunst.«<br />

Sofie konnte ein genervtes Seufzen nicht unterdrücken.<br />

»Herumstreunen kann man das nicht nennen, Mama. Das<br />

Beerenfeld liegt gleich neben dem Dorf. Die Wachen können<br />

mich sehen, während ich dort bin. Also bin ich sicher«, konterte<br />

sie. Diese Diskussion führten sie je<strong>des</strong> Mal, sobald Sofie beschloss,<br />

alleine hinauszugehen.<br />

»Wenn du wartest, dann komme ich mit dir«, versuchte ihre<br />

Mutter einzulenken.<br />

»Mama, ich bin schon bald achtzehn. Ich muss auf eigenen<br />

Beinen stehen können. Denk doch einmal darüber nach. Die<br />

meisten treten mit neunzehn bereits in den Wachdienst ein oder<br />

suchen sich eine andere nützliche Arbeit. Doch wie soll ich mich<br />

in einem Jahr entscheiden, was ich machen möchte, wenn ich<br />

nicht weiß, wo meine Stärken liegen? Und die kann ich nicht<br />

finden, wenn ich ständig unter deinen wachsamen Augen bin.«<br />

13


Es zeigte schnell Wirkung. In dem Wissen, dass Sofie recht<br />

hatte, seufzte ihre Mutter. In einem Jahr schon bekam Sofie ihr<br />

eigenes kleines Haus im Dorf. Und sie würde entscheiden, mit<br />

welcher ihrer Fähigkeiten sie der Gemeinschaft helfen konnte. Es<br />

war eine Verpflichtung.<br />

»Also gut«, lenkte ihre Mutter ein. »Aber bleib in Sichtweite der<br />

Wachen.«<br />

»Natürlich, Mama«, versprach Sofie, während sie bereits nach<br />

dem Korb griff. »Mach dir keine Gedanken, ich bin schon bald<br />

zurück.« Ehe ihre Mutter noch etwas sagen konnte, schlüpfte Sofie<br />

durch die Tür.<br />

Sie bemühte sich gemächlich zu gehen, bis sie außer Sichtweite<br />

<strong>des</strong> Hauses war. Ihre Mutter sollte nicht mitbekommen, wohin sie<br />

sich wandte. Sicher, es gab ein Beerenfeld in der Nähe <strong>des</strong> Dorfes,<br />

doch wenn sie ein Stück weit in den Wald hineinging, würde sie<br />

saftigere Beeren finden. Und da sich die wenigsten Dorfbewohner<br />

zu diesem Platz vorwagten, gab es dort reichlich davon. Ihr Korb<br />

wäre im Nu gefüllt und dann könnte sie sich den Rest der Zeit ein<br />

wenig umsehen.<br />

Sobald sie sicher war, vor den Blicken ihrer Mutter geschützt zu<br />

sein, rannte sie los. Sie war dem Weg schon oft gefolgt. Sie<br />

brauchte nicht darüber nachdenken, welchen Weg sie gehen<br />

musste, um den Augen der Wachposten zu entgehen, bis sie zu der<br />

Stelle <strong>des</strong> Holzwalls gelangte, durch die sie unbemerkt schlüpfen<br />

konnte. Als sie vor drei Jahren mit ihren Streifzügen begonnen<br />

hatte, war sie oft erwischt worden. Doch mit jedem Mal war ihr<br />

Geschick gewachsen. Inzwischen brauchte sie nicht mehr aufzupassen.<br />

Sie kannte die Schlupfwinkel und den Weg genau.<br />

Sobald sie den Schutz der Bäume erreichte, ließ sie auch die<br />

letzte Vorsicht fallen. Niemand würde ihr hierher folgen. Die Jäger<br />

gingen in den frühen Morgenstunden fort. Sie lief also nicht<br />

Gefahr, einem von ihnen hier zu begegnen. Und die Wächter blieben<br />

in der Nähe <strong>des</strong> Dorfes. Solange es keinen Anlass gab, den<br />

Wald zu betreten, tat dies auch niemand.<br />

Sie ging nur ein Stück in den Wald hinein, ehe sie stehen blieb.<br />

Zwar wollte sie Antworten, doch sie war nicht dumm. Ihr war<br />

14


klar, wie gefährlich es sein konnte, alleine umherzustreifen. Aus<br />

diesem Grund hatte sie vorgesorgt.<br />

Sie suchte den Baumstumpf auf, der vor einiger Zeit von einem<br />

Blitz getroffen worden sein musste. Das Überbleibsel bot ein kleines<br />

Versteck. Es war nicht viel, doch Sofie war es dank Tomas<br />

Hilfe gelungen, einen der Dolche heimlich aus der Schmiede mitzunehmen.<br />

Es war ausreichend, um sich damit verteidigen zu<br />

können, wenn etwas versuchte, sie anzugreifen. Zumin<strong>des</strong>t war sie<br />

nicht vollkommen schutzlos.<br />

Sie griff in das Baumloch und zog den in Leder geschlagenen<br />

Gegenstand hervor. Nachdem sie den Dolch griffbereit in ihren<br />

Hosenbund geschoben hatte, sah sie sich um. Der Wald wirkte<br />

anders. Sie konnte es nicht beschreiben. Es schien ruhiger als<br />

sonst. Die normalen Geräusche, die für gewöhnlich von den<br />

Tieren kamen, die mutig genug waren, sich in die Nähe <strong>des</strong><br />

Dorfes zu wagen, schienen verstummt zu sein. Nicht einmal<br />

Vogelgezwitscher ließen sich vernehmen. Sie unterdrücke ein Zittern.<br />

Es wirkte, als lauerte etwas im Schatten der Bäume.<br />

Lovlin war noch nie ein sicherer Ort gewesen. Die Gebiete der<br />

Vampire, Ghoule und Werwölfe lagen zu nah an dem kleinen<br />

Dorf. Überall in <strong>Fedora</strong> gab es Landschaften, die nur einer Spezies<br />

vorbehalten war.<br />

Weit abseits der großen Städte, war es ein harter Kampf, das<br />

Land gegen die düsteren Bewohner <strong>Fedora</strong>s zu verteidigen. Allerdings<br />

war der Wald freies Gebiet. Jede Spezies konnte sich dort<br />

befinden. Sofern man mutig genug war, diesen zu betreten.<br />

Sie blieb einige Minuten ruhig stehen. Bis auf die Stille schien<br />

nichts ungewöhnlich zu sein. Sofie zuckte mit den Schultern.<br />

Wahrscheinlich färbt Mutters übertriebene Vorsicht langsam auf mich<br />

ab, beschloss sie. Dann griff sie nach dem Korb und machte sich<br />

auf den Weg zu der Sammelstelle.<br />

Sofie bemerkte erst, wie aufgewühlt sie gewesen war, als die<br />

Beerenbüsche in Sicht kamen. Die Anspannung in ihren Muskeln<br />

ließ ein wenig nach. Dennoch blieb sie wieder einige Zeit lauschend<br />

stehen, ehe sie damit begann, den Korb mit Beeren zu<br />

füllen.<br />

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Ihr war es gelungen den Korb zur Hälfte zu füllen, als ein Heulen<br />

die Stille durchbrach. Leise und behutsam, bewegte Sofie sich auf<br />

einen der höheren Bäume zu. Nun kam es ihr zugute, bei ihren<br />

ersten Besuchen hier die Gegend genau erkundet zu haben. Das<br />

Blätterwerk der Baumkronen war dicht und bot ihr ein gutes Versteck.<br />

Sie besaß zwar den Dolch, doch Lasslo, der Waffenmeister<br />

<strong>des</strong> Dorfes, betonte immer, die beste Art zu kämpfen sei es, dem<br />

Kampf aus dem Weg zu gehen. Besonders, wenn der Gegner einer<br />

der Übernatürlichen war.<br />

Flink und geschickt kletterte Sofie auf den Baum. Mit dem Korb<br />

in der Hand gestaltete es sich etwas schwierig, doch ließe sie ihn<br />

unten stehen, könnte er sie verraten.<br />

Es gelang ihr, hoch genug in den Baum zu klettern, damit das<br />

dichten Blätterwerk sie verbarg. Ob ihr Geruch sie verraten<br />

könnte? Nun wo sie darüber nachdachte, war dies durchaus möglich.<br />

Werwölfe sollten einen guten Geruchssinn besitzen. Womöglich<br />

glaubten sie, sie habe sich davongestohlen. Hoffentlich gingen<br />

sie davon aus. Welcher Mensch wäre schon töricht genug und floh<br />

nicht eilig, wenn Werwölfe sich näherten? Wenn es die Wölfe<br />

waren. Ihr Territorium lag dieser Stelle hier am nächsten – von<br />

dem Dorf einmal abgesehen.<br />

Als ein weiteres Heulen durch den Wald zog, bestätigte sich<br />

Sofies Befürchtung. Die Wölfe! Und sie waren nah, viel zu nah.<br />

Für gewöhnlich wagten sie sich nicht derart nah an das Dorf<br />

heran. Es war ein ungeschriebenes Gesetz. Im Wald war je<strong>des</strong><br />

Lebewesen erlaubt. Hier waren die Menschen in den Augen der<br />

Übernatürlichen Beute. Wagten sie sich jedoch zu nahe an das<br />

Dorf heran …<br />

Durch den Schutzwall und die gut ausgebildeten Wachen war es<br />

schwer, auch nur ansatzweise in die Nähe der Dorfmauern zu<br />

kommen. Gelang es ihnen doch einmal, schritten die Magier ein.<br />

Es waren nicht viele. Drei Magier aus der Hauptstadt Macea<br />

hatten sich bereiterklärt, bei ihnen zu leben. Sie gewährleisteten<br />

ihren Schutz. Es war ein Zugeständnis an die kleineren Siedlungen<br />

gewesen. Die meisten Menschen zog es in die sicheren Städte. Zu<br />

viele, um sie zu versorgen. Und mit jedem Jahr wurde es<br />

16


schwieriger, genügend Nahrung zu produzieren, um die stetig<br />

wachsenden Städte zu versorgen.<br />

All jenen, die sich bereit erklärten in den wilden Territorien<br />

Siedlungen aufzubauen, um ausreichend Nahrung für die Städte<br />

zu produzieren, versprach man angemessenen Schutz. Je nach<br />

Größe der Siedlungen, unterschied sich die Anzahl der Magier.<br />

Was Lovlin anging, war es schwer gewesen, überhaupt Hexenmeister<br />

davon zu überzeugen, bei ihnen zu leben. Ihr Dorf war am<br />

weitesten abgeschieden, noch dazu lag es dicht an den Gebieten<br />

der Wölfe und Vampire. Die Gefahr einem dieser Wesen auf der<br />

Jagd zu begegnen, war hoch. Höher als irgendwo sonst in <strong>Fedora</strong>.<br />

Nach dem Heulen durchzog wieder Stille den Wald. Sofie war<br />

beinahe geneigt zu glauben, die Wölfe seien weiter gezogen. Doch<br />

ihre Beine waren vor Angst zu schwach, um wieder von dem<br />

Baum hinunter zu klettern.<br />

Es stellte sich als glückliche Fügung heraus. Gerade als Sofie sich<br />

sicher genug fühlte, um den Abstieg zu wagen, ertönten leise,<br />

selbstsichere Schritte. Sofie konnte sie nur hören, da immer noch<br />

alle anderen Lebewesen im Wald verstummt zu sein schienen.<br />

Oder waren sie vielleicht geflüchtet? Nahmen sie etwas wahr, was<br />

den Menschen im Dorf entging? Den Geräuschen nach zu urteilen,<br />

handelte es sich um mehr als nur einen Wolf.<br />

Sofie bezweifelte, dass sie trotz ihres Dolches auch nur mit<br />

einem der Übernatürlichen fertig werden könnte. Aber gleich mit<br />

mehreren? Dies wäre von vornherein ein aussichtsloser Kampf. Sie<br />

musste sich still verhalten. Sich an Lasslos Rat erinnernd, versuchte<br />

sie in ihrem Versteck nichts zu tun, was die Wölfe auf sie<br />

aufmerksam machen könnte.<br />

Mit angehaltenem Atem wartete Sofie.<br />

Und dann traten die Werwölfe auf die Lichtung mit den Beerenbüschen.<br />

Es waren sechs. Einer von ihnen schien ein wenig größer<br />

als die anderen. Handelte es sich womöglich um den Anführer?<br />

Sein Fell besaß eine hellere Farbe, als das seiner Weggefährten,<br />

und seine Augen blitzten bernsteinfarben auf, als sich das Licht in<br />

ihnen spiegelte.<br />

Sie blieben stehen und schienen auf etwas zu warten. Der größte<br />

von ihnen hob den Kopf und schnüffelte nach etwas, doch dann<br />

17


verweilte auch er reglos. Noch nie hatte Sofie einen der Übernatürlichen<br />

aus solcher Nähe betrachten können. Und schon gar<br />

nicht dermaßen viele von ihnen. Sie bewegten sich kein Stück,<br />

während sie warteten. Welcher Zweck steckte hinter diesem Verhalten?<br />

Gab es überhaupt einen?<br />

Es war schon ungewöhnlich genug, dass sich die Wölfe derart<br />

nahe an das Dorf heranwagten. Das, was hier geschah, widersprach<br />

jeglicher Logik. Sie wussten, die Jäger <strong>des</strong> Dorfes überquerten<br />

die Lichtung oftmals, weswegen auch die Magier und Wachen<br />

einen Blick auf die Lichtung hatten. Die Wölfe setzten sich mit<br />

ihrer Handlung einer unweigerlichen Gefahr aus.<br />

Eine Ahnung, wie lange sie im Baum festsaß, besaß Sofie nicht.<br />

Das Bild, welches sich ihr bot, war zu faszinierend, um das Vergehen<br />

der Zeit zu beachten.<br />

Plötzlich ertönte ein Ruf. Es war kein Wolf, doch Sofie konnte<br />

das Geräusch nicht einordnen. Die Werwölfe hingegen schienen<br />

genau auf dieses Zeichen gewartet zu haben. Sobald der Ruf verklang,<br />

zogen die Wölfe weiter. Sofie hatten sie nicht bemerkt.<br />

Sie wartete noch eine Weile, ehe sie es wagte, sich zu bewegen. Sie<br />

hatte lange genug in dem Baum ausgehalten, um ihre Muskeln zu<br />

verspannen. Das unangenehme Ziehen würde sie wohl noch<br />

einige Zeit begleiten.<br />

Doch das war nun nicht wichtig. Sie alle lernten einiges über die<br />

Übernatürlichen im Unterricht. Und man erfuhr vieles aus den<br />

Geschichten der Jäger. Besonders Sofie, die den Erzählungen der<br />

Wachen und Jäger heimlich lauschte. Hatte es etwas wie heute<br />

schon einmal gegeben? Wenn Sofie die Richtung korrekt deutete,<br />

dann näherten sich die Wölfe dem Vampirgebiet. Doch Wölfe und<br />

Vampire trauten einander nicht. Die Gruppe hatte jedoch nicht<br />

gewirkt, als zögen sie in den Kampf. Und was verbarg sich hinter<br />

diesem eigenartigen Ruf? Es schien ein Zeichen gewesen zu sein.<br />

Sofie wusste, sie konnte auf ihre Fragen heute keine Antworten<br />

finden. Sie würde darüber nachdenken. Sie würde auf die Berichte<br />

der Jäger warten und sie belauschen, wenn sie von ihrem heutigen<br />

Ausflug erzählten. Vielleicht war sie in der Lage, ein paar<br />

18


Antworten zu finden. Nun jedoch musste sie sich sputen, um<br />

rechtzeitig nach Hause zu kommen.<br />

19


20


Der Lauschangriff<br />

atürlich kam Sofie zu spät. Ihre Mutter war sogar zu besorgt<br />

gewesen, um sie auszuschimpfen. Statt<strong>des</strong>sen drückte sie<br />

ihre Tochter erleichtert an sich. Sofie murmelte etwas<br />

davon, die Zeit aus den Augen verloren zu haben. Die Wahrheit<br />

konnte sie ihrer Mutter kaum erzählen.<br />

Wie gerne würde sie sich jemandem anvertrauen. Irgendwem,<br />

mit dem sie ihre Gedanken teilen konnte. Doch wer kam dafür<br />

schon in Frage? Sie kam zwar mit allen gut klar, doch es gab niemanden,<br />

den sie als engen Freund ansah. Selbst wenn, die eigentliche<br />

Frage war: Gab es jemanden, dem sie genug vertraute?<br />

Die Jäger kehrten erst nach Einbruch der Dunkelheit ins Dorf<br />

zurück. Ihre Mutter würde dann bereits schlafen. Sofie könnte<br />

sich unbemerkt zur Schenke schleichen, um zu lauschen. Ob sie<br />

ebenfalls etwas Ungewöhnliches bemerkt hatten? Wenn, dann war<br />

dies die beste Möglichkeit, etwas darüber in Erfahrung zu bringen.<br />

Sie aßen gemeinsam zu Abend. Da Sofie sehr viel später als<br />

erwartet nach Hause kam, musste ihre Mutter den Eintopf erneut<br />

erhitzen. Bereits nach dem ersten Löffel, bemerkte Sofie, wie<br />

hungrig sie war. Sie hatten reichlich gefrühstückt, doch inzwischen<br />

ging es auf den Abend zu.<br />

21


Während <strong>des</strong> Essens sprachen sie nicht viel miteinander. Sofie<br />

beschäftigte sich mit ihren eigenen Gedanken und ihre Mutter zog<br />

das Schweigen vor.<br />

Früher war es einmal anders gewesen, vor Beatrices Verschwinden.<br />

Es machte den Anschein, als hätte ihre Schwester die Fröhlichkeit<br />

ihrer Mutter gleich mitgenommen. Was zurückblieb, entsprach<br />

einer von Kummer und Sorgen zerfressenen Frau.<br />

Kurz nach dem Verschwinden ihrer Schwester hatte Sofie sich<br />

oft gefragt, ob es anders gekommen wäre, wenn ihr Vater sie nicht<br />

verlassen hätte. Ihre Mutter sprach niemals über ihn und Sofie<br />

selbst war zu klein gewesen, um sich an ihn erinnern zu können.<br />

Auch im Dorf schien es niemanden zu geben, der ihr etwas über<br />

ihn erzählen wollte. Fragen nach ihm stellte sie ebenfalls nicht<br />

mehr.<br />

Nach dem Essen half Sofie ihrer Mutter dabei, das Geschirr zu<br />

reinigen und die restliche Hausarbeit zu erledigen. Sie beschlossen,<br />

die Beeren für den nächsten Tag aufzuheben.<br />

Mit jeder vergangenen Minute wuchs Sofies Unruhe. Ihre<br />

Mutter machte keine Anstalten, sich ins Bett zurückzuziehen. Dies<br />

jedoch stellte eine Notwendigkeit dar, damit Sofie sich davonstehlen<br />

konnte. Der Weg zur Schenke war nicht weit. Sie lag im<br />

Geschäftsviertel der Stadt, gleich gegenüber <strong>des</strong> Schmie<strong>des</strong>. Sie<br />

würde die Gaststätte natürlich nicht betreten. Sie war zu jung,<br />

und Frauen sah man dort ohnehin nicht gerne. Doch es gab<br />

genügend Verstecke in der Umgebung. Aufgeheizt von der Jagd<br />

achteten die Männer nicht darauf, leise zu sprechen. Sofie würde<br />

also je<strong>des</strong> Wort mitbekommen … Doch dafür musste ihre Mutter<br />

endlich zu Bett gehen.<br />

»Du siehst müde aus, Mama«, wagte Sofie, ihr einen kleinen<br />

Hinweis zu geben.<br />

Ihre Mutter blickte von der Näharbeit auf und lächelte. »Es war<br />

ein langer Tag. Ich werde das hier noch fertig machen, und dann<br />

zu Bett gehen.«<br />

Sofie nickte und versuchte, nicht allzu unruhig zu wirken. Doch<br />

es fiel ihr nicht leicht, ruhig sitzen zu bleiben und so zu tun, als<br />

würde sie lesen. Oh, sie hatte durchaus versucht, wirklich zu lesen.<br />

22


Doch sie las immer nur denselben Abschnitt, weshalb sie es<br />

schließlich aufgab. Nun versuchte sie, die Zeit abzuschätzen, in<br />

der sie auf die nächste Seite umblättern musste, damit ihre Mutter<br />

nichts bemerkte.<br />

Die Sonne war bereits untergegangen, als ihre Mutter die Näharbeit<br />

endlich zur Seite legte. Sofie sah von dem Buch auf und<br />

betrachtete sie. »Wirst du noch wach bleiben?«, erkundigte sich<br />

ihre Mutter.<br />

Sofie nickte und hielt das Buch in die Höhe. »Es ist gerade spannend«,<br />

gab sie zurück. Hoffentlich kam ihre Mutter nicht auf die<br />

Idee, sie nach dem Inhalt <strong>des</strong> Buches zu fragen. Sofie konnte ihr<br />

nichts darüber erzählen.<br />

»Also gut, aber mach nicht mehr so lange.« Ihre Mutter strich<br />

ihr über das Haar und verschwand dann im Schlafraum <strong>des</strong><br />

Hauses.<br />

Nun, wo ihre Mutter endlich zu Bett ging, wuchs Sofies Aufregung.<br />

Sie musste sitzen bleiben, bis ihre Mutter eingeschlafen<br />

war. Es nutzte nichts, wenn sie versuchte, sich zu früh davonzuschleichen.<br />

Wenn ihre Mutter etwas bemerkte, bekam Sofie überhaupt<br />

keine Gelegenheit den Geschichten der Jäger zu lauschen.<br />

Die Zeit schien sich zu verlangsamen, wenn man auf etwas wartete.<br />

Sofie kam es vor wie Stunden. Doch sicherlich verging nicht<br />

einmal annähernd diese Zeit, als sie das leise Schnarchen ihrer<br />

Mutter vernahm. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie eingeschlafen<br />

war.<br />

Sofie legte das Buch zur Seite und stand vorsichtig auf. Um<br />

sicher zu gehen, warf sie noch einen Blick in den Schlafraum. Das<br />

Gesicht ihrer Mutter wirkte selbst im Schlaf sorgenbelastet. Es war<br />

nicht allein Sofies Schuld. Doch sie konnte nicht bestreiten, zu<br />

einem Teil dafür verantwortlich zu sein. Ihre heimlichen Streifzüge<br />

– die gelegentlich etwas länger dauerten als zunächst<br />

angenommen –, trugen mit Sicherheit dazu bei. Hinzu kam ihr<br />

geplanter Auszug nach ihrem neunzehnten Geburtstag.<br />

Damit es ihrer Mutter besser ging, würde sie sich bereiterklären,<br />

weiterhin bei ihr zu leben. Doch die Vorschriften <strong>des</strong> Dorfes sahen<br />

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dies nicht vor. Sobald ein Kind das neunzehnte Lebensjahr<br />

erreichte, hatte es die Pflicht, sich einen Lehrmeister zu suchen.<br />

Bei diesem würde sie fortan leben. Sie konnte ihre Mutter<br />

besuchen, doch dies wäre nicht dasselbe. Nun gab es nur noch das<br />

Problem, dass Sofie keine Ahnung davon besaß, was sie machen<br />

sollte. Sie konnte alles, aber nichts davon gut genug. Zu gerne<br />

würde sie sich bei den Wachen melden, um dort den Kampf zu<br />

erlernen und das Dorf zu schützen. Doch diese Aufgabe war<br />

Frauen untersagt. Sie schüttelte den Gedanken ab, als sie das Haus<br />

verließ. Bis dahin blieb ihr noch ein Jahr Zeit. Ihr würde schon<br />

etwas einfallen.<br />

Sofie hatte vermutet, die Jäger seien bei ihrer Ankunft bereits<br />

mitten im Gespräch. Zu ihrer Überraschung stellte sich heraus,<br />

dass sie noch gar nicht zurückgekehrt waren.<br />

Ein Blick auf den Mond ließ Sofie die Stirn runzeln. Derart spät<br />

kehrten sie für gewöhnlich nie zurück. Ob etwas geschehen war?<br />

Waren sie womöglich den Übernatürlichen begegnet, die auch<br />

Sofie heute auf der Lichtung hatte beobachten können?<br />

Wenn ja, konnte es sein, dass sie überhaupt nicht mehr zurückkehrten.<br />

Das Bild der sechs Werwölfe stand ihr noch immer deutlich<br />

vor Augen. Selbst ihre Jäger kämen dagegen nicht an.<br />

Unschlüssig, was sie tun konnte, sah Sofie sich um. Sie musste in<br />

jedem Fall vermeiden, gesehen zu werden.<br />

Ihrer eigenen Überlegung folgend, schlich sie sich hinter die<br />

Schenke. Meistens wurden in der kleinen Gasse leere Fässer und<br />

Kisten gestapelt. Perfekt, um sich dort zu verstecken oder hinaufzuklettern<br />

und durch das schmale Fenster einen Blick in die<br />

Schenke zu werfen. Sofie setzte sich auf eines der Fässer und<br />

begann zu warten.<br />

Sie lauschte den Gesprächen in der Schenke, während sie ihren<br />

Gedanken nachhing. Erst, als die noch nicht heimgekehrten Jäger<br />

zum Thema wurden, zwang Sofie sich dazu, genauer hinzuhören.<br />

Man wunderte sich über die ungewöhnlich lange Jagd und fragte<br />

sich, ob etwas geschehen sei.<br />

»Wenn sie bis zum Morgengrauen nicht zurück sind, sollten wir<br />

einen Suchtrupp nach ihnen ausschicken«, sagte einer der Männer.<br />

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Sofie erkannte die Stimme von Toma. Ihr alter Schulfreund<br />

befand sich nun seit einem Jahr bei den Wachen. An seinem neunzehnten<br />

Geburtstag war er in die Wache eingetreten. Sofie beneidete<br />

ihn. Allzu gerne würde sie selbst in einem Jahr zu den<br />

Wachen gehören.<br />

»Wir werden sehen, was passiert. Noch ist es nicht all zu spät.<br />

Und sollten sie bis morgen früh nicht zurückgekehrt sein, stellen<br />

wir eine Gruppe zusammen. Bis dahin soll jedoch niemand etwas<br />

davon erfahren«, erwiderte Sorin, der Hauptmann der Wache.<br />

Sofie versuchte, sich auf das Fass zu stellen, um einen Blick<br />

durch das Fenster zu werfen. Die Männer klangen sachlich, doch<br />

sie würde gerne ihre Gesichter sehen. Dann erst konnte sie mit<br />

Bestimmtheit sagen, ob sie besorgt waren, oder nicht.<br />

Das Fass nahe genug an die Wand zu bekommen, stellte sich als<br />

schwieriger heraus, als gedacht. Sie wollte natürlich nicht, dass<br />

man sie bemerkte, doch das Fass war schwer und sie musste sich<br />

mit ihrem gesamten Körper dagegenstemmen, um es in die<br />

gewünschte Richtung zu schieben. Schließlich gelang es ihr. Auf<br />

das Fass hinaufzuklettern, war jedoch um einiges schwerer als<br />

erwartet. Sie suchte sich eine der kleineren Kisten, um es sich zu<br />

erleichtern und gelangte so endlich auf das Fass.<br />

Leider stand sie nicht derart sicher, wie es wünschenswert<br />

gewesen wäre. Das Fass wackelte bei jeder ihrer Bewegungen. Sie<br />

musste aufpassen.<br />

Sofie suchte Halt am Fenster. Dummerweise fehlten ihr immer<br />

noch ein paar Zentimeter, um durch die Öffnung blicken zu<br />

können. Das Risiko ignorierend, stellte sie sich auf die Zehenspitzen.<br />

Ein Fehler, wie sich herausstellte. Ein unbedachter Moment und<br />

das Fass geriet stark ins Wanken. In der einen Sekunde versuchte<br />

sie noch, dem wackelnden Fass entgegenzuwirken und in der<br />

nächsten fiel sie unter lautem Poltern zu Boden.<br />

Der Aufprall trieb ihr sämtliche Luft aus den Lungen. Sofie war<br />

nicht in der Lage aufzustehen. Auch kam ihr nicht in den Sinn,<br />

dass man den Krach in der Schenke gehört haben könnte. Sie war<br />

zu sehr damit beschäftigt, zu atmen.<br />

»Was war das?«<br />

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»Los, schauen wir nach!«<br />

»Wenn das einer der elendigen Hunde ist …«<br />

Es dauerte einige Sekunden, bis Sofie realisierte, wie sehr sie die<br />

Männer in der Schenke aufgeschreckt haben musste.<br />

Was sollte sie nun tun? Ihr blieben nur Sekunden, um zu entscheiden.<br />

Verstecken, weglaufen oder abwarten? Noch während sie<br />

überlegte, konnte sie hören, wie die Wächter aus der Schenke<br />

stürmten.<br />

Verängstigt versuchte Sofie, sich aufzurappeln. Dies stelle sich<br />

als schwierig heraus. Bei ihrem Sturz war es ihr gelungen, einige<br />

Fässer mehr umzustoßen. Nun lag sie – in einem Wirrwarr von<br />

Fässern gefangen – auf dem Boden. Nach dem dritten misslungenem<br />

Aufstehversuch sah Sofie ein, nicht mehr rechtzeitig fortzukommen.<br />

Resignierend sah sie die Gasse entlang, in der die Wachen<br />

bereits zu sehen waren. Anstatt in der heutigen Nacht Antworten<br />

auf einige Fragen zu erhalten, war es nun an ihr, welche zu geben.<br />

Und die Fragen, würden nicht angenehm werden.<br />

26


Fragestunde<br />

ls man Sofie auf den Stuhl hinunterdrückte, warf sie den<br />

Wächtern einen wütenden Blick zu. Unwillkürlich rieb sie<br />

sich die schmerzenden Oberarme. Mussten die Wächter sie<br />

denn gleich dermaßen grob anpacken? Sie öffnete den Mund, um<br />

etwas Abfälliges zu sagen, doch dann fiel ihr Blick auf Sorin und<br />

sie erstarrte.<br />

Die Augen <strong>des</strong> Hauptmannes der Wache funkelten wütend, um<br />

seinen Mund lag ein verkniffener Zug. Sofie schluckte, dies nahm<br />

ganz sicher kein gutes Ende für sie.<br />

»Was hast du hier zu suchen?«, erkundigte Sorin sich gefährlich<br />

sanft. Sofies Gedanken rasten. Sie saß wirklich in der Patsche.<br />

Solange Sorin schrie und tobte, erlebte man lediglich seinen oberflächlichen<br />

Zorn. Nun wirkte er geradezu abgeklärt. Wenn sie<br />

nicht antwortete, würde er sie einfach die restliche Nacht mit<br />

diesem zornigen Blick beobachten. Sie brauchte nicht zu denken,<br />

man ließe sie gehen. Doch wenn sie es richtig anstellte, könnte sie<br />

vielleicht einige Antworten aus dem Hauptmann herausbekommen.<br />

Schuldbewusst senkte Sofie den Blick. Sollte er ruhig denken,<br />

sie gäbe nach. »Ich wollte nur …«, begann sie und brach ab. Sie<br />

konnte den Wächtern schlecht von ihrem Erlebnis im Wald erzählen,<br />

oder? Man würde sie schelten. Möglicherweise sogar mehr als<br />

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