Heimatbuch Reichelsheim 1992 OCR verlinkt
Reichelsheim in der goldenen Wetterau Historische Betrachtungen von Hagen Behrens Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim Bearbeitung: Hagen Behrens Umschlaggestaltung: Jean Bourdin Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main Erschienen 1992
Reichelsheim in der goldenen Wetterau
Historische Betrachtungen von Hagen Behrens
Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim
Bearbeitung: Hagen Behrens
Umschlaggestaltung: Jean Bourdin
Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main
Erschienen 1992
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<strong>Reichelsheim</strong><br />
in der goldenen Wetterau<br />
Betrachtungen zu der Geschichte<br />
und den Geschichten<br />
einer Ackerbürgerstadt<br />
Hagen Behrens<br />
<strong>1992</strong>
„Der Magistrat der Stadt <strong>Reichelsheim</strong> dankt der Landbank I-lorlofftal, <strong>Reichelsheim</strong>, die die Herausgabe dieses<br />
Buches finanziell unterstützt hat.“<br />
Herausgeber: Magistrat der Stadt <strong>Reichelsheim</strong><br />
Bearbeitung: Hagen Behrens<br />
Umschlaggestaltung: Jean Bourdin<br />
Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main
Zum Geleit<br />
„Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“ Dieses Zitat aus Goethes Faust hat uns vor fünflahren<br />
beflügelt, die Geschichte aller sechs Stadtteile von <strong>Reichelsheim</strong> aufzuarbeiten und diese an die nachfolgenden Generationen,<br />
aufbereitet in Buchform, weiterzugebcn. Zuerst einmal mußten sämtliche vorhandenen Archivunterlagen<br />
gesichtet und geordnet werden, was in dreijähriger, intensiver Arbeit Herr Gerhard Hofmann besorgte. Die Grundlage<br />
war also geschaffen, unser Vorhaben in die Tat umzusetzen.<br />
Mit einer Neuauflage des Büchleins „Der Hexenmeister von <strong>Reichelsheim</strong>“ und der Herausgabe des Bildbandes<br />
„Bilder erzählen aus vergangenen Tagen“ wagten wir den Anfang, die Geschichte unserer Stadt jedem zugänglich zu<br />
machen. Das große Interesse und die Anerkennung, die die Bücher fanden, ermutigten uns, weiterzumachen. Den<br />
Stoff hatten wir;jetzt galt es, einen qualifizierten Autor für die Bearbeitung der reichhaltigen Archivunterlagen und das<br />
Verfassen der Geschichtsbände zu finden. Glücklicherweise konnte unser Stadtverordnetenvorsteher, Herr Hagen<br />
Behrens für diese schwierige Aufgabe gewonnen werden, der nach dem Band „Heuchelheim, Einblicke in die Geschichte“,<br />
mit diesem Buch nun seine zweite Arbeit vorlegt.<br />
Es ist wahrscheinlich das erste Mal, daß die Geschichte des Ortes <strong>Reichelsheim</strong> so intensiv und systematisch bearbeitet<br />
wurde. Außer Einzelbeiträgen in Jubiläumsschriften und dem <strong>Heimatbuch</strong> von Keller lagen keine umfassenden<br />
Ausarbeitungen vor. Demzufolge mußte der Verfasser sämtliche verfügbaren Archivunterlagen einsehen und auswerten.<br />
Hagen Behrens hat bewußt aufcine lückenlose Gesamtdarstcllung der Geschichte verzichtet. Dies würde den Ral'ı~<br />
men des Buches sprengen. Er hat die Themen so ausgewählt, daß sie einen guten Einblick in das Werden unseres<br />
Heimatortes geben. Es wird ein Bild über <strong>Reichelsheim</strong> gezeichnet, das wir bisher nicht kannten, ein Bild der sozialen<br />
und politischen Probleme in den zurückliegenden Jahrhunderten.<br />
Mein herzlicher Dank gilt dem Verfasser, Hagen Behrens, der ein Jahr lang seine komplett zur Verfügung stehende<br />
Freizeit einschließlich Urlaubszeit in das Werden dieses Buches investiert hat. Die Staatsarchive in Darmstadt und<br />
Wiesbaden mußten durchforstet, viele Arehivalien, Urkunden und Pläne studiert werden, um die Ausführungen und<br />
Bewertungen, die dieses Buch prägen, mit Fakten zu belegen. So hoffe ich, daß auch dieser Geschichtsband, ebenso wie<br />
die drei zuvor genannten Veröffentlichungen, ein lebhaftes und vielfältiges Echo auslösen und dem heimatgeschichtlich<br />
Interessierten viele neue Erkenntnisse über unser <strong>Reichelsheim</strong> vermitteln wird.<br />
<strong>Reichelsheim</strong>, im November <strong>1992</strong><br />
Gerd Wagner<br />
Bürgermeister<br />
3
_.¬..„_._ _ ., _ .»__ _ _--D- -- - ----A -- H_--_----- ' \
Vorwort<br />
Wie vielleicht manchem bekannt, haben sich schon mehrere <strong>Reichelsheim</strong>er Bürger in den vergangenen Jahrzehnten<br />
mit der Geschichte dieses „Marktfleckens im Nassauer Land“ beschäftigt. Es seien hier nur die Namen Adam Spamer<br />
(1930), Albert Nohl, Heinrich Keller (1935) oder Werner Coburger (1985) genannt. Sie alle beginnen mit der Beschreibung<br />
des Außenbildes dieser Ortschaft im Zentrum der Wetterau. Adam Spamer z. B. beginnt seinen kurzen Abriß zur<br />
Geschichte <strong>Reichelsheim</strong>s in der Festschrift zum 85jährigen Jubiläum des Gesangvereins „Liederkranz“ im Jahre 1930<br />
wie folgt:<br />
„Kommt man mit der Bahn von Friedberg über die Höhe von Beienheim und richtet den Blick ostwärts, so bleibt das<br />
Auge unwiderstehlich an einem Bilde urwüchsigen Mittelalters haften. Aus dem Kranz der lichtgrünen Fluren und der<br />
zahlreichen Wetterauer Dörfer mit ihren leuchtend roten Ziegeldächern und dunklen Obsthainen, hebt sich das Stadtbild<br />
<strong>Reichelsheim</strong>s deutlich heraus, vor allem die die Hausdächer überragende mächtige Kirche mit ihrem quadratischen<br />
Turme, dem noch eine achteckige Pyramide aufgesetzt ist und der mittelalterliche runde Wachtturm mit dem<br />
Storehenneste. Ein wirklich imposantes Panorama, das durch die weiter östlich gelegenen dunklen waldgekrönten<br />
Bergkuppen des Vogelsberges einen malerischen Abschluß finden.“<br />
Heute wirken diese Zeilen von Adam Spamer etwas fremd, vor allem wohl deswegen, weil sich <strong>Reichelsheim</strong> seit<br />
1945 insbesondere in seinem Außenbereich, also in dem Bereich außerhalb des alten, von Mauern umgebenden Stadtkernes<br />
mehr verändert hat als in den 400 bis .500 Jahren zuvor. Neue Baugebiete, das Verschwinden eines großen Teils<br />
der Streuobstwiesen rund um den engen Wohnbereich der Menschen, neue Straßen, der Braunkohletagebau sowie<br />
dessen Rekultivierung und die zuvor schon eingeleitete und immer weitergeführte Drainierung der Wiesen und Felder<br />
haben ein anderes <strong>Reichelsheim</strong> entstehen lassen.<br />
Doch welch schönen Anblick muß <strong>Reichelsheim</strong> vor mehreren Jahrhunderten herannahenden Besuchern, Handelsreisenden,<br />
wandernden Handwerkern oder heimkehrenden Ortsbürgern geboten haben, als die Stadtmauer den<br />
Wohnbereich noch fest umschloß?! Wie schön, ja vielleicht sogar romantisch muß es in der Sommerzeit ausgesehen haben,<br />
wenn die Getreidefelder - vom leichten Süd-West-Wind bewegt - goldgelb das Sonnenlicht reflektierten? Den<br />
Menschen früherer Zeit mag sich ein Bild gezeichnet haben, das man mit den Begriffen „Schutz“, „Sicherheit“ und<br />
„Geborgenheit“ benennen könnte.<br />
Der Außenanblick ist heute anders, wenn man von Beienheim, Weckesheim oder Heuchelheim her kommt. Nur<br />
schwer kann man das von Spamer gezeichnete Bild nachempfinden, denn selbst der Kirchturm wirkt durch die Bebau--<br />
ung im Außenbereich nicht mehr derart „überragend und mächtig“.<br />
Und doch: Wer durch <strong>Reichelsheim</strong> spazierengeht, wer seine Phantasie mit einiger Faktenkenntnis bei diesem Spaziergang<br />
verknüpft, der wird eine Gemeinde erkennen, die nicht nur vom Heute, sondern an allen Ecken und Enden<br />
auch vom Gestern, von der Vergangenheit zu berichten weiß: z. B. das Rathaus und die Wehrkirche, die Stadtmauern<br />
und die hochragenden Wehrtürme an den markanten Außenstellen des Ortsgebietes. Wie groß die Bedeutung dieser<br />
Wehranlage war, ob und wie sie auf das Bewußtsein der Menschen in diesem „Flecken“ prägend gewirkt haben mag,<br />
das läßt sie nur vermuten bzw. das überläßt sie der Phantasie des neugierigen Spaziergängers.<br />
5
War <strong>Reichelsheim</strong> eine „Handels-Stadt“ ? War es ein wichtiger Ort für die Wetterau? Was bedeutete es für die damaligen<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er, daß ihr „Flecken“ nicht nur die Stadtrechte sondern auch die „Marktfreiheit“ von Leopold II.,<br />
dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, erhalten hatte? Welche Wirkungen hatte andererseits<br />
die Tatsache, daß <strong>Reichelsheim</strong> über Jahrhunderte eine Exklave des Grafen- bzw. Herzogtums Nassau war? Führte<br />
diese Abgeschlossenheit des Ortes zu einem besonderen „Wir-Gefühl“, zu einem Gefühl, „anders“ zu sein als die Menschen<br />
in den umliegenden Dörfern?<br />
Andere Fragen stellen sich dem aufmerksamen Spaziergänger: War der „Marktplatz“, die heutige Bingenheimer<br />
Straße, wirklich ein Marktplatz? Was verrät in diesem Zusammenhang die am Historischen Rathaus angebrachte<br />
„Nassauische Elle“?<br />
<strong>Reichelsheim</strong> - eine Handelsstadt? Wenn „Ja“: Warum gibt es rund um den Marktplatz keine mächtig-prächtigen<br />
Kaufmanns- bzw. Patrizierhäuser? Warum stehen vielmehr rund um diesen zentralen Bereich des Ortes landwirtschaftliche<br />
Anwesen? Wenn der Spaziergänger schon davon gehört hat, daß vor hundert und mehr Jahren von den ca. 220<br />
Haushaltungen über 40% angaben, von der Landwirtschaft zu leben, so wird er sich die Frage stellen, ob <strong>Reichelsheim</strong><br />
eine „Acker-Bürger-Stadt“ gewesen sein mag. . ?<br />
Und er wird sich schließlich auch fragen: Und was ist <strong>Reichelsheim</strong> heute? Ist sie noch eine Stadt der Bauern? Arbeiten<br />
die Menschen, die hier leben, auch in <strong>Reichelsheim</strong>? Ist <strong>Reichelsheim</strong> eigentlich noch das <strong>Reichelsheim</strong>, von dem<br />
die alten Mitbürgerinnen und Mitbürger sprechen? Oder ist es durch die große Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen,<br />
die nach dem letzten Krieg hier aufgenommen wurden, oder durch die „Großstadtflüchtlinge“, die sich vor allem seit<br />
Ende der 60er Jahre aus dem Rhein-Main-Gebiet in diesem Wetterauer Ort ein Haus bauten oder kauften, etwa zu<br />
einer reinen Wohngemeinde geworden?<br />
Fragen - viele Fragen!<br />
Fragen an die eigene Heimat, an den Ort, in dem wir leben, der Vorfahren und uns selbst geprägt hat und der heute<br />
unsere Kinder prägt bzw. noch prägen wird, weil er unser Lebens- und Erfahrungsumfeld war und ist bzw. sein wird. Es<br />
sind alles Fragen, die sich auch der Schreiber dieses Buches stellte und um deren Beantwortung er sich bemühte. Nicht<br />
alle Fragen, die derjeweilige Leser an <strong>Reichelsheim</strong> haben mag, werden eine Beantwortung finden, dies vor allem deswegen,<br />
weil jeder, der in <strong>Reichelsheim</strong> wohnt, der sich an diesem Ort interessiert zeigt, ganz persönliche Fragen entwikkelt<br />
hat. Aber vielleicht treffen manche Fragestellungen der Leser mit den Antworten dieses Buches zusammen, d. h.<br />
vielleicht werden viele individuelle Fragen nach dem Lesen der folgenden Kapitel beantwortet sein.<br />
Ich brauche abschließend nicht weiter zu erwähnen, daß dieses Buch nicht vorrangig die Bibliotheken von Historikern<br />
füllen soll. Für Wissenschaftler ist es, wie die oberen Ausführungen deutlich machen sollen, nicht geschrieben,<br />
sondern für Menschen, die neben ihrer Alltagsarbeit wenig Zeit haben, die sich trotzdem aber mit ihrem Heimatort auseinandersetzen<br />
wollen. Deswegen wurde auch eine leichte Lesbarkeit angestrebt.<br />
Ohne die Vorarbeiten und ohne die Unterstützung vieler wäre ich nicht in der Lage gewesen, dieses Buch neben<br />
all meinen anderen Verpflichtungen in relativ kurzer Zeit zu schreiben. Die vorhandenen Ausarbeitungen über die<br />
Geschichte des Ortes, die ich am Anfang erwähnte, waren selbstverständlich eine Hilfe.<br />
6
Bedanken möchte ich mich bei der Archäologin des Wetteraukreises, Frau Dr. Vera Rupp, die mir trotz ihrer vielen<br />
Aufgaben „außer der Reihe“ Material über die Vor- und Frühgeschichte von <strong>Reichelsheim</strong> zusammenstellte. In diesem<br />
Zusammenhang möchte ich auch Herrn Michael Keller als „hilfreichen Geist“ nennen, den Leiter des Wetteraumuseums,<br />
der mir und Herrn Bürgermeister Wagner dabei behilflich war, die aus <strong>Reichelsheim</strong> stammenden Fundstükke<br />
einzusehen und für dieses Buch durch Herrn Helmut Haag ablichten zu lassen.<br />
Eine sehr große Hilfe, die größte Hilfe, stellte für mich die Kirchenchronik, das Kirchenbuch der evangelischen Gemeinde<br />
dar, die mir dankenswerterweise Pfarrer Enke zur Einsichtnahme zur Verfügung stellte. Ohne die zeitgebundcnen<br />
Berichte der vielen Pfarrer wäre manch ein Kapitel recht „trocken“ geworden.<br />
Bedanken möchte ich mich bei Frau Ilse Erdmann, Frau Hilda Rohde und Herrn Werner Coburger, die meine „Wissensgeber“<br />
betreffend der Lebens- und Jahresbräuche im früheren <strong>Reichelsheim</strong> waren und die mir zudem noch über<br />
manche Ecke in und um <strong>Reichelsheim</strong> Wissens- und Beschrcibcnswertes mitteilten.<br />
Ein Dankeschön möchte ich auch Herrn Wenisch von der Stadtverwaltung sagen, der vieleorganisatorische Arbeiten<br />
für mich erledigt hat.<br />
Besonderen Dank sage ich dem Magistrat der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>, an erster Stelle Herrn BürgermeisterWagner, für<br />
den Auftrag, dieses Buch zu erarbeiten. Die kreative Begleitung und die aktive Unterstützung, die ich durch Herrn<br />
G. Wagner während der Anfertigungszeit erfuhr, waren Voraussetzung für das abschließende Ergebnis meiner Bemühungen.<br />
Was ist in einem Vorwort noch zu sagen? Wovor muß ich den Leser vielleicht sogar warnen ?<br />
Keine Ortschronik kann alles erfassen und wiedergeben - immer wird etwas fehlen, was doch wichtig ist. Manch einer<br />
der Abschnitte, vor allem jene, die von mehreren Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus eigener Lebenserfahrung nachvollzogen<br />
werden können. werden möglicherweise auf Widerspruch stoßen. Darüber bin ich mir bewußt - dieses Wissen<br />
sollte mich aber nicht davon abhalten, den Versuch zu machen, eine recht ausführliche, wenn auch keine lückenlose<br />
Chronik zu fertigen. Vielleicht traut sich in I0 oder 20.lahren wiederein Bürger/eine Bürgerin an die „Vergangenheitsbcwältigung“<br />
unserer kleinen Stadt, der oder die dann all die Anregungen, die zu diesem Buch gegeben werden. positiv<br />
berücksichtigen kann.<br />
Für mich selbst hat sich das Schreiben dieses Buches gelohnt: Der Ort ist mir heute viel näher als zuvor.<br />
<strong>Reichelsheim</strong>/Wetterau, Oktober <strong>1992</strong><br />
Hagen Behrens<br />
7
_....„_._ _ .. _ .»__ _ _--D- -- - -Ma -- e_--_----- ' \
Inhalt<br />
Zum Geleit (Bürgermeister G_Wagner) _ _ _ _ _ 3<br />
Vorwort _ . _ _ _ _ . _ _ . _ _ _ _ . _ _ _ . _ _ _ 5<br />
Inhaltsverzeichnis . _ _ . _ _ _ _ _ _ _ _ . _ _ _ _ 9<br />
l. Geschichtliche Betrachtungen<br />
1. a) Vorgeschichte _ . . . _ . . _ . _ _ _ . _ _ 11<br />
b) Die Zeit nach Christi Geburt . . . . . _ _ 14<br />
c) Von den Römern zu den Franken _ _ _ _ _ 18<br />
2. a) Die Franken - die Namensgeber von<br />
<strong>Reichelsheim</strong> _ _ . . _ _ _ . . . _ . _ _ _ 21<br />
b) Das Mittelalter . _ . . . _ _ _ . . _ . _ _ 25<br />
c) Die Kirche -für <strong>Reichelsheim</strong> das Symbol<br />
einer neuen Epoche . . . _ . _ _ _ _ _ _ _ 30<br />
3. Die Reformation - ein Wegweiser<br />
für <strong>Reichelsheim</strong> und die <strong>Reichelsheim</strong>er _ _ 35<br />
4. Das 17. Jahrhundert<br />
a) Der Dreißigjährige Krieg _ . _ _ . . _ _ _ 41<br />
b) Der„FREIHEITSBRIEF“<br />
der „Stadt <strong>Reichelsheim</strong>“ _ _ _ _ _ _ . _ _ 44<br />
c) FEUER! - der Brand von 1665 . . . _ _ _ 49<br />
d) Hexenwahn in <strong>Reichelsheim</strong> . _ _ _ . _ _ 51<br />
e) <strong>Reichelsheim</strong> - die Stadt der Jahrmärkte _ 60<br />
f) Handwerker und Zünfte in <strong>Reichelsheim</strong> _ 68<br />
5. <strong>Reichelsheim</strong> um 1700<br />
a) Das Erscheinungsbild der Stadt . . _ . _ _ 70<br />
b) Was das Alltagsleben in und um<br />
<strong>Reichelsheim</strong> prägte _ _ . . . . . . _ _ _ 75<br />
6. Vom „Nassauern“ . _ . _ _ _ _ _ . . . . _ _ 81<br />
7. Das 18. Jahrhundert<br />
a) Eine wichtige Zwischenepochc _ _ . _ _ _ 86<br />
b) Die kurze Herrschaft<br />
des Fürsten v. Schwarzburg _ _ _ _ . _ _ _ 88<br />
c) Der Sieben_jährige Krieg und seine<br />
Auswirkungen . _ _ _ . . . _ _ _ . _ . _ _ 89<br />
d) Neue Rechnungsführung über<br />
Einnahmen/Ausgaben . . . . _ . _ _ . _ _ 93<br />
e) Veränderungen im Erscheinungsbild von<br />
Ort und Gemarkung . . _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 95<br />
8. Das 19. Jahrhundert<br />
a) Nassaus Aufstieg durch Napoleon _ _ _ _ _ 98<br />
b) Vom Untertan zum politischen Bürger _ _ 108<br />
c) Das Ende der„lnsellage“ von <strong>Reichelsheim</strong> 119<br />
d) Aufdem Wegeins 20. Jahrhundert _ _ _ _ 124<br />
9. Das 20. Jahrhundert<br />
a) Die Ruhe vor dem Sturm _ _ _ _ _ _ . _ _ 133<br />
b) Der erste große Krieg _ _ . . _ _ . . . _ _ 136<br />
c) Eine ungeliebte Zwischenstation:<br />
Die Weimarer Republik _ . _ _ _ _ _ . _ _ 142<br />
d) Die Zeit der Verblenduııg: Das ,_3. Reich“ 156<br />
e) Der2. Weltkrieg . _ _ _ _ . . _ _ . . _ _ 162<br />
f) Bruch mit der Vergangenheit und aktiver<br />
Neubeginn _ _ _ _ _ _ _ . _ . _ . . _ _ _ _ 167<br />
|0. 1972: Ende der Selbständigkeit- Beginn der<br />
„Gesamtstadt <strong>Reichelsheim</strong>/Wetterau“ _ _ _ 174<br />
ll. Wichtiges und Interessantes<br />
1. Aus dem Alltagsleben der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
a) Der Hausbau _ . . . _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 175<br />
b) Das Obst - ein wichtiger Vitaminspender<br />
fürjung und alt . _ . . . . . . . _ _ _ _ _ 180<br />
9
Lehrer Keller berichtet in seiner<br />
„Heimatchronik“ aus dem Jahre 1935:<br />
a) Von den <strong>Reichelsheim</strong>er Vereinen _ _ _<br />
b) <strong>Reichelsheim</strong> und seine Schulen -<br />
eine wechselvolle Geschichte _ _ _ _ _ _<br />
c) Geschichte der <strong>Reichelsheim</strong>er Post _ _<br />
3 Sitten und Gebräuche in <strong>Reichelsheim</strong> _ _<br />
a) Der.lahresablauf _ _ _ _ _ _ _ _ _ _<br />
b) Der Lebenslauf. _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _<br />
c) Kirchliche Vorschriften zu den Feiern<br />
des Lcbenslaufes _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _<br />
d) „Der Mäusekuchen“ -eine <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Besonderheit____..________..<br />
Von Petschau und anderswo nach <strong>Reichelsheim</strong><br />
-ein Wegin eine neue Heimat. _ _ _ _ _ _ _ _<br />
Hymnen und Gedichte an die Heimatstadt<br />
<strong>Reichelsheim</strong>._.___.__.._..<br />
Abschließende Frage: Was heißt das eigentlich:<br />
„<strong>Reichelsheim</strong>er Stehkragenbaucr“? _ _ _ _ _<br />
_<br />
183<br />
188<br />
190<br />
193<br />
194<br />
198<br />
201<br />
203<br />
206<br />
207<br />
209<br />
Anhang:<br />
Flur- und Gcwann-Namen aus dem Schatzungsbuch<br />
von1734bzw.1721<br />
Literaturverzeichnis _ _ _
I. Geschichtliche Betrachtungen<br />
1. a) Vorgeschichte<br />
Wo fruchtbarer Boden urıd gemäßigtes Klima, wo zudem<br />
Wasser in ausreichendem Maße vorhanden ist, da<br />
haben sich seit Urzeiten Menschen niedergelassen, haben<br />
sich einen Unterschlupferrichtet, haben Früchte der<br />
Natur gesammelt, das Wild gejagt bzw. sich eine Hütte<br />
oder ein Haus gebaut, den Boden bearbeitet und Haustiere<br />
gehalten, Handwerke entwickelt und Kulturgüter<br />
geschaffen.<br />
Bodenbeschaffenheit, Klima und geographische Lage<br />
haben die Wetterau seit alters her zu einem begehrten<br />
Siedlungsgebiet der Menschen werden lassen. Deswegen<br />
wundert es nicht, daß sich auch in dem Gemarksgebict<br />
von <strong>Reichelsheim</strong>, diesem „Flecken im Herzen der Wetterau“,<br />
immer wieder Zeugnisse der Vergangenheit auffanden.<br />
Auch wenn um und in <strong>Reichelsheim</strong> nicht so intensiv<br />
nach Funden gesucht wurde wie in anderen Gemeinden<br />
der Region, so haben wir doch genügend Zeugnisse aus<br />
jenen alten Zeiten. Wir wissen, daß hier in <strong>Reichelsheim</strong><br />
schon in der Jungsteinzeit Menschen siedelten, denn an<br />
mehreren Stellen wurden Steinwerkzeuge gefunden. ln<br />
den Ortschaften rurıd um <strong>Reichelsheim</strong> hat es zudem<br />
viele Keramikfunde gegeben, die davon Mitteilung machen,<br />
daß hier schon vor 7000 Jahren Anfänge einer<br />
Landwirtschaft zu finden sind und damit auch die Anfänge<br />
der bewußten Umweltveränderung durch Menschenhand,<br />
seien dies Rodungen oder einfache Drainierungen<br />
gewesen. Diese Maßnahmen nahmen über Jahrhunderte<br />
und Jahrtausende zu und machten aus dem ursprünglichen<br />
Wald- und Wiesengebiet der Wetterau das, was wir<br />
heute kennen: eine äußerst intensiv genutzte und deswegen<br />
„ausgeräumte“ Ackerlandschaft_<br />
Die gefundenen Keramikscherben, die dem ungeübten<br />
Laienblick nicht sofort verraten, wie harmonisch die<br />
Gefäße einst geformt waren, teilen uns aber vor allem<br />
Bild der Ste1`naxr,<br />
die in der Reicf/1el.s/2ciım~'r Sac'/
„Zur Besiedlungsstruktur innerhalb der Landschaft<br />
läßt sich aus heutiger Sicht nur sagen, daß man im Abstand<br />
von zwei bis drei Kilometer voneinander Gehöfte<br />
oder kleinere Ansiedlungen rechnen darf, die aber wohl<br />
keinen Dorfcharakter hatten.“<br />
Ist man von der Aussage über die „Siedlungsdichte“<br />
der Wetterau überzeugt, so stellt man bei einem Blick<br />
auf die Landkarte des heutigen Wetteraukreises fest, daß<br />
eben dieser Abstand von zwei bis drei Kilometern zwischen<br />
den einzelnen Dorfkernen besteht- ein möglicher<br />
Hinweis darauf, daß die Siedlungsflecken immer wieder<br />
überbaut wurden, daß also selten alte Ansiedlungen<br />
„aufgelassen“ (= verlassen) und statt dessen neue Fluren<br />
zur Besiedlung ausgesucht wurden.<br />
In der frühen Bronzezeit, also vor ca. dreieinhalb bis<br />
viertausend Jahren, bildeten neben dem Bodenbau die<br />
Viehhaltung bzw. -nutzung (Rinder zu 50%, Schafe/<br />
Ziegen bzw. Schweine zu je ca 20%; s. hierzu Pinsker,<br />
S. 165) die Grundlage der wirtschaftlichen Existenz der<br />
frühen Menschen in der Wetterau.<br />
Daneben mußten aber auch andere Tätigkeiten beherrscht<br />
worden sein, denn Funde aus jener Zeit, z. B.<br />
Webgewichte und Spinnwirtel (= Schwunggewichte),<br />
Weisen auf Textilherstellung und -verarbeitung hin bzw.<br />
Siebgefäße auf die Verarbeitung von Molkereiprodukten<br />
oder Reib- und Mahlsteine auf die Fertigkeit zur<br />
Getreideverarbeitung_<br />
Aber auch Schmuck und Waffen fanden sich ausjener<br />
historisch dunklen Zeit. Eine Bronzenadel, an der Horloff<br />
gefunden, ging leider im letzten Krieg im Landesmuseum<br />
in Darmstadt verloren.<br />
Fundierte Beweise für die Ansiedlung von Menschen<br />
in <strong>Reichelsheim</strong> gibt es aber aus der „Jüngeren Bronzezeit“,<br />
die 2800 bis 3200 Jahre zurückliegt (also 12. bis<br />
8. Jahrhundert vor Christi Geburt). Urnenfelder an ver-<br />
Messer, gefunden in eirıern Reíchelsheim.er<br />
Brandgrab („Jüngere Bmnzezeit/ Urnenfelderzeit“,<br />
1200-750 v. Chr.) / Foro: H. Haag<br />
schiedenen Stellen bestätigen eine lang andauernde Besiedlung<br />
der .<strong>Reichelsheim</strong>er Gemarkung zu jener Zeit.<br />
Bei Drainagearbeiten im Jahre 1881, westlich vom alten<br />
Ortskern, etwa 200 Schritt weit vom Friedhof entfernt,<br />
stieß man auf Spuren von Gräbern. Es wurden<br />
auch Urnen (80 bis 90 cm hoch, mit Deckel) mit „Asche<br />
und menschlichen Knochenteilen“ bei Ausgrabungen in<br />
den Jahren 1909, 1910, 1927 und 1933 gefunden, und<br />
zwar im damaligen Hofe des Karl Horack (Im alten Dorf,<br />
nördlich der Stadtmauer: früher hieß dieser Bereich<br />
„Auf dem alten Dorf“) sowie auf der Gänsweide (östlich<br />
des alten Ortskernes, im Bereich des heutigen Kindergartens<br />
und des alten Sportfeldes). Im Wetterauer Museum<br />
sind noch einige dieser Fundstücke aufbewahrt. Sie<br />
zeigen den hohen kunsthandwerklichen Standard während<br />
der Bronzezeit.<br />
Ob die Gegenstände auch hier in <strong>Reichelsheim</strong> hergestellt<br />
wurden, das weiß man nicht, weil bisher weder hier<br />
noch in der ganzen Wetterau Reste von Brennöfen gefunden<br />
wurden_ Wurden sie nicht hier in <strong>Reichelsheim</strong><br />
oder der Wetterau hergestellt, so beweist dies wiederum,<br />
daß zu jener Zeit schon ein reger Handelsverkehr stattgefunden<br />
haben muß.<br />
12
M<br />
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/<br />
1,<br />
4«<br />
fr<br />
'ta<br />
Bretonen enthalten noch heute wesentliche Kennzeichen<br />
der keltischen Sprachgruppc)_<br />
Die Kelten waren ein reges Handelsvolk: Sie tauschtenz.<br />
B. den beliebten Bernstein der Ostsee mit Keramiken<br />
aus Norditalicn, das Kupfer aus Britannien mit dem<br />
Salz der Atlantikküste oder der ınitteleuropäisclıcn Salincn.<br />
Sie waren es erwicscnermaßen_ die in der Bad Nauheimcr<br />
(`ıcmarkung als erste Menschen Salz sicdetcn.<br />
Reste der Siedcöfcn konnten dies beweisen.<br />
/lrı-fczrmg und Nmfcin. ge/iizrtııfwz in Beim:/m`ı~21<br />
(__./Üf'1gcfire Brr›H2ífi'2fciI/ Urnc*fı_/i'/c.l('ı"_:1cil<br />
1200-750 v. (_`/zr. ) / Foto I I. Haag<br />
,_'.<br />
Vor den aus deın Norden vordringeııden Germanen<br />
lebten auch in der Wetterau die Kelten. die ,_Erhabcnen“,<br />
die „Tapferen“. wie die Griechen und die Römer<br />
die Angehörigen dieser Volksgruppe chrfurclıtsvoll<br />
nannten.<br />
Staatenbildend_ wie die Griechen und die Römer oder<br />
später die germanischen Franken, waren die Kelten wenig:<br />
Nur in Notzciten gab es Zusaınmensehlüssc in Stammesform,<br />
was den nach Norden vordringenden römischen<br />
Legionen sehr zum Vorteil gcreichte_<br />
Zu ihrer Glanzzcit - 200 bis 100 vor Christi Geburt -<br />
beherrschten die keltischen Stämme mit ihrer Kultur nahezu<br />
ganz West-, Mittel- und Südosteuropa: Vom Atlantik<br />
bis nach Kleinasien, von Britannien bis nach Norditalien<br />
und Spanien reichte ihr Einflußgcbiet (die eigentlichen<br />
Muttersprachen der Schotten, Waliser, Iren oder<br />
'l`r›ngc_/Zıß, gc'_/imd('ı1 als l:`iı::r'l.m`ı`r'/< in /\'
1. b) Die Zeit nach Christi Geburt<br />
Die Zeit nach Christi Geburt, also die sogenannte Zeitenwende,<br />
ist besicdlungsgeschichtlich unklar: „In der<br />
Forschung wird. _ _ seit längerem die Frage diskutiert, inwieweit<br />
auch die Wetterau in den Jahren um Christi Geburt<br />
und in den folgenden Jahrzehnten germanischc Besiedlung<br />
getragen hat. Wenn dabei besonders an clıattische<br />
Stammessplitter gedacht worden ist, so war das zwar<br />
anhand des spärlichen und spröden Fundmaterials nicht<br />
sicher zu belegen. iın Hinblick auf die spätere Entwicklung<br />
des 2. und 3. Jahrhunderts n. (flır. _jedoch durchaus<br />
vorstellbar (B. Steidl, „Frühkaiserzcitlichc germanischc<br />
Besiedlung in der Wetterau“, in: _,Wcttcrauer Geschichtsblätter“_<br />
Bd. 40, S. 2l7f.)_<br />
Kelten, Germanen (hier besonders die Chatten, die<br />
uns Hessen später ihren Namen gaben, sowie die Alamannen)<br />
und dann die Völker des riesigen römischen<br />
Imperiums trafen hier in der Wetterau zusammen, also<br />
die unterschicdlichsten Kulturen, die unterschiedlichsten<br />
Interessen, Menschen mit unterschiedlichsten Anlagen,<br />
welche diese Region und die Menschen dieser Region<br />
in späteren Generationen prägen sollten.<br />
Besonders kraß und intensiv war das Zusammentreffen<br />
dieser drei genannten Kulturkreise in der Wetterau,<br />
weil der am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. durch Kaiser<br />
Domitian befohlene Limesbau diese Gegend durchschnitt,<br />
und die damals natürlichen Wanderungen der<br />
Stämme und Völker wesentlich erschwerte: Der LIMES<br />
stellte statt dessen die Kulturräume in Konfrontation zueinander.<br />
Die ersten Versuche der Römer unter Drusus - einem<br />
Stiefsohn des berühmten Kaisers Augustus- im Jahre 10<br />
v. Chr. das rechtsrheinische Gebiet von Mainz aus zu erobern<br />
und dauerhaft zu besetzen, scheiterte. Die Niederlage<br />
der Römer 9 n. Chr. gegen die verbündeten germanischen<br />
Stämme im nördlichen Teil der Mittelgebirge<br />
(„SchIacht im Teutoburger Wa1d“) zwang sie, sich vorübergehend<br />
aus der Wetterau wieder zurückzuziehen.<br />
Ob die Legionen Roms bis dahin auch auf Widerstand<br />
der hier lebenden Menschen gestoßen waren, das ist<br />
nicht bekannt. Aber es ist nicht davon auszugehen, ist<br />
doch unter den Wissenschaftlern heute die Überzeugung<br />
verbreitet, daß dieses Stück fruchtbaren Bodens nordöstlich<br />
der römischen Bastionen Mainz, Höchst und Nida<br />
(= heute: Frankfurt-Heddernheim) zu jener Zeit nur<br />
recht dünn besiedelt war. Die Angriffe der Legionen<br />
führten verständlicherweise eher dazu, daß sich die germanischc<br />
Bevölkerung aus Angst vor Gefangenschaft<br />
und Sklaverei nach Norden hin verzog, meist auch in den<br />
waldreichen Vogelsberg, als in aussichtsloser Lage ihren<br />
Hof verteidigen zu wollen.<br />
Daß die Chatten und die anderen germanischen Stämme<br />
über die Anwesenheit der römischen Eroberer in unserer<br />
Heimatregion nicht erfreut waren, zeigen ihre kriegerischen<br />
Aktionen in den Folgejahrzehnten („Chattenkriege“)_<br />
Sie waren schließlich Anlaß für Kaiser Domitian,<br />
den Befehl zum Bau einer viele hundert Kilometer<br />
langen Grenzbefestigung zu erteilen, den Befehl zum<br />
Bau des LIMES: von Koblenz über den südlichen Taunus<br />
und dann an dessen Osthang nördlich in die Wetterau<br />
bis in die Gegend des heutigen Arnsburg und schließlich<br />
am westlichen Rand des Vogelsberges entlang südlich<br />
dem Main, dem Neckar und schließlich der Donau<br />
zu.<br />
Verlauf des Limes in Oberhessen<br />
14
` Obergermanien um 100 `<br />
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Provinzgrenze<br />
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Kastell, vermutet<br />
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Wie sehr <strong>Reichelsheim</strong> von dieser Grenzziehung betroffen<br />
war, kann sich jeder vorstellen, der den hiesigen<br />
Verlauf des Limes betrachtet: Die Kastelle von Echzell<br />
und Florstadt lagen in unmittelbarer Nähe, ja sie und zugleich<br />
das ganze Gebiet von Nordwest nach Südwest waren<br />
von hier hervorragend sichtbar, vor allem von dem<br />
unmittelbar an der Gemarkungsgrenze zu <strong>Reichelsheim</strong><br />
gelegenen Loehberg (auch Luh-, Loh- oder Lugberg genannt),<br />
dieser kleinen Basaltkuppe nahe der „Bingenheimer<br />
Mühle“, rechts der Straße von <strong>Reichelsheim</strong> in<br />
Richtung Bingenheimer Kreuz. Hier stand auch logischerweise<br />
ein römisches Kleinkastcll, ein Steinbau von<br />
etwa 400 qm. „Die Höhe diente als Richtpunkt zum Abstecken<br />
der Grenzlinie“ (s. „Die Römer in Hessen“,<br />
Hrgb. Dietwulf Baatz und Fritz-Rudolf Hermann,<br />
S. 408). Das Gemarktıngsgebiet des heutigen <strong>Reichelsheim</strong><br />
war damals also unmittelbares Grenzland, gelegen<br />
im nördlichen Zipfel' des riesigen „Imperium Romanum“,<br />
des römischen Weltreiches.<br />
Es darf allerdings nicht angenommen werden, daß dieser<br />
Grenzwall völlig undurchlässig war. „Passierstellen“,<br />
vor allem bei den gut befestigten Kastellen, erlaubten<br />
einen „Kleinen Grenzverkehr“. Sie führten aber auch<br />
dazu, daß sich mancherorts beidseitig dieses Sehutzwalles<br />
Ansiedlungen bildeten: Manche Fuhre Getreide mag<br />
in das römische Gebiet gefahren, manche „wertvollen<br />
Gebrauchsgüter“, wie Keramiken und Eisengerät, aber<br />
auch Tuchwaren und Schmuck, mögen in das unbesetzte<br />
germanische Gebiet zurückgetauscht worden sein. Der<br />
eine oder andere junge Chatte, Cherusker oder Suebe<br />
wird in Richtung Süden bei Eehzell, Florstadt oder Altenstadt<br />
das Palisadentor des Limes durehschritten ha»<br />
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ben, um sich gegen gute Münze und verführerische Versprechungen<br />
den „glorreichen“ römischen Legionen anzuschließen.__<br />
Spc'itrr`›`mist:/ze Keramiken, Sr:/'a'i_s'_s'el und Kanne -<br />
ge_fia'1_den in Reic/2eI.s'heim<br />
(4. Ja/ırhanderrn. Chr. ) /Foto H. Haag<br />
Innerhalb des römischen Herrschaftsgebictes, also<br />
auch in der Wetterau, wurde zudem eine rege Siedlungspolitik<br />
betrieben: Die Veteranen des Heeres erhielten<br />
als eine Art „Pension“ zum Abschied oft Land nahe des<br />
Limes übereignet_ Sie ließen sich nieder, bauten sich eine<br />
„Villa rustica“, also ein landwirtschaftliches Anwesen,<br />
bearbeiteten Wald, Wiesen und Felder (oder ließen sie<br />
bearbeiten ~ Sklavenarbeit war in jener Zeit die Regel)<br />
und versorgten damit sich und durch Abgaben oder<br />
Überschüsse die Legionen in den Kastellen oder die Zivilisten<br />
in den Städten des Imperium Romanum.<br />
Daß die Felder und Wiesen des heutigen <strong>Reichelsheim</strong><br />
auch zur Ernährung der römischen Heerseharen beitrugen,<br />
das ist sicher. Allerdings gibt aus jener Zeit keine<br />
konkreten Funde. Wie schon an anderer Stelle ausgeführt:<br />
Durch die intensive landwirtschaftliche Nutzung<br />
der Felder über Jahrhunderte, _ja Jahrtausende hinweg<br />
wurde vieles zerstört, wurde vieles dem heutigen Bestreben<br />
nach Bewahrung der Zeugnisse der Vergangenheit<br />
entzogen _<br />
Doch vergessen wir nicht: Am südlichen Rand der Wetterau<br />
lagen die bedeutenden römischen Siedlungen Nida<br />
und Höchst; nicht viel weiter lag Mainz, die imposante Metropole<br />
der Römer in Germania. Aber auch die vielen Kastelle<br />
entlang de_s Limes über den Taunus, allen voran die<br />
(als Rekonstruktion wieder zu bestaunende) Saalburg,<br />
mußten aus der fruchtbaren Ebene zwischen Taunus und<br />
Vogelsberg beliefert werden. I)ic Wetterau ınit ihren ertragreiehen<br />
Wiesen und Felder war damit äußerst wichtig<br />
für die römische Politik zur Sicherung des Nordens des<br />
Weltreiches: Die vielen Römcrstraßen_ die noch heute<br />
schnurgeradc unser Kreisgcbiet durchschneiden, verraten<br />
dies _jcdem interessierten Betrachter.<br />
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1. c) Von den Römern zu den Franken<br />
Woher die Bezeichnung „Römerberg“ in <strong>Reichelsheim</strong><br />
kommt, darüber gibt es verschiedene Geschichten<br />
bzw. Deutungen. Manch einer bringt es gerne mit der<br />
Tatsache zusammen, daß auf der Erhebung des Römerberges<br />
das Rathaus steht, in welchem verwaltet, in welchem<br />
in gewissem Umfang Orts- und Marktrecht beschlossen<br />
und gesprochen wurde. Den Namen hätten die<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er von dem Rathaus im 40 Kilometer entfernten<br />
Frankfurtam Main, genannt der „Römer“, übernommen.<br />
Das mag sein, wenn auch die Frankfurter<br />
selbst - aber auch <strong>Reichelsheim</strong>er - solche eine Möglichkeit<br />
ausschließen. Wenn sie zuträfe, so fragen sich<br />
viele, warum haben andere Orte aus dem Rhein-Main-<br />
Gebiet ihr Rathaus nicht auch „Römer“ genannt?<br />
Schön wäre es natürlich, wir könnten die Bezeichnung<br />
für diese höchste Erhebung innerhalb des Altortes <strong>Reichelsheim</strong>,<br />
von der man aus, denkt man sich alle Häuser<br />
weg, die Horloffaue weit überblicken kann, mit historischen<br />
Funden belegen, also mit Zeugnissen aus der römischen<br />
Herrschaftszeit. Militärs, so weiß man allgemein,<br />
suchen sich für Sieherungsposten gerne vergleichbare<br />
geologische Erhebungen (s. auch auf` der anderen Seite<br />
der Horloffaue den Luh- oder Lochbcrg).<br />
Wenn man zudem bedenkt, daß die Echzeller Kirche<br />
direkt auf römischen Bauten erstellt wurde und die Häuser<br />
der Römer wohl als „Steinbruch“ für das christliche<br />
Gotteshaus genutzt wurden - warum sollte Vergleichbares<br />
nicht auch bei unserem Siedlungsflecken Fakt gewesen<br />
sein. . '?<br />
Zwar wird auf der Höhe des Römerberges eher eine<br />
„VILLA RUSTICA“ gelegen sein als eine militärische<br />
Wachanlage. „Für den Bau einer Hofanlage bevorzugten<br />
die Römer die Hanglage an einer sonnigen Talseite,<br />
möglichst über einem Wasserlauf gelegen. Zusätzliche<br />
Brunnen stellten die Wasserversorgung sicher. Damit<br />
stand eine höher gelegene trockene Zone für den Ackerbau<br />
und eine feuchte Talzone für Weideland zur Verfügung.<br />
_ _ Die meisten Siedlungsplätze lagen nach aktueller<br />
Kartierung an einem Osthang.“ So schreibt Vera<br />
Rupp, die Archäologin des Wetteraukreises, in ihrem<br />
jüngst erschienenen Aufsatz: „Römische Landwirtschaft<br />
in der Wetterau“ („Wcttcrauer Geschichtsblätter“,<br />
Bd.4(), 1991, S.25l). Frau Dr. Rupp beschreibt dabei<br />
zwar nicht den Sicdlungsstandort <strong>Reichelsheim</strong> zur Zeit<br />
der Besetzung der Wetterau durch die römischen Legionen<br />
- aber alles scheint darauf zu passen: Der Römerberg<br />
hat Osthanglage, an seinem Fuß fließt die Horloff<br />
1.<br />
durch ein fruchtbares Weideland; wasserreiche Brunnen<br />
gab es in frühere Zeit auch, und höher gelegene, also<br />
„trockene“ Ackerflächen waren genügend vorhanden.<br />
Doch konkrete Funde haben wir nieht. Was wir haben,<br />
ist eine Bemerkung des Schriftstellers Georg Schäfer,<br />
der in seinem 1898 verfaßten Heimatroman „Der wilden<br />
Frauen Gestühl“ schrieb:<br />
„Unmittelbar hinter der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche zieht<br />
sich ein Häuserkomplex hinab, der den Namen Römerberg<br />
führt. Wenn die Einwohner dort einen Keller graben,<br />
einen Brunnen ausschachten oder ein Fundament<br />
ausheben, fördern sie kostbare goldene Armringe, Nadeln<br />
mit Edelsteinen besetzt, Goldmünzen und seltene<br />
Urnen, alles von unschätzbarem Werthe zu Tage.“ G.<br />
Schäfer machte in einer Fußnote (s. S. 2()()f.) den gezielten<br />
Hinweis: „Historisch“, um die Aussage über das<br />
Beschriebene wirklich glaubhaft erscheinen zu lassen.<br />
Wie dem auch sei: <strong>Reichelsheim</strong>s Gemarkungsgebiet<br />
lag seit der Zeitenwende für über 250 Jahre in unmittelbarem<br />
Grenzgebiet des römischen Imperiums zu den<br />
Siedlungsgebieten verschiedener germanischer Stämme.<br />
Aus der Chronik von Echzell („l2()0 Jahre Echzell“)<br />
wissen wir, daß das dortige Kastell, das ca l()()(l Mann be-<br />
|8
herbergte (davon 500 Reiter), mehrfach (zumindest<br />
zweimal) zerstört wurde, einmal in der 2. Hälfte des<br />
2. Jahrhunderts, wahrscheinlich in Zusammenhang mit<br />
germanischen Angriffen, und einmal im Jahre 233 während<br />
eines Alamanneneinfalls.<br />
Die Angriffe, so wissen wir heute, richteten sich auch<br />
gegen die Kastelle Oberflorstadt und Altenstadt. Das<br />
Klcinkastell auf dem Lochbcrg bei unserem Ort wird<br />
gewiß rıicht verschont geblieben sein - und damit auch<br />
nicht die Menschen mit ihrem Hab und Gut, die in dem<br />
damaligen Gebiet von <strong>Reichelsheim</strong> ihre Siedlungsstelle<br />
hatten.<br />
Die Römer konnten die drängenden Chatten und Alamannen<br />
jeweils zurückdrängen - doch für unsere Region<br />
kündeten die Angriffe einen historischen Wandel an:<br />
nämlich den Rückzug der römischen Legionen und in deren<br />
Folge auch den der römischen Siedler aus der<br />
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Weckesheim) freigab, ein besonderes Indiz für die längere<br />
Siedlungszeit der Alamannen in der Gemarkung des<br />
heutigen <strong>Reichelsheim</strong>.<br />
Da Friedhöfe in jener Zeit meist außerhalb des Siedlungsbereiches<br />
lagen, kann darauf geschlossen werden,<br />
daß iın Bereich des heutigen Ortskernes und/oder im Bereich<br />
des Ortsteiles „lm alten Dorf“ vielleicht vor ca.<br />
I600 Jahren Alamannen ihre Heimat hatten.<br />
Fihe/ aus Brt›ftz_e um! (fürtelsrhmtl/e aus Eisen,<br />
ge/:`t.mden in einem Mfittfrtergrrtlı in Reiche/_s'/rein:<br />
(4. .lahrhmtc/ert) / Foto H. Hau_t,f<br />
Gefäße aus einem Mahrtergrab bei Reit;'helshet`m<br />
(4. Jahrhundert) / Foto H. Haag<br />
Hartdge/ertigtes (Iejafß aus dem 4. _/ahrht.-mdert,<br />
geftmden in Re1`c'helsheim / Foto H. Hr.tag<br />
Die Alamannen, die kein festes Staats- und Verwaltungsgefüge<br />
kannten, hatten auf dem Glauberg den Sitz<br />
eines ihrer Kleinkönige. Aber sie waren zu locker organisiert,<br />
und so kam auch das Ende ihrer Siedlungszeit in<br />
der Wetterau nach der Niederlage gegen die Franken.<br />
Von jenen wurden sie schließlich in das Gebiet südlich<br />
der Neckarmündung verdrängt.<br />
In Folge begann die prägende Zeit der aus dem Westen<br />
vordrängenden Franken, beherrscht von dem Geschlecht<br />
der l\/lerowinger und später der Karolinger. Mit<br />
ihnen, mit den Franken, trat <strong>Reichelsheim</strong> auch an das<br />
Licht der urkundlichen Existenz. Sie waren demnach die<br />
„historischen Urväter“ des heutigen <strong>Reichelsheim</strong>, zumindest<br />
aber die, die diesem Ort den Namen geben.<br />
20
2. a) Die Franken - die Namensgeber von <strong>Reichelsheim</strong><br />
In den Jahren 496/497 n. Chr. besiegte der Frankenkönig<br />
Chlodwig die Alamannen bei Zülpich (heute Kreis<br />
Euskirchen in Nordrhein-Westfalen). 506 n. Chr. wird<br />
der letzte Widerstand der Alamannen bei Straßburg<br />
gebrochen.<br />
Die Frankenkönige aus dem Adelshaus der Merowinger<br />
wollten nicht nur Siedlungsgebiet für ihre Volksscharen,<br />
wie dies bei den anderen germanischen Stämmen<br />
oder Stammesverbänden meist der Fall war; die Frankenkönige<br />
wollten herrschen, wollten ihr Herrschaftsgebiet<br />
ausdehnen. Und sie waren erfolgreich, weil sie<br />
eine funktionierende Verwaltung aufbauten, z. B. durch<br />
einen von ihnen abhängigen Amts- bzw. Verdienstadel,<br />
den sie geschickt einzusetzen wußten. Sie waren aber<br />
auch deswegen erfolgreich, weil sie sich einen starken, in<br />
Verwaltungsfragen kompetenten, weil durch das alte<br />
Römische Reich geprägten Verbündeten suchten: die<br />
christliche Kirche, die sehon damals recht straff vom<br />
Bischof von Rom, dem Papst, geführt wurde.<br />
Ein Jahr nach seinem Sieg über die Alamannen läßt<br />
sich Chlodwig in Reims (im heutigen Frankreich gelegen)<br />
von dem dortigen Bischof taufen. Dieser Vorgang<br />
war kein privates Ereignis - diese sakrale Handlung<br />
machte das Christentum zur fränkischen Staatsreligion!<br />
Die Taufe Chlodwigs wurde für das Reich der Franken<br />
und zugleich für die römische Kirche zum Grundstein<br />
eines großen historischen Erfolges.<br />
Die Ausbreitung des Christentums ging somit einher<br />
mit der Ausbreitung des Frankenreiches. So kam auch<br />
der christliche Glauben schon im 6. Jahrhundert in die<br />
Wetterau. Die fränkischen Könige gaben die eroberten<br />
Gebiete treuen und verdienstvollen Anhängern auf Lebenszeit<br />
„zu Lehen“ oder sie verschenkten große Flächen<br />
an Klöster und Kirchen, welche diese wiederum an<br />
Repräsentanten des alten germanischen Adels oder an<br />
treue fränkische „milites“ (Reiter bzw. Ritter), welche<br />
der Kirche durch besondere Ergebenheit aufgefallen waren,<br />
auf Lebenszeit zu Lehen. Damit gewannen Kirche<br />
und Klöster diese Vertreter der weltlichen Macht endgültig<br />
für den Glauben des Bischofs von Rom, demnach<br />
für das Christentum. Weltlicher Adel und kirchliche<br />
Führer wirkten also im Verbund: Damit konnte am sichersten<br />
der alte Glauben und das Streben nach alter germanischer<br />
Stammesherrschaft überwunden werden.<br />
Bald hatten sich die Franken weit nach Hessen und<br />
Thüringen (das heutige Osthessen war damals Teil Thüringens)<br />
ausgebreitet. Systematisch betrieben sie den<br />
Landesausbau. „Man siedelte meist am Fuß der randlichen<br />
Hügel, über einem Wasserlauf gelegen“ (Vera<br />
Rupp „Spätantike und Frühmittelalter in der Wetterau -<br />
Eine Einführung“, in: „Wetterauer Geschichtsblätter“,<br />
Bd. 40. S. 290). Weiter schreibt Vera Rupp in ihrer wissenschaftlichen<br />
Abhandlung: „Viele fränkische Höfe<br />
liegen offenbar unter heutigen Ortskernen und werden<br />
somit nur in Ausnahmefällen entdeckt.. . In der Wetterau<br />
sind bisher nur wenige Spuren fränkischer Siedlungen<br />
zutage gekommen. Jedoch weisen Ortsnamen mit Endungen<br />
wie -weil oder -heim auf frühfränkische Siedlungsgründungen<br />
hin - z. B. Dortelweil, Petterweil oder<br />
<strong>Reichelsheim</strong>; bei letztgenanntem Ort fand man einen<br />
frühmittelalterlichen Friedhof.“<br />
Auch in der Chronik unserer Naehbargemeinde Echzell<br />
wird schon auf <strong>Reichelsheim</strong> als eine frühmittelalterliche,<br />
also zunächst alamannische, dann fränkische Siedlung<br />
hingewiesen: „Unter den benachbarten Königshöfen<br />
in den Gemarkungen Berstadt, Bingenheim, Dauernhcim<br />
und <strong>Reichelsheim</strong> können die frühmittelalterlichen<br />
Funde besser als die jüngeren Schrifturkunden die<br />
alamannische und seit dem 6. Jahrhundert die fränkische<br />
Nachfolge des weithin agrarisch genutzten, bislang römi-<br />
21
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====<br />
Beispiel einer ()rtsgri'incliing in kar0li`rigı`_s'ch.er Zeit,<br />
hier Würzburg (entn. : E. Lehmann, „Za den<br />
baulicher: Anfängen, der detitscheri Stadt“, S. 225)<br />
schen Dekumatenlandes (_- „ Zehntlandes“, also altrömischf_*K<br />
es olonialgebiet " f 'F in ' Deutschland) _ be zeugen“ * (W.<br />
Jorns_ „ Zur Früh g fesch` _* ic h te von Echzell“ in: „l200Jahre<br />
E<br />
LI.<br />
chzell , S. 22).<br />
Wann <strong>Reichelsheim</strong> genau gegründet wurde?<br />
Besser: Wann <strong>Reichelsheim</strong> _ zu einer fränkischen Siedlung<br />
erhoben un<br />
d darauf seinen ` Namen erhielt?<br />
`<br />
Hier bleiben Fragezeichen!<br />
Wir wissen ledigrlic h , daß es wahrscheinlich _ im 6 . und<br />
7. Jahrhundert fester Bestandteil des Frankenreiches<br />
wurde.W`ie ob en schon angefuhrt, " pflegten die Franken<br />
22<br />
Siedlungen die Endung „-weil“ oder„-h eım“ ' anzuhangen.<br />
Diese fügte<br />
n sie ` entweder Namen von Sache n<br />
_<br />
oder von Personen an:<br />
„Stein-heim“ oder „Holz-heim“<br />
Eš _ __...--.\ bzw.: „Heuchel-heim“ (nach „huch'l io“, der Spötter)<br />
\ „Weckes-heim“ (nach „Weggo“, der Schathirte)<br />
Reichels-heim (nach „Richolf , im Mittelalter<br />
= a ii<br />
i<br />
ii<br />
_ ííimmum<br />
ı<br />
ein bel' iebter Mannername, *` in ` der Bedeutung.<br />
ıııııııı \`<br />
ii<br />
í_mıııiı<br />
„Der treu zum Reich steht“).<br />
_--,_-í- tııiıı ›<br />
i ııııfli'-"_<br />
'I<br />
ıiıiı<br />
i ii<br />
I<br />
Wahrscheinlich wurde einem verdienten Franken unsere<br />
Ansiedlung zur Verwaltung und Nutzung gegeben.<br />
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immn<br />
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ııi<br />
ı<br />
m ı<br />
ıı_iı<br />
I<br />
um iníıiàıı<br />
ı<br />
Da Historiker wie W. Jorns (s. o.) vom Bestehen eines<br />
í<br />
„fränkischen Königshofes“ in <strong>Reichelsheim</strong> ausgehen<br />
(entweder im Bereich des Ortsbereiches „Im alten Dorf“<br />
dessen Flurbezeichnung bis in das 18. Jahrhundert vielsagend<br />
„Auf dem alten Dorf“ lautete) oder im Bereich des<br />
Römerberges - oder vielleicht auch beides'?), so haben<br />
wir durch diese Bezeichnung die Aussage darüber, daß<br />
einem „Richolf“ vom König der Franken dieser Siedlungsflecken<br />
zu Lehen gegeben worden war, nicht von<br />
der Kirche oder von einem Kloster. Da sich ab dem<br />
8. Jahrhundert aus dem fränkischen Verdienstadel der<br />
Geburtsadel entwickelte - die Könige wurden wegen der<br />
zunehmenden Größe ihres Reiches immer abhängiger von<br />
der militärischen Adelsschicht, also den Rittern und den<br />
Grafen -, wurde der Name des ursprünglich Beschenkten<br />
häufig zum Kern des heute noch existenten Ortsnamens.<br />
Daß die Rö mer ihre ' Siedlungsplatze ` " meist _ an „ e' ınem<br />
Osthang“ errichteten, „an einer sonnigen Talseite, möglichst<br />
über e' inem Wasserlauf ' ` gelegen“ (s _ Vera' Rupp in<br />
ihrem schon genannten Aufsatz „Römische Landwirtschaft<br />
in d er Wetterau“ in ` „ Wetterauer Gesich' ichtsblät-<br />
ter“,Bd.40,S.25l),d' as' wurde schon ¬ im ` vorherigen ` Ka-<br />
dargestellt. Daß die Alamannen sich in der Regel al-<br />
pitel<br />
te römische Siedlungspl"<br />
atze aussuchten, auch das wurde
schon gesagt. Und von den Franken haben wir historisch<br />
belegte Siedluiigsbcispiele. die genau auf <strong>Reichelsheim</strong><br />
zu übertragen sind und die die historische Siedlungsabfolge<br />
von den Römern zu den Alamannen zu den Franken<br />
zu beweisen scheinen. ln seinem Aufsatz „Zu den<br />
baulichen Anfängen der deutschen Stadt“ gibt er u. a.<br />
eine Plaiiskizze von Würzburg aus der karolingischen<br />
Zeit, der Zeit, in der auch <strong>Reichelsheim</strong> als Teil des<br />
Herrscliaftsbereichs der Franken „historisch“, also urkundlich,<br />
das Licht der Welt erblickte (s. nebenstehende<br />
Skizze).<br />
<strong>Reichelsheim</strong> ~ als „Richolfcsheim“ ~ gehörte als südlicher<br />
Zipfel mit den umliegenden Orten zu dem Gau<br />
„Wetereiba“, also der Wetterau, das die Frankenkönige<br />
schon recht früh dem Bonifatius-Klostei' Fulda gcsclienkt<br />
hatten. Vor allem die Dörfer Berstadt, Echzell,<br />
Dauernhcim, Heuchelheim und <strong>Reichelsheim</strong> gehörten<br />
zu der „Fuldischen Mark“. Die Grafen und Fürsten zu<br />
Nassau, welche von 1416 Besitzantcile an <strong>Reichelsheim</strong><br />
durch Tausch erwarben, mußten bis zum Ende des 18.<br />
Jahrhunderts, also bis zur Auflösung der kirchlichen Fürstentümer<br />
durch den Einfluß Napoleons, jeweils bei ihrem<br />
Regierungsantritt die Verlängerung des Lehens des<br />
halben Ortes <strong>Reichelsheim</strong> erbitten - was ihnen auch jeweils<br />
gewährt wurde, nachdem sie sich l423 die dem Bistum<br />
Fulda gehörende Hälfte unseres Ortes als „Erblehen“<br />
crkauft hatten (s. hierzu in folgenden Kapiteln die<br />
entsprechenden Urkunden und Textausführungen).<br />
Durch die Vergabe der Orte in der „Mark“ durch das<br />
besitzende Kloster Fulda an Grafen und Ritter der Region<br />
als „Lehen“ ergab sich die Notwendigkeit von Vertragsabschlüssen.<br />
Solche waren auch notwendig, wenn<br />
Ritter und Grafen der Gegend im Streit miteinander lagen.<br />
Zur Klärung der Streitfälle wurden angesehene<br />
Zeugen unter den Staiideskollegen gesucht. Diese Zeugen<br />
wurden in den Verträgen und Akten dann mit dem<br />
Zusatz, aus welchem Ort sie herstammten, benannt.<br />
Damit tauchen für die Zeit von 750 bis 900 n. Chr., in<br />
der sich - wie ausgeführt - im Frankenrcich aus dem<br />
Amts- bzw. Verdienstadel der Geburtsadel entwickelte,<br />
oft erstmals die Namen der timlicgenden Ortschaften<br />
auf. Denn durch die Veränderungen im Standesrccht<br />
kam es nun darauf an, den einst vom König oder von<br />
einem Kloster erhaltenen Besitz auch für die nach folgenden<br />
Generationen unstreitig abzusichern.<br />
Wenn ein Ort „Glück“ hatte, daß ein solches altes<br />
Schriftstück, das seinen Namen auffülirte, erhalten geblieben<br />
ist, so feierte er bereits seinen I200. (ieburtstag<br />
oder seinen llll. Geburtstag oder was auch immer.<br />
Wenn ein Ort nicht dieses „arcliivarisclie Glück“ hatte,<br />
so tauchte sein Naınc erst viel später auf, vielleicht in der<br />
Zeit des Raubrittei'tuirıs (wie dies z. B. bei Heuchelheim<br />
der Fall war) - und feiert deswegen in unseren .Iahren<br />
erst sein 750. Wiegenfest! <strong>Reichelsheim</strong>, dieser beschaulich<br />
an der Horlol`f gelegene Ort, der schon vor den Franken<br />
für viele Mcnschengeiierationen unterschiedliclistei'<br />
Volkszugehörigkeit Heimat war - dieses Reichelslıeim<br />
findet - nach Meinung der Forscher - seine erste urkundliche<br />
Erwähnung 8l7 ii. Chr. Konkret: Vor ll75 .Iahren<br />
tauchte der Name „Rieholfesheim“ erstmals in einer<br />
Urkunde auf.<br />
Es gibt zwar auch abweichende Angaben zur ersten urkundlichen<br />
Nennung unseres Ortes; so geben manche<br />
Ouellenforscher andere Jahreszahlen an: 718, 847 oder<br />
gar 852. _ _<br />
Das Hessische Staatsarchiv Marburg teilte I967 dem<br />
Magistrat der Stadt <strong>Reichelsheim</strong> folgendes mit: „Ein<br />
ansehnlicher Teil der ehemals sehr reichen Überlieferung<br />
der Reichsabtei Fulda ist im Laufe der Jahrhunderte<br />
seit der Reformation in Verlust geraten.“<br />
23
Da also viele Urkunden heute nicht mehr<br />
existent sind, soll es bei 817 gemäß der schriftlichen<br />
Aufzeichnungen des <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Pfarrers Friedrich Frankenfeld bleiben, der<br />
sich 1849, also vor ca. 150 Jahren als erster die<br />
Mühe machte, die alten Unterlagen über <strong>Reichelsheim</strong><br />
zu durchleuchten, um Licht in die<br />
Vergangenheit seines Amtsortes zu bringen.<br />
Er schrieb (s. S. 87 der Pfarrchronik):<br />
„Reiche1sheim, früher Richolfesheim und<br />
Richolfheim genannt, soll im Jahre 817, wo<br />
Kaiser Ludwig der Fromme 187 Mansen<br />
(1 Manse umfaßte 30 Morgen Ackerland oder<br />
1 Hube. Das Wort kommt von ,manere` und<br />
entspricht dem deutschen ,heim` = Hofstclle,<br />
Siedlungsstelle) in Bingen heim und „Echecila“<br />
im Gau „Wettereiba“ (= Wetterau) gegen andere<br />
Güter aii die Abtei Fulda vertauschte,<br />
auch unterjenen 187 Mansen mitbegriffen gcwesen<br />
und also auch unter die Abtei Fulda gekommen<br />
sein.“<br />
Pfarrer Fran kenfeld schrieb weiter:<br />
„Gewiß ist es, daß es eine geraume Zeit<br />
dem Abt von Fulda gehörte und daß der Abt<br />
Hatto von Fulda im Jahre 852 „ad portam monasteru<br />
fuldensis“ oder zur Unterstützung der<br />
Armen viele Güter unter anderm auch in<br />
,Echecila“ und in ,Richolfesheim“ verschenkte...“<br />
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2. b) Das Mittelalter<br />
Die Herren von Münzenberg, das mächtigste Rittergeschlecht<br />
in der Wetterau, wurden als erste mit einer Hälfte<br />
des Ortes <strong>Reichelsheim</strong> belehnt, also mit dem Anspruch<br />
auf Abgaben der Arbeitserträge der hier lebenden<br />
Menschen. Dies war im Jahre 852, das Jahr. das<br />
manche Ouellenforscher als das eigentliche „Geburtsjahr“<br />
von <strong>Reichelsheim</strong> betrachten. Die Münzenberger<br />
hatten zu jener Zeit einen mächtigen Einfluß. Viele Orte<br />
gaben sie niedergestellteren Rittern („milites“) zu Lehen.<br />
also zum Nutzen und zugleich zur Verwaltung, und<br />
dies auf Lebenszeit.<br />
Das Kloster Fulda versorgte somit nur noch eine Hälfte<br />
des Orts, bzw. bekam nur noch aus einer Hälfte direkt<br />
Einkünfte. Über die andere Hälfte, die sie als Lehen vergeben<br />
hatte, erhielt sie erst wieder Verfügungsreeht -<br />
und damit aus ihr meist auch Geld - nach dem Tode dessen.<br />
der es zu Lehen bekommen hatte. Denn „frei“ waren<br />
die Bewohner des Ortes <strong>Reichelsheim</strong> nicht. Sie waren<br />
hörig und blieben es, mit Einschränkungen, bis in das<br />
19. Jahrhundert hinein!<br />
Mit dem Verfall des Hauses Münzenberg - die männliche<br />
Linie starb mit dem Tode von Ulrich ll. im Jahre<br />
1255 aus - begann der Aufstieg der Herren von Falkenstein.<br />
Der damalige Herr von Falkenstein, verheiratet<br />
mit einer Schwester von Ulrich II., dem erwähnten Herren<br />
zu Münzenberg. übernahm das Lehen mit Genehmigung<br />
des amtierenden Bischofs von Fulda. Philipp von<br />
Falkenstein der Ältere wurde am 8. Februar 1303 mit<br />
dem Burglehen zu Bingenheim belehnt, oder anders ausgedrückt:<br />
In jenem Jahr verpfändete der Abt Heinrich<br />
von Fulda die Fuldische Mark mit dem zentralen Sitz<br />
Bingenheim an Philipp den Älteren von Falkenstein.<br />
Da die Zeiten unruhig waren - das Raubrittertum trieb<br />
sein Unwesen in allen Teilen Deutschlands - und dabei<br />
manche Orte geplündert wurden (der injener Zeit lebenııflı<br />
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,. Lahmer Bettler“<br />
(Aus: „Betrler, Gaımer und Prrı/efcıı“'. )<br />
de Dichter Walther von der Vogelweide sprach in einem<br />
seiner bekanntesten Gedichte auch von „Schlim men Zeiten“),<br />
wurde von dem geistlichen und weltlichen Adel<br />
öfters versucht. die durch Raub, Brandschatzung und<br />
Krieg entstandenen Mindereinnahmen durch Verpfändungen<br />
ganzer Orte oder Marken auszugleichen. Manches<br />
Mal wurden sogar ganze Ortschaften verkauft, was<br />
einen Besitzerwechsel zur Folge hatte. In solchen Fällen<br />
wurden in einer Urkunde die „Unterthanen“ aus ihrem<br />
_<br />
25
Gehorsam gegenüber dem bisherigen Besitzer entlassen<br />
und zugleich verpflichtet, den neuen Herrschaften zu<br />
huldigen und in Zukunft treu und ergeben zu dienen. . .<br />
Noch ein weiterer Grund, und zwar ein sehr wichtiger<br />
Grund sei hier für die vielen Besitzerwechsel der Herrschaften<br />
in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts erwähnt:<br />
Es war die große Pest!<br />
Allein in Deutschland raffte sie zwischen 1348 und<br />
1352 schätzungsweise 30% der Bevölkerung hinweg!<br />
Manche Orte waren fürchterlich betroffen, manch andere,<br />
vor allem die ländlichen, weniger. Wie diese Pest in<br />
<strong>Reichelsheim</strong> gewütet hat, das wissen wir aus keiner<br />
Quelle. Nur eines weiß die Geschichtswissenschaft:<br />
K e i n Dorf, kein „Flecken“ blieb in Deutschland verschont!<br />
Schrecklich muß es gewesen sein: Der Tod als der tägliche<br />
Gesell in den Gassen des heimischen Ortes. _ .<br />
Schrecklich muß es auch gewesen sein, weil Menschen<br />
aus anderen Orten, vor allem aus den engen Städten, die<br />
auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf waren,<br />
herumvagabundierten, völlig entwurzelt, nur von Bettelei<br />
und -wenn nichts anderes half- von Diebstahl lebten.<br />
Die Mächtigen jener Zeit reagierten und richteten in<br />
nahezu jedem Ort ein eigenes Gericht ein, bestehend aus<br />
gewählten Schöffen, den angesehenen Mitbürgern des<br />
jeweiligen Ortes. So auch für <strong>Reichelsheim</strong>: 1354, zwei<br />
Jahre nach Abklingen der Pest, wird <strong>Reichelsheim</strong> erstmals<br />
in den Urkunden als „Dorf und Gericht <strong>Reichelsheim</strong>“<br />
genannt. Dieses Schöffengericht mußte mindestens<br />
dreimal im Jahr zusammentreten, um dreimal im<br />
Jahr als ruhender Pol das Ortsschicksal mitzubestimmen.<br />
Für <strong>Reichelsheim</strong> gab es ca. 100 Jahre nach der Besitznahme<br />
durch die Falkensteiner den entscheidenden<br />
Wechsel für die zukünftige Entwicklung. Auch hier war<br />
das Aussterben der männlichen Linie der Auslöser: 1416<br />
tauschte Graf Philipp I. von Nassau-Weilburg „gegen<br />
Hingabe seines Anteiles am Gericht Gambach die Hälfte<br />
des Dorfes und Gerichts <strong>Reichelsheim</strong>“ von dem Erzbischof<br />
Werner von Trier (der der letzte Sproß aus dem<br />
Hause Falkenstein war).<br />
Die Grafen von Nassau waren ein aufstrebendes<br />
Adelshaus in jener Zeit, das sich - ausgehend von kleinen<br />
Besitzungen im Unterlahngebiet - im 11. Jahrhundert<br />
durch zielbewußte Erwerbspolitik im Raum des<br />
Taunus und des Westerwaldes zwischen Main, Mittelrhein,<br />
Sieg und Wetterau ausgeweitet hatte. Ihren Machthöhepunkt<br />
hatten sie im 13. Jahrhundert in der Zeit der<br />
Staufer-Kaiser. Durch den 1255 vorgenommenen Teilungsvertrag<br />
kam es zu einer Nord-Süd-Teilung der<br />
Grafschaft: Die sog. Walram-Linie erhielt die Besitzungen<br />
um Wiesbaden, Idstein und Weilburg, wozu dann<br />
später auch die Besitzungen in der Wetterau gehörten.<br />
Auch nach der Teilung versuchten die Grafen von<br />
Nassau-Weilburg ihre Macht zu stärken, im 14. Jahrhundert<br />
vor allem auch dadurch, daß sie, die Konkurrenten<br />
der Macht im Rhein-Main-Gebiet zu den Landgrafen<br />
von Hessen-Darmstadt, bestrebt waren, einen ihrer Familienangehörigen<br />
zum regierenden Bischof des Erzbistums<br />
Mainz wählen zu lassen. Sie gewannen dadurch<br />
zwar nicht nur Freunde, vor allem nicht hier in der Wetterau,<br />
deren Ritter und Grafen Angst vor einer mainzisch-nassauischen<br />
Übermacht hatten und ihre Selbständigkeit-<br />
auch die in ihren Raubzügen ! -in Gefahr sahen.<br />
Die Wetterauer Ritterschaft nahm z. T. Partei zugunsten<br />
des hessischen Landgrafen, was in dem langjährigen hessisch-mainzischen<br />
Krieg zu Plünderungen vieler Orte in<br />
unserer Region führte.<br />
Wie geschickt die Grafen von Nassau in jener Zeit ihre<br />
Machtpolitik betrieben, macht die Tatsache deutlich,<br />
daß es ihnen genau in jener Zeit gelang, vom Kaiser des<br />
26
„Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ den<br />
Titel „Landvogt der Wetterau“ zu erhalten.<br />
Mit einem neuen „Landfrieden“ wollte König Ruprecht<br />
1405 die Wetterau befrieden, nachdem er, unterstützt<br />
von dem „Landvogt der Wetterau“ einen umfassenden<br />
Strafzug gegen aufmüpfige Ritterburgen (z. B.<br />
Lindheim, Hüttengesäß, Karben) durchgeführt hatte.<br />
Doch cler Friede kehrte erst später ein, nachdem die Besitzverhältnisse<br />
in der Wetterau neu geordnet waren.<br />
Der oben erwähnte Tausch, durch den der Graf Philipp<br />
I. 1416 in den Besitz der halben Gemarkung von <strong>Reichelsheim</strong><br />
kam, lag in der Politik des Hauses Nassau begründet,<br />
hier in der fruchtbaren Wetterau nicht nur kurzzeitig<br />
gültige Titel, sondern vererbbaren Besitz zu kontrollieren.<br />
Dies wird darin deutlich, daß wenige Jahre<br />
später, 1420, der Abt Johannes von Fulda die andere<br />
Hälfte unseres Ortes zusammen mit anderen Besitzungen<br />
in der „Fuldischen Mark“ für 18000 Gulden an das<br />
Haus Nassau verpfändete. 1423 wurde diese Pfändung in<br />
einen Erbkauf umgewandelt, was zwar den Preis nachträglich<br />
auf23 500 Gulden erhöhte, was aber den Nassauern<br />
garantierte, auch für zukünftige Generationen diese<br />
Besitzungen als Lehen beanspruchen zu können - ohne<br />
bei jedem Generationswechsel in der Regentschaft des<br />
Hauses Nassau Angst vor Verlust dieser „Kornkammer<br />
der Nassauischen Herrschaft“ haben zu müssen.<br />
Zusammen mit dem Landgrafen von Hessen-Darmstadt,<br />
der über die andere Hälfte der „Fuldischen Mark“<br />
verfügte, bestimmten von nun ab die Nassauer die Geschicke<br />
dieser Region. Sie, die „Grafen von Nassau und<br />
Saarbrücken“, wie sie sich seit dem Erbe der Grafschaft<br />
Saarbrücken im Jahre 1381 offiziell nannten, waren zunächst<br />
auch die stolzen Herren der für diese Gegend<br />
wichtigen „Wasserburg“ in Bingenheim, die Sitz der<br />
Verwaltung und des Gerichtes der gesamt Fuldischen<br />
Mark war. Vielleicht durch die Tatsache, daß sie Bingenheim<br />
und Echzell sowie andere Orte dieser Gegend nicht<br />
allein besaßen, sondern diese wie gesagt mit dem ungeliebten<br />
Landgraf von Hessen-Darmstadt teilen mußten,<br />
mag dazu geführt haben, daß sie statt Bingenheim, das<br />
immerhin eine schloßartige Burg sein Eigen nennen<br />
konnte, <strong>Reichelsheim</strong> befestigen ließen, und diesem<br />
„Flecken“, der wie dargestellt erst seit 1354 über ein eigenes<br />
Schöffengericht verfügte, schließlich die Stadtrechte<br />
besorgten.<br />
Für Bingenheim wäre letzteres gewiß viel leichter<br />
beim Kaiser zu erreichen gewesen, denn schließlich hatte<br />
Kaiser Karl IV. bereits 1357 dem damaligen Abt Heinrich<br />
von Fulda „das Recht verliehen, vor seiner Burg<br />
Bingenheim eine Stadt aufzurichten, zu befestigen und<br />
einen Wochenmarkt durchzuführen. Dieses Privileg<br />
konnte jedoch nicht verwirklicht werden“, schreibt Rudolf<br />
Kießling in „l200 Jahre Echzell“ (s. S. 89), „da die<br />
erforderlichen Voraussetzungen nicht gegeben waren“.<br />
Die Grafen von Nassau und Saarbrücken begannen für<br />
ihren neuen Besitz, den „Flecken <strong>Reichelsheim</strong>“, allerdings<br />
sehr schnell die erforderlichen Voraussetzungen<br />
zur Erlangung der Stadtrechte zu schaffen:<br />
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Kaum im nassauischen Besitz, wurde fast das ganze<br />
Gemarkungsgebiet von <strong>Reichelsheim</strong> von einer „Landwehr“<br />
umgrenzt. also von einem aufgeschütteten Wall,<br />
der beidseitig von einem Graben (z. T. mit Wasser gefüllt)<br />
begleitet war.<br />
Auf dem Wall war (gemäß einer alten germanischen<br />
Sitte) eine dichte Hecke aus „gebückten Hainbuchen-<br />
Sträuchern“ („gebückt“ bedeutet, daß die Äste immer<br />
wieder nach unten mit den anderen verflochten wurden,<br />
so daß dadurch im Laufe der Zeit eine nahezu undurchdringliche<br />
Pflanzcnwand entstand). Der Wall mit gefluteten<br />
Gräben und Hecke war nur an wenigen Stellen geöffnet.<br />
Ein Passieren dieser Öffnungen konnte im Falle<br />
von Gefahr durch Einziehen der Stege über den Gräben<br />
wesentlich erschwert werden.<br />
Nur am Ortenberg (Weidgraben), dessen feuchte Wiesen<br />
die Grenze zu Weckesheim und Heuchelheim darstellte<br />
(der heutige Weid- oder Ortenberggraben wurde<br />
erst später gezogen und bildet seither die Gemarkungsgrenze<br />
- s. hierzu: „Heuchelheim - Einblicke in die<br />
Geschichte“, S. 96 f.) sowie am damals bestehenden<br />
„Schiedbach“ zu Leidhecken hin gab es keine Landwehr;<br />
die am Ortenberg gelegenen Wiesen waren zujener Zeit<br />
noch von den Bauern der drei Orte gemeinsam genutzter<br />
Weidegrund.<br />
Wenig später, also noch im 15. Jahrhundert, wurde<br />
den <strong>Reichelsheim</strong>er Bürgern der Befehl zur Errichtung<br />
einer gemauerten Befestigung mit Wehrtürmen rund um<br />
den Flecken erteilt. Welch eine Arbeit wurde den Bauern<br />
und Handwerkern hier aufgebürdet! Die noch stehenden<br />
drei Türme und die Reste der Mauer am Friedhof/<br />
Haingasse bzw. am „Hexenturm“ / Turmgasse lassen<br />
ein wenig von dem Schweiß erahnen, der damals geflossen<br />
sein muß.<br />
<strong>Reichelsheim</strong> erhielt in diesem 15. Jahrhundert das<br />
Aussehen, das es bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts,<br />
also über die Zeitdauer von 400 Jahren, fast unverändert<br />
behalten sollte.<br />
Doch um <strong>Reichelsheim</strong> in seiner Bedeutung zu stärken,<br />
um sein An- und Aussehen zu verbessern, mußte an<br />
zentralem Platze dieses Ortes noch eine größere Kirche<br />
errichtet werden. Und so geschah es.<br />
Karte von <strong>Reichelsheim</strong> mit Umgebung<br />
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2. c) Die Kirche -für <strong>Reichelsheim</strong> das Symbol einer neuen Epoche<br />
Sollte der Bau der Landwehr rund um das Gemarkungsgebiet<br />
sowie die Ummauerung den Wohnbereich<br />
nach außen hin „erstarkt“ aussehen lassen, so wurde<br />
durch den Abschluß des Baus der Kirche im Jahre 1485<br />
auch nach innen hin ein deutliches Zeichen gesetzt.<br />
Doch schon 60 Jahre vor der angenommenen Fertigstellung<br />
der Kirche zeigte sich ein bedeutender Wandel,<br />
auf den eine Urkunde aufmerksam macht: Gilbracht Lebe<br />
(Löw) von Steinfurt, Besitzer und Lehensnehmer<br />
mehrerer Hubcn (Hufen = Anwesen) in <strong>Reichelsheim</strong><br />
und ausgestattet mit gewissen Einflußrechten auch über<br />
diesen Ort (die Herren von Steinfurt waren zu jener Zeit<br />
unter der Wetterauer Ritterschaft eine einflußreiche Familie)<br />
wirkten hier wahrscheinlich in diesen entscheidenden<br />
Jahren als Verwalter der Nassauer.<br />
Gilbracht läßt in der Urkunde vom 20. Dezember 1439<br />
folgendes festschreiben:<br />
„Ich, Gilbracht Lebe von Steynfurt bekerıne vor mich<br />
und meyn erben, in diesem brieffe, daz ich geluhen han<br />
und gegeben der kirchcn zu Richelßheyn zu ewigen tagen<br />
den gyerß czehcnden (= den Großen Zelınten) in Blafelder<br />
gericht und termenye geleigen (= in Blofelder Gemarkung<br />
gelegen) mit wißcn eyns abtcs von Folde umb<br />
Gottes und umb unser lieben Frauwen wiln und han angeseyhen<br />
notorffligkeyt eyns pferners zu Richelßheyn,<br />
daß hey sich gebruchen sal zu ewigen tagen, als vor geschriben<br />
stet; des zu eyme waren geczugniß so han ich<br />
Gilbracht Lebe meyn ingcsigel unden an disen briff gehangen.“<br />
(Entnommen: Helmut Schütz, „Ein Blick ins<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Pfarrarchiv“, in: „500 Jahre Kirche <strong>Reichelsheim</strong>“,<br />
S. 83).<br />
Vieles sagt diese Urkunde aus:<br />
- Die Schenkung konnte nur mit Genehmigung des<br />
Abtes von Fulda geschehen;<br />
- Die Schenkung bezieht sich auf Acker, die in der Blofelder<br />
Gemarkung liegen. Die Blofelder Bauern<br />
mußten für diese Acker den „Großen Zehnten“, also<br />
den zehnten Teil des dort Geernteten, an den <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Pfarrer abgeben;<br />
- Die <strong>Reichelsheim</strong>er konnten sich damit einen „eigenen“<br />
Pfarrer leisten;<br />
- Die <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche erhielt damit Eigenständigkeit,<br />
war somit nicht weiterhin „Tochterkirche“<br />
einer anderen Kirche (Echzell);<br />
- Die Selbständigkeit <strong>Reichelsheim</strong>s von anderen Gemeinden<br />
war damit für die Offentlichleit der ganzen<br />
Region Tatsache.<br />
(Anmerkung: Nach späteren Aufzeichnungen hatte der<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Pfarrer „in 3 Felder und in gewissen ,Distrieten“<br />
mit dem Pfarrer zu Dauernheim den Fruchtzehnten<br />
dergestalt zu erheben, daß der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Pfarrer 2/3 und der Pfarrer zu Dauernheim il/3 bezog. -<br />
Vergl. hierzu Kirchenchronik, S. 146).<br />
Über die Ordnung des Kirchwesens bis zu diesem Zeitpunkt<br />
schrieb Pfarrer Frankenfeld vor ca. 150 Jahren in<br />
der Pfarrchronik (s. S. 90 f.):<br />
„Über die Entstehung der heutigen Kirche und Pfarrei<br />
konnten von mir keine Urkunden vorgefunden werden.<br />
Den Namen Pfarreien oder Pastoreien führten im 14.<br />
Jahrhundert gewöhnlich die Mutterkirehen, mit welchen<br />
mehrere Filialen in näherer oder entfernterer Verbindung<br />
standen.. . An der Mutterkirche waren meist außer<br />
dem Pfarrherrn oder Pastor noch Amterpfarrer, Plebane<br />
genannt, oft auch Caplane angestellt. Filialorte, welche<br />
später eigene Kirchen oder Capellen gründeten, erhielten<br />
alsdann eigene Plebane oder Caplane (welchen letzteren<br />
gewöhnlich das Schulamt mit übertragen wurde),<br />
ohne daß dadurch der Filialnexus (nexus= Verbindung)<br />
30
f<br />
und Abhängigkeit der Tochterkirche von der Mutterkirche<br />
gänzlich aufgegeben wurde.<br />
In der sogenannten Fuldaer Mark befanden sich drei<br />
Mutterkirchen oder Pastoreien, nämlich zu Echzell, zu<br />
Dauernhcim und zu Berstadt, welche sämtlich früher<br />
zum Kloster Fulda gehörten. Zur Pfarrei Echzell, welche<br />
eine Pfarrkirche mit einem Pastor und einem Pleben besaß,<br />
gehörten 1. und 2. die Capellen Bisses und Gettenau,<br />
3. die mit einem Pleben versehene Kirche zu <strong>Reichelsheim</strong>,<br />
bezüglich der Senden (= kirchliche Gerichte<br />
und Visitationen, welche zur ,Erforschung des kirchlichen,<br />
religiösen und sittlichen Zustandes der Gemeinde<br />
von den Bischöfen und Arehidiaconen oder auch Pastoren<br />
durchgeführt wurden“), 4. die Capelle zu Bingenheim,<br />
5. die Kirche zu Grundschwalheim mit einem eigenen<br />
Pleben.“<br />
<strong>Reichelsheim</strong> gehörte also im H_ochmittelalter kirchlich<br />
zu Echzell. Dies bestätigt auch eine Quelle aus dem<br />
Jahre 1030, die in dem Buch „1200 Echzell“ von Waldemar<br />
.Küther (s. S. 73) erwähnt wird.<br />
Mit der Schenkung des „Großen Zehnten“ durch Gilbracht<br />
Lebe von Steinfurt im Jahre 1439 war <strong>Reichelsheim</strong><br />
Sitz einer eigenständigen Kirche geworden, also<br />
dem Stand einer „Filialkirche“ entwachsen. Die „Erforschung<br />
des kirchlichen, religiösen und sittlichen Zustandes<br />
der Gemeinde“ ging nunmehr nur noch den <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Pfarrer und den ihm übergeordneten Bischof<br />
etwas an. Visitationen gab es in <strong>Reichelsheim</strong> jährlich<br />
mindestens einmal.. _<br />
Wie die frühere <strong>Reichelsheim</strong>er Kapelle ausgesehen<br />
haben mag, das wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß sie<br />
dort stand, wo auch die heutige Kirche ihren Platz hat,<br />
nämlich auf der Höhe des Römerberges, dort, wovon<br />
man den besten Ein- und Überblick über das Ortsgeschehen<br />
hatte und hat.<br />
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Zeichnung der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche<br />
von C. Bronner, um 1890<br />
(entn. : R. Adamy, Kunstdenkmäler<br />
im Großherzogtum Hessen, 1895)<br />
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Karl Heinz Doll, ein Hanauer Architekt, machte in<br />
seiner „Anmerkung zur Baugeschichte der ev. Pfarrkirche<br />
<strong>Reichelsheim</strong> (Wetterau)“ (s. Festschrift von 1985<br />
„500 Jahre Kirche <strong>Reichelsheim</strong>“, s. S.61ff.) folgende<br />
Ausführungen:<br />
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31
„Nach einer frühen, vermuteten Kirch aus dem 9.<br />
Jahrhundert ist anzunehmen, daß als Vorgängerkirche<br />
der jetzigen eine romanische Kirche, kleineren Ausmaßes,<br />
bestanden haben muß. Im Zuge der Außenisolierung<br />
des Fundamentmauerwerks fanden sich in dem<br />
Ausschachtungsgraben keine Mauerteile in der Erde.<br />
Ein Hinweisjedoch dürfte eine Mauerwerkfuge im Westfundament<br />
des nördlichen Seitenschiffes sein, die sich etwa<br />
1,20 m von der nördlichen Turmwand nach Norden<br />
hin zeigt. Sie deutet darauf hin, daß sich hier die Nordwestecke<br />
einer kleineren, schmaleren Kirche abzeichnet..<br />
Wann mit dem Neubau der Kirche begonnen wurde,<br />
ist nicht exakt festzustellen:<br />
„Die Erweiterung der Kirchengebäude haben verschiedene<br />
Gründe. Vorwicgend ist es das Wachstum der<br />
Gemeinde. Dann ist die Gestaltung des Gottesdienstes,<br />
die Liturgie, Grund für die Vergrößerung, besonders des<br />
Chores. Auch politische, bzw. landesherrschaftliche Zugehörigkeiten<br />
und Gebietserweiterungen können eine<br />
Rolle spielen.. _ Es ist denkbar, daß mit der Übernahme<br />
<strong>Reichelsheim</strong>s 1416 und 1423 an Philipp I. von Nassau-<br />
Weilburg der Beginn des Um- und Erweiterungsbaues<br />
der St. Laurentiuskirche begann. Es ist jedoch möglich,<br />
daß ein früherer Baubeginn im 14. Jhdt. angenommen<br />
werden kann“ (K. H. Doll, a. a. O., S. 63 f.).<br />
Möglicherweise wurde wirklich bereits im 14. Jahrhundert<br />
mit dem Neubau einer Kirche in <strong>Reichelsheim</strong><br />
begonnen. Daß es in jenem Jahrhundert Veränderungen<br />
in und vielleicht auch außerhalb der Kirchen-Kapelle gegeben<br />
hat, ist daraus abzulesen, daß in alten Urkunden<br />
aus dem Jahre 1336 eine Altarstiftung für <strong>Reichelsheim</strong><br />
erwähnt wird. Ein Jahr später bestätigt der Mainzer Bischof<br />
Heinrich einen neuen Altar in der Tochterkirche zu<br />
<strong>Reichelsheim</strong>. Da oft nach großen Seuchen von den<br />
Überlebenden der Beschluß zu kirchenbaulichen Maßnahmen<br />
getroffen wurde, ist allgemein bekannt. Deswegen<br />
ist nicht auszuschließen, daß bald nach der „Großen<br />
Pest“, die zwischen 1348 und 1352 in ganz Europa tobte,<br />
mit der Planung einer neuen Kirche, einer prächtigeren<br />
Kirche begonnen worden ist. Leider fehlen in den Archiven<br />
hierzu Bestätigungen.<br />
Vielleicht war es dies alles zusammen, was den Grafen<br />
Philipp I. von Nassau auf <strong>Reichelsheim</strong> aufmerksam<br />
machte, was in ihm den Gedanken aufkommen ließ:<br />
„Aus diesem Flecken in der fruchtbaren Wetterau läßt<br />
sich etwas machenl“ und sich deswegen hier - wie man<br />
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Ev. Kirche im Längsschn.itt<br />
(„500 J. R'hm“, S. 61)<br />
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heute sagt - „einbrachte“. Der Bau der Landwehr um die<br />
Gemarkung, die Befestigung des „Fleekens“ <strong>Reichelsheim</strong><br />
durch Mauern und Türme scheinen diese Vermutung<br />
zu bestätigen.<br />
Der Bauplan der Kirche, wie er dann als dreistufige<br />
spätgotische Basilika mit Kreuzgewölbe realisiert wurde,<br />
zeigt aufjeden Fall die Einheitlichkeit des Gesamtkonzeptes<br />
der Nassauer für die spätere „Stadt“ <strong>Reichelsheim</strong>:<br />
- Die Landwehr um die Gesamtgemarkung als Schutz<br />
der zu <strong>Reichelsheim</strong> gehörenden Acker und Wiesen<br />
-- Die Mauern und Türme rund um das Wohngebiet als<br />
Schutz für die hier lebenden Menschen mit ihrem<br />
Hab und Gut<br />
- Der Kirchhof, von einer steinernen Mauer umfaßt<br />
und zusätzlich gesichert von einem Turm, der an der<br />
Südostseitc der Kirche gestanden haben soll (wie Dr.<br />
Rudolf Adamy in seinem Werk „Kunstdenkmäler im<br />
Großherzogthum Hessen“ vor ca. 100 Jahren beschrieb<br />
- dort S. 252), möglicherweise ursprünglich<br />
gedacht als Zufluchtbercich für Mensch und Vieh in<br />
Kriegszeiten (wie sonst die Schutzbereiche einer<br />
Burg)<br />
- Die Kirche selbst, die nicht nur Kirche, also Gotteshaus<br />
war, sondern zugleich Wachturm war sowie<br />
Fruchtspeicher (3 Speicher), der den Grafen von<br />
Nassau zur Lagerung der Naturalabgaben der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
diente, die in Notzciten allerdings auch<br />
als Sehutzraum hätten dienen können.<br />
Am Ende des 15. Jahrhunderts erschien <strong>Reichelsheim</strong><br />
völlig verändert: Es war kein unscheinbarer „Flecken“<br />
mehr, der mehr oder minder frei in der Landschaft lag,<br />
unmittelbar nur durch einen aufgeschütteten und mit<br />
Hainbuchcn beptlanzten Wall und einen davor liegenden<br />
Graben geschützt.<br />
Um 1500 n. Chr. erkannte jeder, der auf Reichelsheiın<br />
zuwanderte oder zuritt: „Ich nähere mich einem Ort, der<br />
Sicherheit, der Zuflucht verspricht! Ich nähere mich<br />
wohl einer Stadt l“<br />
Denn wie sagte der Eisenacher Stadtschreiber zu _jencr<br />
Zeit?<br />
„Was muren umb sich hat..<br />
das heist eyn burgk adcr<br />
(= oder) eyn stat“<br />
(Zitat entnommen: Heinz Stoob<br />
im Vorwort zu „Altständisches Bürgertum“,<br />
3. Band, S. XI).<br />
Fruchtspeicher in der er/angel. Kirche<br />
(Foto G. Wagner)<br />
33
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Querschnitt und Erdgeschoßgrundriß<br />
der evangeh`.s'c†hen Ktrche <strong>Reichelsheim</strong><br />
(entn. : „500 Jahre Kirche <strong>Reichelsheim</strong> “, S. 62) 9<br />
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3. Die Reformation-ein Wegweiserf"R'hlh'<br />
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<strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Nachdem <strong>Reichelsheim</strong> durch Landwehr, Mauern und<br />
Türme befestigt worden sowie die neue Kirche hervorgehobener<br />
Mittelpunkt des Ortes geworden war, nachdem<br />
<strong>Reichelsheim</strong> mit einem Schöffengericht, bestehend aus<br />
den „ehrenvollen Männern der Gemeinde“, versehen<br />
war, da hätte alles seinen ruhigen historischen Gang nehmen<br />
können: Festgefügt stand <strong>Reichelsheim</strong> in der<br />
Landschaft der Wetterau - und festgefügt, so wollten es<br />
die Mächtigen der damaligen Zeit, dem ausgehenden<br />
Mittelalter, sollte auch das Leben innerhalb der Mauern<br />
sein:<br />
„Die geistliche und die weltliche Macht streben danach,<br />
daß die Pfarrgemeinde andere der Kirche nicht unterworfene<br />
menschliche Zusammenschlüsse völlig verdrängte.<br />
lm Kirchenspiel wurde die geistige und sittliche<br />
Aufsicht über die ansässige Bevölkerung ausgeübt. Der<br />
Mensch gehörte seiner Pfarrgemeinde an: Hier empfing<br />
er als Neugeborener die Taufe, das heißt, er wurde aus<br />
einem Naturwesen in ein gesellschaftliches und sittliches<br />
verwandelt. Hier ging er zur Kirche und lausehte Gebeten<br />
und Lehren, indem er dem Gottesdienst beiwohnte.<br />
Hier beichtete und heiratete er; ebenso empfing er dort<br />
die letzte Ölung. Auch nach dem Tode verließ er die Gemeinde<br />
nicht, denn nur innerhalb ihrer Grenzen (Mauern)<br />
durfte er bestattet werden“ (A. Gurjewitsch „Mittelalterliche<br />
Volkskunst“, S. 126 f.).<br />
Wer <strong>Reichelsheim</strong> kennt, der glaubt, Gurjewitsch habe<br />
sich auf diesen Ort bezogen. Dies nicht nur, weil über<br />
Jahrhunderte hinweg der heutige Kirchplatz der „Totenhof“<br />
der Gemeinde war (nur Selbstmörder, Verbrecher<br />
und „Hexen“ fanden außerhalb der Mauern ihre letzte<br />
„Ruhestätte“), sondernvor allem, wenn man weiterliest:<br />
„Die Pfarrkirchen waren Mittelpunkt nicht nur des religiösen<br />
Lebens; in ihnen spielte sich zu eifitëm beträchtlichen<br />
Maß auch das soziale Leben ab.“ Auch konnten<br />
„ihre Räume der Aufbewahrung von Getreide dienen“<br />
(s. S. 127).<br />
Wenn man weiter nachliest und dadurch erfährt, daß<br />
die Mitglieder einer Gemeinde nur mit dem eigenen<br />
Pfarrer geistlichen Umgang haben durften. so wird klar,<br />
daß die Menschen unter einer strengen Aufsicht lebten.<br />
Da die Beichte im Mittelalter bis in die frühe Neuzeit hinein<br />
z. T. öffentlich war, also im Beisein aller Gemeindemitglieder,<br />
so wurde die gemeinschaftlich geübte Aufsicht<br />
auch wirkungsvoll.<br />
Wie eng über die Jahrhunderte hinweg bis vor 60 Jahren<br />
die Bindung zwischen weltlicher und kirchlicher Gemeinde<br />
in <strong>Reichelsheim</strong> war, wird darin deutlich, daß die<br />
Mitglieder des Schöffengeriehtes mit ihren _jeweils 2 Bürgermeistern<br />
oder später des Gemeinderates und des Bürgermeisters<br />
in der Regel identisch waren ınit dem Kirchenvorstand.<br />
Erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts<br />
legte der amtierende Bürgermeister Veith sein Amt<br />
als Kirchenvorsteher nieder mit der Begründung, der politische<br />
Vorgesetzte auf Kreisebene (Kreisleiter) wollte<br />
nicht, daß er im Kirchenvorstand verbleibe (s. Pfarrchronik,<br />
S. 598).<br />
Damit war das eigentliche Haupt der Gemeinde über<br />
Jahrhunderte hinweg oft der Pfarrer - er war für seine<br />
Gemeinde der anerkannte Lenker des Glaubenslebens<br />
und damit des sittlichen und gesellschaftlichen Lebens.<br />
Wer sich einmal auf die Stufen des Kirchplatzes stellt,<br />
der hat eine freie Einsicht in die Kirchgasse bis zum erhaltenen<br />
Stadttor und zugleich in die Bingenheimer Straße<br />
(früher Markt- bzw. Hauptstraße) zum nördlichen,<br />
heute nicht mehr erhaltenen Stadttor. das heißt, er hat<br />
einen Überblick auf die alten „Ausfallstraßen“ des Ortes.<br />
Von dieser Stelle aus sah der Pfarrer seine „Schäfchen“<br />
zu sich kommen: Die „Reichen“ (Landwirte) von<br />
der Hauptstraße, dem Römerberg, der Untergasse (heu-<br />
35
te: Florstädter Straße). Neugasse - die „Armen“ (Handwerker,<br />
Hirten, Tagelöhner) aus der Haingasse, der<br />
Turmgasse usw.<br />
Oft zählte er die Kirchenbesucher, hielt die Zahl von<br />
ihnen in der Chronik fest, sie und die Höhe der Kollekte<br />
meist mit den Zahlen des Vorjahres vergleichend.<br />
Der Pfarrer war also Institution! Er begleitete die<br />
Menschen seiner Gemeinde durch das Leben, dies auch<br />
deswegen, weil zu seinen eigentlichen Aufgaben als Pfarrer<br />
ebenso das Amt des Schulinspektors gehörte (bis zum<br />
Ende des letzten Jahrhunderts unterstand die Schulaufsicht<br />
der Geistlichkeitl). Er war auch derjenige, der zu allen<br />
Festtagen, den geistlichen und den weltlichen, neben<br />
Predigten die Festrede hielt.<br />
Unter all diesen Voraussetzungen wird vielleicht deutlich,<br />
wie entscheidend es für ein Dorf, einen Marktflekken<br />
oder eine kleine Stadt war, für welche Konfession<br />
sich im 16. Jahrhundert nach der Reformation der herrschende<br />
Fürst oder Grafentschied. Zum Verständnis der<br />
Geschichte muß bewußt sein: Nicht der einzelne<br />
Mensch, nicht die Kirchengemeinde entschied in jenen<br />
Jahrhunderten, welcher Glaube der sei, dem man sich<br />
zuwenden wollte - dies allein entschied die den Ort regierende<br />
Herrschaft: für <strong>Reichelsheim</strong> die Grafen von<br />
Nassau.<br />
Am 31. Oktober 1517 schlug der damalige Mönch<br />
Martin Luther an die Tür der Schloßkirche in Wittenberg<br />
ein Blatt mit 95 Thesen, über deren Inhalt er mit anderen<br />
Theologen und Gläubigen zu diskutieren wünschte. Er<br />
tat, was damals viele andere taten: er nutzte den zentralen<br />
Ort der Stadt, eben die Kirche, um seine Anliegen<br />
„zu veröffentlichen“. Er ahnte gewiß in jenem Moment<br />
nicht, daß diese Thesen über den inneren Zustand der<br />
christlichen Kirche derart Weltgeschichte machen würden.<br />
Doch die Zeiten waren allgemein im Umbruch. Die<br />
Menschen in den Städten hatten zu einem neuen Selbstbewußtsein<br />
gefunden, angeführt durch die erstarkten<br />
Handwerkerzünfte. Die Bauern auf dem Lande waren es<br />
zugleich leid, immer neue Abgaben und immer weitere<br />
Hand- und Spanndienste den adligen Herren leisten zu<br />
müssen; sie wollten es auch nicht mehr akzeptieren, daß<br />
die Herrschaften in ihrer Jagdleidenschaft immer wieder<br />
die Frucht auf den Feldern zerstörten. Unruhen waren<br />
die Folgen; auch in der Wetterau kriselte es.<br />
Zugleich war die Nachricht durch Stadt und Land gezogen,<br />
daß es eine „Neue Welt“ gäbe, reich an Gold und<br />
Edelsteinen, aber auch reich an fremdartigen Menschen<br />
und Tieren.<br />
Der frisch erfundene Buchdruck durch Johannes<br />
Gutenberg im Jahre 1450 im nahe gelegenen Mainz ließ<br />
die Menschen neugierig auf Geschriebenes werden. War<br />
Gedrucktes bisher Grundlage des Wissens von wenigen,<br />
und damit zugleich die Grundlage der Herrschaft von<br />
wenigen, so war solches Wissen nun durch die verhältnismäßig<br />
geringen Druckkosten auch erreichbar für das<br />
Bürgertum.<br />
Luthers Lehren bzw. seine Ansichten verbreiteten sich<br />
wie ein Lauffeuer. Gedruckte Flugblätter, von Hand zu<br />
Hand weitergereicht, trugen zu einer ungeahnten Verbreitung<br />
bei.<br />
Als Luther 1521 vor dem Reichstag in Worms der Forderung<br />
des Kaisers Karl V. nach Widerruf seiner Lehren<br />
widerstand und somit in den Augen seiner Anhänger den<br />
Herren der Welt unerschrocken und mutig die Stirn bot,<br />
da kam bei vielen Zeitgenossen der Wille, die als lästig<br />
empfundenen „Ketten der Unfreiheit“ abzuschütteln:<br />
Die Bauernkriege, angeschürt auch von einzelnen Rittern,<br />
die hofften, ihre alte Macht und Herrlichkeit wiedererlangen<br />
zu können, verbreiteten Angst und Schrecken<br />
36
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in Hessen und anderswo. Der herrschende Adel verbündete<br />
sich und schlug zurück, um - wie ihre Sprecher sagten<br />
- die alte, die „gottgewollte“ Ordnung wiederherzustellen.<br />
Landgraf Philipp von Hessen („Der Großmütige“)<br />
„wütete gierig und grausam wie ein Schweinsrüde“,<br />
schrieb ein Zeitzeuge (s. Hessen-Chronik, S. 120).<br />
Die Reformation wurde keine Revolution des weltlich-sozialen<br />
Standeslebens. Sie führtejedoch zum Bruch<br />
innerhalb der christlichen Kirche, sie führte zu einer konfessionellen<br />
Teilung Deutschlands. Die Einheitlichkeit<br />
des Glaubens der Menschen im Heiligen Römischen<br />
Reich Deutscher Nation war dahin - nicht jedoch die<br />
Einheitlichkeit des Glaubens der Menschen in jeder einzelnen<br />
Gemeinde. Dafür sorgten wciterhin die Fürsten.<br />
Für <strong>Reichelsheim</strong> begann die Reformation 1532 zu<br />
einem offiziellen Ereignis zu werden, als der letzte katholische<br />
Pfarrer, Georg Lenick, mit Erlaubnis des Abtes<br />
Johannes von Fulda, die Gemeinde an Jakob Stein -<br />
auch Jakob Stephan oder Joeobus Stephani genannt -<br />
übergab. Dies konnte nur geschehen, weil Graf Philipp<br />
III. von Nassau-Weilburg bereits Jahre zuvor, nämlich<br />
1526, den Schritt zur Lehre Martin Luthers getan hatte.<br />
Von Weilburg aus wurde nun die Reformation in der<br />
Grafschaft Nassau-Weilburg vorangetrieben.<br />
1532 übergab, wie schon ausgeführt, Pfarrer Leniek<br />
„der noch von dem Abt von Fulda nach <strong>Reichelsheim</strong><br />
präsentiert worden war, mit Genehmigung eben dieses<br />
Abtes seine Pfarrei Jakob Stein gegen Entrichtung von<br />
36 Gulden und 6 Achtel Korn“ (s. Pfarrer Frankenfeld in<br />
der Kirchenchronik).<br />
Leniek wechselte in eine andere Gemeinde - er wollte<br />
wohl seinem alten Glauben treu bleiben.<br />
Urkunden und Schriftstücke aus dem Jahre 1632<br />
(Entn.: „500 Jahre Kirche <strong>Reichelsheim</strong> “, S. 85)<br />
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In der Festschrift „500 Jahre Kirche <strong>Reichelsheim</strong>“<br />
wird Bezug auf zwei Urkunden genommen, die den Vorgang<br />
der Reformation bestätigten; sie seien hier in Kopie<br />
wiedergegeben:<br />
In dem einen Schriftstück schrieb G. Lenick, daß er<br />
die Pfarrei zu <strong>Reichelsheim</strong> an Jakob Stein gegen bestimmtes<br />
Entgelt übergibt; das Jakob Stephani, Pfarrer<br />
zu <strong>Reichelsheim</strong>, am 18. Juni 1532 investiert, also in sein<br />
Amt eingeführt worden sei.<br />
Die <strong>Reichelsheim</strong>er Gemeinde war nun vorerst „lutherisch“.<br />
Durch die Streitigkeiten zwischen den Grafen<br />
von Nassau-Weilburg bzw. Nassau-Dillenburg und des<br />
„Wetterauer Grafenvereins“ einerseits und dem Landgrafen<br />
von Hessen andererseits kam es schon bald in<br />
einer Art „2. Reformation“ zu der Hinwendung zum Calvinismus,<br />
also zur evangelisch-reformierten Kirche.<br />
Landgraf Philipp von Hessen hatte ohne Zustimmung<br />
von Kaiser und Klerus 1527 die Marburger Universität<br />
gegründet. Sie sollte den neuen „lutherischen“ Pfarrstand<br />
ausbilden. Schnell wurde die Hochschule bekannt,<br />
besonders durch das 1529 clort durchgeführte Streitgespräch<br />
zwisehen den zwei Reformatoren Luther und<br />
Zwingli (der vor allem im süddeutschen Raum Anhänger<br />
gefunden hatte) unter Leitung des hessischen Landgrafen.<br />
1584 gründete Graf Johann VI. von Nassau-Dillenburg<br />
in Konkurrenz dazu die „Hohe Schule Herborn“.<br />
Der „Wetterauer Grafenverein“ wurde Mitträger dieser<br />
Akademie, die nicht nur calvinistische, also evangelischreformierte<br />
Geistliche ausbilden sollte. Auch Lehrer,<br />
Ärzte und Beamte (Juristen) sollten hier ihr berufliches<br />
Rüstzeug vermittelt bekommen. Da es den Trägern dieser<br />
Hohen Schule gelang, berühmte Gelehrte zu gewinnen,<br />
reichte ihr Ruf bald weit über die regionalen Grenzen<br />
von Mittel- und Oberhessen hinaus.<br />
Um die Finanzierung dieser Hohen Schule, die nach<br />
heutigem Sprachgebrauch eine Art „Kaderschmiede“<br />
der calvinistisehen Glaubensauslegung sein sollte (so wie<br />
die Universität Marburg eine solche der evangelisch-lutherischen<br />
Richtung), abzusichern, mußten alle Gemeinden<br />
der unterstützenden Grafschaften einen Beitrag leisten.<br />
<strong>Reichelsheim</strong> hatte 2000 Gulden zu bezahlen, eine<br />
Summe, die sie bei wohlhabenden Kaufleuten aufnehmen<br />
mußte. Dafür erhielt <strong>Reichelsheim</strong> das Recht,<br />
jeweils zwei Studienplätze mit zwei Stipendiaten zu belegen<br />
- das gelehrte Wissen sollte so in jede noch so kleine<br />
Gemeinde kommen.<br />
Die Reformation brachte weitere bedeutende Anderungen<br />
mit sich für unseren Ort: Es wurde sehr schnell<br />
eine „Lateinsehule“ errichtet, ein Zeichen für das Bewußtsein,<br />
daß es mehr bedarf als der Beherrschung des<br />
kleinen und großen ABC, will man selber nach Luthers<br />
Wort die Bibel studieren können.<br />
Interessant ist, daß auch sehr bald eine Mädchenschule<br />
zu der schon lange bestehenden Knabenschule eingerichtet<br />
wurde. Pfarrer Frankenfeld schrieb dazu in der<br />
schon oft erwähnten Kirchenchronik: „Über die Zeit,<br />
wann an die hiesige Schule ein eigener Mädchenlehrer<br />
angestellt worden ist, läßt sich nichts Bestimmtes sagen.<br />
Wahrscheinlich aber scheint es, daß im Jahre 1609, wo<br />
eine Wohnung für den Schulmeister eingekauft wurde,<br />
die zugleich zu einer Wohnung für den Mädchenlehrer<br />
und einem Lehrzimmer für die Mädchen eingerichtet<br />
werden sollte, zuerst ein solcher Mädchenlehrer herkam.“<br />
Wesentlich für die Veränderungen in <strong>Reichelsheim</strong><br />
seit der Einführung der neuen Glaubensgestaltung waren<br />
der erste evangelische Pfarrer Jakob Stephani und<br />
sein noch bedeutenderer Sohn Laurentius. Wichtig war<br />
vor allem, daß dieser erste Pfarrer der neuen christlichen<br />
38
Glaubensinterpretation lange in <strong>Reichelsheim</strong> seinen<br />
Dienst versah - über 50 Jahre. Die Gläubigen seiner Gemeinde<br />
ehrten ihn durch ein Gemälde (Auferstehung<br />
Christi), das früher in der Kirche aufgehängt war und folgende<br />
Unterschrift trug: „Dis Epistaphium ist zu Ehren<br />
Weiland dem wohl ehrwürdigen Hochgelarten Herrn<br />
Jakob Stephani seligen seines Alters 83, seines Predigtamtes<br />
55 Jahr, ersten Predigern dises Ortes aufgerichtet<br />
worden im Jahr 1584.“ Laurentius Stephani, gleichnamig<br />
zu dem Schutzheiligen der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche, studierte<br />
auf Wunsch seines Vaters in Wittenberg. Hier legte<br />
er auch sein theologisches Examen ab. Das Zeugnis<br />
darüber trägt auch die Unterschrift des engen und berühmten<br />
Mitstreiters von Martin Luther, nämlich Philipp<br />
Melanehthon.<br />
Laurentius Stephani war vorgesehen, ja sogar schon<br />
vorab berufen, die Nachfolge seines Vaters im Amt des<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Pfarrers anzutreten. Doch weil ihn Graf<br />
Albrecht von Nassau-Weilburg bat, bei ihm als Ratgeber<br />
zu bleiben, verzichtete er 1566 auf die vorgesehene Investitur<br />
in seinem Heimatort <strong>Reichelsheim</strong>. Laurentius<br />
Stephani war bald als Superintendent zuständig für die<br />
Aufsicht aller Kirchen in der Grafschaft. Und in dieser<br />
Funktion wirkte er sehr segensreich für <strong>Reichelsheim</strong>.<br />
Auch seine Söhne, der spätere Superintendent Gottfried<br />
sowie der Pfarrer Martin Stephani aus Grävenwiesbach<br />
halfen, die Kirchgemeinde <strong>Reichelsheim</strong> weiter zu entwickeln.<br />
War die Errichtung der Latein- und auch der<br />
Mädchenschule ein Werk des Laurentius, so war die 1621<br />
erfolgte Anschaffung eines akzeptablen Schulhauses ein<br />
Werk von Gottfried Stephani, der den notwendigen<br />
Tausch von Gebäuden möglich machte.<br />
Im Jahre 1622, also nur ein Jahr später, erhielt <strong>Reichelsheim</strong><br />
ein neues Pfarrhaus. Pfarrer Frankenfeld<br />
suchte vor ca. 150 Jahren dazu folgendes Wissenswerte<br />
aus den alten Akten der Pfarrei: „Im Jahre 1622 wird von<br />
Michael Heinrich von Hunstadt im Kirchspiel Gräwenwiesbach<br />
ein Pfarrhaus für <strong>Reichelsheim</strong> gekauft von<br />
dem Kastenmeister Philipp Bausch im Beisein des Pfarrers<br />
Martin Stephani zu Gräwenwiesbach für 240 Gulden<br />
nebst 13 Gulden 14 Kreuzer Unkosten.“<br />
Der Kirchenrechner von <strong>Reichelsheim</strong> kaufte also in<br />
Hunstadt durch Vermittlung des dortigen Pfarrers Martin<br />
Stephani das Gebälk eines bestehenden Hauses, das<br />
hier in <strong>Reichelsheim</strong> als Pfarrhaus wieder aufgeschlagen<br />
wurde. (Übrigens: Dieses Haus verrichtete nahezu 300<br />
Jahre seinen Dienst; erst 1912 wurde es „auf Abriß“ versteigert<br />
und durch einen Neubau an gleicher Stelle ersetzt.<br />
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Foto des alten Pfarrhauses (Aufnahme vor 1910<br />
Original im Besitz der Familie Rohde)<br />
Was sonst noch zu berichten ist aus jener Zeit an Dingen<br />
und Vorkommnissen, die die Menschen bedrückten<br />
oder die ihr Leben beeinflußten ? Die alten Auseinander-<br />
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39
setzungen zwischen den Landgrafen von Hessen und den<br />
Grafen von Nassau uın die Vorherrschaft in der Fuldischen<br />
Mark wurden schließlich 1570 endgültig beigelegt,<br />
indem Nassau seine vor ungefähr 150 Jahren vom Kloster<br />
Fulda erworbenen Anteile - mit ausdrücklicher Ausnahme<br />
des „Ortes und Gerichtes <strong>Reichelsheim</strong>“ - an Landgraf<br />
Ludwig IV. von Hessen-Marburg für 121000 Gulden<br />
verkaufte.<br />
Damit war <strong>Reichelsheim</strong> aus der ehemaligen Fuldischen<br />
Mark ausgeschieden. Zugleich war es damit ein<br />
eigenes Amt, vor allem aber war es damit zu einer wahren<br />
Exklave der Grafschaft Nassau geworden: Keine der<br />
angrenzenden Gemeinden gehörte zur Herrschaft der<br />
Grafen von Nassau. Symbol des neuen Status” von <strong>Reichelsheim</strong><br />
ist der Bau des Rathauses unmitttelbar beider<br />
dominierenden Kirche, vor allem aber direkt an dem<br />
Marktplatz des durch Mauern bewährten Fleckens in der<br />
Wetterau. Dieser Rathausbau zeigte für <strong>Reichelsheim</strong> in<br />
die Zukunft.<br />
Der Aufstieg, den <strong>Reichelsheim</strong> in den folgenden 100<br />
bis 150 Jahren nahm, lag in dem Interesse der Nassauer<br />
Grafen an dieser für sie wichtigen „Kornkammer“, sei<br />
es aus Gründen der Sicherung von Nahrungsmitteln,<br />
sei es aus der Überlegung heraus, ein wertvolles Pfand<br />
zu haben, falls Finanzschwierigkeiten auftreten sollten...<br />
Doch auch anderes bewegte die Menschen, traf sie vor<br />
allem mehr: Wie in den Jahrhunderten zuvor, so wüteten<br />
auch im 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Pest<br />
und das Fleckfieber in und um <strong>Reichelsheim</strong>:<br />
- Von August 1582 bis Februar 1583 raffte die Pest in<br />
<strong>Reichelsheim</strong> 54 Menschen hinweg, meist - wie die<br />
Chronik berichtet -junge Leute.<br />
- 1613, in der Zeit vom 14. Juli bis Ende November,<br />
starben sogar 127 Menschen an der damals unerklärlichen<br />
Seuche.<br />
- Und 1627 starben zwischen dem 28. Mai und dem<br />
2. Februar des folgenden Jahres gar 187 Menschen!<br />
Welch eine Trauer mag durch den kleinen Ort, in<br />
dem es damals ungefähr 150 Haushaltungen gegeben<br />
haben kann, gegangen sein. . ?<br />
Doch nicht allein die Pest führte in jener Zeit zu Trauer,<br />
zu Schmerz und Verzweiflung. Vergessen wir nicht:<br />
Seit 1618 tobte in Deutschland Krieg, der erst 1648, nach<br />
30 Jahren, ein Ende fand. Es war der bis dahin blutigste<br />
Krieg Europas.<br />
40
4. Das 17. Jahrhundert<br />
a) Der Dreißigjährige Krieg<br />
Eigentlich hätte das 17. Jahrhundert ein Jahrhundert<br />
der Blüte werden können: In den Städten blühten zunächst<br />
Handwerke und Handel und brachten den adligen<br />
Herrschaften manchen Gulden, den sie zum Bau repräsentativer<br />
Schlösser oder zur Förderung der Künste sowie<br />
der Wissenschaften einsetzten.<br />
Der neue evangelische Glaube vor allem ließ die Menschen<br />
aktiv werden, wurde doch von ihm ein eifriges Tätigsein<br />
gefordert und im wirtschaftlichen Erfolg sogar ein<br />
„Hinweis der Gnade Gottes“ gesehen.<br />
Doch vieles, was die Handwerker, die Händler und<br />
Bauern durch Fleiß erarbeiteten, wurde durch den langen<br />
Krieg zerstört. Machtgier, nicht Glaubenseifer war<br />
meist die Antriebsfeder des Krieges! „Welches Bündnis<br />
mit wem wird MIR, dem Fürsten oder Grafen XY, den<br />
größten Vorteil bringen '?“ Der Glaube war zweitrangig -<br />
er wurde auch gewechselt, wenn es „opportun“ erschien<br />
(so wie z. B. dem Grafen Johann Ludwig von Nassau-<br />
Hadamar, einem Vertreter des weitverbreiteten Nassauer<br />
Hauses, der dafür auch nach dem Kriege vom Kaiser<br />
„wegen besonderer Verdienste und Treue“ in den erblichen<br />
Reichsfürstenstand erhoben wurde).<br />
Doch nicht die kleinen Grafen oder Fürsten waren die<br />
eigentlichen Auslöser dieses Krieges:<br />
- Der Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher<br />
Nation“ strebte nach religiöser und politischer<br />
Einheit; sein Reich sollte ein starker Zentralstaat werden<br />
(Vorbilder waren Frankreich und Spanien); er<br />
reizte damit allerdings die Reichsstände (Adel, Geistlichkeit<br />
und Freie Reichsstädte) zum Widerstand, da<br />
sie bei einem kaiserlichen Erfolg wohl ihre Selbständigkeit<br />
eingebüßt hätten;<br />
- Das damalige Herrscherhaus des „Heiligen Römischen<br />
Reiches Deutscher Nation“, die österreichischen<br />
Habsburger, die mit dem spanischen Königshaus<br />
verbunden waren, kämpften mit Frankreich um<br />
die Vorherrschaft in der „Neuen We1t“;<br />
- Das erstarkte Schweden suchte unter ihrem ehrgeizigen<br />
König Gustav II. Adolf die Ostsee zu einem<br />
„Schwedischen Meer“ zu machen, was allerdings nur<br />
durch große Gebietsgewinne in Norddeutschland<br />
(Mecklenburg und vor allem Pommern) hätte erreicht<br />
werden können.<br />
Kaum hatte der Krieg begonnen, tobten sich die Heerseharen<br />
der verschiedensten lnteressenparteien auch<br />
hier in der Wetterau aus! Da dieser Landsknechtkrieg<br />
nach dem Prinzip „Der Krieg ernährt den Krieg“ geführt<br />
wurde, suchten sich die Generäle und Oberste der Kaiser<br />
und Könige für ihre Heere fruchtbare Gebiete aus. Ob<br />
spanisch oder braunschwei gisch, ob kroatisch oder französisch,<br />
ob bayrisch oder schwedisch, ob katholisch oder<br />
protestantisch: Die Wetterau. eine Kornkammer im<br />
Herzen Deutschlands, mußte leiden, mußte immer wieder<br />
Opfer bringen:<br />
- 1620 hausten die spanischen Truppen, Verbündete<br />
des katholischen Kaisers, rund um Friedberg und<br />
plünderten nach Herzenslust die Dörfer der Region;<br />
- 1621/22 lagerten zwischen Friedberg, Butzbach, Bingenheim<br />
und Assenheim die katholischen Bayern;<br />
- lm Sommer 1622 tauchten die Protestanten unter<br />
Christian von Braunschweig auf (von seinen Truppen<br />
hieß es in verschiedenen Kirehenbüchern dieser Gegend:<br />
„Sic hausten so übel, dergleichen der Türk niemals<br />
getan !“).<br />
Bei solchen Aktionen war die um die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Gemarkung gezogene Landwehr kein wirkliches Hindernis;<br />
auch die Mauer um den Ort gewährte den dahinter<br />
lebenden Menschen keinen wirkungsvollen Schutz.<br />
Da die Grafen von Nassau-Weilburg sich nicht in ihrem<br />
Glauben wandelten und sie sich zudem schließlich<br />
41
dem protestantischen Bündnis unter Führung des Schweden-Königs<br />
anschlossen, wurden sie - nach der Niederlage<br />
des protestantischen Bündnisses bei Nördlingen ~<br />
schließlich 1637 ihres Besitzes durch das Reichskammergericht<br />
für verlustig erklärt. Die <strong>Reichelsheim</strong>er mußten<br />
vorübergehend einer neuen Herrschaft, die besser „paktiert“<br />
hatte, den Untertaneneid schwören - ohne dadurch<br />
größere Sicherheit vor Raub, Plünderung und<br />
Schändung erwarten zu können.<br />
Denn es ging weiter:<br />
- 1634 waren die kaiserlichen Truppen (katholisch)<br />
wieder in unserer Region und zogen plündernd von<br />
Ort zu Ort;<br />
- 1640 „ist <strong>Reichelsheim</strong> von den Weimarischen Völkern<br />
(protestantisch) ganz und gar ausgeplündert<br />
worden, 2 Tage lang. Die Familien flüchteten nach<br />
Bingenheim und anderen Orten und blieben dort an 9<br />
Wochen, weil nach dieser Plünderung die katholischen<br />
Armeen kamen und in dieser Gegend zubrachten.<br />
Der Fürst vorı Bregenz lag 14 Tage in diesem<br />
Flecken und richtete ihn übel zu. Auch die Kirche litt<br />
bei dieser Plünderung“ (s. Kirchenbuch, S. 97).<br />
Die Menschen mußten immer und immer wieder von<br />
vorne anfangen: Die Geißel des Krieges war entsetzlich!<br />
Doch wie schon im letzten Kapitel angedeutet: neben<br />
dem Krieg brachte immer wieder die Pest Verderbnis<br />
und Leid!<br />
Nach der schon im letzten Kapitel erwähnten Pest von<br />
1627 wütete in der Wetterau auch in den Jahren 1632 und<br />
1635 diese Seuche. Wen wundert es auch: Die Menschen<br />
suchten damals notgedrungen überall dort Schutz, wo<br />
Mauern Sicherheit verspraehen - doch selten reichten<br />
Platz und Nahrung aus! Elendig vegetierten sie dahin,<br />
aßen alles, auch wenn es schon verderben war. In der<br />
großen Hungersnot nach der Pest von 1635 „trieb der<br />
Hunger die Leut so hart, daß sie Schind-Aas wegfraßen.<br />
. . Hund und Katzen sind ihnen Leckerbissen gewesen.<br />
Durch diesen Hunger verschmachteten viel Leute<br />
dermaßen, daß nichts als Haut und Bein (= Knochen) an<br />
ihnen. Die Haut hing ihnen am Leib wie ein Sack, daß<br />
einem grauete sie anzusehen“, beschrieb der Pfarrer<br />
eines betroffenen Ortes die Lage der Menschen in seinem<br />
Kirehenbuch (s. „Hessenchronik“, S. 146).<br />
1648 war der Krieg zu Ende. Der „Westfälische Friede“<br />
von Osnabrück wurde stolz verkündet. Die Mächtigen<br />
der Welt hatten ihre Interessen gegenseitig neu abgesteckt.<br />
- Doch Deutschland lag am Boden, im Süden, im<br />
Norden, überall.<br />
`<br />
Was blieb den Menschen:<br />
Sie feierten auf Anordnung Dankgottesdienste!<br />
In der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirchchronik lautet der entsprechende<br />
Abschnitt (s. S. 98): „Den 23. Sonntag nach<br />
Trinitatis ist eine Danksagungspredikt wegen des Westfälischen<br />
Friedens gehalten worden. Auch ist die Kirche<br />
wieder mit Schlössern an den Türen verwahrt worden.<br />
1650 wurde in allen Nassauischen Ländern wegen des abgeschlossenen<br />
Friedensvertrages ein Gebet gesprochen,<br />
worin unter anderm die Bitte vorkommt: ,Zerschmette-<br />
BGB<br />
re den Kopf derer, die uns feind sind .<br />
Brotverteilung an Arme -<br />
Maßnahme der Stadtbevölkerung,<br />
um Bettler und Vagabundierende<br />
vor den Stadtmauern halten zu können (1628)<br />
(Entn.: „ Bettler, Gauner und Proleten“, Abb. 44)<br />
42
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4. b) Der „FREIHEITSBRIEF“ der „Stadt <strong>Reichelsheim</strong>“<br />
In dem handschriftlich gefertigten „<strong>Heimatbuch</strong> der<br />
Stadt <strong>Reichelsheim</strong>“, das der frühere Lehrer Heinrich<br />
Keller 1935 abschloß und dem damaligen Bürgermeister<br />
unserer Stadt widmete, findet sich auf Seite 44 eine Kopie<br />
eines von ihm gefertigten Zeitungsartikels unter dem<br />
Titel: „Interessantes aus dem Freiheitsbrief vom J.<br />
1665.“<br />
Dieser Zeitungsartikel, dessen Erscheinungsdatum<br />
und -ort nicht angegeben wurde, sei hier (leicht gekürzt)<br />
wiedergegeben:<br />
„lm Jahre 1665 wandten sich die Einwohner des Flekkens<br />
<strong>Reichelsheim</strong> in der Wetterau an den derzeitigen<br />
Besitzer des Städtchens, ,Graf Friedrich zu Nassau,<br />
Saarbrücken und Saarwerden, Herr zu Lahr, Wiesbaden<br />
und Idstein“. mit der Bitte, ihnen die große Gnade zu erweisen<br />
und sie der beschwerlichen ›Dienst-, Fuhr- und<br />
Leibeigenschaft und anderer Bürden gnädiglich zu entheben<br />
und gegen Hinterlegung einer Summe Geldes bei<br />
ihren hergebrachten uralten Privilegien, Freiheiten und<br />
Stadtrechte zu lassen, was maßen sich nicht allein alte<br />
Documenta fünden, sondern auch die Ältesten unter ihnen<br />
bezeugen würden, daß ihre Vorfahren und Einwohner<br />
zu besagtem <strong>Reichelsheim</strong> von altersher als freie<br />
Bürger und undienstbare Unterthanen bei den vorigen<br />
Hoehgräflichen Nassauisch-Saarbrückischen Herrschaften<br />
wären gehalten und Stadtrechte gegönnet< worden.<br />
Während ›böser Kriegszeiten< (= 30jähr. Krieg) hatten<br />
sich einige Fremde, ›Leibeigene
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Beglaubigte A bschrift des Freiheitsbriefes<br />
des Jahres 1665 durch Graf Carl August (1724)<br />
(Archiv der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>)<br />
45
die Einwohner angehalten, Tore und Mauern zu reparieren,<br />
die Landwehren aufzurichten, die Tore zudem mit<br />
Gittern und Wächtern - ›sonderlich zu gefährlichen<br />
Kriegszeiten< - zu besetzen. Der, welcher in den Flecken<br />
zuziehen will, soll gegen Erlegung eines gewissen Stücks<br />
Geldes der Leibeigenschaft ledig sein; dagegen soll ein<br />
›Mann oder Weibsperson von <strong>Reichelsheim</strong>, die in eines<br />
unser zugehörigen Dörfer ziehen würde, die Befreiung<br />
verlieren und Uns mit Leibeigenschaft wiederum zugethan<br />
sein
terthanen“: dem Ort wurde wieder „Stadtrecht“ gegönnt<br />
Wie aus dem Zeitungsartikel Heinrich Kellers zu ersehen,<br />
gab Graf Friedrich dem Ersuchen nicht uneigennützig<br />
nach. Er suchte auch einen Weg, <strong>Reichelsheim</strong> wirtschaftlich<br />
zu helfen, wobei er allerdings seinen eigenen<br />
Vorteil nicht aus dem Auge ließ: Er ließ sich die Urkunde<br />
nicht nur durch 2000 Gulden „vergolden“, er befreite<br />
sich zugleich von der eigenen herrschaftlichcn Pflicht, für<br />
die Sicherheit der Stadt zu sorgen; das mußten nun die<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Ortsbürger aufeigene Kosten erledigen!<br />
Die <strong>Reichelsheim</strong>er brauchten zwar keine weiten<br />
Fahrten mehr zugunsten der Herrschaft, aber auf eigene<br />
Kosten zu leisten, doch wenn sie Gesellen, Dienstpersonal<br />
oder andere Hilfen eirıstellten, so rn ußtc an den Grafen<br />
„Dienstgeld“ gezahlt werden.<br />
Wie Kellers Bericht vcrdeutlichte, ınußten all die, die<br />
neu nach <strong>Reichelsheim</strong> ziehen wollten, ein „Einzugsgeld“<br />
an den Grafen bezahlen. Sollte die Hoffnung des<br />
Grafen Wirklichkeit werden und <strong>Reichelsheim</strong> zu einem<br />
Anziehungspunkt für viele Menschen aus der Umgebung<br />
werden, so sollte es auch sein Gewinn sein: Einzugsgeld<br />
sollten sie ihm bezahlen und dann auch noch ihre Arbeitgeber<br />
Dienstgeld.<br />
Daß die <strong>Reichelsheim</strong>er natürlich Steuern zahlen<br />
mußten, das wird ihnen auch noch in diesem „Freyheits<br />
Brief“ in Erinnerung gerufen:<br />
„Dcsgleichen sollen auch Unsern Bürgern und Einwohnern<br />
zu <strong>Reichelsheim</strong> dasjenige, was sie Jahres Uns<br />
oder der Herrschaft an Steuer- oder Reichsschatzungen<br />
auch sonsten nach Besag und Ausweis der Kcllereirechnung<br />
an Konten zu erledigen schuldig sind, ohnweigerlich<br />
zu erıtrichten.“<br />
Auch wenn <strong>Reichelsheim</strong> natürlich nicht mit Friedberg<br />
oder Frankfurt, diesen „Freien Reichsstädten“, die<br />
Anstc ht von der Horloffbrur ke zum Hrxentutm<br />
(Aufnahme um 192 5)
nur dem Kaiser unterworfen waren, vergleichbar war:<br />
gegenüber den anderen Flecken in der Wetterau hatte<br />
<strong>Reichelsheim</strong> durch diesen Freiheitsbrief, durch die Verleihung<br />
der Stadtrechte eine etwas hervorgehobene Stellung.<br />
Doch „frei von Pflichten“ war kein <strong>Reichelsheim</strong>er:<br />
jeder Ortsbürger wurde zu den verschiedensten Diensten<br />
eingesetzt. Befolgte er nicht, wann wo er zu was eingeteilt<br />
war, so wurde er rigoros zur Kasse gebeten.<br />
Jeder männliche Ortsbürger (=Besitzer von Grund<br />
und Boden innerhalb der Stadtmauern, allerdings<br />
nicht die Pfarrer, die Lehrer oder die Amtmänner,<br />
da sie dem Landesherrn direkt unterstanden) hatte<br />
lohnfrei Dienst zu leisten z. B. beim Wegebau, beim<br />
Bachreinigen, bei dem Bau und der Erhaltung von<br />
Landwehr und Stadtmauer mit den Türmen, bei den<br />
Tag- und Nachtwachen im Ort und außerhalb desselben.<br />
. .<br />
48
4. c) Feuer<br />
Eine kleine Stadt, umgeben von einer Mauer: die Gassen<br />
bis auf die Hauptstraße schmal, die Fachwerkhäuser<br />
dicht an dicht gedrängt, dazwischen die hölzernen Scheunen<br />
und Ställe, fast alle Gebäude mit Stroh gedeckt - die<br />
Scheunen zudem reich angefüllt mit frisch eingebrachtem<br />
Heu:<br />
Es ist Sommer, der 28.Juni 1665. Seit Sonnenaufgang<br />
ist Leben in den Ställen und auf den Straßen: Das Vieh<br />
will früh versorgt sein!<br />
Um 7 Uhr in der Frühe läuten die 3 Glocken der Kirche<br />
Sturm: „Feuerl“ schreien die Menschen entsetzt!<br />
„Feuerl“<br />
Sie rennen auf die Straße, laufen zum Rathaus, die<br />
meisten von ihnen haben bereits ihren Ledereimer in der<br />
Hand! „Feuer in der Untergassel“ - „Feuer in der Haingasse<br />
1“ - „Feuer am Amtshausl“<br />
Ob Bauer oder Sattler, Maurer oder Bierbrauer, ob<br />
Zimmermann oder Schmied, ob Schuhmacher oder Glaser,<br />
ob Herr oder Knecht, objung oder alt : jeder läßt sein<br />
Werkzeug fallen, um zu helfen!<br />
Schnell bildet sich von den nahe gelegenen Brunnen<br />
eine Menschenkette zu den Brandstellen. Vor allem von<br />
der Weed her, dem Feuerlöschteich am nördlichen Rande<br />
der Marktstraße (heute Bingenheimer Straße), wird<br />
Eimer für Eimer Wasser gereicht. Erschreckte Menschen<br />
aus den Nachbarorten Heuchelheim und Dorn-Assenheim<br />
kommen zu Hilfe und verstärken die Einheimischen<br />
bei ihren verzweifelten Versuchen, dem prasselnden<br />
Feuer in seiner Gier Einhalt zu gebieten!<br />
Nach 1'/2 Stunden züngeln nur noch einzelne Flammen<br />
in verkohlten Balken und Brettern. Erschöpft und zum<br />
Teil völlig niedergeschlagen sitzen die Menschen aus<br />
dem Südteil des Ortes herum, so als wüßten sie nichts<br />
mehr von ihrer Umwelt.<br />
68 Gebäude waren den Flammen zum Opfer gefallen!<br />
Zum Glück, so konnte bald festgestellt werden, traf es<br />
nur wenige der besser gebauten Wohnhäuser. Die Kirchenchronik<br />
weiß zu berichten:<br />
„Den 28. .luni 1665 ist morgens um 7 Uhr eine gewaltige<br />
Feuerbrunst entstanden, welche in 1 1/2 Stunden 68<br />
Gebäude in Brand setzte, davon sind I8 Scheuern und alle<br />
dabei gestandenen Ställe samt 3 Wohnhäuser ganz in<br />
Asche gelegt worden, die anderen Gebäude sind auch<br />
beschädigt; aber doch durch Gottes und benachbarter<br />
Hülfe gerettet worden. . .<br />
Bei diesem Brandc ist die Pfarrscheuer samml allen<br />
Ställen eingeäschert worden. Und ist die ganze Seite bishin<br />
an die Oberpforte und Backhaus abgebrannt und nur<br />
allein die Häuser, die auf die Gasse gesehen. sind stehen<br />
geblieben, wiewohl auch alle von dem Brand sind berührt<br />
wordcn. Das Pfarrhaus hat auch angefangen zu<br />
brennen, ist aber mit Gottes Hülfe erhalten worden.“<br />
Wer heute durch den alten Ortskern geht, der sollte<br />
sich folgendes vorstellen: Die Bereiche Neugasse, Florstädter<br />
Straße, Untere Haingasse, Sandgasse, Kirchgasse,<br />
d. h. fast alle Straßen und Gassen des gesamten Südteiles<br />
des Ortes, waren betroffen gewesen! Ein Straßenzug<br />
wurde nach dem Brand völlig erneuert und hat daher<br />
seinen Namen: die Neugasse.<br />
Was war Ursache des Brandes?<br />
Pfarrer Hyronimus Frech, der damals der Gemeinde<br />
verstand und über den im kommenden Kapitel noch zu<br />
berichten sein wird, notierte:<br />
„Der Brand ist ausgegangen in einer Scheuer, welche<br />
nebst dem Hause verkauft war und 1/4 Jahr lang leerstand“<br />
(s. Kirchenchronik, S. 107).<br />
Sollte die Ursache Rache oder Verzweiflung gewesen<br />
sein? Oder hat sich Heu etwa selbst entzündet?<br />
Pfarrer Frech teilt andere Vermutungen mit: „Alle<br />
Thüren, Ställe und Scheuern waren verschlossen. Nie-<br />
49
mand weiß, wie der Brand entstanden ist, obwohl vermuthet<br />
wird, er sei von bösen Leuten (= Hexen. Zauberern)<br />
angelegt. worden.“<br />
Nach der Holfnung, die der Freiheitsbrief in der Bürgerschaft<br />
geweckt hattc, kam wenige Woclıcn später dieser<br />
Schock! l)och jetzt galt es wirklich. zu handeln. Und<br />
wenn wir den Berichten der Pfarrer trauen können, so<br />
wurde wirklich schnell li-land angelegt:<br />
„Schon den 21. August wurde ein neuer Stall auf dem<br />
Pfarrlıof errichtet. 1666 wurde eine neue Plarrscheuer<br />
gebaut“, teilt Pfarrer Frech mit.<br />
(Übrigens: Diese ınittlcrwcile 326 .lahrc alte Pfarrscheuer<br />
kann heute an anderem Orte noch betrachtet<br />
werden: sie steht seit Anfang dieses Jahrhunderts an der<br />
Straße „Röınerberg“. im Garten der Familie Rohde.)<br />
Gab es Koıısequeıızcıı aus diesem Brand ?<br />
Wer durch die Neugasse geht, der sieht zu den übrigen<br />
Straßen einen wesentlichen Unterschied: Die Straße ist<br />
breit, sie läßt nicht so leicht zu, daß iın Falle eines<br />
Brandes die Funken von einer Straßenseite zur anderen<br />
überfliegen können.<br />
Eine weitere Konsequenz: Am Martinigericht deslahres<br />
1687, das am 19. Oktober jenes Jahres vor dem Rathaus<br />
abgehalten wurde, wurde allen anwesenden Ortsbürgern<br />
bekanntgegeben, daß Wohnhäuser nicht länger<br />
ınit Stroh gedeckt werden dürften; „Bey straf“ sollten in<br />
Zukunft nur noch gebrannte Ziegel Verwendung finden.<br />
(Diese Verordnung, die später auch auf die Wirtschaftsgebäude<br />
ausgeweitet wurde, ınußte mehrfach erneuert<br />
werden. weil - wahrscheinlich - manch ein <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Strohdeckung aus Kostengründen weiterhin bevorzugte.)<br />
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Pfarrscheune aus dem Jahre 1666,<br />
erbaut nach dem großen Brand,<br />
heute am Römerberg stehend<br />
(Foto G. Wagner)<br />
50
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I 1<br />
4. d) Hexenwahn in <strong>Reichelsheim</strong> '<br />
Viel Ungeklärtes hatte sich in den Jahren und Jahrzehnten<br />
seit Anfang des 17. Jahrhunderts ergeben, viel<br />
Leid war über die Menschen hereingebrochen, unerklärliches<br />
Leid.<br />
Warum halfen die Gebete nicht, warum half es nicht,<br />
der Kirche oder armen Mitmenschen zu spenden? Warum<br />
Krieg, Pest, Plünderei, Schändung, Brände, Hungersnot?<br />
„Das Bewußtsein des Zusammenhangs von menschlicher<br />
Schuld und göttlicher Strafe war stark ausgebildet.<br />
Aus ihm wuchs die ganze Überzeugung, daß durch innere<br />
Umkehr das äußere Elend sich wenden werde:<br />
›Wir sind führwahr geschlagen<br />
mit harter, scharfer Rut,<br />
und dennoch muß man fragen:<br />
Wer ist., der Buße tut?<br />
Ach laß dich doch erwecken,<br />
wach auf, wach auf du harte Welt,<br />
ch daß der harte Schrecken<br />
dich schnell und plötzlich überfällt.<<br />
(P. Gerhardt, deutscher Dichter/<br />
ev. Pfarrer, 1607- 1676)<br />
Solch zeitgenössische Reaktion erinnert daran, daß es<br />
ein kirchliches Zeitalter war, eine noch in starken religiösen<br />
Bindungen lebende Generation... Der Prozeß der<br />
Glaubensspaltung und neuzeitlichen Kirchenbildungscit<br />
1525... durfte 1648 im wesentlichen als abgeschlossen<br />
gelten... Als Ergebnis des langen Streits, aber auch der<br />
erzieherischen Tätigkeit der Obrigkeiten, hatte sich ein<br />
geschärftes konfessionelles Bewußtsein entwickelt, ein<br />
von Abwehrbereitschaft, Haß, l\/Iißtrauen, Verbitterung<br />
und Verkennung diktiertes Verhältnis. .. zueinander“<br />
(Bruno Gebhardt, „Handbuch der Deutschen Geschichte“,<br />
Bd. 2, S. 197 f.).<br />
Wie lautete doch jene Bitte im Gebet, das in allen Kirchen<br />
der Grafschaft Nassau nach dem Ende des Dreißigjährigen<br />
Krieges gesprochen wurde, also auch hier in<br />
<strong>Reichelsheim</strong>:<br />
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„ Reic†hel.s'heimer Hexenturrrı “ in der Turfnga.s'.s*e.<br />
Nach Überlıefifrımg sollen in ihm die wegen<br />
Hcxcrci tmc! Zaub(*reı` Afzgekfagten wéi/1renc.! der<br />
Prozcfßdauer festgehalten worden sein<br />
51
„Zersehmettert den Kopf derer, die uns feind sind 1“<br />
ln der Kirchenchronik berichtet Pfarrer Frankenfeld<br />
1849 aufgrund der alten Papiere im Kirchenarchiv über<br />
das, was in <strong>Reichelsheim</strong> ab 1658 geschah. Lehrer Heinrich<br />
Keller, hier vor ca. 6()Jahren tätig. nahm diesen Bericht<br />
der Chronik zum Anlaß, um einen Zeitungsartikel<br />
darüber zu schreiben, um -wie er ausdrücklich anmerkte<br />
- „uns und unseren kommenden Generationen ein Bild<br />
jener bösen Tage zu vermitteln (s. S.41 f. seines „<strong>Heimatbuch</strong>es“).<br />
l)er erste Teil dieses Artikels sei hier wiedergegeben<br />
:<br />
„Hexenprozesse in <strong>Reichelsheim</strong><br />
l)er durch den 3()jälırigen Krieg auf die Spitze getriebene<br />
Hexenwahn hat auch in dem Städtchen Reichelsheinı<br />
i. d. Wetterau seine Opfer gefordert, und zwar im<br />
Jahr 1658. Mehrere Kostenrechnungen weisen die durch<br />
die Untersuchung gegen verschiedene Personen entstandenen<br />
Gerichtskosten nach. Den Anlaß zu den hiesigen<br />
Hexenprozessen gaben Anschuldigungen, die von einigen<br />
Bingenheimer Frauen zu Protokoll gegeben wurden.<br />
Darüber ist folgendes zu lesen: › _ .. weil in Bingenheim<br />
etliche Zauheriıınen auf die hiesigen Leute ,bekannten`,<br />
als hat nach kommuniziertem Bingenheimer Protokoll<br />
Ihre Hochgräfliche Gnadcn, GrafJohann von Idstein als<br />
Hochgräflicher Vormund, allhier auch etliche Zauberer<br />
und Zauberinnen einziehen lassen. Zuvor aber, ehe man<br />
von dem Einziehen solcher Leute etwas gewußt, sondern<br />
allein davon äußerlich geredet, ist Pankratius Schornstein,<br />
Kirchenbaumeister und Senior, ohne Zweifel aus<br />
Trieb seines bösen Gewissens heimlich hinweggegangen,<br />
bald aber darauf sind folgende Personen eingezogen und<br />
in den ,Brandgärten` und ,Feuergräben“ verbrannt worden:<br />
- Pankratius Sehornsteins Ehefrau Katharine<br />
- Joh. Eberh. Bäckers Ehefrau Else<br />
- Joh. Spielmanns Ehefrau Katharine<br />
- Hans Schmalzen Frau Veronika<br />
- Joh. Emrich und Max Diels Frau Katharine.<<br />
Max Diel brachte sich im Gefängnis nach ausgestandener<br />
Tortur (= Folter) und getanem Bekenntnis um. Lips<br />
Finger ließ sich die Nacht an einem Seil aus dem Gefängnis<br />
und lief fort. Lips Finger Tochter Katharine und Joh.<br />
Spielmanns Tochter Katharine, beide erst 16 Jahre alt,<br />
wurden geköpft und begraben bei dem hintersten Kirchhof<br />
und begraben bei der Mauer auswendig, in Joh.<br />
Weitzens Garten. Joh. Ebert Bubers Tochter, 11 Jahre<br />
alt, ist, weil sie fortwährend leugnete, entlassen, aber im<br />
Jahre 1665 wieder nach Weilburg zitiert worden, wo sie<br />
dann nach getanem Bekenntnis den 14. März gerichtet<br />
und begraben wurde.“<br />
U<br />
, _<br />
Eine Batıersfrau wird gehängt,<br />
die nach dem Urteil des Ketzergerichtes<br />
von bösen Geistern besessen ist<br />
(Entn. : „Hexenwann“, S. 57)<br />
ll<br />
52
Im Kirehenbuch kommentierte der (wie gesagt 1849)»<br />
berichtende Pfarrer Frankenfeld dieses Geschehen mit<br />
zwei Worten, hinter die er jeweils ein Ausrufezeichen<br />
setzte:<br />
„Schändlichl Schändlich 1“<br />
Dem damals amtierenden Pfarrer Frech (von 1639 bis<br />
1673 hier in <strong>Reichelsheim</strong> tätig) wurde „vorgeworfen<br />
und verwiesen, daß er in der Privatbeichte etliche befragt<br />
habe, ob sie nicht Zauberei getrieben hätten, und wenn<br />
sie nicht mit JA geantwortet, sie nicht zum Abendmahl<br />
zugelassen hätte“ (s. Kirchenchronik, S. 100).<br />
In einem im Darmstädter Staatsarchiv vorhandenen<br />
„<strong>Reichelsheim</strong>er Gerichtsprotokoll“ aus dem Jahre 1672<br />
wird ausdrücklich verdeutlicht, daß die Vernehmung der<br />
Margarethe, Tochter des Johann Meuber('?), durch den<br />
Amtskeller Johann Nicolauß Wilhelmi und sämtliche<br />
Gerichtsschöffen die Aufgabe habe, sie daran zu erinnern,<br />
„dasjenige, was sie vorhin vorm Kirchen-Convent<br />
erwähnt, nochmals auszusagen“. Der erwähnte Pfarrer<br />
Frech amtierte bis 1673 in <strong>Reichelsheim</strong>.<br />
Die in einem früheren Kapitel beschriebene Macht des<br />
Pfarrers über seine Gemeinde wird hier verdeutlicht!<br />
(vergl. hierzu auch den Anfang des Kapitels über „Die<br />
Reformation“). Wer durch Entscheidung des Geistlichen<br />
nicht zum heiligen Abendmahl zugelassen war, der war<br />
aus der Gemeinde der Christen, und das hieß damals:<br />
aus der Gemeinschaft der Menschen, bzw. aus der Gemeinschaft<br />
der gottgewollten Geschöpfe, verstoßen -<br />
und der war damit in gewisser Weise „Un-Mensch“ oder<br />
„Anti-Mensch“.<br />
Um zu verdeutlichen, welche Bedeutung die Kirchen,<br />
die Gotteshäuser, für die Menschen jener Zeit hatten, sei<br />
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der Text eines mittelalterlichen Kirchenliedes abgedruckt:<br />
„Ehrfurchtgebietend ist dieser Ort. Hier ist das Haus<br />
Gottes, die Pforte des Himmels: Vorhof Gottes genannt.<br />
Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr der Heerseharen:<br />
Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen<br />
des Herrn. Beständig frohlocken die Engelscharen,<br />
diesen Ort bezeugen sie als heilig, in dem sie sagen:<br />
Ehrfurchgcbietend ist dieser Ort _ .<br />
„Zersehmettert den Kopf derer, die uns feind sind 1“<br />
So hatte Pfarrer Frech wenige Jahre zuvor, aus Anlaß<br />
des Endes des „Dreißigjährigen Krieges“, von der Kanzel<br />
der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche gepredigt: Wer verdächtigt<br />
war, mit dem Feind aller Christen, dem Teufel, im<br />
Bunde zu stehen, dem wurde das Abendmahl verweigert,<br />
der wurde aus dem Hause Gottes verdrängt, dieser<br />
„Pforte des Himmcls“; der wurde statt dessen vor dem<br />
Kirchen konvent oder in der Privatbeichte „befragt“, der<br />
wurde zum Geständrıis gezwungen!<br />
Zeigle der oder die Befragte sich niclıt geständig, so<br />
wurde „die peinliche Befragung“ angeordnet, also die<br />
Folter!<br />
Der Gedanke, daß eine Angeklagte - und meistens<br />
waren es ja Frauen - einmal freigesprochen werden<br />
könnte. warden Hexenriehtern, wie der damals berühmte<br />
Pater Spee in seinem Hauptwerk „Cautio Criminalis“<br />
ausführte, völlig fremd: „Entweder gesteht die Angeklagte<br />
auf der Folter, und dann ist sie schuldig, weil<br />
sie bekannt hat, oder sie gesteht nicht, dann ist sie ebenfalls<br />
schuldig, weil sie furchtbare Folterqualen ausgehalten<br />
hat, die kein Mensch ohne des Teufels Hilfe überstehen<br />
kann. Sie hat also den sogenannten Schweigezauber<br />
geübt und sich dadurch als Hexe erwiesen“ (entnommen:<br />
K. Baschwitz, „Hexen und Hexenprozesse“,<br />
S.236).<br />
Warum wird „Joh. Eberts Bubers Tochter, ll Jahre<br />
alt“ wohl schließlich gestanden haben? Die Erinnerung<br />
an das vor Jahren Erduldete, die Erkenntnis, daß einmal<br />
Verdächtigte nichtmehr ruhig schlafen gelassen werden,<br />
vielleicht auch das Verhalten des fanatisch-dogmatischen<br />
Pfarrers Frech ihres Heimatortes <strong>Reichelsheim</strong><br />
ihr, die mittlerweile das Konfirmationsalter überschritten<br />
hatte, gegenüber? All das mag dazu beigetragen haben,<br />
daß sie „gestand“, mit dem Satan im Bunde zu sein,<br />
bzw. daß sie keine Kraft mehr aufbringen konnte oder<br />
wollte, erneut den unmenschlichen Qualen der Folter zu<br />
widerstehen.<br />
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Zwei Hexen werden gefoltert (Holzschnitt, I6. Jh. )<br />
(Entn.: „Hexenwahn“, S. 108)<br />
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Konkrete Akten über die Hexenprozesse in <strong>Reichelsheim</strong><br />
finden sich nur noch sehr gering. Viele sind wohl im<br />
2. Weltkrieg beim Angriff auf das Hessische Staatsarchiv<br />
Darmstadt vernichtet worden. Lange galt der Bericht des<br />
Pfarrers Frankenfeld im Kirehenbuch als der einzig<br />
54
„brauchbare“ Beleg zum Beweis des furchtbaren Geschehens<br />
im 17. Jahrhundert.<br />
Als 1987/88 der Magistrat daranging, den „Hexenmeister<br />
von <strong>Reichelsheim</strong>“ neu aufzulegen, bemühte sich<br />
der damalige Archivar der Stadt, Herr Gerhard Hofmann,<br />
um unzweideutige Belege. Schließlich stieß er bei<br />
seinen Nachforschungen auf die Zeitschrift „Alt-Nassau“,<br />
Jahrgang 1905, die im „lnstitut für geschichtliche<br />
Landeskunde der Rheinlande“ in Bonn archiviert ist.<br />
Ausführlich und auf Originalquellen stützend, setzt sich<br />
darin ein Historiker mit den Hexenprozessen in <strong>Reichelsheim</strong><br />
auseinander.<br />
Um auch zu verdeutlichen, wie die Anklagen gegen<br />
die <strong>Reichelsheim</strong>er Hexen lauteten, sei hier aus diesem<br />
Artikel zitiert:<br />
„Da waren nun zunächst Max Diel und sein Weib im<br />
Verzeichnis aufgeführt, die schon mehr als zwanzig Jah re<br />
für Erzzauberer gehalten und von den Kindern auf der<br />
Straße dafür verschrien wurden. Ihre Händel- und Zanksucht<br />
hatte sie schon mehr als zehnmal vor Amt geführt,<br />
woraus deutlich zu entnehmen war, daß sie dem Teufel<br />
ergeben seien... Der als fünften der genannten Frau gehe<br />
zwar der böse Ruf noch ab, doch sei von ihr auch<br />
nichts Gutes zu vermuten, da sowohl ihre Stiefmutter wie<br />
ihre Schwester in Bingenheim als Hexe verbrannt worden<br />
seien.<br />
Des Bäckers Frau als sechste wurde allerdings für eine<br />
Hexe gehalten, denn vor zwei Jahren sei ein allgemeines<br />
Kindergeschwätz im Umlauf gewesen, daß ihr fünfjähriges<br />
Töchterchen sich gerühmt habe, es könne Mäuse machen...<br />
Auch Joh. Ludwigs Witwe werde für gut gehalten, nur<br />
gewähre sie öfters alten Weibern, so verdächtig, Aufenthalt<br />
in ihrem Hause...<br />
Über Johann Michels Frau, als der elften, sei nichts<br />
Schlechtes verbreitet, doch halte man sie für eine Hexe,<br />
weil sie mit dem Segensprechen umzugehen wisse. ._<br />
Eine der schlimmsten sollte aber die unter 14 aufgezählte<br />
Müllerin gewesen sein. Nicht nur waren ihre verstorbenen<br />
Eltern jederzeit für Erzhexen gehalten worden,<br />
sondern auch von ihrem ältesten Töchterchen sei<br />
vor zwei Jahren das Gerede gegangen, daß sie einem<br />
fremden Mägdlein das Mäusemachen habe lehren<br />
wollen. Dann aber habe 1653 die Müllerin durch den<br />
Ochsenhirt ›Hexenbeine< von den auf der Bingenheimer<br />
Gerichtstätte, dem Lohbusch, verbrannten Hexen holen<br />
lassen, um sie auf der Weide als Mittel gegen Viehkrankheiten<br />
zu vergraben: ݟber welches Holen der<br />
Ochsenhirt, ein Wallone, vom Teufel übel traktieret,<br />
blau und schwarz über den Rücken geschlagen worden<br />
und doeh niemanden gesehen, bis er die zurückbehaltene,<br />
uff der Weide vergrabene Bein uff mein<br />
(des Kellers) und des Pfarrers Anraten wiederum dahin,<br />
woher er sie geholet, getragen. Wobei er dann abermals<br />
sehr zerschlagen, auch von einer Stimme in französischer<br />
Sprach angeredet worden, was er damit tun<br />
wolle< . _<br />
In dem Artikel der Zeitschrift „Alt-Nassau" heißt es<br />
dann über den Prozeßfortgang:<br />
„Man betraute damit den Weilburger Rat Martin<br />
Chun und hatte auch keinen Fehlgriff getan; denn dieser<br />
berichtet am 27. Februar 1658 sehr selbstgefällig aus <strong>Reichelsheim</strong>:<br />
Er habe mit den drei Kindern bei der Untersuehung<br />
den Anfang gemacht, und der liebe Gott habe<br />
seine Gnade gegeben, daß alle Eingezogenen ihre Sünden<br />
teils gutwillig, teils durch Anwendung der Folter, das<br />
jüngste Kind infolge von Rutenschlägen, bekannt hätten.<br />
. .<br />
55
#3. ,. j __<br />
ßıııitmuıı lıı ürlılnlılpıim.<br />
Das Amtshaus zu. Reich.eIshetfrn, Fl0rsta`dter Straße,<br />
in dem die Hexenprozesse stattgefunden haben sollen<br />
(erbaut 1500, abgerissen 1910/11; Foto um 1890)<br />
Es sei nicht zu beschreiben, was für grausame Taten<br />
noch verborgen seien; es sei ganz unzweifelhaft, daß er<br />
den dritten Teil noch nicht wisse, und wenn man die Leute<br />
(mit Hülfe des Scharfrichters) ein ganzes Jahr examiniere,<br />
so komme immer wieder etwas Neues dabei heraus.<br />
.<br />
Wie sehr die krankhafte Verfolgungswut der Verantwortlichen<br />
ging, das zeigen die den Opfern meist während<br />
der Folter durch Suggestivfragen erzwungenen Geständnisse.<br />
Hier einige Beispiele:<br />
„Eine Frau wußte Kuchen zu backen, durch deren Genuß<br />
die Kühe die Milch verloren; eine andere verstand<br />
es, durch Melken am Rauchfang oder an Beilstielen den<br />
Nachbarskühen die Milch zu entziehen. . . Schaudererre-<br />
gend ist die Kunst einer anderen, Hexensalbe zu bereiten.<br />
Dazu müsse des Nachts ein Kind ausgegraben, ihm<br />
das Gehirn aus dem Köpfchen und das Mark aus den<br />
Beinchen geklopft und beides nebst zwei Fingerchen von<br />
jeder Hand oder zwei Zehen von jedem Fuße mit Säufett,<br />
Krötenschmeiß und anderen Zutaten in einer Pfanne<br />
gekocht werden. . _<br />
Über die Peinigungen des ältesten der drei Kinder<br />
schreibt Chun: ›Weil dieses Mägdlein, ein sehr versehlagen<br />
Mensch, bis zum vierten oder fünften Vernehmen<br />
bald in diesem, bald in jenem variierte und<br />
uns vexierte, ist ihm endlich nach vielem Bedrohen ein<br />
Schraubstock auf die Daumen gesetzt worden, doch<br />
ohne völlige Zerbrechung derselben, da es dann alles<br />
erzählte. Dabei hat sich ein sehr jämmerlicher Umstand<br />
ereignet, indem es gewinselt und über und über<br />
gestampft und geschrien, daß es fast nicht reden können.<br />
Der böse Feind habe ihr im Turm, dahin es zum<br />
Schrecken geführet worden, verboten zu bekennen;<br />
nun habe er ihr unter dem Rock gesessen und sie gepetzet,<br />
weshalb sie so gewinselt und gehüpfet.< - Des<br />
Mädchen Mutter, die 50jährige Müllerin, war erstaunt<br />
über die gegen sie erhobenen Anklagen; sie müsse,<br />
wenn das wahr sei, einen unwissenden Geist haben.<br />
›Als man ihr aber die Daumen- und Fußschrauben aufgesetzt
Ein paar Jahre später beantragte ein <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Einwohner die Wiederaufnahme des Verfahrens, weil<br />
ihm zwei Ochsen in kurzer Zeit verendet waren. Gefragt,<br />
wen er denn in Verdacht habe, äußerte er, das Hexenmädchen<br />
sei ja noch da, durch sie werde schon alles an<br />
den Tag kommen. ~ Seinem Wunsche scheint man dann<br />
auch nachgekommen zu sein.“<br />
Wir haben keine historischen Aussagen darüber, weraußer<br />
dem fanatischen Bingenheimer Amtmann Caspari,<br />
Vertreter der Herrschaft des Landgrafen Christian<br />
von Hessen-Bingenheim -zu den ursprünglichen Anzeigern<br />
und damit Anstiftern des Hexenwahns in <strong>Reichelsheim</strong><br />
zu nennen war. Aus Ouellen anderer Städte und<br />
Gemeinden wissen wir allerdings, daß der „Anzeiger“<br />
mit einem Drittel des Besitzes der „überführten und geständigen“<br />
Person belohnt wurde. . .l Die meisten „Anzeigen“,<br />
die zu neuen Verhaftungführten, stammten allerdings<br />
meist von denen, die gerade gefoltert wurden,<br />
denn sie wurden stets nach „Mithexen“ und „Mitzauberern“<br />
befragt. Aus der Hoffnung heraus. von den unsäglichen<br />
Schmerzen befreit zu werden, wurde. wie die oben<br />
angeführten Auszüge aus <strong>Reichelsheim</strong>er Gerichtsprotokollen<br />
beweisen, der Mund geöffnet, wurde der „Geist<br />
wissend“ gemacht, wurden Namen, irgendwelche Namen<br />
genannt oder bestätigt. Aufgrund der wiedergegebenen<br />
Berichte muß festgestellt werden, daß auch Mitbürgerinnen<br />
und Mitbürger aus Neid oder Habsucht jemanden<br />
„anschwärzten“.<br />
Läßt es sich heute erahnen, wie das Verhältnis der Mitmenschen<br />
untereinander im kleinen, mauerumgrenzten<br />
<strong>Reichelsheim</strong> war?<br />
Der berühmteste Gegner der damaligen Hexenverfolgung,<br />
der bereits genannte Pater Spee, schrieb in seinem<br />
schon zitierten Buch „Cautio Criminalis“ (2. Auflage<br />
1632):<br />
„Du mußt aber wissen, daß bei uns Deutschen der<br />
Aberglaube, die Mißgunst, Verleumdung, Ehrabschneiderei,<br />
heimlicher Klatsch. Schmähsucht und arglistiges<br />
Verdächtigen unglaublich tiefeingewurzelt sind, was weder<br />
von der Obrigkeit nach Gebühr bestraft wird, noch<br />
von der Kanzel. wie es nötig wäre, widerlegt wird. Und<br />
eben daher entsteht der erste Verdacht der Hcxerei, daher<br />
kommt es, daß alle Strafen Gottes von Zaubcreien<br />
und Hexen herrülırcn sollen. da lıabcn Gott uııd Natur<br />
nichtmehr zu gelten, sondern alles müssen die In lexen getan<br />
haben.“<br />
Schließlich und endlich starben 58 Meııschen aus <strong>Reichelsheim</strong>,<br />
fast alles Frauen, verurteilt als 1-lexen, als<br />
„Anti-Christen": Meist „aus Gnade" erst getötet durch<br />
den Strang des Henkers, wurdcıı sie außerhalb des Stadtmatıern<br />
- in den Brandgärtcn“ - verbrannt und die verbliebene<br />
Asche „in weitem Bogen verstreut“. Nur wenige<br />
gerichtete Körper wurden naclı der Strangulierung<br />
oder Enthauptung außerhalb der Stadtmatıern iıı die Erde<br />
gelegt. (Da ein weltliches Gericht die Verhandlungen<br />
führte und die Urteile sprach, gab es in der Regel keine<br />
lebendigen Verbrennungen in <strong>Reichelsheim</strong>. wie dies bei<br />
Verurtcilungcn durch kirchliche Gerichte nıeist der Fall<br />
war, weil die Kirche kein Blut vcrgießen durfte.) Keine<br />
der getöteten Personen wurde in geweihten Boden gelegt.<br />
also auf dem christlichen Friedhof bcerdigt.<br />
Die letzten Anklagefälle iıı <strong>Reichelsheim</strong> sind tıns aus<br />
den .lahren 1672 (s. das Protokoll zu Anfang dieses Kapitels)<br />
und 1678 bekannt. Über jenen letzt bekannten Fall<br />
berichtete wiedertım das Kirehenbuch (s. S. 112):<br />
„Den 29. Mai wurde Jonann Hörten Hausfrau Margarethe<br />
vor den Convent (der Kirche) geladen, weil hinterbracht<br />
wurde, sie sei auf Walpurgis (= I. Mai) morgens<br />
früh ungesprochen hinaus in die Lehmkaute gegangen<br />
tınd habe dortselbst etwas Böses und Zauberisches ge-<br />
57
trieben, weil eben den 1. Mai und folgende hernach viel<br />
Stück Vieh plötzlich gestorben seien. Daher denn gemuthmaßet,<br />
es sei von bösen Leuten etwas Böses dem<br />
Vieh angerichtet worden. Sie antwortete, sie sei ungesprochen<br />
uııd allein in die Lehmkaute gegangen und hätte<br />
dort 3 Hand voll von einem Kraut abgeschnitten, welches<br />
gut sei für das plötzliche Absterben der Schweine.“<br />
Wie die Prozesse gegen die zwei bczichtigten Frauen endeten,<br />
ergibt sich aus den vorhandenen Gerichtsprotokollen<br />
nicht.<br />
doch dessen in Holz geschnitzte Inschrift heute noch im<br />
Hof des Wetterauer Museums nachlesbar ist: „l654 X<br />
Hans Geis erbaut und zimmert dieses selber X Anno X<br />
Ach Gott sei dieses Jahr mein Helfer X“. Ob Hans Geis<br />
wirklich, wie in dem Buch erzählt, wegen Hexerei angeklagt<br />
und gefoltert worden war, sich aber durch Flucht<br />
deın Vollzug der Verurteilung entziehen konnte - das alles<br />
ist aktenmäßig nicht verbürgt. - Lesenswert ist auch<br />
das Nachwort von G. Hofmann.)<br />
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Hexe, die an/'einem Pentagramm kniet,<br />
verzaubert eine Kuh, so daß diese keine Milch mehr gibt'<br />
(Entn. _' „ Hexen wahrt S. 63)<br />
(Abschließende Anmerkung:<br />
Alle Menschen, die hier wohnen, sollten sich das kleine<br />
Büchlein von Karl Becker „Hans Geis, der Hexenmeister<br />
von <strong>Reichelsheim</strong>“ durchlesen, der sich hier ein<br />
Haus aus eigener Kraft baute, das zwar vor einigen Jahrzehnten<br />
wegen Baufälligkeit abgerissen werden mußte:<br />
.\~_..„(._„_„é$,. _ `_ .1 : _ ___., _ _,._ Q .,_„.,.-_ _. mv, -_ 7 _:__,.„;_, _ _<br />
-- _ -_ __ „_-„ .«.~ -- _ " ' »...-
In jenen Jahren der inneren Zerrissenheit der Menschen,<br />
der tiefen Verunsicherung, der Antwortlosigkeit<br />
auf all das, was den Menschen zustieß bzw. seit Beginn<br />
des Jahrhunderts zugestoßen war, begann neben den<br />
Versuchen, Unglück und Krankheit im Wirken des Teufels<br />
und seiner menschlichen Helfer, der Hexen und Hexenmeister,<br />
zu sehen, auch das Bemühen, die ersten Erkenntnisse<br />
der neuen Naturwissenschaften in herrschaftliche<br />
Verordnungen umzusetzen. Sie zeigen uns in besonderem<br />
Maße das Hin- und Hergerissensein zwischen<br />
Verstand und Aberglauben.<br />
Im <strong>Reichelsheim</strong>er Kirehenbuch hielt Pfarrer Frankenfeld<br />
eine dieser Verordnungen fest. Zusammen mit<br />
einer Einleitung können wir lesen (s. S. 107/108):<br />
„Merkwürdig ist noch eine Verordnung von diesem<br />
Jahr (1666) wegen einreißender Krankheit, nachdem in<br />
Erfahrung gebracht werden war, daß in der Nachbarschaft<br />
hitzige Krankheiten und auch die Pest ausgebrochen<br />
sei. Die wesentlichen Punkte sind:<br />
›l. Soll, um den Zorn Gottes zu besänftigen, der Gottesdienst<br />
regelmäßig gehalten werden an Sonn- und<br />
Werktagen. Dabei soll auf die Zeitereignisse in der<br />
Predigt Rücksicht genommen und die gegen die unfleißigen<br />
Kirchgänger auf der Kirchen-Censur verfahren<br />
werden;<br />
2. sollen alle Tänze, Kirchweihen, Märkte usw. eine<br />
Zeit lang gänzlich aufhören;<br />
3. sollen alle Bürger für Reinliehkeit in den Häusern<br />
wie auf den Straßen sorgen, Kloaken und Winkel<br />
fegen, für Abfluß des Wassers sorgen und totes<br />
Vieh bei Seite schaffen:<br />
sollen alle mäßig sein im Essen und Trinken, alles<br />
Steinobst meiden - zu Markt gebracht soll es aufgeschnitten<br />
werden (wahrscheinlich der Würmer wegen):<br />
feinen Wein trinken und Fleisch von gesundem<br />
Vieh essen:<br />
soll jeder zu Hause bleiben; wo er aber auf andere<br />
Orte und Dörfer gehe, sich vorher Erlaubniß holen,<br />
solche Orte jedoch, wo die Krankheit herrschet,<br />
ganz vermeiden bei Strafe einer 2-ınonatigen Landesverweisung;<br />
gleiche Strafe soll die treffen, welche Fremde oder<br />
Verwandte von solchen Orten bei sich aufnehmen;<br />
sollen die Beamten Ärzte und Balbären (= Rasierer,<br />
Friseure, Heilkundige) bestellen, die zu den<br />
Kranken gehen und diese sollen, wann sie unverrnögende<br />
Kranke behandeln, aus der Gemeindekasse<br />
bezahlt werden;<br />
sollen die Kranken sich einhalten, ihre Häuser bezeichnet<br />
werden und besondere Leute als Wärter<br />
bestellt werden, die nur allein zu denselben gehen<br />
dürfen;<br />
sollen die Todten bei Nacht und im Stillen hinaus<br />
gefahren, auch recht tief begraben werden, wenn<br />
sie von der Krankheit befallen waren:<br />
sollen Bettung nicht im Orte aufgelüftet, Weißzeug<br />
der Kranken nicht in den gemeinen Bächen ausgewaschen<br />
werden;<br />
sollen die Leute aus benachbarten Orten gegen billige<br />
Belohnung den Leuten an den inficierten Orten<br />
die Frucht schneiden und aufhäufen;<br />
soll man sich die Heilmittel bei Zeiten und zur Vorsorge<br />
anschaffen _
4. e) <strong>Reichelsheim</strong> - die Stadt der Jahrmärkte<br />
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Kaiserliehe Urkunde vom 7. April 1668 iiber die Verleihung des Rechts, jiihrlich 3 Märkte abzuhalten<br />
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ß ffflıw Handschriftliche Abschrift des „ Extraktus “<br />
der Urkunde des Jahres 1494 uber die Verleihung<br />
des Rechts, jeden Dienstag einen<br />
„freyen offenen Markt“ abzuhalten
Märkte hatten die <strong>Reichelsheim</strong>er Ortsbürger und<br />
ihre Angehörigen sowie Bediensteten, das Gesinde,<br />
schon vor diesem wichtigen Jahr, als ihnen Kaiser Leopold<br />
das Recht zusprach, in jedem Jahr 3 Märkte abzuhalten,<br />
erlebt.<br />
Märkte, das waren die „Kaufhäuser der früheren<br />
Zeit“, vor allem die Jahrmärkte, denn hier konnte man<br />
sich mit nahezu allen Dingen des täglichen Lebens versorgen,<br />
die das örtliche Gewerbe nicht oder nicht so billig<br />
oder nicht in der gewünschten Art anzubieten in der Lage<br />
war.<br />
Die Grafen von Nassau, die seit Anfang des 15. Jahrhunderts<br />
das Herrschaftsrecht über unseren Ort hatten<br />
(eine Hälfte besaßen sie durch Tausch, die andere Hälfte<br />
hatten sie seit 1423 vom Abt von Fulda als „Erblehen“ erworben),<br />
hatten <strong>Reichelsheim</strong> in jener Zeit recht gut gefördert,<br />
wie in dem Kapitel „Mittelalter“ beschrieben<br />
wurde. Sie schufen durch die Errichtung der Landwehr<br />
rund um das Gemarkungsgebiet (um 1380), den Bau der<br />
mit Wehrtürmen gesicherten Mauer rund um den Ort<br />
(gegen 1420), den Bau der Kirche (1485), die Einrichtung<br />
eines eigenen Schöffengerichtes und den Bau eines<br />
Rathauses (1570), das im Erdgeschoßbereich Markthallenform<br />
erhielt, jene Voraussetzungen, die notwendig<br />
waren, um die Stadtrechte für einen „Flecken“ erlangen,<br />
um vor allem aber den Ort zu dem Sitz von jährlich wiederkehrenden<br />
Märkten, den Jahr-Märkten, erheben zu<br />
können.<br />
<strong>Reichelsheim</strong> hatte nachweislich seit 1494 einen<br />
Markt, allerdings nur einen Wochenmarkt. In einem<br />
„Extraktus (Auszug) eines alten Documenti, den Flekken<br />
<strong>Reichelsheim</strong> belangend de ao. 1.494“ (= aus dem<br />
Jahre 1494) heißt es (leicht sprachlich verändert und gekürzt):<br />
„Wir wollen auch, daß am Dienstag jeglicher Woche<br />
ein freier offener Markt abgehalten werden soll. .. Wir<br />
wollen auch, daß in eben diesem genannten Dorf-Flekken<br />
die Friedberger trockenen Maß, dessen Elle, Münze<br />
und Gewicht gelten soll.“<br />
Damit hatte <strong>Reichelsheim</strong> also jeden Dienstag einen<br />
genehmigten Wochenmarkt, einen „freien offenen<br />
Markt“. Da <strong>Reichelsheim</strong> eine Nassauische Exklave<br />
war, wurden die Hohl-, Längen- und Gewichtsmaße sowie<br />
die Münzwertigkeit der nahe gelegenen „Freien<br />
Reichsstadt Friedberg“ vorgeschrieben. Somit hoffte<br />
man wohl, bei den Kauf- bzw. Verkaufslustigen der<br />
Nachbarorte mehr Interesse und zugleich Vertrauen<br />
wecken zu können.<br />
Mit dem offiziell genehmigten „freien offenen Markt“<br />
hatte <strong>Reichelsheim</strong> mit manch anderem größeren Ort<br />
der Region an Bedeutung gleichgezogen. Doch es sollte<br />
mehr werden nach Meinung der <strong>Reichelsheim</strong>er und ihrer<br />
Herren, der Grafen von Nassau. Aber wegen der<br />
„großen Politik“, die die Welt und auch das kleine <strong>Reichelsheim</strong><br />
im 16. und 17. Jahrhundert in Atem hielt und<br />
die in der Reformation, den Religionskriegen und dem<br />
Dreißigjährigen Krieg ihren Ausdruck fanden, wurde<br />
daraus vorerst - soweit die noch vorhandenen Akten etwas<br />
aussagen - nichts.<br />
Nachdem das Wüten und Morden des langen Krieges<br />
jedoch vorbei war, nachdem gut 11/2 Jahrzehnte später<br />
andererseits die Flammen erneut Unglück über diesen<br />
Ort inmitten der Wetterau gebracht hatten, erinnerten<br />
sich die Verantwortlichen derjungen Stadt <strong>Reichelsheim</strong><br />
Die Herkunftsorte der gewerblichen<br />
und handelstreibenden Besucher<br />
62
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32<br />
25<br />
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37 O<br />
336<br />
516<br />
Zahlen bedeuten Orte (in Klammern die Anzahl<br />
der Anbieter aus dem jeweiligen Ort):<br />
1 = Friedberg (66),: 2 = Butzbach (55),: 3 =<br />
Grünberg (46),' 4 = Nidda (31),'5 = Schotten (19) ;<br />
6 = Lich (18); 7 = Eic/telsdorf(15); 8 = Laubach<br />
(14),: 9 = Hungen (13); 10 = Freienseen(1l);11=<br />
Kohden b. Nidda (11),' 12 = Weilburg (7),- 13 =<br />
Staden (7); 14 = Dauernhcim (7); 15 = Oberursel<br />
(6),: 16 = Hanau (4); 17 = Rainrod (4); 18 =<br />
Reichenbach/Sachsen (4) ; 19 = ()ber-/Unterschmitten<br />
(4); 20 = Heuchelheim/Wett. (4); 21 =<br />
Kirchgons (3); 22 = Ulfa (3); 23 = Frankfurt/M.<br />
(2); 24 = Bommersheim (2); 25 = Kestrich (2); 26<br />
= Langd (2); 27 = Ortenberg (2);28 = Gießen (2);<br />
29 = Mttnzenberg (2); 30 = Bingenheim (2); 31 =<br />
Echzell (2); 32 = Groß-Felda (2); 33 = Windecken<br />
(2); 34 = Bad Nauheim (2); 35 = Stammheim (2);<br />
36 = Lindheim (2); 37 llbenstadt (2).<br />
Hinzu kamen noch 25 Orte, die allerdings nur<br />
jeweils' einen einzigen Anbieter in <strong>Reichelsheim</strong><br />
aufgeboten hatten.<br />
(Grafik: L. Beier)<br />
63
an die Idee, in <strong>Reichelsheim</strong> zu verschiedenen Jahreszeiten<br />
große Märkte, sogenannte „Jahrmärkte“, abzuhalten.<br />
Da die Verleihung der Marktrechte dieser Art ein Privileg<br />
des Kaisers war, bedurfte es vor allem der Unterstützung<br />
dcr adligen Herrschaft.<br />
Gerhard Steinl, ein ehemaliger Mitbürger aus dem<br />
Stadtteil Weckesheim, hat sich in jüngster Zeit in einem<br />
fundierten Artikel mit diesem Vorgang beschäftigt. Er<br />
schreibt aufgrund der Aktenlage, die er vor allem dem<br />
Hessischen Staatsarchiv in Darmstadt und dem Archiv<br />
der Stadt <strong>Reichelsheim</strong> entnehmen konnte (s. Hessische<br />
Familienkunde, Bd. 21, Heft 1, <strong>1992</strong>, April <strong>1992</strong>,<br />
Spalte 17):<br />
„Die Gemeinde richtet ein Gesuch an den Grafen,<br />
beim Kaiser uın 3 Jahrmärkte zu bitten, damit der Ort<br />
sich zusätzliche Einkünfte verschaffen kann. Der nassauische<br />
Agent am Hof in Wien, l\/lelehior Vigelius, gibt<br />
Nachricht. daß ein kaiscrliches Marktprivileg nicht zu erlangen<br />
sei. bevor nicht Konsens der umliegenden Nachbarn<br />
eingeholt wäre. Graf Friedrich berichtet nach<br />
Wien, daß den Bürgern in <strong>Reichelsheim</strong> nach dem Brand<br />
nurnoch wenig Gebäude tınd fahrende Habe übrig blieben.<br />
Kaiser Leopold fordcrt den Landgrafen Wilhelm<br />
Christoph zu Hessen-Bingenheim, den Grafen Wilhelm<br />
zu Solms-Greifenstein und die Freie Reichsstadt Friedberg<br />
auf, binnen zwei Monaten der kaiserlichen Hofkanzlei<br />
mitzuteilen, ob sie Bedenken gegen die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Jahrmärkte hätten. Bei der Vergabe von Privilegien<br />
hatte der Kaiser schließlich ausgewogene politischwirtschaftliche<br />
Verhältnisse bei allen Beteiligten im Auge<br />
zu behalten.<br />
Der Landgraf Wilhelm Christoph zu Hessen unterstützt<br />
das Gesuch und verspricht, jegliche Hilfe zu leisten“,<br />
schreibt Steinl in seinem Aufsatz weiter. „Die<br />
Friedberger erklären, ›das Geforderte in Zeiten einzuliefern
<strong>Reichelsheim</strong>s für alle Zeiten jährlich drei Jahrmärkte<br />
mit allen dazu gehörenden Rechten und Freiheiten.<br />
Die Jahrmärkte fallen<br />
1. auf Sonntag vor St. Peter Stuhlfeier (= 22. Februar),<br />
2. auf St. Johannis Baptista-Tag (24. Juni) und<br />
3. auf Sonntag vor St. Michaelis (29. September).“<br />
Positiv ist zu werten, daß Graf Friedrich den <strong>Reichelsheim</strong>ern<br />
zusicherte, auf die Standgelder der Händler und<br />
Handwerker beim ersten Markt zu verzichten. Schließlich<br />
sollte <strong>Reichelsheim</strong>ja die Mittel der Jahrmärkte vorrangig<br />
zum Wiederaufbau nach den Brandschäden von<br />
1665 einsetzen.<br />
Wie heißt es doch wörtlich ab der 6. Zeile des 2. Absatzes<br />
der Kaiserlichen Urkunde: „... was gestalten sein<br />
Flecken <strong>Reichelsheim</strong> durch entstandene Feuersbrunst<br />
in grossen schaden und verderbnus dergestalt gesetzt<br />
worden, daß wenig an Gebäu (-den) und fahrnus (Arbeitsgerät)<br />
der Unterthanen übergeblieben seye. _<br />
Die „Jahr-Märckt mit ihren Wahren, Kauffmannschaften,<br />
Haab und Gütern“ /s. Zeile 17./2. Absatz) sollten<br />
„zu autkommung (= wirtschaftlichen Stärkung) gedachten<br />
Fleckens und der verderbten Unterthanen“<br />
(s. Zeile 7) dienen.<br />
Das kaiserliche Diplom über die Genehmigung der<br />
Jahrmärkte ließ allerdings auf sich warten. Grund war<br />
hierfür: Nicht nur <strong>Reichelsheim</strong> und Gra†` Friedrich von<br />
Nassau und Saarbrücken mußten eine Urkunde in Händen<br />
haben: Alle Städte und Gemeinden sowie hochgestellte<br />
Personen der näheren und weiteren Umgebung<br />
mußten eine Abschrift erhalten, um von dem Beschluß<br />
Kaiser Leopolds zugunsten von <strong>Reichelsheim</strong> Kenntnis<br />
zu haben.<br />
Am St. Johannis-Baptista-Tag war es dann doch soweit!<br />
G. Steidl schreibt darüber (s. Spalte 18):<br />
„Am 24. Juni 1668 wird der Weilburger Kammerschreiber<br />
Conrad Haidemann feierlich unter Begleitung<br />
des Ausschusses durch das Obertor (beim heutigen<br />
Schuhhaus „Neun“) bis vor das Rathaus geholt, wo der<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Gerichtssehreiber Johann Fauerbach<br />
den Umstehenden den Inhalt des Marktdiploms vorliest.<br />
Die Anbieter erfahren, daß bei diesem Markt weder Abgaben<br />
von Wein und Bier, noch Standgeld erhoben werden.<br />
Die zahlreich anwesenden Krämer und Händler begeben<br />
sich in das Rathaus und lassen sich einschreiben.<br />
Das kaiserliche Diplom wird den Bürgermeistern und<br />
Schöffen übergeben, die es in der Gerichtslade verwahren.<br />
Über 400 Krämer aus 68 Ortschaften und Städten<br />
(Friedberg, Butzbach, Grünberg, Nidda) erscheinen.<br />
Daß der Markt vorwiegend der Bedarfsdeekung an Gebrauehsgütern<br />
dient, geht aus folgender Aufstellung hervor:<br />
Stoffherstellung, Stoffverarbeitung:<br />
131 Krämer<br />
LederherstelIung,-verarbeitung,-handel: 98 Krämer<br />
Metallwaren, -verarbeitung:<br />
56 Krämer<br />
versch. Gewerbe:<br />
36 Krämer<br />
Holzverarbeitung:<br />
21 Krämer<br />
Backwaren, Spezereien, Getränke<br />
60 Krämer“<br />
Wer die aufgeschlüsselte Berufsliste derjenigen sich<br />
einmal anschaut, die zu diesem 1. Markt nach <strong>Reichelsheim</strong><br />
kamen, der erfährt, daß unter den Anbietern z. B.<br />
65 Schuhmacher<br />
26 Bäcker<br />
14 Töpfer<br />
12 Nagelschmiede waren.<br />
Der Leser der vom Marktschreiber sorgfältig geführten<br />
Liste erfährt weiter, daß<br />
10 Wollweber 8 Sattler<br />
9 Sockenstricker 7 Haubenschneider<br />
8 Hutmacher 6 Waffenschmiede von Beruf waren.<br />
65
_<br />
Weiß- und Rotgerber, Schreiner, Drechsler, Schlosser,<br />
Huf-, Kupfer- und andere Schmiede, Holz-, Eisen-,<br />
Leintuch- bzw. Leinwandkrämer waren ebenso anwesend,<br />
wie Färber, Riemenschneider, Seifensieder, Papier-,<br />
Fell- und Roßhändler, Honigkuchenbäcker sowie<br />
Wein- und Bierwirte.<br />
Die ganze Breite des damaligen Handels und Handwerkes<br />
fand sich ein -jeder Besucher konnte alles das<br />
finden, was sein Herz begehrte.<br />
Nur wer sich <strong>Reichelsheim</strong> in seiner damaligen Ausdehnung<br />
vorstellt, kann erahnen, welch Gewimmel und<br />
Gedränge während dieser Märkte herrschte! Und um<br />
sich noch besser in das damalige Geschehen hineinversetzen<br />
zu können: die Händler aus Frankfurt, Hanau,<br />
Oberursel oder Gießen benötigten jeweils einen ganzen<br />
Tag für die Reise nach <strong>Reichelsheim</strong>: die von Lauterbach<br />
oder Weilburg 1'/2 oder gar 2 Tage 1 Fast alle legten<br />
die Strecken au1` „Sclıusters Rappen“, also zu Fuß zurück<br />
- die Waren in einer Weidenkiepe auf dem Rücken oder<br />
in einem Korb auf dem von einer „Ketzcl“ geschützten<br />
Kopf!<br />
Glück hatten die auswärtigen Anbieter, daß der Kaiser<br />
für die <strong>Reichelsheim</strong>er Märkte auch die „gewöhnlichen<br />
Freiheiten“ gewährte: 8 Tage vor und 8 Tage nach<br />
dem genannten Markttag garantierte er denen, die, um<br />
zu kaufen oder zu verkaufen, nach <strong>Reichelsheim</strong> kamen,<br />
„Freiheit, Friede, Geleit, Zollfreiheit, Schutz, Schirm<br />
und Gerechtigkeit“. Bei der Kleinstaaterei, die damals<br />
Deutschland prägte, waren dies wichtige Zusicherungen,<br />
war diese Erklärung des gesicherten Geleites sehr wichtig.<br />
Um Vertrauen in seine Anordnungen zu gewinnen,<br />
drohte er denjenigen „Prälaten, Grafen, Fürsten, geistlichen<br />
und weltlichen Herrschern, Herren, Rittern,<br />
Knechten, Hauptleuten, Landvögten, Amtleuten,<br />
Schultheißen und Bürgermeistern _ _. und sonst allen<br />
anderen Unterthanen und Getreuen“, die gegen die ausgesprochenen<br />
Freiheiten verstießen, eine deftige Strafe<br />
von 30 Mark in reinem Gold an.<br />
Doch so gut wie der am 24. Juni 1668 waren später die<br />
Jahrmärkte nicht mehr „beschickt“ und besucht.<br />
G. Steinl faßt die folgende Entwicklung in seinem<br />
schon genannten Aufsatz (s. Spalte 26) wie folgt zusammen:<br />
„Von 1668 bis 1732 finden in <strong>Reichelsheim</strong> bis aufwenige<br />
Ausnahmen ein bis drei Jahrmärkte statt.. _ Gegen<br />
Ende des 18. Jahrhunderts hat das Interesse an den Jahrmärkten<br />
nachgelassen. Die Bürger richten 1799 ein Gesuch<br />
an die fürstliche Regierung, ihnen bei der Wiederemporbringung<br />
der Jahrmärkte zu helfen. Am 24.6.1799<br />
wird der <strong>Reichelsheim</strong>er Jahrmarkt wieder gehalten. Die<br />
Stadt macht gewaltige Anstrengungen, um Händler anzulocken.<br />
Man gewährt eine ójährige gänzliche Freiheit<br />
von allen Abgaben und liefert den Handelsleuten das<br />
zum Ausbau der Stände notwendige Material kostenlos.<br />
Die Kriegswirren der napoleonischen Zeit tragen nicht<br />
gerade zu lebhaftem Marktbesuch bei. Die Zahl der Anbieter<br />
schwankt zwischen 19 und 52 und nimmt bis 1815<br />
auf 12 Händler ab.“<br />
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Zur Anmerkung: Nicht alle <strong>Reichelsheim</strong>er waren<br />
glücklich über das, was sich rund um die Märkte abspielte.<br />
Manch ein Pfarrer sah in dem Treiben während der<br />
Märkte große Gefahren für Sitte und Moral seiner<br />
„Schäfchen“.<br />
1681 wurde, wie die Kirchenchronik berichtet (s.<br />
S. 112), die Verfügung getroffen, daß die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Kirmeß mit dem Jahrmarkt von dem (geheiligten)<br />
Sonntag auf den Dienstag zu verlegen sei.<br />
1698 erließ das gräfliche Amt zu Weilburg ein Antwortschreiben<br />
an den sich beklagenden Pfarrer wegen<br />
des „gottlosen Treibens“ rund um die Märkte und die<br />
Kirmeß: Da an den Tagen „mehr Gott gespottet als gedient<br />
wird“, habe das Amt bereits untersagt, Kirmeß<br />
und Jahrmärkte an Sonntagen abzuhalten. Insgesamt<br />
könne aber keine generelle Abhilfe geschaffen werden.<br />
„Ich kann aber leider nicht allen Orten noch zur<br />
Zeit wehren, denn der Kirmeßteufel, den der Sauf-,<br />
Spiel-, Lärm- und Tanzteufel und mehreren anderen<br />
zu Gefallen hat, ist zu stark eingenistet und findet,<br />
die ihm das Wort thun“ (s. S. 113/114 der Kirchenehronik).<br />
67
4. f) Handwerker und Zünfte in <strong>Reichelsheim</strong><br />
In <strong>Reichelsheim</strong>, dieser Kornkammer der Nassauer<br />
Herren in der Wetterau - in diesem agrarisch geprägten<br />
<strong>Reichelsheim</strong> hat es einst Zünfte, also ein florierendes<br />
Handwerksleben, gegeben?<br />
Zu einer Stadt gehören auch Handwerker, und die<br />
Handwerker einer Stadt hatten sich in früherer Zeit in<br />
Zünften zu organisieren.<br />
Eine „Zunft war eine Ordnung, nach der eine Gesellschaft<br />
lebt“, teilt „Meyers Enzyklopädisches Lexikon“<br />
(Bd. 25, S. 795 f.) mit. „Die Zünfte waren im Mittelalter<br />
entstanden, von derjeweiligen Obrigkeit anerkannte Organisationen<br />
vor allem von Handwerkern“. Diese Organisationen<br />
dienten dem Zweck, den Mitgliedern die Ausübung<br />
eines bestimmten Gewerbes zu ermöglichen und<br />
die wirtschaftlichen Verhältnisse zu regeln.“<br />
Einer Zunft konııte sich nicht jeder, der wollte, anschließen<br />
-es sei denn, er brachte überprüfte Kenntnisse<br />
und Fertigkeiten, einen „freien Stand“ (= keine Leibeigenschaft)<br />
und einen guten Leumund mit. Die Zunftordnungen<br />
regelten die organisatorischen und wirtschaftlichen<br />
Fragen, wie z. B. die Bctriebsgrößen, die Arbeitszeit<br />
oder auch den Rohstoftbezug. Man wollte einen<br />
„brutalen Konkurrenzkampf“ der Meisterbetriebe untereinander<br />
verhindern; erreicht werden sollte vielmehr<br />
das Gegenteil: die wirtschaftliche Absicherung der Mitglieder<br />
derjeweiligen Zunft.<br />
Die Zünfte verloren mit der Einführung der Gewerbefreiheit<br />
um 1800 ihre Existenzberechtigung. In den Innungen<br />
der Handwerke leben allerdings bis heute einige<br />
der alten Ideen des Zunftwesens fort.<br />
Im Hessischen Staatsarchiv in Darmstadt befindet sich<br />
das „Zunftbuch über die hernach gesetzten Handwerkker<br />
zu <strong>Reichelsheim</strong>b“.<br />
Zuerst fanden sich die Meister folgender Handwerke<br />
in Zünften zusammen: Schneider, Metzger, Schuhma-<br />
cher, Sattler, Socken- und Hosenstricker. Nach und nach<br />
entschieden sich auch die Meister anderer Gewerbe dafür,<br />
Zünfte zu bilden, z. T. mit anderen Berufen zusammen,<br />
z. T. getrennt. Die gemeinsamen Zünfte hielten<br />
aber nicht immer, so daß es dann zu eigenständigen Neugründungen<br />
kam, wie eine Notiz aus dem Jahre 1713 verrät,<br />
die darüber berichtet, daß sich Glaser, Schreiner,<br />
Bäcker und Bierbrauer sich „von denen übrigen, womit<br />
sie sonst in der Zunft gestanden, abgesondert“.<br />
Das gräfliche Amt zu Weilburg „begnadigte“ die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Meister mit Datum vom 1. November 1680<br />
also erstmals mit dem Recht der Zunftbildung. Im nachfolgenden<br />
Teil dieses „Zunft-Buches“ werden die Handwerksmeister<br />
dieser kleinen Stadt „benannt“, also aufgeführt.<br />
Auch wenn uns die Namen dieser Meister heute<br />
nichts mehr sagen - wichtig bleibt zu wissen, welche Berufe<br />
hier am Ende des 17. Jahrhunderts „zünftig“ vertreten<br />
waren, denn dadurch erfahren wir, wie vielfältig das<br />
Angebot an Leistungen damals innerhalb der engen<br />
Stadtmauern war:<br />
Das Buch führt folgende Berufe auf:<br />
Schreiner und Glaser,<br />
Zimmerleute und Maurer,<br />
Schmiede und Bänder,<br />
Wagner und Sattler,<br />
Metzger und Bäcker,<br />
Leinweber und Schneider,<br />
Bierbrauer sowie Socken- und Hosenstricker.<br />
In einer besonderen Urkunde wurden die „Zunftartikel“<br />
durch Georg August, „Fürst zu Nassau, Graf zu<br />
Saarbrücken und Saarwerden _ _ festgelegt. Nach diesen<br />
hatten sich die Meister in ihrem Verhalten innerhalb<br />
und außerhalb des Betriebes zu richten.<br />
Deckblatt des „Zunftbuches“<br />
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5. <strong>Reichelsheim</strong> um 1700<br />
a) Das Erscheinungsbild der Stadt<br />
Das 17. Jahrhundert war, wie die vorherigen Abschnitte<br />
gezeigt haben, das .,Schicksalsjahrhundcrt“ unseres<br />
Ortes: Es galt viel Leid zu ertragen! Es sei an den<br />
3(ljährigen Krieg ınit Tod. Plünderung. Brandschatzung<br />
und Schändung erinnert. Erinnert sei an die Seuchen, die<br />
geliebte Menschen aus dem Familien- und Freundeskreis<br />
hinwegraf'l`ten. Erinnert sei auch an den Hexcnwahn. der<br />
zwar nur von wenigen gewollt, aber von vielen geduldet<br />
war - der allerdiııgs doch das "Todesurteil für 58 unschuldige<br />
Naclıbarinnen und l\lachbarn aus den Häusern unseres<br />
Ortes bedeutete.<br />
Erinnert sei. wenn das Leid jenes Jahrhunderts aufgezählt<br />
werden soll, an die Feuersbrunst im südlichen Ortsteil,<br />
die vielen das Dach über dem Kopf oder zuınindcst<br />
den [%íı'tı'ııg der Arbeit der vergangenen Jahre raubte.<br />
Aber es gab, wie der Leser der letzten Kapitel weiß.<br />
auch (iroßes zu bericlıten: I)ie Verleihung der Stadtrechte<br />
an <strong>Reichelsheim</strong> sowie die Verleihung des Rechtes,<br />
3 große- Märkte im .lalıre abzuhalten!<br />
<strong>Reichelsheim</strong> uııd die <strong>Reichelsheim</strong>er waren nicht<br />
„aın Boden“. Wenn nıan den alten Urkunden Glauben<br />
schenken kann, so eıııplamleıı sie vielmehr Stolz! Sie<br />
glaubten an eine große Zukunft in Wohlstand und Ansehen<br />
- und sie glaubten, hierin von ihrem Herrscherhaus,<br />
das sielı seit l(ı88 „Fürstentum Nassau“ nennen lassen<br />
konnte, unterstützt zu werden.<br />
Und deswegen gingen die <strong>Reichelsheim</strong>er nach jedem<br />
negativen Ereignis immer wieder an den Neuautbau. Natürlich<br />
trug nunmehr dazu bei, daß sich die Handwerker<br />
in anerkannten Zünften zusammengeschlossen hatten.<br />
Natürlich wirkten auch die Jahrmärkte fördernd für diesen<br />
Ort: Jahr für Jahr kamen Berufskollegen aus vielen<br />
anderen Städten und Dörfern hierher: sie boten nicht<br />
nur ihre Produkte feil, sie standen ihren heimischen<br />
Handwerkerkollegen auch immer gerne zum „Fachsim-<br />
peln“ zur Verfügung. Diese Kontakte hatten für die jungen<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Gesellen auch den Vorteil, daß sie<br />
erfahren konnten, wohin, in welche Städte, zu welchen<br />
Meistern, es sich Iohne zu gehen, wenn sie in den Jahren<br />
der Wanderschaft ihr Wissen verbessern wollten!<br />
Holzschnitt von J _ Amman: Werkstatt eines Wagners<br />
(Enm. _' „Die Wetterau“, S. 110)<br />
70
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Die „Wüsten Plätze“ innerhalb der Stadtmauern, die<br />
der lange Krieg verursacht hatte, waren, wie von der nassauischen<br />
Herrschaft gefordert, bald wieder bebaut.<br />
Dies hatte auch seine Begründung darin. daß sich hier -<br />
wie der Graf von Nassau erwartet hatte - Menschen aus<br />
der nachbarschaftlichen Region im Ort angesiedelt, sich<br />
um das Ortsbürgerrecht bemüht (welches sie gegen Zahlung<br />
eines „Eintrittsgeldes“ verliehen bekamen, nachdem<br />
sie im Städtchen Grund und Boden erworben hatten)<br />
und damit zur Stärkung des Gemcinwesens beigetragen<br />
hatten.<br />
Die Brandschäden in der „Untergasse“ (heute: Florstädter<br />
Straße), der heutigen „Neugasse“ und der südlichen<br />
Haingasse (heute: „Untere Haingassc“) waren bald<br />
beseitigt. Man hatte, wie schon dargestellt, nicht vergessen,<br />
die Ortsdurchfahrt neu zu gestalten: Ein neues<br />
Stadttor - direkt hinter dem Amtshaus des Amtsverwesers<br />
bzw. Amtmannes der nassauischen Grafen (heute<br />
steht an dieser Stelle. am Eingang der Neugasse, das<br />
Lehrerwohnhaus) - wurde gebaut! Seitjener Zeit begannen<br />
die Wege nach Florstadt bzw. nach Dorn-Assenheim<br />
und von dort weiter nach Friedberg bzw. nach Assenheim<br />
und dann nach Frankfurt nicht mehr an dem Tor,<br />
das uns am Ende der Kirchgasse noch heute lebhaft an<br />
die alten Zeiten erinnert (Zugang zum heutigen Friedhof).<br />
Dieses alte Tor führte nun nur noch zu den Äckern<br />
in den fruchtbaren Gewannen. Wie die Karte von <strong>Reichelsheim</strong><br />
aus dem Jahre 1761 zeigt, waren seither hier<br />
nur noch Gärten und Streuobstwiesen angelegt. Die<br />
Bauern brauchten sich seit dem Bau des neuen Tores<br />
nicht mehr durch die enge Kirchgasse mit ihren Fuhrwerken<br />
quälen - das neue Tor nach Süden erleichterte ihnen<br />
ihre täglichen Fahrten, vor allem im Frühjahr und in der<br />
Erntezeit.<br />
Auch die herrschaftlichen Verordnungen, die die<br />
Dachdeekung der Häuser betrafen und die verboten, die<br />
Wohnhäuser mit Stroh zu decken, veränderten das Ortsbild:<br />
immer vorherrschender leuchtete das Rot der gebrannten<br />
Ziegel und signalisierte den Ankommenden<br />
von nah und fern Wohlstand und Sicherheit.<br />
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<strong>Reichelsheim</strong> am Ende des 17. Jahrhunderts:<br />
Wie mag es ausgesehen haben? Wie wirkte sich die<br />
„Stadt-Eigenschaft“ aus?<br />
Da sich der Straßen- und Gassenverlauf seit dem großen<br />
Brand im Jahre ló68 im Altort nur gering verändert<br />
hat (die Fachwerkgasse war früher die „Sackgasse“; die<br />
„Hollergassc“, die als Parallelgasse zur Bach- und Turmgasse<br />
von der Hauptstraße zur Neugasse führte - diese<br />
Gasse ist heute überbaut, existiert also nicht mehr), können<br />
wir „Gegenwartsmenschen“ uns leicht ein Bild von<br />
damals machen, um dabei zugleich festzustellen, daß dieser<br />
Ort, daß <strong>Reichelsheim</strong>, ein „typischer“ Ort war!<br />
Beschreibungen voıı Wissenschaftlern über vergleichbare<br />
Städte sagen folgendes aus:<br />
„Alle feuergefährlichen Betriebe und alle durch Feuer<br />
gefährdeten Anlagen wurden, um die Gesamtfläche zu<br />
schützen, an oder vor der Mauer erbaut... Dagegen lagen<br />
die Pfarrkirchen, die sich durch ihre hohen Glockentür~<br />
me von Kloster- und Spitalkirchen unterschieden, inmitten<br />
der Wohnblöcke, damit sie von den Angehörigen der<br />
Pfarrgemeinden leicht erreicht werden konnten; denn<br />
sie wurden nicht nur zu sonntäglichen Gottesdiensten,<br />
sondern auch zu alltäglichen Andachten aufgesucht. Aus<br />
diesem Grunde befindet sich die . _ . Pfarrkirche meist neben<br />
dem Markt, damit auch dessen Bewohner und Besucher<br />
bequem zu ihr gelangen konnten. Das Rathaus ist<br />
am oder auf dem Markt gelegen, da in ihm die Marktstreitigkeiten<br />
zu schlichten waren und sein unteres Gesehoß<br />
oft als Kaufhalle diente. Bei allen diesen Maßnahmen<br />
wurde das Zweckmäßige schön gestaltet, wie<br />
der bauliche Zusammenklang von Pfarrkirche, Rathaus<br />
und den Wohnhäusern am Markt in vielen Städten<br />
zeigt.<br />
Die Märkte und die älteren Wohnhäuser der Städte<br />
wurden gerne an Abhängen angelegt, da diese leichter<br />
entwässert werden konnten. Das Regenwasser und die<br />
Abwässer der Wohnhäuser und der Werkstätten konnten<br />
auf einer leicht geneigten Ebene über die Straßen<br />
oder durch schmale Rinnen leichter abgeleitet werden<br />
als auf einem völlig flachen, waagerechten Gelände. .<br />
(s. Erich Keyser „Der Stadtgrundriß als Gesehichtsquelle“,<br />
in: Heinz Stoob - Hrgb. „Altständisehes Bürgertum“,<br />
Bd. 3, Darmstadt 1.989).<br />
Wer kann sich nicht, wenn er auf der Kírchhofmauer<br />
steht oder aus dem Rathaus schaut, dies geschilderte<br />
Blick vom Kirchturm auf die Marktstraße,<br />
heute Birzgerzheimer Straße<br />
spät-mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Stadtbild von<br />
<strong>Reichelsheim</strong> vorstellen, es mit Hilfe seiner Phantasie rekonstruieren?<br />
Die breite Bingenheimer Straße als<br />
Marktplatz oder Marktstraße, in dem unteren Gesehoß<br />
des Rathauses reges Verkaufstreiben (diese „Hallen“<br />
dienten tatsächlich früher dem Marktbereich), die Händler<br />
und Handwerker aus nah und fern bemüht, an der an<br />
der Rathausaußenwand eingemauerten (heute noch er-<br />
72
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kennbaren) „Nassauer Elle“ das richtige Maß zu erfassen,<br />
um ja nicht mit einer deftigen Marktstrafe belegt<br />
oder gar wegen Betruges an den Pranger (einen solchen<br />
gab es bis in das vorige Jahrhundert am Rathausl) gestellt<br />
zu werden?! Wer sieht bei der Schilderung von<br />
Keyser nicht den Amtmann als Sachwalter der lnteressen<br />
des Grafen von Nassau vor sich, stets nach dem<br />
Rechten schauend, meist begleitet von den stolzen Honoratioren<br />
des Ortes, den 2 Bürgermeistern und den Gerichtsschöffen<br />
?!<br />
Anzumerken ist noch, daß die Schmieden, also die<br />
„feuergefährlichen Betriebe“, in <strong>Reichelsheim</strong> tatsächlich<br />
in der Haingasse, also unmittelbar an der Stadtmauer,<br />
lagen. Auch darf nicht vergessen werden, daraufhinzuweisen,<br />
daß zwischen Bach- und Tı.ırmgasse die Hollergasse<br />
verlief, an deren Beginn zu jener Zeit die<br />
„Weed“ lag, die den eigerıtlichen Marktplatz nach Norden<br />
hin begrenzte. ln diese Weed, also den Feuerlöschteich<br />
des Ortes, flossen die Regenmassen, aber auch die<br />
Schmutzwässer des Marktplatzcs, der von der Kirche an<br />
leicht geneigt ist, hinein. Sein Abfluß ging durch die Hollergasse<br />
in die östlich von <strong>Reichelsheim</strong> verlaufende<br />
Horloff.<br />
Auch die weiteren Beschreibungen Keysers von älteren<br />
Städten scheinen auf <strong>Reichelsheim</strong> gemünzt, bzw.<br />
zeigen, daß <strong>Reichelsheim</strong> in seiner Anlage „typisch“ war<br />
bzw. ist (s. S. 245):<br />
„Die Straßen der Städte dienen dem Zugang zu Wohnungen,<br />
öffentlichen Gebäuden, Befestigungen oder<br />
dem Durchgang für den Verkehr. Die Durchgangsstraßen<br />
haben eine Breite von 2 -4 Fuhrwerken, damit sie in<br />
beiden Richtungen befahren werden können... Sie<br />
schließen sich an die Landstraßen an... Außer den<br />
Durchgangsstraßen und den Zugangsstraßen gibt es<br />
Gänge, die nur für Fußgänger bestimmt sind. Sie führen<br />
durch die Baublöcke hindurch, um einen rascheren Zugang<br />
zum Markt, zu den Befestigungen oder zu den Kirchen<br />
zu ermöglichen. _ . (s. Enggasse von der Neugasse<br />
zum Römerberg).<br />
Zimrrıerrrıarm bei der Arbeit.<br />
H0lz.s'chm`tt von .I _ Amman<br />
(Emm. : „Die Wetterau“, S. 105)<br />
73
Die Gänge und die Straßen pflegen zu Plätzen zuführen;<br />
sie dienten zum Aufenthalt bei Ansammlungen von<br />
Menschen, wie sie bei bestimmten Gelegenheiten vor<br />
dem Rathaus und vor den Kirchen stattfanden. .<br />
Wer nochmals auf den Stadtplan blickt oder sich <strong>Reichelsheim</strong><br />
mit seinem Straßennetz vorstellt, der erkennt:<br />
Fast alle Straßen liefen vormals auf die breite Hauptstraße,<br />
die Durchgangsstraße. zu. Es war leicht, von überall<br />
herkommend vor dem Rathaus oder vor dem Kirchplatz<br />
zu erscheinen, um Neuigkeiten, gute oder schlechte<br />
Nachrichten oder Ankündigungen, aus offiziellem Munde<br />
zu erfahren. Die engen Gassen. die zur Hauptstraße<br />
führten und noch führen, konnten wirklich nur jeweils<br />
von einem Fuhrwerk befahren werden. Sie waren eng,<br />
mußten aber auch eng sein, denn schließlich war innerhalb<br />
der Stadtmauern kein Quadratmeter Boden zu vergeuden.<br />
Daß <strong>Reichelsheim</strong> keine von Handel und Gewerbe geprägte<br />
Stadt war, das braucht nicht erst durch das Studium<br />
der Quellen belegt zu werden. <strong>Reichelsheim</strong> war<br />
eine Stadt der Bauern! Landwirtschaft war die Existenzgrundlage<br />
der großen Mehrheit der Menschen. Daß dies<br />
wirklich zutreffen ist, also daß <strong>Reichelsheim</strong> keine Kaufmanns-<br />
und auch keine Handwerkerstadt, sondern eine<br />
typische „Ackerbürgerstadt“ war, das zeigt das Straßenbild<br />
der „Durchgangsstraße“ zwischen Rathaus und dem<br />
heutigen Schuhhaus „Neun“ ganz deutlich:<br />
„Die Ackerbürgerstädte“ erscheinen „meist in Form<br />
einer breiten langen Straßenzeile, die zugleich Markt ist<br />
und an der rechts und links die Bauernhöfe und einige<br />
Handwerkerstellen liegen... Das Rathaus liegt an der<br />
Marktstraße, die Kirche hinter ihr“ (s. Erich Hamm,<br />
„Deutsche Stadtgründungen im Mittelalter“, S. 118, in:<br />
H. Stoob „Altständisches Bürgertum“, Bd. 3).<br />
Die Handwerker. meist auch die Gastwirte, hatten ihre<br />
Wirkungsstätten um 1700 in der Haingasse bzw. den<br />
anderen Nebengassen, wie Turmgasse oder Schweizergasse.<br />
Sie benötigten nicht so große Anwesen wie die<br />
Bauern, sie konnten es sich in der Regel auch nicht leisten,<br />
ihre Werkstätten in der Hauptstraße aufzuschlagen.<br />
Das Sprichwort „Handwerk hat einen goldenen Boden“<br />
traf für <strong>Reichelsheim</strong>, trotz der Einrichtung der<br />
Zünfte, erst viel später zu.<br />
Doch eines ist gewiß: In allen Straßen und Gassen<br />
herrschte reges Leben. Überall verspürte der Betrachter<br />
Aktivität. Dies mag auch daran gelegen haben, daß<br />
nicht jedes Haus oder jede kleine Hofreite mit einem<br />
eigenen Brunnen versehen war. S0 mußten die Mägde<br />
vor allem immer wieder zu einem der Gemeindebrunnen<br />
in der Neugasse in der Nähe des Amtshauses, am<br />
südlichen Rand der alten Apotheke und an der Bachgasse<br />
gehen und bottichweise dieses wichtige Nahrungsmittel<br />
für Mensch und Tier herbeischaffen. Die<br />
Frauen trugen die Bottiche oder Krüge meist auf dem<br />
Kopf, wobei der Druck auf diesen durch ein festgestopftes<br />
Rundkissen, die „Ketzel“, gemindert wurde.<br />
In gleicher Weise sah man die Frauen ihre zubereiteten<br />
Brote oder Kuchen zum Bäcker bringen, damit<br />
dieser sie backe, bzw. die fertige Ware von ihm abholen.<br />
74
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5. b) Was das Alltagsleben in und um <strong>Reichelsheim</strong> prägte<br />
Eine alte Handzeichnung aus dem J 7<br />
Jahre 1725 gibt uns einen ungefähren<br />
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Einblick in das damalige Aussehen unseres<br />
Gemarkungsgebietes.<br />
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Was vor allem auffällt, das ist der große Wiesen- und<br />
Weidenanteil an der Gemarkungsfläche: Sowohl der<br />
nördliche Bereich um den Ortenbergraben als auch der<br />
Bereich zwischen Horloff und „Schiedgraben“ (dem<br />
Grenzgraben zu Leidhecken) waren Wiesen und Weiden.<br />
Dies hatte nicht nur seinen Grund in einer fehlenden<br />
Drainierung der Wiesen bzw. Begradigung der Horloff.<br />
Es wurden auch Wiesen benötigt! Neben dem<br />
Milchvieh hielten die Bauern Schafe (die „Wollweber“<br />
warteten auf das Ergebnis der Schur) und Ziegen, die alle<br />
draußen ihr Futter suchen mußten - gehütet von einem<br />
von der Gemeinde angestellten Hirten. Auch die<br />
Schweine wurden, wenn es die Witterung erlaubte, draußen<br />
gehütet. Dies sparte Platz in den Hofreiten, denn es<br />
brauchte weniger Futter gelagert zu werden, und natürlich<br />
erleichterte es auch die Arbeit der Bauern, hatten sie<br />
doch weniger zu misten.<br />
Der Wiesen- und Wcidebedarf war in den Jahren nach<br />
dem 3(ljährigen Krieg immer mehr gestiegen, weil in den<br />
umliegenden Städten die Bevölkerung zahlenmäßig aber<br />
auch wohlstandsmäßig zugenommen hatte. Wohlstand<br />
der Bürger drückt sich allgemein in einer erhöhten Nachfrage<br />
naeh Fleisch aus! Also muß mehr Vieh und dergl.<br />
gehalten werden.<br />
Wurden in früherer Zeit die Weiden am Ortenberggraben<br />
(Weidgraben) von den Bauern von <strong>Reichelsheim</strong>,<br />
Heuchelheim und Weckesheim bzw. jene, die<br />
beidseitig des Schiedgrabens gelegen waren, von denen<br />
von <strong>Reichelsheim</strong> und Leidhecken gemeinsam genutzt,<br />
so wollte man nun klare Abgrenzungen, wollte - anders<br />
ausgedrückt - möglichst viel allein nutzen können.<br />
Der Streit um die „gerechte“ Grenzziehung zog sich über<br />
Jahrzehnte hin. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts<br />
kam es zwischen den Herrschaften zu tragenden Vergleichen.<br />
Die Westhälfte des Gemarkungsgebietes war vorrangig<br />
Ackerfläche. Doch auch dort gab es Feuchtbereiche,<br />
.,Seen“. wie den „Großen See“, den „Kleinen See“ oder<br />
den „Schützensee“. Gewannbezeichnung weisen noch<br />
heute auf deren ehemalige Lage hin. Wenn man den alten<br />
Urkunden Glauben schenken darf, gab es in einigen<br />
dieser Seen so reichlich Fische, daß sogar Fischereirechte<br />
darauf verliehen wurden.<br />
Rund um <strong>Reichelsheim</strong>, direkt an der Stadtmauer, lagen<br />
die Gemüsegärten, die innerhalb der eng gezogenen<br />
Mauern keinen Platz hatten. und die großen Streuobstwiesen,<br />
in deren Mitte manch ein Bienenvolk seine Heimat<br />
hatte. Die vielen Obstbäume - es waren mehrere<br />
Tausende - gaben den Ortsbürgern nicht nur schmackhafte<br />
und damit wichtige Vitamine für die dunkle Jahres-<br />
Blick von cler Horloffbrücke<br />
auf den für <strong>Reichelsheim</strong> wichtigen Fluß<br />
(Foto von Anfang diesen Jahrhunderts)<br />
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zeit; die Bäume gaben dem Ort auch Schutz vor den<br />
manchmal scharfen West- und vor allem Süd-West-<br />
Winden.<br />
Für Vögel aller Art, aber auch für Klein- und Niederwild<br />
war eine derart strukturierte Landschaft ein Paradies.<br />
Störche waren, wie die älteren Mitbürger unserer<br />
Stadt noch heute wissen, in und um <strong>Reichelsheim</strong> so<br />
selbstverständlich wie der wiederkehrende Frühling.<br />
Die <strong>Reichelsheim</strong>er Kinder lernten nicht nur sehr<br />
schnell die heimischen Vögel und Tiere kennen. Sie lernten<br />
von jungen Beinen an die Bedeutung ihres Lebensumfeldes<br />
kennen. Sie wußten durch die Gespräche der<br />
Eltern und Nachbarn, wie wichtig die Weiden, Wiesen<br />
und Felder waren; sie hörten von den geschilderten<br />
Streitereien zwischen den Orten um die Wiesen und Weiden,<br />
bzw. um die Grenzziehung. Sie nahmen „Partei“ für<br />
ihre Väter, wenn diese wieder einmal eine „unberechtigt“<br />
weidende Kuh eines Heuchelheimer, Weckesheimer<br />
oder Leidhecker Bauern in ihren eigenen Stall getrieben<br />
hatten und diese erst gegen Zahlung eines „anständigen“<br />
Entgeltes wieder ihrem ursprünglichen Besitzer<br />
freigaben! Die Kinder hörten aber auch von dem sich<br />
wiederholenden Ärger des <strong>Reichelsheim</strong>er Müllers mit<br />
Bingenheim, das - vor allem in regenarmen Jahren - das<br />
Wasser staute, damit ihr eigener Müller dann Wasser<br />
hatte, wenn er es zum Betreiben seiner Mühle benötigte,<br />
oder wenn ihre eigenen im Bingenheimer Ried weidenden<br />
Herden mehr Wasser brauchten... Bingenheim lag flußaufwärts<br />
und konnte deswegen leicht den Wasserstand regulieren!<br />
Sie hörten allerdings auch von Beschwerden der<br />
Bingenheimer, Gettenauer und Heuchelheimer gegenüber<br />
dem <strong>Reichelsheim</strong>er Müller, der in nassen Jahreszeiten<br />
bzw. Jahren das Wasser gestaut haben soll, wodurch die<br />
Horloff die Wiesen im Bingenheimer Ried noch stärker<br />
überschwemmten bzw. dem Bingenheimer Müller das<br />
Mahlen des Kornes wesentlich erschwert wurde. Auch<br />
wurde ihm vorgeworfen, unerlaubte Veränderungen<br />
(Erhöhung des Wehres) durchgeführt zu haben!<br />
Die Kinder hörten aus den Gesprächen der Erwachsenen<br />
in diesem Zusammenhang auch, wie schlecht Ortschaften<br />
wie Dorn-Asscnheiın dran waren. Dieser Nachbarort<br />
hatte durch Brunnen zwar genügend Wasser zur<br />
Versorgung von Menschen und Vieh. Aber Dorn-Assenheim<br />
hatte keinen großen Bach oder kleinen Fluß! Und<br />
deswegen hatten sie nicht genügend Wiesen zur Versorgung<br />
des Vichs mit Heu, vor allem aber hatten sie keine<br />
Mühle. Da auch dieser Ort ein recht isolierter Herrschaftsbereich<br />
war, zudem durch den katholischen Glauben von<br />
dem protestantischen Umfeld abgeschlossen, hatten die<br />
Bewohner Schwierigkeiten, Mehl aus ihrem Ernteertrag zu<br />
gewinnen. Erst durch Beschluß der Adelsherrschaftcn von<br />
<strong>Reichelsheim</strong> und Dorn-Assenheim wurde der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Müller verpflichtet, auch das Getreide des Nachbarortes<br />
zu mahlen. Wenn die Horloff genügend Wasser<br />
führte, hatten auch er und die <strong>Reichelsheim</strong>er Bauern<br />
nichts dagegen einzuwenden. Aber wenn nicht?<br />
Die Kinder hörten auch davon, wie abhängig die<br />
Handwerker von der _jewciligcıı Wirtsehaftssituation in<br />
der Stadt waren: Gab es eine Mißernte, ließen die Bauern<br />
ihre Scheune nicht durch die Zimmerleute ausbessern;<br />
hatte der Zimmermann keine Arbeit und damit<br />
Verdienst, so konnte er für sich und seine Familie keine<br />
Schuhe beim Schuhmacher bestellen; hatte der Schuhmacher<br />
keine Aufträge, konnte er sich keinen neuen Kittel<br />
beim Schneider machen lassen.. _<br />
Die Kinder lernten durch all dies von klein aufdie Bedeutung<br />
von Wind, Regen, Schnee, Sonne, Trockenheit<br />
kennen. Sie lernten die Abhängigkeit der Menschen von<br />
den Einflüssen der Natur kennen -lernten aber auch für<br />
ihren Vorteil zu kämpfen. .!<br />
77
Damit wußten sie schon in jungen Jahren, was es für<br />
ihren Magen bedeuten wird, wenn der Frost die Blüte<br />
der Obstbäume vernichtete, wenn ein Hagelschlag ein<br />
fast erntereifes Feld zerstörte, wenn zu große Trockenheit<br />
das Heu und das Kruınmet nicht gedeihen ließ. so<br />
daß für das Vieh nicht genügend Wintervorrat eingefahren<br />
werden konnte. Sie lernten, daß Mäuse nicht nur süße<br />
Tierchen sind, sondern in großen Massen ihr Konkurrent<br />
um Nahrung sein können!<br />
Wollte man hiermit abschließen, so hätte man das<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Umfeld noch nicht abschließend beschrieben.<br />
Ein Blick nach Norden, an der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Mühle vorbei, in der Höhe der Bingenheimer<br />
Mühle, da liegt der Lochbcrg, eine Basaltkuppe, die<br />
seit uralten Zeiten <strong>Reichelsheim</strong>er Besitz ist, obwohl<br />
sie auf Bingenheimer Gemarkung liegt. Dieser Berg,<br />
besser: dieser Hügel war über Jahrhunderte an seinem<br />
Süd- und Südwesthang dicht mit Weinstöcken bepflanzt.<br />
Fast 2 Hcktar betrug das Anbaugebiet! Er versorgte<br />
den nassauischen Amtınann, den Pfarrer und<br />
die wohlhabenden Bauern mit einem edlen, wenn auch<br />
wahrscheinlich sehr herben Tropfen. Der Pfarrer<br />
selbst hatte iın .Iahrc I627 für die Kirche einen Anteil<br />
vorı '/2 Morgen erworben, damit stets für die Abendmahlgottesdienste<br />
ein ausreichender Vorrat vorhanden<br />
war. Für seinen Eigenbedarf war durch andere Regelungen<br />
Sorge getragen: ln einer offiziellen Verordnung aus<br />
dem Jahre 1769 heißt es u. a.:<br />
„Von einer Confirmation der Kinder soll der Pfarrer<br />
für seine Mühewaltung eine Maas Wein haben und bringen<br />
die Kinder dafür 6 bis 8 Batzen.“<br />
Dieser <strong>Reichelsheim</strong>er Weinberg, auf den in früher<br />
Zeit die alten Römer ein Kleinkastel erbaut hatten und<br />
die Nationalsozialisten in unserem Jahrhundert ein eigenes<br />
„Ehrenmal“ errichten sollten - dieser Weinberg, der<br />
Loch- oder Luhberg, ist dafür verantwortlich, daß im<br />
heutigen Stadtwappen dcr Stadt <strong>Reichelsheim</strong> neben<br />
dem Kreuz der Fuldischen Mark und dem nassauischhessischcn<br />
Löwen Weinblätter enthalten sind.<br />
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Schneiclerwerkstatt Ende des I6. Jahrhunderts<br />
Holzschnitt von J _ Ammann<br />
(Entn.: „Die Wetterau “, S. 112)<br />
78
Was bestimmte neben den Alltagspflichten noch das<br />
Leben in und um <strong>Reichelsheim</strong>? Was lernten die Kinder<br />
von klein auf noch kennen, was war für sie sehr früh eine<br />
Selbstverständlichkeit?<br />
Sie merkten z. B., daß ihre Väter immer mal wieder<br />
für mehrere Stunden außer Hause waren, weil sie „Wache<br />
halten“ mußten, und zwar nicht nur nachts und nicht<br />
nur an den Toren und auf den Türmen ~ nein: in unruhigen<br />
Zeiten oder in jenen Zeiten, wenn die Menschen aus<br />
den großen Städten vor Krankheit und Hunger flüchteten,<br />
waren sie als Ortsbürger auch verpflichtet, tagsüber<br />
Straßen-, Tor- und Feldwachc zu halten. Die Sicherheit<br />
für das Eigentum und die körperliche Unverletzliehkeit<br />
der Menschen in der Stadt mußte hauptsächlich durch<br />
Eigenverantwortung, durch eine Art Bürgerwehr, gewährleistet<br />
werden.<br />
Diese Tor-, Turm- und Feldwachen hatten auch dafür<br />
Sorge zu tragen, daß nicht Unbcreehtigte über eine der<br />
Landwehrbrücken in das hiesige Gemarkungsgebiet eindrangen<br />
oder gar durch eines der Stadttore kamen. Mißtrauisch<br />
wurden vor allem Reiter in der Uniform eines<br />
anderen Herrscherhauses betrachtet. Waren sie „ohne<br />
Legitimation“, so wurde ihnen in der Regel die Durchquerung<br />
des Ortes untersagt. Manches Mal soll es sogar,<br />
wie noch vorhandene Vernehmungsprotokolle bestätigen,<br />
zu Handgreiflichkeiten mit den Durchlaß erbittenden<br />
Fremden gekommen sein. Mehr als einmal erkundigte<br />
sich der nassauische Graf bei seinem hiesigen Amtmann,<br />
was denn vorgefallen sei, habe sich doch sein „licber<br />
Vetter, Seine Erlaucht der Graf. _ bei ihm über das<br />
Verhalten der Torwachen von <strong>Reichelsheim</strong> beschwert!<br />
Ärger gab es auch immer wieder einmal mit der Erhebung<br />
von Wege- und Brückengeld, vor allem in Richtung<br />
Bingenheim. Diese Gelder gingen direkt an den herrschenden<br />
Grafen - den Ärger hatten aber die vor Ort<br />
wohnenden Menschen. Die Bingenheimer waren strikt<br />
gegen solche Abgaben und sperrten als „Gegenleistung“<br />
den <strong>Reichelsheim</strong>ern zeitweise den Zugang in den Wald,<br />
wenn sie Holz für den Hausbau oder für den Hausbrand<br />
holen wollten!<br />
l<br />
1<br />
l<br />
Holzschnitt von J. Amman „Der Holzclrechsler“<br />
(Entn. : „Die Wetterau“, S. Ill)<br />
79
Der Existenzkampf Wal' alltäglich um jene Zeit - Cl0Cl'l gen die Einnahmen aus diesem „Flecken in der Wetter-<br />
Wenn die <strong>Reichelsheim</strong>er Bauern und H21I1dW61'l
6. Vom „Nassauern“<br />
„Von jeher“, so schrieben einst (1807) die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Ortsbürger ihrem „Durchlauchtigsten Fürst“, dem<br />
„Gnädigsten Fürst und Herrn“, von jeher „schätzen wir<br />
uns um deswillen besonders glücklich, Hochfürstlich Nassau-Weilburgische<br />
Unterthanen zu seyn, weil die großmüthigen<br />
und gnädigen Handlungen der Regenten dieses uralten<br />
Fürstenhauses dem redlichen getreuen Unterthanen<br />
keinen gerechten Wunsch unerfüllt und keine billige Bitte<br />
unerhört übrig ließen.<br />
Ein Denkmal dieses glücklichen Verhältnisses zwischen<br />
Regenten und Unterthanen verehren wir in derjenigen<br />
Übereinkunft“, so schrieben die <strong>Reichelsheim</strong>er weiter,<br />
„welche Euer Hochfürstliche Durchlaucht würdiger Herr<br />
Großvater und wahrhaft edelmüthiger Vorgänger in allen<br />
Regententugenden, des verewigten Fürsten Karl Augusts,<br />
Durchlauchtigsteren l4ten/22ten May 1739 mit dem Flekken<br />
<strong>Reichelsheim</strong> abzuschließen unsere Vorfahren nicht<br />
für unwürdig gehalten haben.“ Im weiteren des Briefes bitten<br />
die „redlich getreuen Unterthanen“ den Fürsten um<br />
Verringerung der Kriegskosten, die entgegen der genannten<br />
Übereinkunft von 1739 immer wieder erhöht worden<br />
seien.<br />
Der amtierende nassauische Amtsverweser nahm Stellung<br />
zu dem Gesuch und führte dabei einmal „die Hauptausgaben“,<br />
die die Gemeinde im Jahr zuvor hatte, auf:<br />
Gulden Kreuzer Pfennige<br />
l. Monatsgeld 1772 25 -<br />
2. Beed 206 14 l<br />
3. Dienstgeld 150 - -<br />
4. Kriegskosten 1856 44 -<br />
5. Interessen von 38000 Gemeindeschulden<br />
(Zinsen) 1520<br />
6. Baukosten 236 58<br />
7. Brandsteuer nach Atzbach 222<br />
Summe 6259 45 1<br />
„Daß diese Erhebung einzelne Gemeindsmitglieder,<br />
vorzüglich den Armen und den sogenannten Mittelmann<br />
drückend gewesen seyn mag“, schreibt der Amtsverweser<br />
nach Wiesbaden, dem Sitz des neugeschaffenen „Herzogtums<br />
Nassau“, weiter, „ist nicht zu leugnen, allein es ist die<br />
Gemeinde, welche den Druck, den die traurigen Zeitumstände<br />
auf ganze Länder legten, nicht in ihren einzelnen<br />
Theilen empfinden sollte? Dabei hätte die suplicantische<br />
(= antragstellende) Gemeinde bedenken sollen, daß der<br />
Fleck, welche man den grösten Theil derselben in Bebauung<br />
ihres fruchtbaren Bodens nicht absprechen kann, sich<br />
hier reichlicher belohnt, als in Gegenden, wo das Feld nur<br />
kärgliche Erndte gibt, und daß der Staat, bey größerem<br />
Kostenaufwand, auch ihre reichlicheren Beiträge um so<br />
williger erwarten dürfe, als sie sich in einem Lande befindet,<br />
wo man zu außerordentlichen Auflagen und im Fall<br />
der größten Noth seine Zuflueht nimmt, und als es ihr billig<br />
noch hätte im Andenken seyn sollen. wie groß das Opfer<br />
war, wodurch gnädigste Herrschaft vor einigen Jahren<br />
auch ihr durch den Erlaß einer dreijährigen Contribution<br />
das erlittene Kriegsungemach weniger fühlbar gemacht<br />
hatte. .<br />
Die <strong>Reichelsheim</strong>er sollten also nach Meinung ihres<br />
Amtsverwesers bitte schön ruhig sein, sie sollten zahlen,<br />
was von ihnen verlangt, denn schließlich und endlich sollten<br />
sie glücklich sein, daß der Boden, den sie in und um<br />
<strong>Reichelsheim</strong> bearbeiteten, fruchtbarer sei als anderswo.<br />
Diese Tatsache solle sie eigentlich sogar dazu bringen, dem<br />
Staat, wenn dieser „größeren Kostenaufwand“ habe, „um<br />
so williger ihre reichlicheren Beträge“ anzubieten.<br />
Die <strong>Reichelsheim</strong>er mußten bei diesem Vorgang wieder<br />
einmal erfahren, daß trotz aller „unterthänigster“ Lobhudeleien<br />
wenig Hilfe von den Herrschaften zu Weilburg<br />
oder Wiesbaden zu erwarten war. Vielmehr mußten sie erneut<br />
erkennen, wie wertvoll sie andererseits für ihren<br />
81
Grafen bzw. Fürsten bzw. Herzog waren: <strong>Reichelsheim</strong> -<br />
die Kornkammer Nassaus! Wie wertvoll sie für den jeweiligen<br />
Regenten waren, das hatten sie schon oft erleben müssen:<br />
Von 1570 an finden sich viele alte Ouittungen, die<br />
Zahlungen der nassauischen Grafen an verschiedene Personen<br />
- Adlige und Bürgerliche - nachweisen und deren<br />
Begleichung über die Beede-Anteile der Gemeinde <strong>Reichelsheim</strong><br />
liefen (Beede oder Bede war ursprünglich eine<br />
Sondersteuer, die im Mittelalter bei außerordentlichen<br />
Anlässen erhoben wurde; später wurde sie zu einer jährlichen<br />
Abgabe, die pro Hufe erhoben wurde).<br />
Folgende Namen tauchten als Gläubiger der Grafen auf<br />
(in Klammern die Jahreszahlen der geleisteten Zahlungen):<br />
- Wilhelm von Cöln zu <strong>Reichelsheim</strong> (1571, 1572, 1574,<br />
1575, 1576, 1578 bis 1611):<br />
- Johann Oiger Brendel von Homburg, Burggraf zu<br />
Friedberg (1570 bis 1572, 1574 bis 1576):<br />
- Werner Philipp von Buches (1570 bis 1572, 1574 bis<br />
1576):<br />
- Adam Braun, genannt Hell (1571):<br />
- Heinrich Lcrsner (1571):<br />
- Quirin Freiherr von Schwarzenburg (1571, 1572, 1576);<br />
- Reychart Falck, Verwalter des Klosters von Hirzenhain<br />
(1572):<br />
- Christoffer Endes. Kellner (Amtmann) zu Bingenheim<br />
(1572):<br />
- Magnus Holzappel, Amtmann (1572, 1576):<br />
- Abraham Eberhard v. Cronberg (1575):<br />
- Hans Dauernhcim, Verwalter des Klosters Hirzenhain<br />
(1575):<br />
- Heinrich am Steg, Keller (Amtmann) zu Amorbach<br />
(1576):<br />
- Hans Heinrich von Heusenstamm (1576):<br />
- Falck von Schwarzenburg (1581, 1584, 1602):<br />
Georg Buch ( 1579);<br />
- Josten Luncker ( 1583):<br />
Kloster Hirzenhain (1583, 1584, 1587, 1602):<br />
Brendel von Homburg (1584 bis 1611);<br />
- Johann Eberhart, Burggraf zu Friedberg (1587):<br />
Hans Hector von Holzhausen (1589):<br />
Balthasar Haberkorn zu Diepurgk (1602):<br />
- Johann Myllerus, Amtmann zu Ortenberg (1611).<br />
Andere Urkunden berichten folgendes:<br />
1588 z. B. verkaufte Philipp, Graf zu Nassau-Saarbrükken,<br />
an einen Hans Berlinger von Worms und an seine<br />
Frau Anna für 1000 Gulden eine Erbrente. Als Sicherheit<br />
werden Einnahmen aus <strong>Reichelsheim</strong> angegeben.<br />
1634 z. B.: Graf Johann von Nassau-Saarbrücken verspricht<br />
der Elisabeth, Witwe des Johann Bleichenbach,<br />
die von ihrem Vater Ebald Filtz herrührende Schuldforderung<br />
von 200 Gulden zu tilgen, indem er ihr<br />
das „Umgeld vom Weinschank in <strong>Reichelsheim</strong>“ zusagt.<br />
1659 z. B. stellte ein E. Celius an den Grafen von Nassau-Saarbrücken<br />
seine Forderung und erzielt die Sicherstellung<br />
derselben durch die Verpfändung der Orte<br />
Weilburg, Gleiberg und <strong>Reichelsheim</strong>.<br />
1665 (dem Jahr des „Freiheitsbriefes“) z. B.: Graf<br />
Friedrich von Nassau, ermächtigt seinen Kammerschreiber,<br />
daß er bewirke, daß „in <strong>Reichelsheim</strong> die<br />
Unterthanen dem Kauf- und Handelsmann Ochs aus<br />
Frankfurt Handgelöbniß thun lassen (= sie sollten ihm<br />
Treue und Ergebenheit schwören), daß demselben bis<br />
zur Abtragung der Schuld ihre Leistungen dem letzteren<br />
anstatt dem Grafen liefern wollen“.<br />
1684: Johann Ernst und Friedrich Ludwig, Grafen zu<br />
Nassau-Saarbrücken, verkaufen wiederverkäuflich<br />
für 23 000 Gulden dem Kurmainzischen Oberstwachtmeister<br />
Franz Caspar von Bocholtz ihren Flecken Rei-<br />
82
'<br />
`<br />
chelsheim mit allen seinen Zugehörungen, Gerechtsamen<br />
und Gefällen . .. Der Abt von Fulda und das<br />
Haus Hessen-Cassel garantieren diesen Vertrag.“<br />
- 1692 z. B. nimmt Johann Ernst, Graf zu Nassau-Saarbrücken,<br />
50000 Gulden auf und verpfändet zur Sicherstellung<br />
den „Flecken <strong>Reichelsheim</strong>“.<br />
- 1740 bis 1759: Carl August, Fürst zu Nassau-Weilburg,<br />
verpfändet an den Fürsten Heinrich zu<br />
Schwarzburg-Sondershausen auf Lebenszeit den<br />
Flecken <strong>Reichelsheim</strong> zur ›Sicherung der darlehensweise<br />
empfangenen 30000 Reichsthaler
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7. Das 18. Jahrhundert<br />
a) Eine wichtige Zwischenepoche<br />
Das Jahrhundert der Turbulenzen, das 17. Jahrhundert,<br />
konnte für die Zukunft, so mußten die Menschen<br />
glauben, nur Besserung versprechen! Der Glaube an<br />
Hexen, ihre Verfolgung und ihre Hinrichtungen waren<br />
zwar nicht vergessen - noch jedem Kind wurde gezeigt,<br />
wo sie hingerichtet, und erzählt, wie sie hingerichtet<br />
worden waren; doch meinte man allenthalben, daß<br />
eine neue Zeit angebrochen war. Durchreisende berichteten<br />
von immer neuen Erfindungen und Entdekkungen,<br />
und so ahnte man, daß eine neue Zeit begonnen<br />
hatte. Konnte es was anderes sein, als eine bessere<br />
Zeit?<br />
Die Fürsten in den deutschen Kleinstaatcn, geblendet<br />
von ihrem großen monarchischen Vorbild jenseits des<br />
Rheines, Ludwig XIV., dem „Sonnenkönig“, der absolut<br />
über Frankreich herrschte, errichteten überall ihre<br />
„Herrensitze“, ihre Schlösser und Schlößchen, aber auch<br />
neue Hochschulen, denen sie ihren Namen gaben. Überall<br />
zeigten sie ihre Macht und ihre „Aufgeschlossenheit“<br />
- nannten sich einerseits „Herrscher von Gottes Gnaden“,<br />
andererseits „Jünger der Vernunft“. Sie sahen sich<br />
also einerseits als unzweifelhafter Teil der „göttlichen<br />
Ordnung auf Erden“, andererseits als aufgeklärte Zeitgenossen,<br />
die sich vernunftmäßig den neuen Erkenntnissen<br />
der modernen Naturwissenschaften fördernd zuwandten.<br />
Die Bauern auf dem Land, die Bauern von <strong>Reichelsheim</strong><br />
z. B., merkten nichts von den schönen Seiten des<br />
Prunkes. Sie spürten anderes: nämlich die steigenden<br />
Abgaben! Noch häufiger als früher verpfändeten die<br />
nassauischen Grafen „ihr“ Amt <strong>Reichelsheim</strong>, ihre<br />
Kornkammer in der Wetterau!<br />
Auch spürten die Männer und Frauen dieses kleinen<br />
Städtchens schmerzvoll die Folgen des Wiederauflebens<br />
der Jagdlust der adligen Herren: Immer und immer wie-<br />
der bejagten jene die Wiesen und Felder im sogenannten<br />
Parforceritt - ohne Rücksicht auf den Wachstumsstand<br />
der Acker- und Gartenfrüchte. Da zudem die wohlgenährten<br />
Herren eine leichte Jagdbeute haben wollten,<br />
war von ihnen ein dichter Wildbestand gefordert. Die<br />
Bauern in ganz Hessen und anderswo sahen es mit<br />
Schrecken: immer größer wurden neben den Jagdschäden<br />
die Schäden durch Wildverbiß! Vor allem die<br />
„Schwarzkittel“, eine der beliebtesten Jagdtrophäen der<br />
adligen Jäger, richteten in den Feldern große Schäden<br />
an.<br />
Der nassauische Amtsverweser hatte in <strong>Reichelsheim</strong><br />
auch die Aufgabe, jegliche „Wilderei“ durch die Bauern<br />
zu unterbinden. Wurde jemand beim Fallenlegen erwischt,<br />
wurde er wegen versuchten oder gar erwiesenen<br />
Diebstahls am Eigentum des Fürsten von Nassau-Weilburg<br />
angeklagt und hart bestraft. . _<br />
Wie andernorts auch, so versuchten die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Bauern verzweifelt, sich durch gezielte Maßnahmen<br />
zu bestimmten Zeiten des Wachstums der Feldfrüchte zu<br />
„wehren“: Die Nachtwachen für den Bereich außerhalb<br />
der Stadtmauern wurden verstärkt: mit Leuchten und<br />
selbstgebauten Knarren und Ratschen ausgerüstet, stellten<br />
sie sich in die Feldbereiche, die sie als besonders gefährdet<br />
ansahen. So hofften sie, das Wild zu vertreiben<br />
und damit zugleich die Früchte ihrer Arbeit vor den Tieren<br />
zu retten.<br />
Der sichtbare Wohlstand kehrte also vorrangig in die<br />
Paläste, nicht aber in die Hütten der Bauern und Handwerker<br />
auf dem Lande ein. Manch ein <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
mag sich überlegt haben, ob er dem Werben der kaiserlichen<br />
Boten aus Wien nachgeben und auch in das Banat<br />
ziehen solle, oder ob er dem Ruf der russischen Zarin<br />
Gehör schenken und in das weite Land an der Wolga ziehen<br />
solle - so wie dies aus der benachbarten Landgraf-<br />
86
schaft Hessen-Darmstadt und aus der Freien Reichsstadt<br />
Frankfurt zu hören war.<br />
Andere mögen von dem weiten Land jenseits des<br />
großen Meeres gehört haben, in das schon sehr viele<br />
Hessen und Nassauer gezogen sein sollen. Vielleicht<br />
haben einige von all dem gehört, als sie in Frankfurt<br />
auf dem Markt ihre Produkte anboten, denn dabei gingen<br />
Werber von Stand zu Stand, vor allem zu solchen,<br />
an denen kräftige junge Leute ihre guten Waren zum<br />
Verkauft anpriesen_ Wahrscheinlich sprach man in<br />
<strong>Reichelsheim</strong> über diese „Traumländer“, wenn hier<br />
selbst die großen Jahrmärkte stattfanden und sich dabei<br />
jeweils eine hektische „Nachrichtenbörse“ entwikkelte.<br />
Doch eines war allen klar: Auszuwandern war<br />
nicht einfach, denn die Fürsten sahen dies nicht gern,<br />
wollten sie doch nicht ihre besten Arbeitskräfte verlieren!<br />
Auch die Nassauer verlangten neben dem üblichen<br />
„Auszugsgeld“, das es für jeden Herrschaftsbereich<br />
seit dem Mittelalter gab, ein zusätzliches Auswanderungsgeld.<br />
Manch Williger blieb nach dem Zusammenrechnen<br />
aller Kostenposten ein treuer Untertan<br />
seiner althergebrachten Herrschaft.<br />
Wie schon an anderer Stelle erläutert, gab es zwischen<br />
<strong>Reichelsheim</strong> und den Nachbarorten Streit um die Nutzung<br />
der Wiesen und Weiden. Streit gab es in dieser Zeit<br />
aber vor allem um die Errichtung von Schlagbäumen<br />
bzw. die Erhebung von Wegegeld. Von 1703 bis 1704<br />
dauerte der Streit der Grafschaft Nassau-Weilburg mit<br />
der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt betr. der Errichtung<br />
des Schlagbaumes in Richtung Bingenheim. Von<br />
1726 bis 1728 wurde mit dem Freiherrn vom Löw, der<br />
Florstadt von Hessen-Darmstadt zur Nutzung erworben<br />
hatte, „wegen dessen Übergriffe in die Hoheitsrechte auf<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Gebiet“ Streit geführt. <strong>Reichelsheim</strong><br />
wurde immer mehr zur lnsel: Nicht nur die Landwehr begrenzte<br />
für den Notfall augenfällig das Gemarkungsgebiet:<br />
die Schlagbäume zu den umliegenden Dörfern, zu<br />
Bingenheim, zu Heuchelheim. zu Dorn-Assenheim und<br />
zu Florstadt schotteten den Ort auch in Friedenszeiten<br />
von seinem Umfeld ab - und dies zu einer Zeit, als die<br />
Welt durch die Entdeckungen immer weiter wurde, und<br />
dies zugleich zu einer Zeit, als die Regenten von sich behaupteten,<br />
immer aufgeschlossener bzw. „aufgeklärter“<br />
zu sein!<br />
Aber hierbei ging es den Grafen und Fürsten nicht um<br />
Modcrnität, hierbei ging es ihnen einzig und allein um<br />
eine regelmäßige Einnahmequellc. Um sich diese zu sichern,<br />
verpachteten sie gegen einen Festbetrag an lnteressierte<br />
das Recht, das Wegcgeld zu erheben. D. h. die<br />
Herren selbst hatten dabei kein Risiko.<br />
87
7. b) Die kurze Herrschaft des Fürsten von Schwarzburg<br />
1740 verkaufte Karl August, Fürst zu Nassau-Weilburg,<br />
dem Fürsten Heinrich zu Schwarzburg-Sondershausen<br />
für 30000 Reichstaler <strong>Reichelsheim</strong> auf Lebenszeit.<br />
Fürst Heinrich, der zu dem 1710 in den Reichsfürstenstand<br />
erhobenen thüringischen Adelshaus gehörte, erhielt<br />
alle landesherrschaftlichen Rechte über <strong>Reichelsheim</strong><br />
und die <strong>Reichelsheim</strong>er, d. h. einerseits waren die<br />
Abgaben an ihn zu liefern, andererseits mußten sie ihm<br />
„in die Hand“ den „Untertanen-Eid“ leisten, ihm also<br />
Treue und Gehorsam schwören.<br />
Über Fürst Heinrich ist nicht allzuviel bekannt. Allerdings<br />
hat er einen wegweisenden Schritt in die Zukunft<br />
dieses Orts getan: Er baute sich als erster oder als einer<br />
der ersten v o r dem Obertor ein Anwesen auf (langjährige<br />
Schlosserei Sprengel gegenüber der Abzweigung<br />
der Bad Nauheimer Straße nach Weckesheim). Damit<br />
setzte er ein Zeichen: Die Stadtmauer, die 300 Jahre<br />
diesen Landort umgrenzte und absicherte. sie wurde<br />
von dem Herrscher selbst nicht mehr als Schutz angesehen.<br />
Anders ausgedrückt: Die Mauer stellte nun keine<br />
Begrenzung mehr für die Entfaltung dieses Landstädtchens<br />
dar.<br />
Fürst Schwarzburg-Sondershausen lebte nicht nur in<br />
<strong>Reichelsheim</strong>. Die Verwaltung des Ortes ließ er durch<br />
einen Frankfurter Hofrat namens Lauterbach vornehmen.<br />
Wie gesagt: Aus der Herrschaftszeit des Fürsten Heinrich<br />
zu Schwarzburg-Sondershausen ist nicht allzuviel<br />
bekannt. Vielleicht liegt dies daran, daß er bereits 1758<br />
in Frankfurt starb, wodurch der Ort wieder den Nassauer<br />
Fürsten zufiel.<br />
Daß Fürst Heinrich in bleibender Erinnerung der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
blieb, lag vor allem daran, daß er sich in<br />
<strong>Reichelsheim</strong> beerdigen ließ, und zwar in der Kirche<br />
selbst, womit er ein fürstliches Vorrecht für sich in Anspruch<br />
nahm.<br />
Eine weitere Tatsache, die damit in Zusammenhang<br />
steht, ließ ihn für spätere <strong>Reichelsheim</strong>er Generationen<br />
eine Besonderheit bleiben: Er ließ sein Herz aus dem toten<br />
Körper entfernen und in einem herzförmigen Behältnis,<br />
das innen aus Blei und außen aus Silber gefertigt ist,<br />
getrennt von seinem Körper aufbewahren.<br />
Silberkapsel, die in einer inneren Bleiverschalung<br />
das Herz des Fürsten Schwarzburg-Sondershausen<br />
enthalt; 1758 in der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche beigesetzt,<br />
heute im Wetterau-Museum aufbewahrt. (Foto H. Haag)<br />
Als 1953 Arbeiten an der Sakristei der Kirche zur Verbesserung<br />
des Heizungssystems vorgenommen wurden,<br />
stießen die Arbeiter auf zwei Grabkammern: auf die des<br />
Fürsten Schwarzburg und auf die des Grafen Johann<br />
88
Ludwig von Nassau, einem General in Diensten des<br />
Landgrafen von Hessen-Cassel, der am 30. Januar 1690<br />
in <strong>Reichelsheim</strong> verstarb und sich hier auch beerdigen<br />
ließ. Von diesem gräflichen General ist bekannt, daß er<br />
in den Erbfolgekriegen, die der französische König Ludwig<br />
XIV. angezettelt hatte, gegen jenen gekämpft hatte.<br />
Es waren Kriege, in deren Verlauf nicht nur das schöne<br />
Heidelberger Schloß zerstört und die Pfalz in Schutt und<br />
Asche gelegt worden waren: jene Kriege hatten auch<br />
ihre verheerenden Auswirkungen in unserer Heimatregion,<br />
in der Wetterau. Der kriegsführende General Johann<br />
Ludwig, Graf von Nassau, war nicht von ungefähr<br />
hier im Amt <strong>Reichelsheim</strong> _ _ .<br />
7. c) Der Siebenjährige Krieg und seine Auswirkungen<br />
Kriege gab es auch im 18. Jahrhundert!<br />
- Das Machtstreben der absolutistisch regierenden<br />
Könige Europas -<br />
- ihr Versuch, eine momentane Schwäche eines anderen<br />
Herrscherhauses zu nutzen, um sein eigenes<br />
Herrschaftsgebiet auszudehnen -<br />
- zumindest aber der Versuch, durch Bündnisse mit<br />
einem „starken“ auch stark oder wenigstens stärker<br />
zu werden.<br />
Das bestimmte die Politik im Europa des 18. Jahrhunderts!<br />
Auf die Menschen in den Dörfern und Städten wurde<br />
keine Rücksicht genommen. Der Dreißigjährige Krieg<br />
des 17. Jahrhunderts hatte die Macht der Herrscher der<br />
Kleinstaaten gestärkt, weil er sie unabhängig gemacht<br />
hatte von den Einspruchsmöglichkeiten der Landstände<br />
und den historischen Vorrechten des Kaisers des Heiligen<br />
Römischen Reiches Deutscher Nation. Jener lange<br />
Krieg hatte es vor allem zur Gewohnheit werden lassen,<br />
daß die Herrscher ein starkes „stehendes“ Heer besaßen.<br />
Und diese jetzt existentcn Heere wollten eingesetzt sein!<br />
Als 1740 der junge Friedrich ll. den preußischen<br />
Thron bestieg, hatten viele in Europa die Hoffnung, er,<br />
der es liebte zu musizieren und zu philosophieren, der<br />
verkündet hatte, er wollte „der erste Diener des Staates“<br />
sein. eines Staates, in dem jeder nach seiner „facon“ selig<br />
werden könne, er werde eine Epoche des Friedens und<br />
damit des Wohlstandes der Menschen in Stadt und Land<br />
einleiten und bewahren.<br />
Doch weit gefehlt: Friedrich II. wurde ein ausgesprochener<br />
Kriegskönig, was ihm später den Beinamen „der<br />
Große“ einbrachte. Kaum besaß er das Zepter über sein<br />
Land, überfiel er das österreichische Schlesien, die innere<br />
Schwäche des Nachbarreiches nutzend, in dem ebenfalls<br />
ein Thronwechsel anstand: Von Karl VI. zu Maria<br />
89
Theresia, der ersten Frau auf dem Thron des „Erzherzogtums<br />
Österreich“ und des Königrcichcs Ungarn.<br />
Die Folge dieses kalkulierten Angriffes waren die drei<br />
Schlesischen Kriege und der sogenannten Siebenjährige<br />
Krieg (1756 bis 1763).<br />
Preußen suchte sich innerhalb und außerhalb von<br />
Deutschland Verbündetetc, ebenso tat dies Österreich.<br />
So kämpften - wie gut 100 .Iah re zuvor - Engländer und<br />
Franzosen, Russen und Polen, Holsteiner und Hessen,<br />
Nassauer und Bayern in Deutschland miteinander und<br />
gegeneinander.<br />
Manch ein <strong>Reichelsheim</strong>er _junger Bürger mußte Heeresdienst<br />
leisten: entweder unter der Flagge des nassauweilburgischen<br />
Grafen selbst oder als Mitglied einer<br />
Hilfstruppe eines anderen Fürsten: denn auch die Nassauer<br />
wollten nicht „Zuschauer“ des Ringens der zwei<br />
Großen in Deutschland, der Preußen und der Österreicher,<br />
sein. Während sich die Landgrafschaft Hessen-<br />
Kassel mit Preußen und Braunschweig verbündet hatte,<br />
waren Hessen-Darmstadt und die nassauischen Grafschaften<br />
auf österreichischer Seite zu finden, das sich<br />
außerdem zunächst mit England und Rußland zusammengeschlossen<br />
hatte, war doch einer der anderen<br />
Hauptverbündeten Preußens Frankreich, der Erbfeind<br />
Englands in den amerikanischen und indischen Kolonialgebieten.<br />
._<br />
Für Frankreich bot sich zudem die Chance, in das<br />
Reichsgebiet einzudringen, vor allem in das pfälzischhessische<br />
Gebiet. Ob Herrschaftsgebiet von Verbündeten<br />
oder Gegnern: Die französischen Armeen machten<br />
sich breit, sollte doch als Ergebnis des Krieges nicht nur<br />
eine Bindung der Finanzmittel Großbritanniens in Kontinentaleuropa<br />
erreicht werden (Finanzmittel, die jene<br />
dann nicht im Kolonialbereich einzusetzen in der Lage<br />
sein sollten): als Ergebnis des Krieges sollte aus französi-<br />
scher Sicht vorrangig der Gewinn des linken Rheinufers<br />
stehen, ein Ziel, das Ludwig XIV. bereits 60 bis 80 Jahre<br />
zuvor vergeblich versucht hatte zu erreichen. In diesem<br />
Krieg wurde Friedberg 1757 zu einem französischen<br />
Heerlager verwandelt, Gießen wurde mehrere Jahre besetzt<br />
gehalten. Die preußischen Armeen unter dem Prinzen<br />
von Braunschweig versuchten nach dem Bündniswechsel<br />
von England und Frankreich ihrerseits, diesen<br />
linksrheinischen Feind aus diesem Gebiet zu verdrängen.<br />
Für die Menschen hier in der Wetterau bedeutete<br />
das Erscheinen einer Armee immer Last, gleichgültig in<br />
welcher Sprache oder in welchem Dialekt die Heerführer<br />
und Soldaten sprachen!<br />
Größere Schlachten fanden bis auf die bei Bergen im<br />
Norden Frankfurts zwar nicht statt. Aber kleine „Scharmützel“<br />
gab es immer wieder, die weniger die Generale<br />
der streitenden Armeen, sondern mehr die Bewohner<br />
der Gegend beunruhigten und auch in Mitleidenschaft<br />
zogen.<br />
Was die Menschen während dieser schrecklichen Zeit<br />
verunsicherte bzw. beunruhigte? Das war die Frage, wie<br />
sie von dem, was sie nicht abzuliefern hatte bzw. was ihnen<br />
nicht an Ort und Stelle weggenommen wurde, wie sie<br />
von dem wirklich kärglichen Rest überleben, ihre Familie<br />
ernähren sollten?<br />
Hinzu kam, daß sich durch die herumziehenden Heere<br />
auch wieder ansteckende Krankheiten verbreiteten. In<br />
<strong>Reichelsheim</strong> tobte nach Überlieferung durch den damaligen<br />
Pfarrer Hoffmann die Diphterie und raubte vielen<br />
Eltern alle ihre Kinder! Es herrschte Verzweiflung, weil<br />
man damals weder die Urachen der Krankheit noch die<br />
heilenden Medikamente kannte. Aber der Ruf nach<br />
einer einsichtigen Erklärung schallte durch alle Straßen<br />
und Gassen des Ortes. Waren es doch Hexen, oder waren<br />
es die Juden, oder war es einfach Gottes Willen, sei-<br />
90
ne „Strafe“ wegen des sündigen Lebens der Menschen?<br />
Von dem Vorgänger des genannten Pfarrers Hoffmann,<br />
Pfarrer Crecelius (gestorben 1760 hier in <strong>Reichelsheim</strong>),<br />
teilt das Kirchbuch folgendes mit und gibt<br />
uns damit einen Einblick in das Denken der Menschen<br />
jener Zeit:<br />
„Er (Pfarrer Crecelius) wollte aber keine Arzneimittel<br />
mehr nehmen, weshalb er seine Zuflueht zu dem rechten<br />
Arzt des Leibes und der Seele nahm; und weil er wußte,<br />
daß alle Krankheit ihren Ursprung von der Sünde hatte,<br />
so hat er auch seine Sünden vor dem Angesicht Gottes<br />
erkannt und wehmütig bereut, so auch daran Vergebung<br />
von Herzen um des Mittlers Christi und seines geleisteten<br />
blutigen Verdienstes willen, welches er gläubig ergriffen,<br />
gesucht, ist in dem Glauben standhaft geblieben<br />
bis ihn der getreue Gott aus der streitenden Kirche berufen<br />
. _ (s. S. 11.8).<br />
Crecelius” Nachfolger, Pfarrer Hoffmann, der schon<br />
Jahre zuvor den amtierenden Pfarrer in seiner Arbeit<br />
hier in <strong>Reichelsheim</strong> unterstützt hatte und von dem auch<br />
der Eintrag stammte, dieser Pfarrer mußte den Tod aller<br />
seiner Kinder durch jene damals nicht erklärbare Krankheit,<br />
die Diphterie, erleben. Der Tod, der nahezu jede<br />
Familie heimsuchte, die Armut, die durch die Kriegsereignisse,<br />
durch die immer wieder erhöhten Kriegskontributionen<br />
verursacht war; dies alles bedeutete Verzweiflung,<br />
Hilflosigkeit.<br />
Kirchliche Verordnungen sollten das Leben neu regeln,<br />
sollten es „festigen“, sollten Verschwendung, sollten<br />
vor allem aber das Bewußtsein um den allgegenwärtigen<br />
Tod neu regeln: Kinder sollten, so hieß es nun,<br />
spätestens am 3. Lebenstage getauft werden, damit gesichert<br />
sei, daß sie, wenn sie stürben, als Christen die Erde<br />
verließen; zu Hochzeiten sollten nur maximal 12 Leute<br />
eingeladen, die Toten sollten „ohne unnötigen Kostenaufwand<br />
beerdigt, die Toten in ein Hemd von geringer<br />
Leinwand gekleidet werden“. Für Kinder unter 14 Jahren<br />
durfte nicht weiterhin getrauert, Kinder unter 6 Jahre<br />
durften zudem nicht öffentlich (also in Begleitung von<br />
Nachbarn, Verwandten und Bekannten und unter Glokkengeläute)<br />
beerdigt werden _ . _<br />
Zu gleicher Zeit, als man mit diesen Verordnungen die<br />
Menschen aus ihrer Trauer reißen oder sie nicht an die<br />
Trauer anderer im Orte erinnern wollte, als man sich also<br />
offiziell bemühte, den Menschen hier in <strong>Reichelsheim</strong><br />
klarzumachen, daß der Tod eines Angehörigen, vor allem<br />
der eines Kindes, nicht als „böser Schicksalsschlag“,<br />
sondern als Ausdruck des göttlichen Wollcns zu begreifen<br />
sei, der deswegen auch nicht die Kraft rauhen dürfe<br />
für einen aktiven Blick nach vorne, in die Zukunft des eigenen<br />
Lebens - zur gleichen Zeit kam durch Verordnung<br />
die Aufforderung, sich l. mehr den Regeln der von der<br />
Kirche verkündeten göttlichen Ordnung zu beugen und<br />
2. ein bescheidenes, ehrbares und bcherrschtes Leben zu<br />
führen.<br />
Pfarrer Frankenfeld führt aus jener Zeit dazu in dem<br />
Kirchbuch (s. S. 122) eine Verordnung an, die verdeutlicht,<br />
welche Strenge die dem Fürsten von Nassau unterstellte<br />
Kirche den „Unterthanen“ auferlegte:<br />
„Eine fünfte Verordnung setzt über dic Kirchanwohner<br />
fest:<br />
1. daß sie alle Monat gleich nach beendigtcın Betgottesdienst<br />
vorgestellt werden soll;<br />
2. daß alle Handarbeiten an Sonn- und Feiertagen -<br />
wenn es keine Notharbeiten sind - mit 15 Kreuzer<br />
bestraft werden sollen; geschehen sie aber während<br />
des Gottesdienstes mit erhöheter Strafe;<br />
3. daß gleiche Strafe den treffen soll, welcher des Handels<br />
und Wandels wegen am Sonntag ohne Noth und<br />
Vorwissen des Pfarrers vor dem Gottesdienst ausrei-<br />
91
set oder der am Samstag wegreiset und am Sonntag<br />
erst wiederkommt;<br />
daß eine Versäumniß der Catechismuslehre von Seiten<br />
derjungen Leute mit 8 Kreuzern und wenn es geschieht<br />
des Spielens, Tanzens und Saufens halber<br />
mit 6 Gulden gestraft werden soll;<br />
daß der, welcher wäh rend des Gottesdienstes in den<br />
Wirtshäusern gefunden wird, 30 Kreuzer, wer aber<br />
an dem selben Sonntag zum Abendmahl gegangen<br />
ist, 5 Gulden Strafe erlegen soll; und daß von diesen<br />
Wirten Abends nach 10 Uhr den Söffern aber zu keiner<br />
Zeit Getränke gereicht werden sollen bei namhafter<br />
Strafe, weshalben der Kirchenvorstand die<br />
Wirtshäuser visitieren sollen;<br />
daß das Kegelschieben vor und zwischen dem Gottesdienst<br />
bei (1 Kreuzern, während des Gottesdienstes<br />
bei erhöheter Strafe verboten ist;<br />
daß die Hirten vor dem Frühgottesdienst nicht ausfahren<br />
sollen;<br />
daß das Fluchen. Schwören, Verheißen und Vermessen<br />
ınit I0 Kreuzern, und wo solches zur Gewohnheit<br />
werden sollte, mit erhöheter Strafe belangt<br />
werden soll;<br />
daß aber, wenn bei dem viehisehen Vollsäufer irgendwelch<br />
Flüche, Sehwüre, Zoten, auch Tathandlungen<br />
wider das 6. Gebot mit unterlaufen oder solche<br />
Leute über die Straße hin lärmen, brüllen und<br />
schändliche Lieder singen, 30 Kreuzer Strafe erlegt<br />
werden sollen;<br />
daß an Sonn- und Feiertagen, wie auch an der Betwoche<br />
nicht getanzt werden dürfe, Leute aber, welche<br />
bei dem Tanze sich unanständiger Tathandlungen<br />
erlauben, mit 6 bis 15 Kreuzer bestraft seien;<br />
daß Spielgesellschaften, in welchen beträchtlich und<br />
gewinnträchtig Spiel getrieben wird, nicht zu dulden<br />
bei 21.5 Kreuzer Strafe, diejenigen aber, welche diesselbe<br />
in ihrem Hause veranstalten, mit 30 Kreuzern<br />
Strafe belegt werden sollen;<br />
daß wenn ledige Personen in Hurerei und Unzucht<br />
betroffen werden, jedes 2 Gulden Strafe zu erlegen<br />
habe und daß deshalb<br />
alle verdächtigen Zusammenkünfte in entlegenen<br />
Häusern und Winkeln bei 15 Kreuzer Strafe verboten<br />
seien;<br />
endlich daß die, welche in den Spinnstuben sich mit<br />
Wort und Tat ungebührlich betragen, gebührend bestraft<br />
werden sollen."<br />
War diese Strenge, diese Härte der Kirche deswegen<br />
angeordnet, weil man sich in den Universitäten und<br />
Hochschulen Gedanken über die „Freiheiten eines jeden<br />
Individuums“ machte?<br />
Die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
beugten sich weiter den<br />
gesetzten Regeln.<br />
Das Kircrhenbuch der<br />
evangelise/'zen Kirche,<br />
aufgeschlagen und<br />
getragen vom<br />
gegenwärtigen Pfarrer<br />
von Reich.elsheim,<br />
J. Enke<br />
(Foto W. Wagner)
7. d) Neue Rechnungsführung über Einnahmen /Ausgaben<br />
In diesem Jahrhundert, dem I8., versuchten auch die<br />
Fürsten von Nassau-Weilburg, sich einen materiellen<br />
Vorteil dadurch zu verschaffen, daß sie von ihren Amtern<br />
eine neue Buch- und Rechnungsführung verlangten.<br />
Durch die strenge Kontrolle der Abgaben sowie der Einund<br />
Ausgaben sollten die Einnahmen der Gemeinden<br />
und der Fürstlichen Hofl
alte, brüchige Eimer nicht vererbt oder diese selbst,<br />
allerdings mangelhaft, hergestellt wurden)<br />
Wegen der Markwaldung<br />
(Holz aus dem Markwald konnte nur nach Erlaubnis<br />
der Markmeister und nach Zahlung eines Entgeltes<br />
geholt werden. Dies galt für Bau- und auch für<br />
Brennholz)<br />
Prinzeß-Steuer<br />
(Für die erforderliche Mitgift der Grafen- oder Fürstentöchter<br />
mußte stets eine Sondersteuer von den<br />
„lieben Untertanen“ bezahlt werden)<br />
Extra ordinaria<br />
(Sondersteuer, z. B. für Verköstigung von ausländischen<br />
Truppen oder Strafgeldern von Bürgern, die<br />
etwas in der Gemeinde zerstört hatten)<br />
Von Gemeinde Bauen und Stücken<br />
(Eine Art Gewerbesteuer; 1800 wird eine Einnahme<br />
aus dem Brauhaus der Gemeinde verbucht)<br />
Giltgeld<br />
(Eine Steuer, die aufdie Person, nicht auf den Besitz<br />
bezogen war; also eine Art „Kopfsteuer“);<br />
Vom Gemeinde Faßelvieh<br />
Einnahme durch Verkauf des alten Faselochsens<br />
z. B. bzw. auch Deckungs- oder Sprunggeld)<br />
Wege-Geld<br />
(Das Recht, Wegegeld zu erheben, war verpachtet;<br />
deswegen tauchtejedes Jahr eine geiche Summe auf)<br />
Interesse<br />
(Zinseinnahmen aus Kapitalien, die die Gemeinde<br />
der Herrschaft geliehen hatte)<br />
Gelehnte Capitalien<br />
(Zinsen von Ortsbürgern, die bei der Gemeinde Geld<br />
geliehen hatten)<br />
Von Stipendiaten Geld Interesse<br />
(Es gab eine Stiftung, aus deren Erträge Stipendien<br />
für begabte Schüler aus dem Ort gezahl wurden; wurde<br />
es nicht zu seinem ursprünglichen Zwecke eingesetzt,<br />
gingen die entsprechenden Gelder in die Gemeindekasse)<br />
- Von der Gemeinde Dorn-Assenheim<br />
(Dorn-Assenheim nutzte einige Wiesen im <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Ried für ihr Vieh; bekanntlich hatte Dorn-<br />
Assenheim keinen gemarkungseigenen Bach oder<br />
Fluß und damit nur wenig natürliches Gras- und Weideland)<br />
- Von urbar gemachten und verpachteten Stücken<br />
(Wer eine Wiese oder Weide trocken legte durch<br />
Drainage, der mußte eine Abgabe bezogen auf die<br />
Höhe des erwarteten Mehreinkommens bezahlen;<br />
außerdem hatte die Gemeinde eigene Wiesen und<br />
Felder, die sie z. T. verpachtete, wenn sie diese nicht<br />
als „Almend“ nutzen wollte. Als die Landwehr oder<br />
die Seen - der Große und der Kleine See sowie der<br />
Schützensee trockengelegt bzw. eingeebnet worden<br />
waren, war von den Bauern, die diese Flächen nutzten,<br />
Pachtgebühren bzw. z. T. Abgaben zu leisten)<br />
- Von verkauften Gemeindegras<br />
(Das Gras, Heu- und Grummet der Gemeindewiesen<br />
wurde verkauft).<br />
Der übliche „Zehnte“, die Abgabe eines festgelegten<br />
Teiles der Ernte oder des Arbeitsertrages, blieb hiervon<br />
unberührt. Auch Sonderabgaben zugunsten der Kirche,<br />
der Schulen und dergleichen kamen fürjeden Ortsbürger<br />
hinzu. So war die Aufforderung des Fürsten und der Nassauischen<br />
Kirche, ein solides Leben zu führen, jede Verschwendung<br />
zu vermeiden, voll verständlich: denn wer<br />
sein Geld „versäuft“, „verhurt“ oder verspielt, der kann<br />
all die Abgaben, die aufzubringen sind, nicht aufbringen<br />
- es sei, er setzt sein ererbtes Vermögen aufs Spiel!<br />
94
7. e) Veränderungen im Erscheinungsbild von Ort und Gemarkung<br />
Das 18. Jahrhundert hat <strong>Reichelsheim</strong> verändert:<br />
Wurden am Anfangjenes Jahrhunderts noch Schlagbäume<br />
errichtet, die Durchgänge der Landwehr damit verschlossen,<br />
so begann - bedingt auch durch die neuen<br />
Waffen, durch das neue Denken, durch neue Entdekkungen<br />
und Erfindungen - ein allmähliches Umdenken.<br />
ıııu<br />
Einblick in die Kirchgasse.<br />
Bis 1665 eine der Hauptstraßen, seit ca. 1800 die Straße,<br />
durch die jeder Reicheisheimer anf dem Wege zum<br />
Friedhof nach seinem Tode getragen wurde.<br />
(Foto: Besitz der Familie Dörr).<br />
Es wurde schon berichtet, daß Fürst Schwarzburg-<br />
Sondershausen in seiner Zeit als Herrscher über <strong>Reichelsheim</strong><br />
das ummauerte Stadtgebiet durchbrach, in<br />
dem er sich außerhalb des Obertores ein angemessenes<br />
Anwesen errichten ließ. Andere machten es ihm bald<br />
iii'-l,<br />
I<br />
nach und stellten Antrag, „auf Erlaubniß, außerhalb<br />
dem Flecken vors Obertor zu baun“.<br />
Der Siebenjährige Krieg hatte noch deutlicher gemacht<br />
als alle Kriege seit dem Dreißigjährigen Krieg,<br />
daß die neue Artillerie mit alten dicken Stadtmauern keine<br />
großen Probleme mehr hat bzw. daß Landwehren<br />
schon gar keinen Schutz mehr boten.<br />
Was vordem undenkbar war, wurde um 1784 Wirklichkeit:<br />
Ein wichtiger Bereich des Gemeindelebens wurde<br />
vor die Stadtmauern verlegt: der Friedhof.<br />
Die Einheit von Leben und Tod, die über Jahrhunderte<br />
dadurch dokumentiert wurde, daß der „Totenhof“ der<br />
Gemeinde rund um die Kirche angelegt war, also mitten<br />
im Ort, diese Einheit war damit zerbrechen. Dies kam<br />
einer Revolution gleich, und wird gewiß nicht ohne erbitterte<br />
Diskussionen abgelaufen sein, denn es sei daran<br />
erinnert, daß früher nur die Mitmenschen v o r der<br />
Stadtmauer unter die Erde gebracht wurden, die wegen<br />
eines tatsächlichen oder angenommenen Verbrechens<br />
aus der Mitte der menschlich-christlichen Gemeinschaft<br />
verstoßen worden waren, die man also „ex-kommuniziert“<br />
hatte. Die aufrechten Mitglieder der Gemeinde<br />
hatten auf dem „Totenhof“ rund um die Kirche, die Mitglieder<br />
der Herrsehaftsfamilie sogar in derselben ihre<br />
letzte Ruhestätte und blieben somit wahrnehmbarer Teil<br />
des alltäglichen Lebens der Menschen des Ortes.<br />
Das Stadttor an der Kirchgasse hatte schon spätestens<br />
seit dem großen Brand des südlichen Ortsteiles im Jahre<br />
1668 seine Bedeutung an das Untertor am Amtshaus<br />
(heute Lehrerwohnhaus) südlich der Neugasse abgeben<br />
müssen. Wie in früheren Abschnitten erläutert, begannen<br />
hier am Untertor seit jener Zeit die Wege nach Florstadt<br />
und nach Dorn-Assenheim und von letzterem Ort<br />
weiter über Bauerheim nach Friedberg bzw. über Assenheim<br />
nach Frankfurt. Hinter dem Tor an der Kirchgasse<br />
95
waren Gemüse- und Obstgärten angelegt. Nun errichteten<br />
die <strong>Reichelsheim</strong>er ihren Friedhof vor der Stadtmauer<br />
- außerhalb ihres Lebensberciches. Diese Maßnahme<br />
stand gedanklich und zeitlich in Übereinstimmung mit<br />
den Verordnungen der Nassauischen Landesherrschaft,<br />
die zum Ziele hatten nicht zu sehr den Toten leidend<br />
nachzutrauern. _ l ,.« Q/Øif/l//'r'//Ä/-`).-'//41%/§'Ć„„_<br />
Eın weiteres Zeichen des neuen Denkens“ am Ende<br />
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des 18. Jahrhunderts betrafldie Landwehr. lm Hcssi- .../»«-„//›'/Ä›~›- 27,/j /.775<br />
schen Staatsarchiv (Darmstadt) fand sich aus dem Jahre , › :_ „ _ f " , ~ Y *_,<br />
1798 folgendes amtliehes Dokument: //7' Ø//yišfw/I ß<br />
_ ...:. ›í.`4....Ã:J/fl*/l<br />
Fürstliche Hofkammer W/'I ' V-r<br />
BH I ›„,~' nf-___ ä<br />
den Amtsverweser Schneider zu <strong>Reichelsheim</strong><br />
Auf Reg: Comm: Vom 23ten v.M. Das Gesuch der Gemeinde<br />
<strong>Reichelsheim</strong> um gnädigc Erlaubniß, die Landwehr<br />
und andere in ihrer Gemarkung gelegenen wüsten<br />
Plätze in Acker umphasten zu dürfen und um Erteilung<br />
der Zehntfreiheit und sonstigen Abgaben auf einige<br />
Zeit, betr.<br />
Nachdem Serinissimus der Supplicantischen (= antragstellenden<br />
/ untertänigsten) Gemeinde von der urbar zu<br />
machenden Länderei die gebetene Zehntfreiheit auf<br />
sechs Jahre in Gnaden erteilt haben: als wird der Amtsverweser<br />
davon mit der Auflage andurch benachrichtigt,<br />
dieser Zehnten Befreiung, mit jedesmaliger Benennung<br />
der urbar gemachten Districten und deren Flächeninhaltes<br />
von Jahr zu Jahr in der Rentei-Rechnung zu erwähnen.<br />
Den lten Julius 1798“<br />
96<br />
Schreiben. der furstlichen. Regierung an den<br />
Amtsverweser Schneider betr. des Baugesuches<br />
von Eberhard Vogt außerhalb vors Obertor<br />
2
iv: ı-“M<br />
uı,..._....Ã-~<br />
¬"ı.r ı<br />
___” ___« um<br />
Gesamtansicht des vermutlich 1725 erbauten Anwesens<br />
„ Vor dem Obertor“, als Adelssitz der Familie<br />
von Trilitz erbaut (Aufnahme vor dem Ersten Weltkrieg)<br />
Die Landwehr (s. hierzu Skizze von L. Beier auf S. 27)<br />
wurde also „geschleift“, die Gräben durch den Wall verfüllt!<br />
Einige Hektar Ackerland wurden dadureh als landwirtschaftliche<br />
Nutztläche gewonnen, zog sich doch dieser<br />
alte Befestigungswall von Florstadt aus an Dorn-Assenheim<br />
vorbei bis zum Ortenberggraben, der Gemarkungsgrenze<br />
zu Weckesheim und Heuchelheim. Die<br />
überschüssige Erde des Walles wurde dazu genutzt, andere<br />
„wüste Plätze“ in der Gemarkung zu verfüllen: Der<br />
„Schützensee“, der „Große“ und „Kleine See“ waren auf<br />
der Gemarkungskarte von 1761 noch deutlich eingezeichnet.<br />
Mitte des 19. Jahrhunderts wurde nur festgestellt,<br />
daß die Flurbezeichnungen „Schützensee-Gewann“<br />
usw. „darauf hinweisen, daß dortselbst in früherer<br />
Zeit Seen gewesen sein mögen“.<br />
Die <strong>Reichelsheim</strong>er erreichten in ihren Eingaben, daß<br />
sie für diese urbar gemachten Flächen „Zehntfreiheit“<br />
lııl<br />
erhielten, also daß sie keine Ertragsabgaben machen mußten.<br />
1803, 1810 und 1815 wurde diese Zehntbefreiung jeweils<br />
neu beantragt und auch gewährt- ein Zeichen dafür,<br />
daß die Arbeit auf diesen Flächen zwar der der anderen<br />
Acker entsprach, nicht aber die Ernteerträge.<br />
Daß sich die <strong>Reichelsheim</strong>er um die Urbarmachung<br />
dieser „wüsten Flächen“ bemühten und der Fürst dies<br />
unterstützte, indem er Abgabenfreiheit gewährte, lag<br />
wesentlich daran, daß in jenen Jahrzehnten trotz der immer<br />
wiederkehrenden Seuchen und der todbringenden<br />
Kriege die Bevölkerung stark anwuchs. Erste Erkenntnisse<br />
im hygienischen und sanitären Bereich und vor allem<br />
neue Erkenntnisse der Medizin sorgten dafür, daß<br />
die Lebenserwartung der Menschen langsam anstieg.<br />
Wissenschaftler wie der Brite Robert Malthus (1766 bis<br />
1834) glaubten gar am Ende des 18. Jahrhunderts, daß es<br />
bald nicht mehr möglich sein werde, die Menschheit zu<br />
ernähren, da die Bevölkerung schneller wachse als die<br />
Nahrungsmittelproduktion auf der Erde.<br />
*_<br />
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_<br />
8. Das 19. Jahrhundert<br />
a) Nassaus Aufstieg durch Napoleon<br />
Überall in Europa „knirschte es im Gebälk“. Schriftsteller<br />
und Dichter Deutschlands schrieben Freiheitsstücke,<br />
die in Inhalt und Form die alten Regeln „höfischer<br />
Dichtkunst“ sprengten. Goethe schrieb die Dramen<br />
„Goetz von Berlichingen“ und „Egmont“, Schiller<br />
ließ sich als Dichter von „Die Räuber“ (Untertitel: „Gegen<br />
die Tyrannis“) und „Kabale und Liebe“ feiern.<br />
Dem Absolutismus der adligen Herrschaft über ihre<br />
Untertanen wurde der Kampf angesagt; es wurde eine<br />
Anderung der Lebens- und Rechtsbedingungen des Bürgertums<br />
gefordert. Vor allem wurden Meinungs- und<br />
Pressefreiheit gefordert.<br />
Aus der neuen Welt waren zudem Nachrichten gekommen,<br />
die besagten, daß die dortigen Kolonisten sich<br />
gegen das britische Königsregiment erhoben, daß sie<br />
auch Erfolg in ihrem Kampf gehabt hätten, daß sie sich<br />
nun ohne König selbst regieren wollten - als demokratische<br />
Republik! 1789 kam es in Frankreich, dem symbolischen<br />
Sitz des Absolutismus, bedingt durch die schlechte<br />
Finanzlage des Staates, zur Wiedereinberufung der 1615<br />
zuletzt tagenden Generalstände. Der 3. Stand, das Bürgertum,<br />
sollte dieses Mal sogar so stark vertreten sein wie<br />
Geistlichkeit und Adel zusammen! Europa wartete gespannt<br />
auf das, was geschehen würde. _ .<br />
Überall herrschte Nervosität und Unruhe, Unzufriedenheit<br />
und Gereiztheit, gab es doch in den Städten und<br />
auch auf dem Lande seit der verheerenden Mißernte<br />
1788 großen Hunger, stiegen doch die Preise für Brot<br />
und andere Lebensmittel in Höhen, die nicht nur die Armen<br />
verzweifeln ließen. Und das nicht nur in Frankreich<br />
- auch in den deutschen Fürsten- und Herzogtümern war<br />
die Situation bedrohlich.<br />
„Was ist der 3. Stand'?“ fragte in Paris Abbe Sayez.<br />
Und er antwortete selbst mit einem einzigen Wort: „Allesl“<br />
Denn nur der 3. Stand sei in der Lage, sich allein zu<br />
ernähren, sich zu verteidigen, zu verwalten und Bildung<br />
zu vermitteln. Der Ruf nach „Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit“<br />
aller Menschen wurde nicht nur am 14. Juli<br />
1789 dem König von Frankreich entgegengeschrien.<br />
Auch in unseren Städten und Landstrichen gab es die<br />
Forderung nach „Emanzipation“, also nach Entlassung<br />
aus der Abhängigkeit. Zu Unruhen kam es an den nahe<br />
gelegenen Universitäten Gießen und Marburg - Unruhen,<br />
getragen von den Studenten, aber zum Teil auch unterstützt<br />
von den Handwerkern jener Städte.<br />
Die fürstlichen Herrschaften waren aus Angst vor<br />
„französischen Verhältnissen“ durchweg „antirevolutionär“.<br />
Der vor der Guillotine geflüchtete Adel Frankreichs<br />
wurde deswegen gastfreundlich aufgenommen.<br />
Der Versueh der mit ihnen Verbündeten deutschen Heere,<br />
die Revolution im Nachbarland militärisch zu stoppen<br />
bzw. zu beenden, scheiterte im September 1792 kläglich<br />
(„Kanonade von Valmy“).<br />
Seitdem herrschte allerdings in Frankreich „Vorwärts-<br />
Stimmung“. Noch im gleichen Jahr besetzten die Revolutionsarmeen<br />
Frankfurt und auch Mainz.<br />
Die Herrscher der Fürstentümer Nassau-Weilburg<br />
und Nassau-Usingen schlossen sich ängstlich Frankreichs<br />
Gegnern an, wurden doch von Eroberern wichtige Teile<br />
ihrer Fürstentümer (zwischen Rhein und Mosel) in dem<br />
Bestreben besetzt, den Rhein von Basel bis Koblenz<br />
„endlich“ zur tatsächlichen Grenze Frankreichs zu den<br />
deutschen Fürstentümern werden zu lassen.<br />
Adalbert, Bischof und Abt von Fulda bestätigen<br />
dem „Durchlauchtigsten Fürst Herrn Carl Wilhelm,<br />
Furst zu Nassau“ usw. die Erbleihe an der Hälfte<br />
des Dorfes <strong>Reichelsheim</strong>. (Dieses war die letztrnalige<br />
Erbleihebestatigung vor der Säkularisation)<br />
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Für die Bewohner des nassauischen Amtes <strong>Reichelsheim</strong><br />
hatten die Kriege bald spürbare Folgen: Die<br />
Kriegskosten des Fürstentums mußten auch die hiesigen<br />
Bürger mittragcn, wie Rechnungen aus dem Jahre 1793<br />
belegen. Außerdem mußten auch die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
verstärkt Heeresdienst leisten, und das sollte für die<br />
kommenden zwanzig Jahre „zur Gewohnheit“ werden.<br />
Junge Burschen aus unserem Ort wurden eingezogen,<br />
gedrillt und dann entweder unter nassauischem Kommando<br />
oder unter dem eines gut zahlenden Verbündeten<br />
in den verschiedensten Winkeln Deutschlands und Europas<br />
in den Kampf geschickt.<br />
Weil sich die Staaten Deutschlands im Kampf gegen<br />
Frankreich nicht verbündcten - zu sehr waren Preußen<br />
und Österreich noch durch die Politik um die Vorherrschaft<br />
in Deutschland verfeindet -, konnte sich das revolutionäre<br />
Frankreich ohne große Gefahr nach Osten ausdehnen.<br />
Doch der mittlerweile herrschende Napoleon<br />
versuchte, aus seinen Feinden abhängige Freunde zu machen:<br />
Unter seinem Einfluß wurden die geistlichen Fürstentümer<br />
sowie die Bcsitztümer der Klöster aufgelöst<br />
und den weltlichen Fürstentümern, die an Frankreich<br />
Gebiete abtreten mußten, zur Entschädigung übereignet.<br />
1801 wurden sich auch die Fürsten von Nassau-Usingen<br />
und Nassau-Weilburg mit Napoleon in Paris einig:<br />
Bedeutende Teile des Erzbistums Mainz wurden gewonnen,<br />
so z. B. Höchst, Kronberg, Trier und Limburg/L.<br />
Um diese geographische Neuordnung „reibungslos“<br />
für die neugewonnenen katholischen Untertanen im<br />
evangelischen Nassau abzuwickeln, wurde der noch immer<br />
bestehende „Religionsbann“ aufgehoben: Die alte<br />
Idee der Einheit von weltlichem Staat und religiösem Bekenntnis<br />
wurde damit Teil der Geschichte. Die Freiheit<br />
der Religionsausübung, die Glaubensfreiheit, wurde<br />
offiziell weitestgehend Wirklichkeit.<br />
Die Aufhebung des Religionsbannes in Nassau machte<br />
es dann auch möglich, daß im Rahmen des „Reichsdeputationshauptschlusses“<br />
das dem Grafen Schönborn gehörende<br />
Dorn-Assenheim zum nassauischen Amt <strong>Reichelsheim</strong><br />
geschlagen wurde, so daß nunmehr dem Amt<br />
<strong>Reichelsheim</strong> zwei Dörfer unterstellt waren: eben <strong>Reichelsheim</strong><br />
und Dorn-Assenheim. Die Nassauer verfügtcn<br />
damit über eine ausgedehntere Kornkammer in der<br />
goldenen Wetterau!<br />
In diesen Maßnahmen zur Neuordnung Deutschlands<br />
wurde der Wille Napoleons deutlich, nicht nur die geistlichen<br />
Fürstentümer zu „säkularisieren“, sondern auch die<br />
kleinen und kleinsten Grafschaften zu „mediatisieren“.<br />
Somit entstanden kompaktere Mittelstaaten im Westen<br />
Deutschlands, die handlungsfähig und wirtschaftlich<br />
stärker sein sollten, die aber Frankreich als einzelne<br />
nicht gefährlich werden konnten.<br />
Die Nassauer erhielten noch eine weitere Erhöhung:<br />
Unter der Voraussetzung, daß sich die zwei nassauischen<br />
Fürstentümer Nassau-Weilburg und Nassau-Idstein „für<br />
alle Zeiten“ vereinigten, wurde ihnen die Herzogswürde<br />
verliehen. Der jeweilige Herzog von Nassau führte nun<br />
gar die „Fürstenbank“ der adligen Reichststände an -<br />
eine Auszeichnung, die schmeichelte.<br />
Napoleon hatte aber mit diesem sogenannten Reichsdeputationshauptschluß<br />
von 1803 und mit seinen anderen<br />
Entscheidungen nicht nur Gefälligkeiten verteilt.<br />
Vielmehr verlangte er Wohlwollen Frankreich gegenüber<br />
- und zwar mehr Wohlwollen ihm gegenüber als „jenem<br />
deutschen Kaiser“ im fernen Wien!<br />
Und drei Jahre später leitete er den nächsten Schritt<br />
ein, der Deutschland verändern sollte: Nach einem erneuten<br />
Krieg Österreich-Ungarns gegen Frankreich, wobei<br />
die süddeutschen Staaten sich nicht mehr zu einem<br />
Bündnis gegen Frankreich entscheiden konnten, wurde<br />
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ınçıterçn änfaåeııü ban nad) ıeııcı' flanbeßmdmšımıg bc: bıßben e unter dnrb åmifd›,n1N_1lııferμ bcıben<br />
íšurftlıdgrn 21 n rfiııgíıcıçııııb fllšcılbgırg non ist ftgaurnıiren, an non ıııgerıı f mmtlidnn beıbcríıcitıgvn<br />
flan efiftçílen nur a an baü âßrábıcatz e getan! ı d› mn ga ıı _tf , šıebraııdn nm-nen fu _<br />
ßtcıcnmıc eß nlnígçnfi fletß unter cıfrig eß :eben tft, ba ßilucrnn ben àlßoblftanb unterer<br />
ëctrçııçn llnmtbancn immer nıcbr §1: bcfılr nr alle werben %ír_aud› bu: burcb bien ippmltmimngn<br />
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der „Rheinbund“ gegründet, ein Staatenbund süddeutscher<br />
Staaten unter Vorherrschaft Frankreichs. Diese 16<br />
süd- und westdeutschen Staaten, unter ihnen das „Herzogtum<br />
Nassau“, sagten sich von dem „Heiligen Römischen<br />
Reich Deutscher Nation“ los - worauf Kaiser<br />
Franz Il. die KaiseıNkrone dieses alten deutschen Reiches<br />
niedcrlcgte. Ein Deutschland unter einer einheitlichen,<br />
wenn auch sehr lockeren Führung gab es damit nicht<br />
mehr, und damit hatte eine lange, z. T. ruhmreiche Epoche<br />
deutscher Geschichte ihr Ende gefunden.<br />
Zugleich bastelte in Frankreich Napoleon am Entstehen<br />
eines neuen „Römischen Reiches“ - unter Vorherrschaft<br />
seines Landes, seiner Person.<br />
Für Napoleon ergab sich durch die Schaffung des<br />
Rheinbundes unter seiner Vorherrschaft die „Möglichkeit,<br />
auf ein wichtiges militärisches Reservoir für künftige<br />
Feldzüge zurückgreifen zu können“ (s. „Die Chronik<br />
Hessens“, S. 200). „l806 werden auch Nassauer für den<br />
Krieg gegen Preußen mobil gemacht“ (ebenda).<br />
Bis 1814 gab es nun auch in <strong>Reichelsheim</strong> eine ständige<br />
Rekrutierung von jungen Leuten für die Eroberungskriege<br />
Napoleons in ganz Europa. Sie wurden in den Niederlanden<br />
und in Spanien, in Rußland und in Österreich<br />
eingesetzt - sie wurden gar noch gegen die verbündeten<br />
Heere Deutschlands eingesetzt, als diese sich im Herbst<br />
1813 in der „Völkerschlacht bei Leipzig“ gegen den Kaisergeneral<br />
aus Frankreich zu befreien suchten.<br />
Doch es gab nicht nur kriegerische Geschehnisse und<br />
Ereignisse. Auch andere Entscheidungen jener Zeit beeinflußten<br />
das Leben der Menschen im Amte <strong>Reichelsheim</strong><br />
ganz entscheidend: Zum 1. Januar 1806 verkündete<br />
der Herzog von Nassau durch französischen Einfluß die<br />
Aufhebung der Leibeigenschaft, und beendete damit ein<br />
unrühmliches Herrschaftskapitel aus den Zeiten des Mittelalters.<br />
Auch setzte er eine moderne Steuerreform im<br />
Jahre 1809 durch, die „die Gleichheit der Abgaben und<br />
Einführung eines neuen direkten Steuersystems in dem<br />
Herzogtum Nassau“ zum Ziele hatte.<br />
Hauptziel dieses Steuerreform-Gesetzes war allerdings<br />
nicht nur eine wesentliche Vereinfachung des bisherigen<br />
Steuereinnahme-Systems; auch sollte sie nicht<br />
nur einer größeren Steuergerechtigkeit ermöglichen.<br />
Die Steuerreform hatte auch die Aufgabe, wie der Herzog<br />
Friedrich August und sein Mitregent Fürst Friedrich<br />
Wilhelm in der Einleitung des Gesetzes ehrlicher Weise<br />
äußerten, die Steuereinnahmen zu erhöhen:<br />
„Wir haben Uns, in Erwägung, daß durch den langwierigen<br />
schwierigen Krieg und die dadurch veranlaßte<br />
gänzliche Umänderung der äußeren und inneren Staatsverhältnisse,<br />
die Staatsbedürfnisse in unserem vereinigten<br />
Herzogtum teils vorübergehend, teils bleibend gestiegen<br />
sind“, entschieden, „ . . . ein neues System der direkten<br />
Besteuerung einzuführen, das mit gleiehheitlicher<br />
Anziehung aller einzelnen Untertanen nach Verhältnis<br />
ihrer Kräfte den Charakter der Einheit und Einfachheit<br />
verbindet...“ (s. Archiv der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>, hier:<br />
„Verordnungsblatt des Herzogthums Nassau, Jg. 1809).<br />
Auszug aus der „Landesherrlichen Verordnung<br />
die Gleichheit der Abgaben und Einfı`t'hrun.g<br />
eines neuen direkten Steuersystems in dem<br />
Herzogthum Nassau betreffend“<br />
Die Steuerreform sollte also zwar „gerechter“ die Lasten<br />
verteilen; insgesamt hatte sie aber eingestandenermaßen<br />
vorrangig die Aufgabe, dem Staat höhere Einnahmen<br />
zu verschaffen. Die Einwohner von <strong>Reichelsheim</strong><br />
werden dem Verzweifeln nahe gewesen sein: Neben<br />
den immer wieder steigenden Beteiligungen an den<br />
Kriegskosten („Kontributionen“), neben der Tatsache,<br />
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unb bir bnbırrıh heraııtçıfitç nånilichr tlmáııbernng ber einieren nnb inııereıı ëtnatßnerghåttnittei<br />
bie' ëtantbbebürfnifir in Llnterm iirreininirn Jbrrtoáihum theilø boeılbernebenbf<br />
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fiätnnttbebürfııitte bie groben llııgleiehheiteıı uııb Øebrenheıı; nıeiehr in benmnnniih'<br />
faltigm Qibgaben uııb ätruerfılirn ber-bertrhíebenen fμııbetthrile liegen, noch bitteren--<br />
brr fiir benfiiiıtetıırııi unb noch nnıhtheiligrr file ben tlßohitlanb ber Qietaıiimtheit<br />
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werben, alt bieteø in trılherenímerhåtinitteıı bertiatt geııieten iti; -› non ber briııgenben<br />
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Eiiiiàhrliche 2`:bettimmung'ber birrrren ëtenrrn nach bern ëtantšbebıirfníflr S. 5'<br />
Hebel; tomeit eb mbglieb itiß hebt.-` metrhe biíher bureh unnıåšinr tßeiatiuııg einieiııer fembeßihrite<br />
unb _ltntrrthanen_ im fllierbåltn-in gegen aııberc eııtltaııbrrı flnb. . -<br />
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1) išılr bie išrbibwte .ber ëtantßflenerıı. §. 6. ` ' ' ' ' «Q e tt; r. tät ib trh n tt vt.<br />
b) äılr bie Erhebung aller bireeren ääeitrâneıu ner'nein'nı1ninen Qmecfen. 5. 7,<br />
N ~ Qtttgıniiiıíel tläıtiiiníıiiınnın' ıibıè bie ßtniirdautlngm. -' - f' -<br />
am uns Qapml' I ßcfvnbm mm"-nmungm -um møıunb Ü 'un' ' " `§. 1. töıfletıerung bee ri_i'mn_ı!in|'ommını ) :bie ßtantebebıirfnittei ln te mit<br />
ëteuerburetäegentlåııbe. §. 3. I<br />
e tilnennhmenbanoıı. 5. 9. _<br />
itiorbehair tıinttiger' näheren äåetiímrnunn.. 5. ru.<br />
btltgenıeiner äiertheiiungefufi. §. ıı. N<br />
Steuer-ënpital unb ëimptnını N ~ _<br />
a)!'13bıı fëirunbfltltfriı. §.i2. ' 1 ›<br />
b) Elton eirnııbflàdieıı ber tßebåube. N5. 13. _<br />
ßırerhnung bei ëreueıw ëanitaie. .§. 14. „<br />
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b) Pllvnbem Siflbflbrr bei @_i_1_t$_ fılıj alle _biir'at1f battenbe eingeben) mit ßerbebe<br />
bei`triıterne_ifie._ §. ie." _ __ `_ ' “N 1 NN<br />
ßeitiebungeart: 'N _ _ 4; _ _<br />
1) Eier Qemporqt-fbaıbtqbnabm' §._ 11. _<br />
2) bei Behnten. §. 19. _ _' N<br />
3) 53“ ißttfliiıen (Beib- ıınbittntnrnlnbenben:<br />
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th nicht bnreh eiııiiiııftr aus ben ßiantenüierıı ıınb iRenntien_ gebiet: flnbf fetten bnrıh<br />
ßrttenetuııg bee _relneııN@inl'e›.mınen6 tiııtercr tlnterthemen abfnebrarht reerbeıı. .<br />
§. 1. (tiiıirhbıltlidıeo Betrrngwerbåltniß, nach Qlufhıbung ber biøbrrigın -Eee<br />
freiunnevorrerhre.) Bu beríhritımhme an bieten ëtaaieauflnnrn teil in 3ı|ıtııntt berategıtıınen,<br />
unb teniet etmbgiid) tft, eine iıbr ttri bee reinen eıııtonımrni in nteıehheıttn<br />
Rhein fllerhåttnib beígrtonen inerben. _ '<br />
Qinigebtuennhnirn bon ibíeter biegen metqhe Uni entmeber in bee üiatnr ber ëeıhe<br />
gigrıtnbrt, aber auch hem beabllehtinten ßmeef ber- Qrleiehternııg beß bertiålııiiıniifiig tu<br />
tehr betehnieı-t_en_ Eheitsttııterer tlnterthaneni unb_ber .ßeíbrbırıııın bee btteııilırhen<br />
ttßehltianbeei unııaehtheiiigerteheiııeıı, werben wir aus aıtbeimeit ılberiniegenben (Britnben<br />
inteitteni unb in ber tibtge-'bei ben nnrtenınıeııben 'eintelııeıı Øetıeltllållbifl t1»\m=t1f=<br />
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daß immer wieder junge Leute eingezogen wurden, die<br />
als Arbeitskräfte auf dem Hofe oder in der Werkstatt<br />
fehlten, wurden jetzt auch noch die Steuern für die meisten<br />
Ortsbürger erhöht! In einer Beziehung war diese<br />
Steuerreform, die 1812 noch einmal „umgemodelt“ wurde,<br />
für die Menschen des einfachen Volkes erfreulich:<br />
die völlige Steuerfreiheit des Adels wurde abgeschafft!<br />
Ein Edikt vom 6. Januar 1810 sollte die Menschen den<br />
Glauben an eine bessere, gerechtere, an eine menschlichere<br />
Zukunft aufkommen lassen:<br />
Die seit der Vereinigung der zwei Fürstentümer Nassau-Weilburg<br />
und Nassau-Usingen gemeinsamen Regenten<br />
Friedrich August (= Herzog) und Friedrich Wilhelm<br />
(= Fürst) bestimmten, daß „vom Tage der Publikation<br />
der gegenwärtigen Verordnung an, ... die Anwendung<br />
von Stockschlägen. Peitsehenhieben, Rutenstreichen<br />
und ähnlichen körperlichen Züchtigungen, als Corrections-<br />
oder Erziehungsmittel gegen erwachsene Personen<br />
beiderlei Geschlechts. allen geistlichen und weltlichen<br />
Gerichtsstellcn, Polizei- und Forstbehörden in Unserem<br />
vereinigcten Herzogtum gänzlich untersagt“ ist<br />
(s. Archiv der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>, Verordnungsblatt<br />
des Herzgtums Nassau, Jg. 1810). Nach dieser Verordnung<br />
verschwand wohl auch der Pranger am Rathaus in<br />
<strong>Reichelsheim</strong>, der bis dahin diejenigen dem Spott der<br />
Mitmenschen ausgesetzt hatte, die z. B. bei ihren Marktgeschäften<br />
versucht hatten, zu schummeln oder zu betrügen,<br />
oder die ihre Zunge „nicht im Zaume hatten halten“<br />
können. Für Kinder und Jugendliche galt dieses Verbot<br />
der Prügelstrafe allerdings ausdrücklich nicht _ . _<br />
1809: Wieder führte Napoleon gegen Österreich<br />
Krieg, wieder wurden die nassauischen Amter aufgerufen,<br />
dem französischen Kaiser-General Hilfsleistungen<br />
in Form von Menschen und Nahrungsmitteln zu erbringen.<br />
Wie sehr der Herzog von Nassau sich Frankreich in<br />
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Re1`chelsh_et`m in der Wetterau 1826.<br />
(Nach einer Bleistiftzeichnung von F. M. Heßemer)<br />
jenen Jahren verbunden fühlte bzw. wie sehr er das<br />
Schicksal seines Hauses mit dem Frankreichs verbunden<br />
sah, zeigen Verordnungen im Zusammenhang mit dem<br />
wechselnden Kriegsglück Napoleons: Nachdem im Mai<br />
104
1809 der österreichische Erzherzog Karl Napoleon bei<br />
Aspern besiegen konnte, wird auch in <strong>Reichelsheim</strong><br />
durch den Ortsbüttel ausgerufen, daß „das Verbreiten<br />
falscher und beunruhigender Kriegsnachrichten“ von<br />
allen Amtsobrigkeiten „jedesmal unverzüglich zur<br />
strengen Verantwortung zu ziehen und nach Befinden<br />
der Umstände empfindlich zu bestrafen“ sei (Archiv<br />
der Stadt R., „VO-Blatt des Herzogtum Nassau“,<br />
Jg. 1809).<br />
Als sich allerdings das Kriegsglück gewendet hatte und<br />
die Österreicher im Oktober 1809 in Wien doch zum<br />
Frieden durch Napoleon gezwungen worden waren, fordert<br />
der Herzog von Wiesbaden aus alle Untertanen der<br />
nassauischen Ämter auf, eine „Feyer des Friedensfestes“<br />
am 10. Dezember 1809 zu begehen. Damit die Feiern in<br />
seinem Sinne verlaufen mögen, gab er den Pfarrern auch<br />
noch durch Verordnung bekannt, welche Gedanken sie<br />
ihrer Predigt zugrunde zu legen hätten:<br />
„Ieh weiß wohl, was ich für Gedanken über Euch habe.<br />
. (Jeremia 29, Verse ll bis 14).<br />
Auch zwei weitere Verordnungen mußten die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
zur Kenntnis nehmen: „Von der französischen<br />
Gesandschaft zu Frankfurt ist die Anzeige gemacht<br />
worden, daß.. _ mehrere Einwohner aus dem Departement<br />
auswandern, um sich in die Krim zu begeben.<br />
. Diese seien, so sie auf der Durchreise hier gesehen<br />
würden, sofort zu arretieren und den französischen<br />
Behörden auszuliefern!<br />
Auch die Verordnung des Herzogs von Nassau betref`fend<br />
der Desertation junger Leute aus seinem Herrschaftsgebiet,<br />
die Androhung schwerster Strafen, der<br />
Einzeihung des gesamten „anteiligen Vermögens“ macht<br />
deutlich, daß kein großer Jubel über die Kriege auf seiten<br />
der Menschen in den verschiedenen Ämtern des Herzogtums<br />
geherrscht haben mag. Da anscheinend die örtlichen<br />
Ämter dem Befehl nur zögernd nachkamen, der<br />
herzoglichen Verwaltung die „Verzeichnisse über das<br />
confiszierte Vermögen der Deserteure“ einzusenden,<br />
wurden sie mehrfach in strengem Ton daran erinnert.<br />
Auch wird befohlen, das „anerfallene liegende Vermögen<br />
derselben zu einer gelegenen Zeit und allenfalls gegen<br />
terminweise Zahlung meistbietend zu versteigern“<br />
(Archiv der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>, VO-Blatt des Herzogtum<br />
Nassau, Jg. 1812).<br />
Selbstverständlich war das Leben hier in <strong>Reichelsheim</strong><br />
nicht nur von Krieg und Steuern geprägt. Das Leben hatte<br />
auch seinen Alltag. Aber auch zu dem Alltag finden<br />
sich im Archiv der Stadt Verordnungen, die für uns heute<br />
das Leben der damaligen Zeit verdeutlichen können:<br />
1809 wird rigoros „die Abschaffung der Strohdächer“<br />
verordnet. Es darf keinem „Untertan die Anlegung neuer<br />
Gebäude gestattet werden, wenn sich dieselben nicht<br />
ausweisen können, daß sie zur Anschaffung eines Schiefer-<br />
oder Ziegeldaehes im Stande sind“.<br />
Eine jährlich wiederkehrende Verordnung betrifft die<br />
„Abraupung der Bäume“. Jene aus dem Jahre 1810 lautet:<br />
„Nachdem man wahrgenommen, daß die Raupen<br />
überhand zu nehmen scheinen, und daher an den Obstbäumen,<br />
wie auch den Garten- und Feldfrüchten, ein<br />
großer Schaden zu besorgen stehet, als hat man zu verordnen<br />
für nötig gefunden, daß alle Eigentümer und<br />
Pächter liegender Grundstücke schuldig und gehalten<br />
seyn sollen, die Bäume, Hecken und Gesträuche in ihren<br />
Grundstücken so wie diejenigen, welche die benachbarten<br />
Wege und Fußsteige begränzen, abzuraupen oder abraupen<br />
zu lassen, dergestalt, daß sie die Raupen und Gespinnste<br />
oder Raupennester zu verbrennen und hierbey<br />
die nötige Vorsichtsmaßregeln zur Vermeidung der Feuergefahr<br />
anzuwenden haben.<br />
105
Zu dieser notwendigen Abraupung wird ihnen für dieses<br />
Jahr der lste April zum termino a quo (= bis zu welchem<br />
Zeitpunkt die Maßnahme durchzuführen ist) bestimmt,<br />
für die Zukunft aber muß sie schon vor dem<br />
1. März geschehen, und diejenigen, welche sich hierunter<br />
saumselig finden lassen sollten, sind nicht allein in<br />
eine Strafe von sechs Gulden zu nehmen, wovon dem<br />
Denunziant 1/3 zuzuweisen ist, sondern es soll auch das<br />
Abraupen von dem Ortsvorstand auf Kosten der Nachlässigen<br />
veranlaßt werden . .<br />
Die Frage der Bekämpfung des Ungeziefers hatte also<br />
existentielle Bedeutung, wenn man bedenkt, daß der<br />
Denunziant mit 1/3 des Strafgeldes des ertappten Nichtstuers<br />
belohnt wurde.<br />
Ähnliche Verordnungen betrafen immer wieder die<br />
Sperlinge und die Mäuse. Jeder Ortsbürger war aufgefordert,<br />
eine bestimmte Zahl „von Köpfen“ abzuliefern<br />
(„In allen Gegenden und Orten, wo die Vermehrung der<br />
Sperlinge auf den Feldbau und dessen Erzeugnisse nachteilig<br />
wirkt, werden . _ . die einsehlagenden oberen Polizei-Beamten<br />
angewiesen und ermächtigt, jedem Einwohner<br />
anzubefehlen. zu bestimmten Fristen eine nach<br />
der Größe des Übels. . _ zu ermessende Quantität Sperlings-Köpfe<br />
zu liefern oder fürjeden fehlenden Kopfeine<br />
Geldabgabe zu bezahlen“ - s. Verordnungsblatt des Herzogtums<br />
Nassau, Jg. 1812).<br />
Doch noch anderes machte den Menschen Sorgen,<br />
weswegen die Obrigkeit reagieren mußte. Eine Verordnung<br />
aus dem Jahre 1816 lautet:<br />
„Nach höchster Genehmigung ist das Schußgeld von<br />
einem erlegten männlichen so wie von einem jungen<br />
Wolf auf 15 und von einer ausgewachsenen Wölfin auf 22<br />
Gulden erhöht worden. . (Archiv der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>,<br />
VO-Blatt des Herzogtums Nassau, Jg. 1816).<br />
Die Zeit Napoleons ging zu Ende, nachdem er den<br />
Krieg gegen die unendlichen Weiten Rußlands und den<br />
wachsenden Widerstand der anderen Völker verloren<br />
hatte. Die fürchterlichen Verluste bei den deutschen<br />
Hilfstruppen, das Nichtendenwollen des Blutvergießens<br />
führten schließlich bei den Menschen in den Städten und<br />
Dörfern, aber auch bei denen in den Palästen zu einem<br />
Bewußtseinswandel. Ausgehend von Preußen begann<br />
der Wille „zur Befreiung“. Diese wurde eingeleitet durch<br />
die erfolgreiche „Völkerschlacht bei Leipzig“ (16. bis 19.<br />
Oktober 1813). Die Untertanen Nassaus mußten zwar<br />
noch auf Seiten Napoleons gegen die Preußen und Österreicher<br />
und deren Verbündeten (Bayern, Sachsen, Russen,<br />
Schweden usw.) kämpfen, weil ihr Herzog noch<br />
nicht bereit war, die Fronten zu wechseln. Doch die Niederlage<br />
Napoleons bedeutete die Wende: Am 23. ll.<br />
1813, kurz vor Eintreffen des siegreichen preußischen<br />
Heeres im Rhein-Main-Gebiet sagte sich der Herzog<br />
vom Rheinbund los und wandte sich den verbündeten<br />
deutschen Fürsten zu.<br />
Das lange Festhalten am Bündnis mit Napoleon hätte<br />
fast dazu geführt, daß das Herzogtum Nassau aufgelöst<br />
und die Ländereien Preußen zugeschlagen worden wären.<br />
Nur der alte, nun - nach dem Sieg über Napoleon -<br />
wieder aufkeimende Dualismus zwischen Österreich und<br />
Preußen um die Vorherrschaft im ehemaligen „Heiligen<br />
Römischen Reich Deutscher Nation“ rettete vorerst<br />
noch einmal das Bestehen dieses alten Herrscherhauses.<br />
Somit kam es auch nicht, wie bereits geplant, dazu, daß<br />
„Verordnungen und Bekanntmachungen<br />
Herzoglichen Staats-Ministeriums<br />
und der demselben unmittelbar<br />
subordinierten Behörden.<br />
(Die Abraupung der Bäume,<br />
Hecken und Gesträuche betr.) “<br />
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, nıßıerıumâ-unbbert>eıníelben.unmittelí›acfubı›rhinirt.en$ebí›ü›en.<br />
N (ji-bie Qibvaupuııg ber íåäåume., -šıecfierruno @e[iriiud›e~tıe-ti.'.f)=- - j<br />
:Die nadıfolgrnbe 23-zrorbıjıung magen ilbraunımg ber ääóııme-, baden- unbßeflråudieif nom.-<br />
ß~:= ífllyruarf ıaoa mirtrrurgenaııeır ßıfolguiıg-ljiermit atfernmlü mıeuııft-,›. una hen hmefienben<br />
Qlrmrcrıı aufgegeben ı fiir- Deren pıiıíftlicbø ßoflgiebung-§11 fñrgeıftı ` '<br />
„ı`Raı1›bem wahrgenommen roorbem--baâ Die Elftaupeıı abermaIfi'l'eb'r ıílmt)=anl›'g1ı netimen fıfiiiß-<br />
„nen , uno naher an nen bbflbåumcm mic aud; an benwiırteıı- unn Ešelbfnılcbten ein g_rnšer.'flflfl† ßrffibflføı uıihlraben ße bi-e-'êaunıfeligen mir einen unııadμ-<br />
„lälliaffl @š!rufe~~nı›n 6'112« AU'l=ffmm› ıımon b'er= benuniidntr 1/fr a¬I6.'8eli›!mung-.erlialtm fnllıuııbr<br />
~„íl`f'-løbànn wu ben Dírtánorñànëen traß-üıbrcuıpen' auf~5fr›{Ien tr«-ri âlamldfflgınf ofımiieıiıigiirb ııı-<br />
››NI“
8. b) Vom Untertan zum politischen Bürger<br />
Ein moderner Staat muß versuchen, daß die Menschen<br />
des Staatsgebietes in geordneter Form zusammenleben<br />
können. Deswegen muß es Gesetze geben, Verordnungen,<br />
von allen anerkannte Gewohnheitsregeln. Doch das<br />
bedeutet nicht „Statik“ oder Unbeweglichkeit.<br />
Die Zeit der napoleonischen Herrschaft hat Deutschland<br />
verändert. Nicht nur neue Staatsgrenzen waren gezogen<br />
worden. Die Gesetze, beeinflußt von den Ideen<br />
der Aufklärung, der Französischen Revolution und damit<br />
auch von den Ideen der Menschen- und Bürgerrechte<br />
wurden bedeutend für einen immer größer werdenden<br />
Teil der Menschen und ihren Alltag. Und dies führte zu<br />
zum Teil radikalen Änderungen in den Rechtsgrundlagen,<br />
die das Leben bestimmten:<br />
Nassau hob z. B. 1819 die Zunftordnungen auf, führte<br />
also endgültig die Gewerbefreiheit ein, was - wie auch in<br />
anderen Staaten - einer gesellschaftlichen Revolution<br />
gleichkam, wurde doch damit das aus dem Mittelalter<br />
stammende Wirtschaftssystem der regionalen Selbstversorgung<br />
abgelöst. Nun konnte sich auch in <strong>Reichelsheim</strong><br />
jeder Handwerker niederlassen, ob dies den anderen<br />
Meistern der gleichen Berufgruppe paßte oder nicht!<br />
Manch ein Geselle eröffnete seine eigene kleine Werkstatt<br />
und wurde möglicherweise zum „meisterlichen<br />
Konkurrenten“ seines ehemaligen Meisters. Und manch<br />
ein geschäftstüchtiger Meister stellte nun mehr Gesellen<br />
ein, als dies zuvor von seiner Zunft erlaubt worden wäre.<br />
Um durch die Gewerbefreiheit auch wirklich die durch<br />
die lange Kriegszeit und die damit verbundenen hohen<br />
Abgaben geschwächte Wirtschaft wieder anzukurbeln,<br />
erließ Herzog Wilhelm zum 1. Juli 1819 zusätzlich „Gesetzliche<br />
Vorschriften die Dienstverhältnisse des Gesindes<br />
und der Handwerks-Gehülfen betreffend“ (s. Archiv<br />
der Stadt <strong>Reichelsheim</strong> „Verordnungsblatt des Herzogtums<br />
Nassau“, Jg. 1819). Die Regelungen der Dienstver-<br />
hältnisse brachten vor allem den Dienstherren bzw. den<br />
Handwerksmeistern Vorteile, weniger dem Personal;<br />
doch war immerhin eine grobe einheitliche Rechtsregulierung<br />
geschaffen worden. Interessant ist, daß der<br />
Dienstvertrag zwischen Meister und Geselle bzw.<br />
Dienstherrn und Gesinde als „Mietvertrag“, das Einstandsgeld<br />
als „Mietgeld“ bezeichnet wurde. Die Höhe<br />
der „bestimmten Belohnung der Dienste“ wurde nicht<br />
per Gesetz oder allgemeiner Festlegung bestimmt (schon<br />
gar nicht durch eine Art Tarifvertrag), sondern „in freier<br />
Übereinkunft“ festgelegt. Neben der Gewerbefreiheit<br />
sollte also auch die Vertragsfreiheit im Arbeitsleben Bedeutung<br />
erhalten, was sich allerdings aus der Sicht der<br />
Arbeitnehmer nur für jene Zeiten als recht gut herausstellen<br />
sollte, in denen wirkliche Knappheit an Arbeitskräften,<br />
an Gesinde und Gesellen, bestand. Die Dauer<br />
des Dienstvertrages beim Gesinde war zudem kurz: „Bei<br />
Gesinde“, so heißt es in der genannten gesetzlichen Verordnung<br />
des Herzogs, „welches zu häuslichen Diensten<br />
gemietet ist, auf ein Vierteljahr, bei demjenigen, welches<br />
zu landwirtschaftlichen Diensten angenommen worden,<br />
auf ein ganzes Jahr erachtet. Der Anfang und das Ende<br />
der Mietzeit wird im ersten Fall auf Weihnachten,<br />
Ostern, Johannistag, im letzteren Fall auf Weihnachten<br />
angenommen.“<br />
Das Leben einer Magd, eines Knechtes oder eines Gesellen<br />
war also sozial recht ungesichert. Die „Launen“<br />
der Dienstherren bzw. der Meister konnten schnell dazu<br />
führen, daß man bald wieder auf der Straße saß. Da man<br />
jeweils ein Zeugnis seines Dienstherrn benötigte, das zudem<br />
der Ortsschultheiß zu beglaubigen hatte, war man<br />
als Gesinde oder Geselle sehr auf das ständige Wohlwollen<br />
des „Mieters“ angewiesen.<br />
Doch die „neue Zeit“ brachte nicht nur Erschwernisse<br />
für die Gesellen und das Gesinde. Auch das Handwerk<br />
108
litt in jener Zeit. „Veraltete Produktionsmethoden, Verarmung<br />
und eine hohe Zahl von Kleinmeisterbetrieben<br />
kennzeichneten allgemein das Handwerk... Besonders<br />
betroffen waren die ›Massenhandwerke< der Schuhmacher<br />
und Schneider. Teuerungskrisen, aber auch wachsende<br />
Konkurrenz durch großgewerblich-frühindustrielle<br />
Betriebe und durch Kaufleute drückten die Kleinmeister<br />
unter die Armutsgrenze. Insbesondere in der 1819<br />
eingeführten Gewerbefreiheit sahen die meisten nassauischen<br />
Handwerker die Ursache allen Übels“ („Nassaus<br />
Beitrag für das heutige Hessen“, S. 51).<br />
Die jungen Männer oder Familienväter zog es deshalb<br />
immer öfter in die Fabriken der Städte, nicht bloß in die<br />
Nassaus (Dillenburg, Höchst z. B.), sondern auch die der<br />
anderen deutschen Staaten - oder gar in fremde Länder,<br />
jeweils hoffend, in der Fremde das „Glück zu machen“<br />
oder zumindest den Lebensunterhalt für sich und die Familie<br />
verdienen zu können. Aus jener Zeit, 1837, haben<br />
wir einen Kirchenbucheintrag des Pfarrers Funkel. Er<br />
schreibt über eine solche Auswanderungswelle (s. S. 61):<br />
„Heute, den 3. August, sind folgende Leute von hier<br />
nach Polen ausgewandert, um sich dort in Zagwitz und<br />
Sinradz niederzulassen:<br />
1. Johannes Georg Pfeil, Wagner, mit Frau und sieben<br />
Kindern<br />
2. Johann Heinrich Schnell, Leinweber, mit Frau und<br />
fünf Kindern<br />
3. Friedrich Pfeil, Schneider, mit Frau und sechs Kindern<br />
4. Conrad Weil, Tagelöhner, mit Frau und 3 Kindern<br />
5. Johann Reinhard Nagel, Leinweber, mitFrau und deren<br />
Schwester-Sohn Philipp Crüsler und<br />
7. zwei Töchter vom verstorbenen Maurer Jakob<br />
Kärpp.<br />
Gott lasse diese Leute glücklich ans Ziel ihrer Reise<br />
gelangen und sie dort finden, was sie suchen 1“<br />
Es waren, wie die Berufsbezeichnungen zeigen, keine<br />
Bauern, die fortgingen ; es waren Handwerker und Tagelöhner,<br />
die meist auch verarmte Handwerker waren!<br />
Doch es waren keineswegs Menschen, die am „Rande<br />
der Gesellschaft“ lebten. So war Johann Georg Pfeil bis<br />
zu seiner Auswanderung Kirchenvorsteher der hiesigen<br />
Kirchengemeinde. Daß manch einer der Ausgewanderten<br />
schon bald wieder tief enttäuscht ans <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Stadttor klopfte, bedeutete nicht, daß in <strong>Reichelsheim</strong><br />
selbst Wohlstand herrschte.<br />
Die modernen Gesetze des Herzogs, die den Geist der<br />
Zeit widerspiegelten, verteilten den Wohlstand nicht<br />
gleichmäßig auf die Untertanen. Und so herrschte wahrlich<br />
nicht in allen Häusern des kleinen Landstädtchens<br />
Wohlstand! Immer wieder berichtet uns die Kirchenchronik<br />
von Unwettern, Ungezieferplagen, Tierseuchen,<br />
Dürre und dergleichen mehr, die jeweils vor allem<br />
die Ärmsten der Armen besonders trafen.<br />
Das Kirehenbuch berichtet 2. B.:<br />
1.) lm Jahre 1816 herrschte große Trockenheit. Die Getreideernte<br />
fiel sehr schlecht aus. 1817 waren deswegen<br />
die Preise für Weizen, Korn, Gerste und Hafer<br />
sehr, sehr hoch.<br />
2.) „Am Donnerstag, dem 25. Juli 1822 traf <strong>Reichelsheim</strong><br />
ein sehr harter Schlag. An diesem Tag nämlich“,<br />
schreibt Pfarrer Funkel, „des Abends um 9<br />
Uhr, zog ein Gewitter über die hiesige Gegend, welches<br />
Eisstücke zum Teil so groß wie Taubeneier mit<br />
sich führte, die in kaum 5 Minuten das ganze Sommerfeld<br />
- dieses Jahr die Krone der Wetterau - verheerten,<br />
das sämtliche herrliche Obst teils abschlugen<br />
teils beschädigten, fast alle Gemüse in Gärten<br />
und auf den Feldern vernichtete, den Flachs verdar-<br />
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en, das Grummet um die Hälfte verwüsteten und<br />
beinahe allen Bäumen, besonders denjenigen an den<br />
Wegen nach Heuchelheim, Weckesheim und Dornassenheim<br />
_ _ .<br />
Auch wurden an der Wetterseite der Häuser fast<br />
alle Fensterscheiben zerschlagen... Sehr viele tote<br />
Vögel und tödlich verwundete Hasen wurden gefunden.<br />
Ach, wie trauriger, herzzerreißender Morgen“<br />
(Kirchenbuch, S. l8f).<br />
Weiter schreibt Pfarrer Funkel: „Was dieser Schaden<br />
umso größer und drückender, da auch die Winterfrüchte,<br />
weil die Mäuse in demselben schrecklich<br />
gehauset hatten, lange nicht so reichlich, als sonst<br />
eingekommen waren.“ Als ob er für spätere Zeiten<br />
den ungeheuren Umfang der Mäuseplage beschreiben<br />
wollte, konkretisiert er das Gesagte wenige Seiten<br />
später (s. S.22 des Kirchbuches): „Außerdem<br />
waren in diesem Jahre auch so sehr viele Mäuse in<br />
dem Felde, daß zwischen 50- und 60000 gefangen<br />
wurden. Unsäglichen Schaden haben diese Gäste in<br />
den verschiedenen Fluren angerichtet.“ Da landwirtschaftliche<br />
Produktion auf den kleinen Höfen in jener<br />
Zeit vorrangig Produktion zur Deckung des Eigenbedarfes<br />
war, kann man sich leicht vorstellen,<br />
welche Wirkungen Unwetter und Mäuseplagen für<br />
das Leben, für den „Wohlstand“ in <strong>Reichelsheim</strong> vor<br />
ca. 150-170 Jahren hatten.<br />
Feuer: Immer wieder gab es Brände. Die Verordnungen<br />
der Herrschaft von Nassau, die Wohnhäuser<br />
und später dann auch die Wirtschaftsgebäude nicht<br />
länger mit Stroh, sondern mit Schiefer oder mit<br />
Dachziegeln abzudecken, konnten nicht hindern,<br />
daß es immer wieder einmal brannte: Am 16. Juli<br />
1826 brannten nicht nur mehrere Ställe sondern auch<br />
drei Scheunen ab, also die Kammern des bäuerlichen<br />
Wohlstandes! Ein Jahr darauf brannte die Bingenheimer<br />
Mühle, nachdem deren Scheuer von einem<br />
Blitzschlag getroffen worden war, völlig ab. Oft<br />
konnten die Feuer nur gelöscht werden, weil die<br />
„Wehren“ der Nachbarorte schnell herbeieilten und<br />
halfen, so gut sie konnten -wissend, daß auch sie einmal<br />
dankbar für die Hilfe der <strong>Reichelsheim</strong>er sein<br />
könnten...<br />
lm Jahre 1840 ereignete sich eine Begebenheit, die<br />
ganz <strong>Reichelsheim</strong> in Besorgnis versetzte und die<br />
dem Ort großen Schaden zufügen sollte: Ein tollwütiger<br />
Hund fiel die Schweineherde an, die gerade aus<br />
dem Untertor (Südtor) ausgetrieben worden war,<br />
verbiß sich in 7 trächtige Mutterschweine, bevor er<br />
von dem <strong>Reichelsheim</strong>er Bürger Johannes Kornmann<br />
erschlagen werden konnte. „Der Vorfall ereignete<br />
sich am Untertor in der Nähe des Amtshauses.<br />
Ob nun gleich alle äußeren Umstände für die Tollheit<br />
des Hundes sprachen, so wurde dies doch von<br />
mehreren in Zweifel gezogen.“ Doch schließlich<br />
wurde der Tierarzt gerufen, der allerdings „zu keinem<br />
bestimmten Urteil gelangen“ konnte. Die Tiere<br />
wurden vorsichtshalber nicht mehr ausgetrieben. Allerdings<br />
zeigten sich nach mehreren Wochen bei<br />
einem Tier, als man schon gehofft hatte, der Hund<br />
sei doch nicht tollwütig gewesen, Krankheitszeichen.<br />
Der Tierarzt wurde erneut gerufe: Er erklärte, bei<br />
der Krankheit handele es sich um die „stille Wut“.<br />
Als noch ein 2. Tier erkrankte, wurden schließlich alle<br />
gebissenen Tiere erschossen und die bereits geworfenen<br />
Ferkel vom Faselwärter totgeschlagen.<br />
„Übrigens“, so endet der lange Bericht im Kirchenbuch<br />
(s. S. 69 ff), „hat der ganze Vorfall, wie leicht zu<br />
denken, dem Orte großen Schaden gebracht. Denn<br />
die Fremden mieden nicht nur lange Zeit, hier<br />
111
Schweine zu kaufen, sondern es wurde dies auch<br />
vom hiesigen Amte und den auswärtigen Behörden<br />
ausdrücklich verboten. Der Ort war ordentlich verrufenl“<br />
Um zu verdeutlichen, daß Mäuseplagen in jener Zeit<br />
nicht eine Einmaligkeit darstellten, sei ein anschaulicher<br />
Kirchenbucheintrag aus dem Jahre 1842<br />
(s. S. 80) wiedergegeben:<br />
„ . . _ Dagegen war die Ernte von den Sommerfrüchten<br />
sehr gering, wie auch die der Kartoffeln. Was die<br />
anhaltende Hitze nicht vernichtet hatte, wurde von<br />
den Mäusen verzehrt, welche in unzählbaren Mengen<br />
sich auf den Feldern zeigten. Tausende wurden<br />
von den hiesigen Einwohnern gefangen und getötet;<br />
aber doch blieb ihre Anzahl so groß, daß man sie mit<br />
dem Stock auf dem Wege totschlagen konnte.“<br />
1843 herrschte durch die Mißernte vom Jahr zuvor<br />
Hungersnot. War 1842 ein Dürre-Jahr, so war 1843<br />
„durch die Nässe und seinen Regen, zumal in der<br />
Sommerzeit“ ausgezeichnet (Kirchenbuch, S. 81).<br />
Die Preise für Heu und Getreide stiegen enorm an.<br />
Die Regengüsse machten es notwendig, „die Wiesen<br />
durch Erhöhung des Dammes vor dem Austreten der<br />
Horloff zu schützen, und doch wurden - aller Mühe<br />
ungeachtet - unsere Wiesen und Äcker durch das<br />
Wasser zu Grunde gerichtet... Doch gottlob, die<br />
Teuerung ließ nach und der Arme konnte, weil die<br />
Kartoffeln wohlgerieten, sich wieder satt essen.“<br />
Und wieder Mißernten, wieder Hunger: „Das Jahr<br />
1846“, berichtet Pfarrer Frankenfeld, „wird den Bewohnern<br />
Deutschlands lange im Andenken bleiben,<br />
weil es durch die geringe Ernte, welche es lieferte,<br />
Teuerung und Hungersnot hervorrief. ._ Dazu kam<br />
noch die immer mehr überhandnehmende Fäulnis<br />
bei den Kartoffeln, welche bisher ein Hauptnahrungsmittel<br />
des Landsmannes gebildet hatte.“ Weiter<br />
lesen wir im Kirehenbuch (S. 83): „Hier in <strong>Reichelsheim</strong><br />
war zwar im Vergleich zu vielen anderen<br />
Orten der Wetterau die Ernte nicht so schlecht und<br />
die Fäulnis der Kartoffel nicht so allgemein, aber<br />
doch war selbst der Mittelstand unter den Landsleuten<br />
genötigt, einen Teil seines Jahrbrotes zu kaufen.“<br />
1847: „Was zu befürchten war, traf ein: Die Teuerung<br />
des Getreide stieg in diesem Jahr bis kurz vor<br />
der Ernte enorm _ . . Zwar wurden sämtliche Dominialfrüchte<br />
bereitwillig von Seiner Hoheit dem Herzog<br />
dem Lande zu niedrigeren Preisen überlassen<br />
und die Herzogliche Landesregierung ließ dieselben<br />
teils unentgeltlich arı Arme verabfolgen, denen davon<br />
Brot gebacken wurde, teils den weniger Bemittelten<br />
bis zur neuen Ernte borgen; zwar wurden<br />
Früchte, als die Teuerung noch immer stieg, von der<br />
Regierung in Amerika angekauft und den Unbemittelten<br />
zu geringen Preisen überlassen; aber dieses alles<br />
wollte die Not nicht mindern und den Hunger<br />
nicht stillen“ (s. S. 83).<br />
Wahrscheinlich lag es an den wiederkehrenden Hungersnöten,<br />
die die Folge von Mißernten waren, daß der<br />
Verlust eines Kindes nicht in der Form empfunden wurde,<br />
wie dies heute der Fall ist. Wir wissen, daß arme Familien<br />
oft nicht wußten, wie und vor allem mit was sie die<br />
vielen „Kinder-Mäulchen“ stopfen sollten. „Findelhäuser“<br />
nahmen nicht nur ungewollte, nichteheliche Kinder<br />
auf, sondern auch ausgesetzte Kinder aus bestehenden<br />
Familien. Es gab aber auch die Tatsache, daß Kinder und<br />
Jugendliche sich durch wohlklingende Versprechungen<br />
verführen ließen, ohne Erlaubnis ihrem Elternhaus zu<br />
entfliehen, hoffend, es bei Fremden besser zu haben,<br />
hoffend, in der Fremde satt zu werden.
Eine Verordnung der „Herzoglich Nassauischen Landesregierung<br />
an den Herzoglichen Amtmann, Herrn<br />
Bullmann zu <strong>Reichelsheim</strong>“ aus dem Jahre 1844, die sich<br />
im Archiv der Stadt befindet, gibt uns Einblick in ein<br />
heute schwer verständliches Vorkommnis: „Das Mitnehmen<br />
von Knaben und Mädchen von Fliegenwedelhändlern,<br />
Musikanten p.p. nach Rußland, England und<br />
Frankreich betreffend:<br />
Es ist früher zu Unserer Kenntnis gekommen, daß aus<br />
einzelnen Orten des Herzogtums Knaben, die kaum aus<br />
der Schule entlassen waren, so wie Mädchen von erwachsenen<br />
Personen in das Ausland, insbesondere nach den<br />
oben bemerkten Ländern, mitgenommen worden sind,<br />
um sie bei dem Musizieren, dem Handel mit Fliegenwedeln<br />
oder mit anderen zum Hausieren bestimmten geringfügigen<br />
Gegenständen zu benutzen, und daß mitunter<br />
solche Knaben und Mädchen von ihren Führern zu<br />
unerlaubten Gewerbe, durch Betteln und unsittliche Lebensweise<br />
verleidet worden sind.<br />
Wir haben in Folge hiervon durch Verfügung an die<br />
Ämter die Beschränkung eintreten lassen, daß das Reisen<br />
von Knaben und ledigen Weibspersonen in den bezeichneten<br />
Fällen nur gestattet werden soll, wenn sich<br />
dieselben in Begleitung ihrer Eltern befinden.<br />
Wir finden Uns veranlaßt, diese Vorschrift nunmehr<br />
für sämtliche Ämter zu erteilen; Sie werden die Herzoglichen<br />
Schultheißen instruieren, in den über das Ansuchen<br />
solcher Personen um Erteilung von Reisepässen an<br />
das Amt zu erstattenden Berichten, den Zweck der Reise<br />
und in welcher Begleitung dieselbe vorgenommen werden<br />
soll, genau anzugeben. Wir empfehlen Ihnen die<br />
Überwachung der genauen Vollziehung dieser Bestimmung<br />
und ermächtigen Sie zugleich, Pässe auch Mädchen,<br />
welche mit ihren Eltern reisen wollen, zu verweigern,<br />
bei welchen nachweisbarlich, daß sie bei einer früheren<br />
Reise solchem unerlaubten Erwerbe im Ausland<br />
obgelegen haben.<br />
Sollten Einwohner aus dem Großherzogtum Hessen,<br />
was vorgekommen ist, ledige Weibspersonen und Knaben<br />
anwerben wollen, um ihnen bei dem Fliegenwedelhandel,<br />
dem Musizieren pp. behülflich zu seyn, so sind<br />
dieselben unter Strafandrohung für den Wiederholungsfall<br />
auszuweisen.<br />
Wir machen schließlich darauf aufmerksam, daß diese<br />
Beschränkung in Erteilung der Reisepässe auf junge<br />
Burschen, welche das Musizieren als Gewerbe betreiben,<br />
keine Anwendung findet.<br />
Wiesbaden, den 23. April 1844“<br />
Wie schlecht das Leben tatsächlich im Lande des Herzogs<br />
von Nassau war, das zeigen Berichte aus jener Zeit:<br />
ein zeitgenössischer Beobachter schrieb „über die ›im Inund<br />
Auslande schaarenweise umherziehenden Nassauer
Auch die <strong>Reichelsheim</strong>er litten, wie all diese Aussagen<br />
verdeutlichen, in der 1. Hälfte des letzten Jahrhunderts<br />
immer und immer wieder an Hunger. Oft wurden sie des<br />
Ertrages ihrer Jahresarbeit durch Dürre, Regen, Hagel<br />
oder Frost beraubt.<br />
Doch wer in solch einer fruchtbaren Gegend lebt, der<br />
gibt nicht auf! Schon gar nicht die <strong>Reichelsheim</strong>er, von<br />
denen man sagte, seien „steifnackig und zähe“.<br />
Im Archiv der Stadt liegen Dokumente, die beweisen,<br />
daß man hier trotzalleın nicht resignieren wollte: Die früheren<br />
Jahrmärkte. einst von Kaiser Leopold genehmigt,<br />
wurden, weil das Gewerbe sich nicht weiter entwickeln<br />
konnte, schon bald zu „Vieh- und Krämermärkten“ umgewandelt.<br />
Viehmärkte gab es in <strong>Reichelsheim</strong> wohl das<br />
ganze 19. Jahrhundert hindurch, womit man sich gerne<br />
im Umkreis der Wetterau als eine „landwirtsehaftliehe<br />
Hochburg“ präsentieren wollte.<br />
Aueh lesen wir in anderen Unterlagen, daß 1827 der<br />
Versuch unternommen wurde, ein „Landgestüt <strong>Reichelsheim</strong>“<br />
zu schaffen. Wie „landwirtsorientiert“ zu jener<br />
Zeit die Gemeinde war, zeigt die Tatsache, daß neben<br />
den Kuh-, Schweine- und Gänsehirten auch Fohlenund<br />
Pferdehirten eingestellt wurden.<br />
1820, so sagt eine Statistik, gab es in <strong>Reichelsheim</strong> und<br />
Dorn-Assenheim bei 1180 Einwohnern in 343 Familien<br />
113 Pferde; d. h. auf ca. IU Einwohner gab es l Pferd!<br />
(Zugleich erbrachte die Zählung noch folgendes: 564<br />
Stück Rindvieh, 486 Schafe, 446 Schweine, 26 Ziegen, 46<br />
Bienenstöeke).<br />
Es gab also in <strong>Reichelsheim</strong> eine bedeutende Anzahl<br />
von „Pferd-Bauern“, „Küh-Bauern“, die ihre Wagen<br />
und Pflüge von Ochsen ziehen lassen müßten, scheinen<br />
demnach vor allem in <strong>Reichelsheim</strong> selbst seltener gewesen<br />
zu sein als in anderen Dörfern jener Zeit.<br />
Daß <strong>Reichelsheim</strong> und die <strong>Reichelsheim</strong>er in jener<br />
Zeit bereit waren, trotz aller Not Schritte in die Zukunft<br />
zu tun, das zeigt die Tatsache, daß 1834 eine befestigte<br />
Straße („Chaussee“) nach Dorn-Assenheim gebaut wurde.<br />
Mit ihr wurden die zwei Dörfer des Amtes <strong>Reichelsheim</strong><br />
besser verbunden. Zugleich wurde diese Straße für<br />
den Postkutschenverkehr Frankfurt - Assenheim - Nidda<br />
- Schotten bedeutend. <strong>Reichelsheim</strong> erhielt in Folge<br />
auch eine Poststation.<br />
lm gleichen Jahr, also 1834, wurde in <strong>Reichelsheim</strong>,<br />
südlich der Kirche in der Untergasse (heute Florstädter<br />
Straße) eine Apotheke eröffnet. Ihre Eröffnung und die<br />
Tatsache, daß im folgenden Jahr sich erstmals ein Arzt,<br />
Dr. Köppler, in unserem Städtchen niederließ, waren die<br />
Spätfolge der im Jahre 1818 eingeführten ›staatlichen<br />
Medizinpflege
Doch trotz dieser z. T. enormen Belastungen, die auch<br />
manchen Bauern zur Verzweiflung trieb bzw. ihn darüber<br />
nachdenken ließ, ob es nicht besser sei, den bescheidenen<br />
Besitz zu verkaufen und den Erlös für eine Überfahrt<br />
in die „Neue Welt“ einzusetzen, anstatt für die jährlichen<br />
Abzahlungsraten sich kaputt zu arbeiten - doch<br />
wie gesagt: trotz dieser Belastungen wirkte die „Bauernbefreiung",<br />
der Freikauf von den alten Abgaben an die<br />
adlige Herrschaft insgesamt positiv für die Bauern des<br />
Ortes! Denn dieser „Freikauf“ war mit dem Gedanken<br />
verbunden, daß die nächste Generation auf dem eigenen<br />
Hof zum eigenen Vorteil arbeiten werde. Dies stärkte<br />
das Selbstgefühl, das machte selbstbewußter, das sorgte<br />
if« v. r ' ' '<br />
2« (_ä_.,_â:í_1_i_,ëåi-_ -_ _~šš_,= ç- l_ı..4_fi -_§_'__ _ - :_ _<br />
_. __ (__ ;_†§,§_?w___,):_ _. _;._›ıi†j;f›'$,„._i |š;.=;_;___: _.ı.__§<br />
Bild der alten Apotheke (erbaut 1834;<br />
Aufnahme vor dem I. Weltkrieg)<br />
-,;_¬-
1814, als in verschiedenen nassauischen Ämtern Versammlungen<br />
gehalten wurden zu den Themen „Freiheit<br />
und Gleichheit“. als auf Anregung auch des nassauischen<br />
Advokaten Wilhelm Snell, dessen Großneffe später in<br />
<strong>Reichelsheim</strong> Pfarrer werden sollte, „Deutsche Gesellschaften“<br />
gegründet wurden, da erließ die Regierung in<br />
Wiesbaden für das Herzogtum Nassau ein Verbot, da es,<br />
wie es hieß, Privatleuten nicht zustehe, „zu den großen<br />
Nationalangelcgenheiten Teutschlands mitzuwirken“<br />
(s. „Hessenchronik“, 207).<br />
Begann die Zeit nach Napoleon Bonaparte noch rechtliberal,<br />
wurde damals auch weitestgehend Presse- und damit<br />
Meinungsfreiheit im Herzogtum Nassau gewährt, so begann<br />
doch bald wieder eine restriktive Politik bestimmend<br />
zu werden, was auch in der Person des seit 1816 regierenden<br />
Herzog Wilhelm begründet war, von dem es heißt, er<br />
habe ein „absolutistisches Herrschaftsverständnis“ gehabt.<br />
Durch die Zunahme der sozialen Probleme, vor allem<br />
in den Städten, wurde über Lösungsmöglichkeiten, auch<br />
radikale Lösungsmöglichkeiten, immer lauter nachgedacht.<br />
Die Universitäten wurden zu Ouellen der Unruhen.<br />
Die Studenten begannen sich in Burschenschaften<br />
zu organisieren. Die Rufe nach „wahrer Mitbestimmung“,<br />
nach „bürgerlichen Freiheiten“, nach „Demokratie“,<br />
ja selbst nach „Republik“ wurden immer lauter.<br />
Die Juli-Unruhen in Paris im Jahre 1830, die dabei erzwungene<br />
Abdankung des französischen Königs Karl X.<br />
und die Thronbesteigung Louis Philipp I., des „Bürgerkönigs“,<br />
verunsicherten die deutschen Könige, Großherzöge<br />
und Herzöge: „Alle Vereine, welche politische<br />
Zwecke haben oder unter anderem Namen zu politischen<br />
Zwecken benutzt werden, sind zu verbieten<br />
und ist gegen deren Urheber und die Teilnehmer an denselben<br />
mit angemessener Strafe vorzuschreiten. _ _ Auch<br />
bei erlaubten Volksversammlungen und Volksfesten ist<br />
es nicht zu dulden, daß öffentliche Reden politischen Inhalts<br />
gehalten werden.. _“ so lautete eine „Maßregel zur<br />
Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe<br />
im deutschen Bunde“ vom 5. Juli 1832, die der Herzog<br />
von Nassau seinen einzelnen Ämtern, also auch <strong>Reichelsheim</strong>,<br />
zur „strengsten Beachtung“ übermittelte.<br />
Aus <strong>Reichelsheim</strong> wurden keine „Unruhen“, keine<br />
„ungeziemlichen Veranstaltungen“ bekannt.<br />
Doch die Zeit ging weiter: Die Probleme im sozialen Bereich<br />
wurden immer größer - der Unterschied zwischen<br />
Reichen und Armen, zwischen „wohlhabendem Bürgertum“<br />
und „armem Volk“ nahm zu, auch im ländlichen Bereich,<br />
weil - bedingt durch die Zunahme der maschinengetriebenen<br />
Fabriken - der alte Handwerkerstand mehr und<br />
mehr verarmte, wie schon zu Anfang dieses Kapitels aufgezeigt<br />
wurde. Das „Verlagssystem“ der Großhändler vergrößerte<br />
die Abhängigkeit des kleinen Gewerbes auch auf<br />
dem Lande. Die Mißernten trafen vor allem diese Bevölkerungsgruppen<br />
und ließen diese immer gereizter werden.<br />
Und wieder ging der revolutionäre Funken von Paris<br />
aus: Dieses Mal, 1848, konnten die Gewehre und die<br />
Verordnungen der Herrschenden die Menschen nicht<br />
mehr bremsen. In Deutschland brach die Revolution aus<br />
- die Fürsten wurden zu Kompromissen gezwungen.<br />
Auch <strong>Reichelsheim</strong>, das kleine Landstädtchen in der<br />
Wetterau, erzitterte. Auch hier warjetzt die Ruhe dahin!<br />
Pfarrer Frankenfeld, gewiß kein „fortschrittlicher“,<br />
kein „linker“ Pfarrer, berichtet im Kirehenbuch ausführlich<br />
über die „Lage in <strong>Reichelsheim</strong>“ (s. S. 84ff):<br />
„Daß in der Geschichte Deutschlands durch seine politischen<br />
Märzstürme ewig denkwürdige Jahr brachte auch<br />
in <strong>Reichelsheim</strong> manche Veränderungen. Zwar hatten<br />
sich an den Ereignissen des 4ten März in Wiesbaden keine<br />
Einwohner beteiligt und man bemerkt, obgleich die<br />
Gemüter durch die Kunde davon schon aufgewogt wur-<br />
116
den, doch anfangs hier weniger Anklang. Als aber nach<br />
und nach die Nachricht von den Bewegungen in dem ganzen<br />
Nassauischen Ländchen auch hierher drang und man<br />
die Rechte und die Freiheiten, welche man gefordert hatte<br />
und die von unserem Herzoge Adolph verwilligt worden<br />
waren, zu begreifen anfing, ja als in ganz Deutschland<br />
der Freiheitswunsch erwachte, nahm man auch hier<br />
einen immer größeren Anteil an der politischen Begeisterung,<br />
welche alle deutschen Gemüter ergriff. Man<br />
lechzte nach jedem Zeitungsblatt, kam in den Wirtshäusern<br />
zusammen, um sich die neuen Mähren zu verkünden<br />
und zu holen, holte alte verrostete Flinten und Büchsen<br />
hervor, um sie zu probieren, machte Miene, eine Bürgerwehr<br />
zu errichten, bildete ein Sicherheitskommitee, sang<br />
,Heckerlieder“ (Hecker war ein Kämpfer für radikale liberale<br />
Freiheitsrechte im Badischen gewesen), prunkte<br />
mit schwarz-rot-goldenen Fahnen (Fahne der revolutionär-demokratischen<br />
Burschenschaftsbewegung) und beriet<br />
in Versammlungen, wie man die gewordenen Freiheiten<br />
am besten zu seinem eigenen Vorteile benutzen<br />
kann. Jedoch zum Lobe <strong>Reichelsheim</strong>s muß man es sagen,<br />
daß es bei allem erwachten Freiheitsrausche doch<br />
sich stets fast ganz in den Grenzen der Ordnung und Mäßigkeit<br />
hielt. Während man hörte, daß in vielen Orten<br />
Excesse aller Art vorfielen, beschränkte man sich hier<br />
auf einige Pasquille (= Schmähschriften gegen bestimmte<br />
Herrschaften, in diesem Fall gegen den Herzog), welche<br />
man legte, und Drohungen, welche man aussprach.<br />
Zwar bannte der Unfug, welcher jetzt mit der Presse<br />
getrieben wurde, das gemeine Schimpfen und Schelten,<br />
das in den Volksversammlungen an der Tagesordnung<br />
war und sich hauptsächlich gegen die Fürsten Deutschlands,<br />
des Adels, die Kirchen und Angestellten wendete,<br />
der Rufer des Kommunismus, das Eigentum müsse geteilt<br />
werden, das unbesonne Reden der Freiheitsschwindler<br />
über gänzliche Abschaffung aller bisherigen<br />
Lasten und Steuern, nicht ohne Einwirkung aufdie hiesigen<br />
Einwohner blieben. Aber wenn auch in Manchem<br />
das Gelüste nach Aufteilung des Eigentums sich regte,<br />
sich in beklagenswertes Mißtrauen gegen die Vorgesetzten<br />
immer kund tat und die Unzufriedenheit der Minderbegüterten<br />
dahier immer mehr um sich griff; so behielt<br />
dieses alles doch mehr eine locale Richtung.<br />
An größere politische Vereine schloß man sich nicht an.<br />
Man arbeitete weniger oder gar nicht an den Umsturz der<br />
bestehenden Staatsverfassung, sondern wollte nur in dem<br />
Gemeinwesen Neuerungen schaffen. Namentlich glaubten<br />
die Ärmeren, in der Gemeindehaushaltung größere Vorteile<br />
erringen zu müssen, und sie setzten es auch mit Hilfe<br />
des Mittelstandes durch, in diesem Jahr von der Abtragung<br />
der Schulden, welche auch die Gemeinde hat. ganz abzusehen,<br />
und dafürjedem einzelnen Ortsbürger größere Anteile<br />
an den Gemeindewiesen zu geben.“<br />
Auch wenn diese „Revolution“ wegen der Uneinigkeit<br />
der Bürgerschaft, wegen der wenig konkretisicrten Form<br />
der politischen Vorstellungen bald scheiterte, so verblieb<br />
als eine Art Nebenprodukt eine Konsequenz bestehen,<br />
die bis heute keine Umkehr, sondern im Bewußtsein der<br />
Menschen eher noch eine Bestätigung fand: Das war die<br />
eingeleitete Trennung von Staat und Kirche. Das, was<br />
durch die „Säkularisierung“ der geistlichen Fürstentümer<br />
im Jahre 1801 mit der Aufhebung des „Reichsbannes“<br />
(= „Ein Staat - eine Kirche“) eingeleitet worden<br />
war, fand nun seine historisch logische Fortsetzung! Die<br />
Kirche erhielt jetzt, wie Pfarrer Frankenfeld berichtete,<br />
„eine freie selbständige Stellung im Staate“, sie war nun<br />
nicht mehr Teil der Staatsgewalt. Anweisungen des Herzogs,<br />
z. B. zu bestimmten Festtagen Predigten zu bestimmten<br />
Themen unter bestimmten Bibelworten zu halten,<br />
das war nun nicht mehr möglich. Jeder Pfarrer war<br />
117
nunmehr nur noch an die Vorgaben seiner Kirche und -<br />
im Sinne Luthers - an die seines Gewissens gebunden.<br />
Die Ereignisse im Jahre 1848 hatten aber noch weitere<br />
Konsequenzen für das Leben in <strong>Reichelsheim</strong> dadurch,<br />
daß von dieser Zeit an der Pfarrer durch Gesetzesänderung<br />
auch zu einem „Ortsbürger“ wurde, also nichtmehr<br />
als Repräsentant der Obrigkeit außerhalb der von ihm<br />
geführten Gemeinde stand. „Auch die Geistlichen und<br />
die Staatsdiener werden von diesem Jahr an als Gemeindebürger<br />
mit allen Rechten und Pflichten, allen Vorteilen<br />
und Lasten, welche dieselben schon haben, angesehen.<br />
Es hängt also nun an jedem Geistlichen dahier ab,<br />
seinen Mann an der Spritze zu stellen, für die regelmäßigen<br />
Nachtwachen zu sorgen, die gewöhnlichen Frondienste<br />
zu leist_en. Dafür hat er in den Gemeindeversammlungen<br />
Sitz und Stimme und erhält seinen Anteil an<br />
den Gemeindenutzungen, welche in diesem Jahr aus 1<br />
Stecken Buchen Schnittholz, 1 Stecken Stab- und Reiserholz<br />
und 2 Morgen Gemeindewiesen bestand“, schreibt<br />
Pfarrer Frankenfeld 1849 in das Kirehenbuch (s. S. 87).<br />
Doch die „Revolution“ des Jahres 1848, die nicht nur<br />
in vielen Städten Deutschlands große Unruhen und bei<br />
Barrikadenkämpfen auch viele Tote verursacht hatte,<br />
sondern die vor allem das verdeckt keimende demokratische<br />
Bewußtsein der Menschen aus allen Schichten der<br />
Bevölkerung geweckt hatte, veränderte auch im kommunalpolitischen<br />
Bereich die Strukturen! Pfarrer Frankenfeld<br />
sei auch in dieser Frage wieder als Zeitzeuge zitiert:<br />
„Mit Anfang dieses Jahres wurde eine neue Gemeindeverwaltung<br />
in dem Herzogtum Nassau eingeführt, welche<br />
der Gemeinde in Ansehung ihres Gemeindehaushalts größere<br />
Freiheiten zuerkannte. An der Spitze der Gemeinde<br />
wurde als Verwaltungsbeamte der Bürgermeister mit dem<br />
Gemeinderat gestellt, die sämtlich durch die Gemeinde<br />
selbst, und zwar erstere auf 6 Jahre, letzter auf 4 Jahre ge-<br />
wählt wurden. Hier wurde der bisherige Amtsschultheit<br />
Schmid zum Bürgermeister gewählt und ihm 6 Gemeinderäte<br />
beigegeben. Bemerkenswert ist, daß fast alle Gemeinderäte<br />
den Minderbegüterten angehörten.“<br />
Diese Gemeindeordnung blieb nahezu unverändert bis<br />
Ende 1918 in Kraft. Sie gab den Ortsbürgern mehr Mitsprache<br />
bei den Entscheidungen der Gemeinde. Diese Gemeindeordnung<br />
löste jene ab, die während der napoleonischen<br />
Zeit eingeführt worden war, nämlich die, die den<br />
Schultheißen in das kommunale Entscheidungszentrum<br />
stellte. Bis 1800 gab es immer zwei Bürgermeister, die<br />
jedes Jahr neu aus dem Kreis der „Honoratioren“ der Einwohnerschaft<br />
gewählt worden waren, was sich nach Meinung<br />
des bestimmenden Herrschafthauses wegen der Zunahme<br />
der Probleme und Schwierigkeiten der Abrechnungen<br />
nicht mehr „fähig genug“ gezeigt hatte.<br />
So hatte aber die „Revolution von 1848“ doch einen bedeutenden<br />
Schritt in die moderne Form der kommunalen<br />
Selbstverwaltung gemacht.<br />
Wenn man all die geschilderten Ereignisse über die erste<br />
Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammenfaßt, so ergibt sich<br />
das, was die Überschrift über dieses Kapitel ankündigte: die<br />
Menschen waren selbstbewußter, sie waren eigenverantwortlicher<br />
geworden, sie waren politischer geworden. Die<br />
Zeit. der reinen „Untertänigkeit“ war vorbei - endgültig.<br />
Doch die Freiheitskämpfer gegen das napoleonische<br />
Frankreich hatten sich nicht nur den Ruf „Freiheit und<br />
Selbstbestimmung“ auf die Fahnen geschrieben. Auch der<br />
Ruf nach „Einheit“ war für die Menschen jener Zeit erregend.<br />
Die Einheit Deutschlands war allerdings durch die<br />
Revolution nicht verwirklicht. Heuchelheim, Weckesheim,<br />
Blofeld, Bingenheim und Florstadt: sie waren immer<br />
noch Ausland zu <strong>Reichelsheim</strong>; eine Grenzüberschreitung<br />
war nur mit Hilfe eines Passes - oft nach Zahlung eines<br />
Zolles - erlaubt!<br />
118
8. c) Das Ende der „Insellage von <strong>Reichelsheim</strong>“<br />
Die 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts begann mit<br />
Blitz und Donner oder besser gesagt mit fürchterlichem<br />
Hagelschag, der große Teile der Ernte vernichtete. Anschaulich<br />
beschrieb der neu nach <strong>Reichelsheim</strong> versetzte<br />
Pfarrer Tecklenburg seine Eindrücke (s. Kirehenbuch<br />
S.172):<br />
„Als ich am 19. Juli zum ersten Male hierherkam, um<br />
Eintritt zu nehmen von meiner neuen Pfarrstelle, fand<br />
ich das ganze Erntefeld in eine Wüstenei verwandelt.<br />
Tags zuvor, den l8ten Juli, nachmittags zwischen 2 und 3<br />
Uhr, wurde die Gemeinde <strong>Reichelsheim</strong> von einem<br />
furchtbaren Hagelschlag heimgesucht, der in der Zeit<br />
von 5 - 10 Minuten ihre außerordentlich schöne Erntehoffnungen<br />
fast ganz zerstörte. .<br />
Der hierdurch entstandene Schaden wurde am 23.Juli<br />
von den verpflichteten Taxatoren Rentmeister Filius von<br />
Beienheim, Bürgermeister Gatzert von Heuchelheim<br />
und Bürgermeister Schmid von <strong>Reichelsheim</strong> im Beisein<br />
des herzoglichen Kreisamtmannes Freiherr von Preuschen<br />
abgeschätzt, und es ergab sich hierbei, daß die<br />
Ernte . _ _ durchschnittlich zu 3/4 zerstört war. . _<br />
Eine spezielle Berechnung des Hagelschadens ergab,<br />
daß derselbe 41765 Gulden 44 Kreuzer betrugl“<br />
Der Herzog spendete sogleich 200 Gulden, aus den anderen<br />
Ämtern des nassauischen Herzogtums wurde 217<br />
Gulden, 37 3/4 Kreuzer gespendet, was zusammen ca.<br />
1 % des Unwetterschadens ausmachte. _ .<br />
Die Spenden wurden zum Ankauf von Gerste und<br />
Kartoffeln aus anderen Ämtern verwendet. Damit die<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er den Schaden überstehen konnten, wurden<br />
ihnen auch Preisnachlaß, Zinsverbilligung und -verschonung<br />
für ein Jahr gewährt. Nichtsdestotrotz: Über<br />
das Juli-Unwetter des Jahres 1852 wurde noch viele Jahre<br />
erzählt.<br />
Aber die <strong>Reichelsheim</strong>er, seit der sogenannten Bauernbefreiung<br />
Herr über Boden und Erträge, suchten in<br />
jenen Jahren die Anbaumöglichkeiten in ihren engen<br />
Gemarkungsgrenzen zu erweitern. 1857 intensivierten<br />
sie ihre Bemühungen, durch Anlegen von „Abzugsgräben“<br />
die Nutzung und die Qualität der Wiesen zu verbessern;<br />
sie sollten „bei den häufig vorkommenden Überschwemmungen<br />
die Flut ableiten“, wie Pfarrer Tecklenburg<br />
jene Maßnahme im Kirehenbuch beschrieb<br />
(s. S. 183). In jene Zeit (1858) fiel auch die Drainierung<br />
des östlich von der Horloff gelegenen Wiesenbereiches,<br />
der heute z. B. den Kindergarten, die Sportplätze und<br />
den Festplatz umfaßt. Ziel war hier die Schaffung eines<br />
neuen Bleichplatzes für die Wäsche.<br />
Der Aufschwund der Landwirtschaft wurde vor ca.<br />
130 - 140 Jahren auch noch durch anderes beeinflußt:<br />
z. B. durch die wegweisenden Erkenntnisse von Justus<br />
Liebig über die Zufügung von mineralischem Dünger an<br />
die Pflanzen, um die Ernteerträge bedeutend zu steigern.<br />
Damit wurde es den Bauern auch hier in <strong>Reichelsheim</strong><br />
leichter, ihre Schulden und die Schuldzinsen abzubezahlen<br />
- zugleich wuchs damit der Optimismus der<br />
Menschen.<br />
Diese neue Entwicklung in der Förderung des Pflanzenwuchses<br />
verlief parallel mit jener der Landmaschinentechnik:<br />
1864 kam in <strong>Reichelsheim</strong> auf dem damaligen<br />
Anwesen Sprengel die erste durch eine Dampfmaschine<br />
angetriebene Dreschmaschine zum Einsatz.<br />
Nicht nur, daß dieses „technische Ungetüm“ den<br />
Landwirten die Arbeit erleichterte: diese Maschine<br />
machte sie auch von Arbeitskräften unabhängiger, die<br />
ansonsten jeden Spätsommer und Herbst meist aus dem<br />
Vogelsberg hierher kamen, um durch das Dreschen des<br />
Getreides ein dürftiges Zubrot zu verdienen. Die Maschine<br />
machte die Höfe immer mehr zu „Familienbetrie-<br />
119
en“, die die Arbeit ohne Fremdkräfte, ohne Knechte<br />
und Mägde, erledigen konnten.<br />
1865 wurden auf den ca. 80 Bauernstellen unseres Ortes<br />
noch 37 Knechte und 55 Mädge gezählt - eine Zahl,<br />
die nie wieder erreicht werden sollte.<br />
Foto der alten Dreschr*na_s'chine<br />
des Hermann Sprengel<br />
(Aufnahme aus dem Jahre I 9/2)<br />
Aber nicht nur die beginnende Modernisierung veränderte<br />
damals unseren Ort: Auch der Einzug von „Fabriken“<br />
führte zu Änderungen in der Sozial- und Wirtschaftsstruktur.<br />
Dureh eine „Zigarrenfabrik“ in der Untergasse<br />
(heute Florstädter Straße) gab es lohnabhängige<br />
Arbeiter, die aufgrund ihrer Arbeitsverhältnisse, ihrer<br />
geringen Entlohnung auch offen waren für sozialpolitische<br />
Gedanken, die den Landwirten und den Gewerbetreibenden<br />
fremd waren.<br />
Doch in <strong>Reichelsheim</strong> gab es keine Unruhen sozialer<br />
Art. Die Wahlen, ob Bürgermeister- oder Landtagswahlen,<br />
waren zwar hin und wieder „aufregend“, doch dabei<br />
standen stets lokale Gegebenheiten, Wünsche und Forderungen<br />
im Vordergrund des Interesses.<br />
Wie sehrzujener Zeit, als überall in deutschen Landen<br />
der soziale und wirtschaftliche Umbruch enorme Formen<br />
annahm, die <strong>Reichelsheim</strong>er zu der alten Ordnung,<br />
zu ilırem Fürstenhaus bejahend standen, das zeigt ein<br />
Schriftstück aus dem Archiv der Stadt, das sie „ihrem“<br />
Herzog Adolf 1864 zu dessen 25jährigem Regierungsjubiläum<br />
sandten. Dieses Schreiben ist nur verständlich,<br />
wenn man weiß, daß im Nassauischen Landtag große<br />
Unzufriedenheit mit der Politik des Herzogs und seiner<br />
Regierung herrschte, nachdem der Landtag mit seiner liberalen<br />
Mehrheit gefordert hatte, die Verfassung von<br />
1849 wieder in Kraft zu setzen (eine Verfassung, die wesentlich<br />
demokratischer war als jene, die der Herzog im<br />
Zuge der Restauration eingesetzt hatte), de_r Herzog diese<br />
Forderung allerdings mit der Auflösung des Parlaments<br />
beantwortet hatte.<br />
Herzog Adolf hoffte, durch große Jubiläumsfeste in allen<br />
Ämtern seines Reiches eine „Solidarisierung“ der<br />
Menschen mit seiner Person zu erreichen und damit den<br />
politisch Andersdenkenden den Boden zu entziehen.<br />
In <strong>Reichelsheim</strong> ging die Rechnung des Herzogs auf:<br />
Pfarrer Snell, dessen Großonkel 1814 brennende Reden<br />
zu den Themen „Deutschland“ und „Freiheit und<br />
Gleichheit“ gehalten hatte und der selbst von 1849 bis<br />
1851 im nachrevolutionären nassauischen Landtag in<br />
Wiesbaden Sitz und Stimme gehabt hatte, berichtete ausführlich<br />
über den Festablauf, der mit einem Fackelzug<br />
durch den ganzen Ort am Vorabend begann, am eigentlichen<br />
Festtag mit Gottesdienst, Festansprachen fortgesetzt<br />
und am Abend mit Musik und Tanz beendet wurde.<br />
120
Was die <strong>Reichelsheim</strong>er (und Dorn-Assenheimer) ihrem<br />
„Durchlauchtigsten Herzog“ zu sagen hatten, das sei<br />
hier, um Denken und Sprache der damaligen Zeit zu verdeutlichen,<br />
zitiert:<br />
„Durchlauchtigster Herzog!<br />
Gnädigster Fürst und Herr!<br />
Es ist heute der einundzwanzigste Augustdie<br />
aufbrechende Sonne durchbricht ein duftiges Nachtgewölk<br />
und rötet den herrlichen Tag.<br />
Noch hält der Schlaf mit seinem Zauber uns umfangen<br />
und liebliche Träume umgaukeln die Seele. Dem braven<br />
Nassauer will es bedünken, als säh er im Rosenschimmer<br />
das Residenzschloß am Rhein; tausend Gondeln, von<br />
Schwänen gezogen, umschwimmen das Ufer, und darinnen<br />
die Glücksgötter mit ihren reichen Gaben; doch<br />
hoch darüber in lichten Räumen schwebend C l i o, die<br />
Muse mit dem goldenen Griffel, wie sie einschreibt den<br />
denkwürdigen Tag in das goldene Buch der Geschichte.<br />
Die Sonntagsglocken wecken uns auf, das Traumbild<br />
schwindet und wir, die Bewohner des Amts <strong>Reichelsheim</strong>,<br />
sind nicht die letzten, welche hineilen, und nahen<br />
ehrfurchtsvoll dem erhabenen Thron ihres teuren Landesvaters,<br />
beglückt in dem Gefühle, sich Nassauer nennen<br />
zu dürfen, an dem Jubeltage, wo vor fünfundzwanzig<br />
Jahren die göttliche Vorsehung nach dem tödlichen Hintritt<br />
Höchst Ihrer Durchlauchtigsten Herrn Vaters Ew.<br />
Hoheit das Zepter in die Hand legte, um als Inhaber der<br />
höchsten Staatsgewalt zu herrschen nach Gesetz und<br />
Recht. Wir erkennen die hohe Bedeutung des Festes,<br />
und je weiter die Ländercharte das kleine Gebiet abrückte<br />
von den Marken des engem Vaterlandes, je größer die<br />
Fülle der Gaben ist, welehe die günstige Natur in dem<br />
herrlichen Gaue uns spendete, desto inniger sind wir<br />
durchdrungen von der Notwendigkeit, unter dem Zepter<br />
dieses hohen Hauses das Banner der staatlichen Ordnung<br />
aufrecht zu halten, und bei jeder Veranlassung unsere<br />
Bürgertreue und Anhänglichkeit an des durchlauchtigsten<br />
Regenten erhabene Person an den Tag zu legen,<br />
nimmer vergessend der tausendfältigen Wohltaten, die<br />
Höchst seine gerechte, weise und milde Regierung den<br />
Regierten in gleichem Maße zuteilt.<br />
Viele Tausende sind heimgegangen zu den Vätern, die<br />
damals dem jugendlichen Fürsten ins Antlitz schauend<br />
ihre Huldigung brachten, aber es haben sich erfüllt ihre<br />
aufrichtigen Segenswünsche, und kaum ist noch berührt<br />
die Jugendkraft des Körpers und des Geistes, während<br />
ein viertel Jahrhundert dahinging, und das Land und<br />
Volk der Nassauer in gleichem Schritte mit allem Culturstreben<br />
des Abendlandes seinen weltgeschichtlichen Beruf<br />
erfüllte.<br />
Hat auch mehrfach das Firmament sich umwölkt, wurden<br />
manche Tage getrübt durch die Handlungen derer,<br />
die einer verirrten Zeitrichtung folgend sich bemühen,<br />
die Saat des Mißtrauens zu streuen zwischen Fürst und<br />
Volk, so hat doch die überwiegende Mehrheit derer, die<br />
nicht zu den politisch Unwürdigen gehören, niemals von<br />
diesem Strome sich hinreißen lassen; und den Bewohnern<br />
von <strong>Reichelsheim</strong> und Dorn-Assenheim gereicht es<br />
zur besonderen Genugtuung, daß kein Individuum sich<br />
jemals beteiligte an Handlungen, welche ein präventives<br />
oder repressives Hinschreiten hätte veranlassen müssen.<br />
So wollen wir denn auch ferner in pflichtgetreuer Anerkennung<br />
der landesherrlichen Gerechtsame als treue<br />
Bürger und Hüter des Gesetzes uns bewähren, und indem<br />
wir bei diesem bedeutungsvollen Gedenkfeste die<br />
ungeheure Freude des Landes teilen, erneuern wir den<br />
Schwur der unverbrüchlichen Treue, des Strebens nach<br />
Recht und Wahrheit und verneigen uns in brünstigem<br />
Gebet zu Gott, dem Allmächtigen, daß er den Stamm<br />
des regierenden Hauses noch viele Jahrhunderte hin-<br />
121
durch grünen, blühen und wachsen lasse, auch schützen<br />
und bewahren die erhabene Person des hochverehrten<br />
Fürsten zum Heil und Segen des treuen Volkes.<br />
Die wir harren in tiefer Ehrfurcht<br />
EW. Hoheit<br />
untertänigste Einwohner von <strong>Reichelsheim</strong> & Dorn-Assenheim.“<br />
Der überschwengliche Jubel um den „durchlauchtigsten<br />
Herzog“ währte in den Gassen <strong>Reichelsheim</strong>s nicht<br />
mehr lange: Das intensive Streben Preußens um Vorherrschaft<br />
in Deutschland bzw. um die Herstellung der<br />
politischen Einheit von Deutschland unter preußischer<br />
Führung führte schließlich zum Krieg Preußens gegen<br />
Österreich. Die hessischen Staaten - Kurhessen, Nassau<br />
und Hessen-Darmstadt - verbündeten sich mit Österreich<br />
und den anderen süddeutschen Staaten, während<br />
Preußen die Unterstützung der norddeutschen Fürstentümer<br />
hatte.<br />
Die berühmt gewordene Schlacht bei Königgrätz<br />
(Böhmen), die die Preußen für sich gewinnen konnten,<br />
stellte die Weichen für ein neugeordnetes Deutschland -<br />
ein Deutschland ohne Österreich, das Klein-Deutschland.<br />
Vor allem wurde diese Auseinandersetzung zum historischen<br />
Ende von Kurhessen (Hessen-Kassel) und des<br />
Herzogtums Nassau! Preußen annektierte diese Herrschaftsgebiete<br />
und tat damit das, was es ca. 50 Jahre zuvor,<br />
nach den napoleonischen Kriegen, schon hatte machen<br />
wollen: es stieß mit seinem Staatsgebiet bis zum<br />
Main vor und war damit die bestimmende Macht in<br />
Deutschland! Es reichte von der Memel bis an den<br />
Rhein, von der Nord- und Ostsee bis an den Main.<br />
<strong>Reichelsheim</strong> allerdings wurde nur für wenige Wochen<br />
preußiseh. Da das Großherzogtum Hessen-Darmstadt,<br />
auch nicht dessen Provinz Oberhessen, auf Druck des<br />
Zaren von Rußland von Preußen nicht, wie von Otto von<br />
Bismarck vorgesehen, annektiert wurde, Preußen allerdings<br />
an der Exklave <strong>Reichelsheim</strong>/Dorn-Assenheim kein<br />
Interesse hatte, fiel das ehemalige nassauische Amt in der<br />
Wetterau an das Großherzogtum Hessen-Darmstadt.<br />
<strong>Reichelsheim</strong> war nunmehr hessisch!<br />
Sein Poststempel änderte sich konsequenterweise: Es<br />
hieß nicht mehr „<strong>Reichelsheim</strong>/Nassau“, sondern „<strong>Reichelsheim</strong>/Wetterau“<br />
- und bei dieser Bezeichnung blieb<br />
es bis heute!<br />
Pfarrer Snell hatte in seinem langen Eintrag in die Kirchenchronik<br />
über die geschilderten Ereignisse mit folgenden<br />
Worten eingeleitet:<br />
„Dieses Jahr hat das Deutschland, welches aus den<br />
Napoleonisehen Kriegen und dem Wiener Kongreß hervorgegangen<br />
und unter dem Bundestage über ein halbes<br />
Jahrhundert in Frieden gelebt hatte, in politischer Hinsicht<br />
total umgestaltet.“<br />
Snell nennt dieses Jahr „ein Jahr der Schmach“_ Er unterdrückt<br />
nicht seine Antipathie gegen Preußen, und<br />
wahrscheinlich gab er damit die Stimmung der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
wieder. Da für ihn der Krieg gegen Preußen ein<br />
„gerechter Krieg“ war, wandelte er das „Kriegsgebet um<br />
siegreiche Waffen“, das der nassauischen Landesbischof<br />
angeordnet hatte in ein „Gebet für den Sieg der gerechten<br />
Sache“ um (s. S. 217).<br />
Auch 10 <strong>Reichelsheim</strong>erjunge Männer waren für den<br />
Krieg eingezogen worden, hatten allerdings das Glück,<br />
zu überleben, weswegen Pfarrer Snell den Dankgottesdienst<br />
am 16. September 1866 mit den Worten eröffnete:<br />
„Er zählt die Häupter seiner Lieben, und sieh, es fehlt<br />
kein teures Hauptl“ (s. Kirehenbuch S. 219).<br />
Nach dem Niedergang Nassaus, der ihn zwang, wie alle<br />
„öffentlichen Diener“ sich durch Eid für Preußen in<br />
die Pflicht nehmen zu lassen, betete der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
122
Pfarrer nicht für Preußen und dessen König, dem neuen<br />
Landesvater, sondern sprach „von da lediglich das alte<br />
nassauische Kirchgebet für das ›Gemeinsame deutsche<br />
Vaterland
8. d) Auf dem Wege ins 20. Jahrhundert<br />
Der Sieg Preußens über Österreich und seine süddeutschen<br />
Verbündeten, die klare Entwicklung hin zu<br />
einem „Deutschland unter einer Krone“ ließ in allen<br />
Teilen des Landes und der Bevölkerung einen kraftstrotzenden<br />
Nationalismus entstehen. Der Blick in die<br />
Zukunft war für die meisten Menschen von „Optimismus<br />
durch Nationalismus“ geprägt: „Es wird besser<br />
werdenl“ - „Wir werden stark werden I“ - „Deutschland,<br />
Deutschland über allcsl“ - „Nichts ist mir teurer<br />
als mein Vaterlandl“ - so lauteten die Kernsätze der<br />
vielen Reden von weltlichen und geistlichen Würdenträgern<br />
an den vielen Gedenktagen, die den Jahreslauf<br />
der Menschen jener Jahrzehnte begleiteten.<br />
Die Zukunftsorientiertheit war auch im nun hessischen<br />
<strong>Reichelsheim</strong> zu spüren: lm Jahr des Krieges,<br />
1866, wurde begonnen, das Rathaus zum gemeindlichen<br />
Schulhaus umzubauen. Das Haus wurde bis auf<br />
den untersten Stock abgetragen und auf die Mauern<br />
des Erdgeschosses der neue Bau gesetzt. „Auf der hintern<br />
Seite des Gebäudes wurde auch das Türmchen neu<br />
aufgeführt und mit einem Wetterfähnchen sowie mit<br />
einem von dem Schmied Siegfried Vogt dahier gestifteten<br />
Glöckchen versehen“ (s. Kirchenbuch, S. 222 f.).<br />
Die zwei alten Schulhäuschen auf dem südlichen Teil<br />
des Kirchhofes mit Zugang von der Untergasse (heute<br />
Florstädter Straße) wurden in den folgenden Jahren<br />
abgerissen. Damit war nun die enge Anbindung zwischen<br />
Kirche und Schule aufgehoben. Wenig später<br />
wurde den Kirchen das Recht der Schulaufsicht genommen,<br />
womit nach der räumlichen Trennung auch<br />
die rechtliche kam. Und 1872, also nahezu gleichzeitig,<br />
wurde, wie es im Kirehenbuch heißt (s. S. 249), „der<br />
bisher offene Platz um die Kirche mit einer niedrigen<br />
Mauer und darauf stehendem eisernen Spalier umgeben“.<br />
Diese Ein- bzw. Abgrenzung des Kirchenge-<br />
ländes schien wahrhaft symbolische Bedeutung zu<br />
haben...<br />
Nachdem <strong>Reichelsheim</strong> nun nicht mehr „Ausland“ zu<br />
seinen Nachbarorten war, wurde auch alles darangesetzt,<br />
die Verbindungen zu verbessern. Schon 1868 wurde<br />
der Weg nach Heuchelheim „chaussiert“, also befestigt<br />
- allerdings nicht auf der Trasse des jahrhundertealten<br />
Weges. „Es wurde jedoch nicht der alte Weg eingehalten,<br />
sondern vom Eck der ›elf Morgen
durch die Wiesen nach Florstadt floß, nunmehr aber ein<br />
ganz gerades Bett erhalten hat, ihren Abschluß. Die Kirche<br />
& Pfarrei <strong>Reichelsheim</strong> erhält ihre Grundstücke in<br />
mehreren größeren Komplexen“ (s. S. 349).<br />
Doch auch in diesen Jahren waren die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
nicht von Plagen, Kummer und Sorgen verschont. Das<br />
Kirehenbuch gibt uns noch heute Kenntnis von der damaligen<br />
Zeit; hier ein kleiner Ausschnitt:<br />
Schafwäsche in der Horloff.<br />
Die Schafe wurden vor dem Scheren<br />
in der Horloffgrttndlichst „gebaclet“<br />
(Aufnahme um 1910; Besitz der Familie Winter)<br />
Nach Drainierung und Feldbereinigung sah das Umland<br />
des Ortes doch sehr verändert aus: die vielen kleinen<br />
„Ackerchen“, über Jahrhunderte durch Erbauseinandersetzungen<br />
entstanden, hatten das Landschaftsbild<br />
bisher geprägt. Nun aber waren größere Einheiten entstanden,<br />
hatten manchen Feldweg verschwinden lassen,<br />
was den Bauern manchen Weg ersparte: Ihre Arbeitseinsätze<br />
konzentrierten sich auf viel weniger Felder. Manch<br />
ein Bauer wird dadurch gar in die Lage versetzt worden<br />
sein, auf einen Knecht oder auf eine Magd zu verzichten.<br />
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sw<br />
1868: Maikäferplage und Plage durch Erdflöhe („Sie<br />
waren in ungeheurer Menge vorhanden, so daß<br />
man das Kraut verloren gab“ - s.S.232) 1868:<br />
Masernepidemie: 7 Kinder starben _ _ _<br />
1871: Überschwemmungen („Beständig Regen führte<br />
zu Überschwemmung des ganzen Horloff- und<br />
Niddatales zu Ende Juni und Anfang Juli; eine<br />
Wassermenge sah man, dergleichen sich die ältesten<br />
Leute nicht zu erinnern wissen, so daß nur<br />
wenig Heu geerntet werden konnte“ ~ s. S. 241).<br />
1871: Blattern-Epidemie: („Die Blattern-Epidemie<br />
hatte sich, durch Einschleppen von außen, hier<br />
eingestellt und mußten 6 Häuser abgesperrt werden;<br />
auch wurde die Cigarrenfabrik des Kaufmanns<br />
Schwarz geschlossen. weil es lauter Arbeiter<br />
derselben waren, die davon ergriffen waren“<br />
(s. S. 245).<br />
1872: Mäuseplage 1880: Frostschäden an den Obstbäumen<br />
(„Bei der hier vorgenommenen Zählung zur<br />
Konstatierung des Frostschadens ergab sich folgendes<br />
Resultat: Apfelbäume: 1128 erfroren,<br />
1607 noch vorhanden. Birnbäume, die im allgemeinen<br />
weniger gelitten hatten: 349 erfroren,<br />
1415 nicht. Zwetschen aber: 3045 erfroren, 2487<br />
nicht. Von Aprikosen- und Pfirsichbäumen erfroren<br />
18, erhalten blieben 3.<br />
Die Zahlen sind doch nur annähernd, da manche<br />
Bäume, die gesund zu sein schienen, später doch<br />
noch zu Grunde gingen“ -s. Kirehenbuch S. 272).<br />
1882: Regenjahr: „Regen, Regen Regenl“ (Überflu-<br />
125
tungen: 500 Morgen Wiesen und z. T. auch<br />
Fruchtfelder standen unter Wasser)<br />
1892: Diphterie-Epidemie („In diesem Jahr grassierte in<br />
unserer Gemeinde eine Diphterieepidemie, die<br />
zahlreiche Opfer forderte. Es starben in 1892 elf<br />
Kinder und betrugen die Todesfälle die außergewöhnlich<br />
hohe Zahl von 31 “)<br />
1893: Trockenheit („Der Sommer brachte eine außergewöhnliche<br />
Trockenheit. Infolge derselben entstand<br />
cin großer Mangel an Futtermitteln. Das<br />
Vieh wurde mitunter zu wahren Schleuderpreisen<br />
verkauft.<br />
Daß eine Kuh oder ein Rind für 40-50 Mark abgegeben<br />
wurde, war keine Seltenheit. Die Landwirte schlachteten<br />
vielfach ihr entbehrliches Vieh selber und verkauften<br />
das Fleisch zu 20-30 Pfennig das Pfund“ - s. Kirchenbuch<br />
S. 337).<br />
Sorgen - Trauer - wirtschaftliche Not - Verzweiflung:<br />
immer wieder gehörten sie zum Alltag der Menschen.<br />
Die Hoffnungen der ehemaligen Nassauer auf wirtschaftliche<br />
Besserung durch Eingliederung in das größere<br />
Hessen-Darmstadt und die Reichsgründung 1871 erfüllten<br />
sich nicht! Es machte sich nun negativ bemerkbar,<br />
daß das alte Herzogtum zu wenig für den gewerblichen<br />
Fortschritt, aber auch zu wenig für die Neuordnung der<br />
landwirtschaftlichen Strukturen getan hatte. Zudem<br />
mußten die Ex-Nassauer erkennen, daß es nicht so war,<br />
daß alles auf sie gewartet hatte. Die alten Gebiete des<br />
Großherzogtums Hessen hielten zusammen, dachten<br />
wenig daran, mit den neuen Landsleuten zu teilen. Dies<br />
hatte Konsequenzen: „Der verzögerte Aufschwung der<br />
nassauischen Wirtschaft wurde bereits 1873 durch die<br />
›Gründerkrise< unterbrochen. Dazu kam die strukturelle<br />
Dauerkrise der überwiegend kleinbetrieblichen nassaui-<br />
Reieheleheim<br />
FN<br />
»wımıııfil<br />
Symbol der neuen Zeit: Das „Kaiserliches Postamt<br />
<strong>Reichelsheim</strong> “ an der Staatsstraße,<br />
heute Bingenheimer Straße 32<br />
(1886 erbaut, 1965 umgebaut)<br />
ı*«:›»ı.mai<br />
126
schen Landwirtschaft. Für die rasch zunehmende Bevölkerung<br />
war kaum Arbeit vorhanden, so daß die Auswanderzahlen<br />
nochmals stark anstiegen“ („Nassaus Beitrag<br />
für das heutige Hessen“, S. 71).<br />
Im Kirehenbuch vermerkte Pfarrer Kayser im Jahre<br />
1881: „Die Auswanderung nach Amerika ist in diesem<br />
Jahr in ganz Deutschland sehr stark gewesen, auch von<br />
hier gingen viele weg, so am 1. September 16 Personen<br />
auf einmal“ (s. S. 295).<br />
Die Unterlagen des Stadtarchivs bestätigen, daß immer<br />
wieder <strong>Reichelsheim</strong>er Bürgerinnen und Bürger ihrer<br />
Heimat „Lebwohl“ sagten bzw. sagen mußten, weil in<br />
ihrem Heimatort keine wirtschaftliche Zukunft für sie zu<br />
erwarten war. Bekannte Namen tauchen in dem „Paßoder<br />
Heimatschein-Register“, daß von der Gemeindeverwaltung<br />
von 1870 bis 1888 geführt worden war, auf:<br />
Coburger und Maley, Kornmann und Vogt, Weitz und<br />
Mörchel, Schmidt und Nohl, Schäfer und Nagel, Stephan<br />
und Schnell, Krailing und Gros, Möser und Schutt.<br />
Das genannte „Paß- oder Heimatschein-Register“ gibt<br />
aber auch Auskunft, welche Berufe und welche Ziele die<br />
Wanderwilligen gehabt hatten. Insgesamt verließen in<br />
dem registrierten Zeitraum 81 erwachsene Personen<br />
<strong>Reichelsheim</strong>; die Zahl der Kinder, die ausreisende Familien<br />
mitnahmen, ist nur teilweise aufgeführt.<br />
Von jenen 81 Personen wanderten 22 nach Nordamerika,<br />
11 in die Schweiz und 1 nach Frankreich aus. 47 suchten<br />
in anderen Ländern des Deutschen Reiches ihre gesicherte<br />
Zukunft.<br />
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” ~" - ll ' _ , f- _. 11<br />
*Ü-'1<br />
tue/M<br />
„.124“<br />
Ansichtskarte von <strong>Reichelsheim</strong>,<br />
abgestempelt 1899<br />
(im Besitz der Familie W. Dörr)<br />
1 127
_<br />
Die Tatsache. daß kein Landwirt sondern nur Handwerker<br />
und Arbeiter sowie Dienstpersonal <strong>Reichelsheim</strong><br />
„Adieu“ sagten, weist vor allem auf die wirtschaftlich<br />
schlechte Situation derselben hin: 1 1 Dienstmädchen<br />
bzw. Mägde und 6 Näherinnen, 9 Schreiner, 6 Zigarrenmacher,<br />
5 Schuhmacher, jeweils 4 Schlosser, Weißbinder,<br />
Metzger und Küfer, aber auch je 2 Zimmerleute,<br />
Schmiede, Bäcker und Buchbinder, je 1 Dreher, Sattler,<br />
Bierbrauer, Schneider, Gänshirt, Gärtner, Briefträger,<br />
kaufmännischer Lehrling und Tagelöhner. Man hätte<br />
mit diesen Leute eine kleine Stadt versorgen können! Allerdings<br />
macht diese Aufzählung auch deutlich, wie breit<br />
die handwerklich / gewerbliche Palette in <strong>Reichelsheim</strong><br />
vor gut 100 Jahren war.<br />
Wie eine Volkszählung aus dem Jahre 1875 verdeutlichte,<br />
gaben zu jener Zeit ca. 40% der Haushaltsvorstände<br />
an, Landwirt zu sein. Diese Zahl sagt nicht nur,<br />
daß sich die Auswanderer aus den restlichen 60% rekrutierten;<br />
40% der berufstätigen Haushaltsvorstände waren<br />
Landwirte: Wie groß, so muß man sich als Ortskundiger<br />
fragen, waren damals die Höfe? Es ist vorstellbar,<br />
wie diese Bauern - in der Regel Kleinbauern - von Wind<br />
und Wetter, von Raupen und Mäusen in ihrer Existenz<br />
abhängig waren! Jede Mißernte führte auch für diese Familien<br />
unmittelbar zu Hunger und zu Krankheitsanfälligkeit.<br />
Trotzdem: <strong>Reichelsheim</strong> war eine Bauernstadt_ Die<br />
Bauern lichteten nicht ihren Anker, um in der weiten<br />
Welt ihre Zukunft zu suchen. Sie, die Bauern, die „Seßhaften“,<br />
bestimmten deswegen auch die Kontinuität der<br />
Sitten und Gebräuche, sie bestimmten die Regeln des<br />
Lebens in diesem Ort - sie bestimmten die Politik.<br />
Fotokopie des Registers /Jg. 1874/80<br />
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128
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Wie schon gesagt: die <strong>Reichelsheim</strong>er galten als „stur<br />
und steifnackig“, die nicht sogleich nachgeben. Versuchten<br />
die Landwirte durch Drainierung der Felder und<br />
durch Flurbereinigung in jenen Jahrzehnten ihre Wirtsehaftssituation<br />
zu verbessern, so hofften die verbliebenen<br />
Handwerker durch planvolle Investitionen ihre Zukunft<br />
abzusichern. In den Jahren nach der „Hessisierung“<br />
von <strong>Reichelsheim</strong> wurde manches Bauvorhaben<br />
gewerblicher Art in Angriff genommen:<br />
1869: 2 Waschhäuser<br />
1 Gerbhaus<br />
1876: lKüferwerkstatt<br />
1880: 1Waschküche<br />
1885: 1 Schmiedewerkstatt<br />
1887: 1Wagnerwerkstatt<br />
1892: 51 Schaufenster<br />
1893: 1 Faselstall (Bachgasse)<br />
1 Molkerei (Genossenschaft/Straße<br />
n. Weckesheim)<br />
1896: 1 Zigarrenfabrik (Turmgasse)<br />
1897: 1 Erweiterung eines Backhauses<br />
1899: 1 Werkstätte (Sandgasse)<br />
1900: 1Schlachthaus<br />
1901: 1 Werkstatt (Hainweg)<br />
1 Werkstatt (Haingasse)<br />
1902: lBacksteinbrennerei<br />
(Straße nach Weckesheim /Ziegelei)<br />
1 Ringofenanlage (ebenda)<br />
1 Schmiedewerkstatt<br />
1 Sattlerwerkstatt (Bachgasse)<br />
1 Schmiedewerkstatt<br />
(Ecke Hain-/ Schweizergasse)<br />
1903: 1 Anlage eines Eisteiches (Molkerei)<br />
1 Metzgerei<br />
1904: 1 Sattlerwerkstatt (Neugasse)<br />
1906: 1 Backofen (Haingasse)<br />
1 Maschinenhaus (Straße n. Weckesheim)<br />
1 Schlosserwerkstatt (Schweizergasse)<br />
1911: 1 Apotheke (Straße n. Bingenheim)<br />
1 Maschinenhalle (Straße n. Weckesheim)<br />
1912: lSpritzenhaus<br />
Auch im privaten Hausbau tat sich zwischen 1866 und<br />
dem Beginn des 1. Weltkrieges einiges im Ort, was ihn<br />
heute noch prägt: Hofeinfriedungen, Hausaufstockungen<br />
und dergleichen waren Grund vieler einzelner Bauanträge.<br />
Man wollte/ brauchte mehr Platz, und den wollte<br />
man zugleich schützen. Insgesamt fällt auf, daß sich in<br />
jenen Jahrzehnten <strong>Reichelsheim</strong> vor allem in West- und<br />
Nordriehtung ausdehnte: die Straßen nach Weckesheim<br />
und Bingenheim wurden immer begehrter als Wohn- und<br />
Arbeitsplatzstandort.<br />
Daß diese Investitionen möglich wurden, obwohl in<br />
<strong>Reichelsheim</strong>, wie beschrieben, mehr Armut als Reichtum<br />
zu Hause war, liegt mit in der Tatsache begründet,<br />
daß auch hier die Ortsbürger eine genossenschaftliche<br />
Bank als Selbsthilfeeinrichtung basierend auf den Ideen<br />
von Schulze-Delitzsch gegründet hatten (April 1865),<br />
und zwar den „Vorschuß- und Creditverein mit unbeschränkter<br />
Haftung - <strong>Reichelsheim</strong> (Nassau)“, der sich<br />
den Bürgern in <strong>Reichelsheim</strong> und Umgebung als „Sparkasse<br />
und Bankanstalt“ empfahl und sich seit März 1942<br />
unter dem Namen „Landbank Horlofftal e.G“ weiterhin<br />
erfolgreich empfiehlt. Die Idee des Sparens wurde auch<br />
von einer „Pfennigkasse“, einer „Armen- und Kindersparkasse“<br />
gefördert. Initiator und Motor dieser Sparkasse<br />
war 1882 in <strong>Reichelsheim</strong> Pfarrer Kayser, während<br />
die politische Gemeinde sich von dieser Institution gar<br />
nicht begeistert gezeigt haben soll und auch darauf verwies,<br />
daß der „Vorschuß- und Creditverein“ schon Spar-<br />
. 129
einlagen von 1 Mark annähme. Pfarrer Kayser setzte<br />
sich aber durch, veranstaltete sogar eine - wenig erfolgreiche<br />
- Kollekte in der Kirche, um Mittel für die<br />
Sparbücher zu haben. Und er sollte auf Erfolge verweisen<br />
können: Ende 1883 betrug das Gesamtvermögen<br />
schon 4448,60 Mark und Ende 1884 gar 5602,88 Mark -<br />
zusammen addiert aus vielen kleinen Pfennigbeträgen<br />
von Armen und z. T. auch Kindern. Angelegt wurde<br />
dieses Geld natürlich bei dem <strong>Reichelsheim</strong>er „Vorschuß-<br />
und Creditverein“.<br />
Daß zum Ende des Jahrhunderts die Zahl der Auswanderer<br />
nachließ, mag auch in der Tatsache seine Ursache<br />
haben, daß es durch die Eisenbahnlinie Friedberg<br />
- Nidda vielen eher möglich war, in einem größeren<br />
Umkreis Arbeit anzunehmen. Über die Schaffung<br />
der Eisenbahnlinie von Friedberg her war über viele<br />
Jahre diskutiert worden. 1880 fanden Vermessungen<br />
für eine Streckenführung Friedberg-Echzel1-Laubach<br />
statt, die sich zerschlugen, allerdings 1884 erneuert<br />
wurden. Inwieweit <strong>Reichelsheim</strong> angebunden werden<br />
sollte, war dabei nicht klar. 1885 wurden Pläne für eine<br />
Streckenführung Echzell - <strong>Reichelsheim</strong> - Melbach -<br />
Dorheim - Friedberg entworfen. 1892 waren schließlich<br />
die Arbeiten der endgültigen Streckenführung abgeschlossen:<br />
nicht mehr Laubach war Zielort der von<br />
Friedberg her kommenden Dampflok, sondern Nidda.<br />
Damit war zugleich das Postkutschenzeitalter für <strong>Reichelsheim</strong><br />
vorbei (<strong>Reichelsheim</strong> lag an der Postkutschenstrecke<br />
Frankfurt ~ Assenheim - Echzell - Nidda<br />
- Lauterbach). Noch heute ist die Zugverbindung nach<br />
Friedberg und Nidda für unseren Ort von großer .Bedeutung.<br />
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Schulklasse mit Lehrer Adam Schäfer vor dem Kirchhof in <strong>Reichelsheim</strong>; Aufnahme aus dem Jahre 1904<br />
130
Doch das Leben der Menschen unseres Ortes war<br />
nicht nur von lokalen Ereignissen geprägt. Wie schon in<br />
der Einführung zu diesem Kapitel ausgeführt, begann zu<br />
jener Zeit die Epoche des Nationalismus, ja: die Epoche<br />
der nationalen Euphorie - auch hier in <strong>Reichelsheim</strong>!<br />
„Am 25. Oktober 1870“, so kann man im Kirehenbuch<br />
lesen, „sah man hier ein prachtvolles, weit ausgedehntes<br />
Nordlicht, dem am folgenden Tage furchtbare Stürme<br />
folgten“ (s. S. 240). Während jenes Oktobers stand<br />
Deutschland mit Frankreich schon im Krieg. Es ging zwischen<br />
Frankreich und Preußen, zwischen Napoleon und<br />
Bismarck um die I-Iegemonie in Europa. Preußen gewann<br />
- und es gewann nicht nur erstmals die Unterstützung<br />
der süddeutschen Fürsten und Könige, es gewann<br />
die nationale Sympathie - und schließlich die Kaiserkrone<br />
des neugegründeten deutschen Reiches, des sogenannen<br />
Zweiten Reiches.<br />
Auch die <strong>Reichelsheim</strong>er empfanden nun Preußen als<br />
„Vorreiter der deutschen Sache“, sahen den Krieg als<br />
„gerechten Krieg“, beteten jeden Mittwochnachmittag<br />
in einem besonderen Gottesdienst im „Hause des Herrn<br />
aller Herrn“ zum „König aller Könige“: „Wie an allen<br />
Orten so war auch hier die Begeisterung für die gerechte<br />
Sache des Vaterlandes groß und allgemein, und ebenso<br />
auch die Teilnahme und Mithülfe zur Unterstützung der<br />
Soldaten im Felde und der Kranken und Verwundeten“<br />
(s. Kirehenbuch S. 242). Geld, Lebensmittel, Heu und<br />
Stroh wurden gesammelt und weitergeleitet. Geschenkpakete<br />
wurden vor allem an die gezogenen Soldaten aus<br />
<strong>Reichelsheim</strong> selbst geschickt: an die Söhne der Nohls<br />
und Kornmanns, der Coburger und Eckholds, der Schäfers<br />
und Sprengels, der Schnells und Schutts; an die Söhne<br />
der Heß” und Beilsteins, der Klotz” und Dörrs, der<br />
Stephans und Gerlachs, der Vogts und der Kreilings,<br />
aber auch an die der Nagels und Schmidts, der Vonder-<br />
REKJHELSHEIM (Wetterau)<br />
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Ansichtskarte des Jahres 1914 vom Kriegerden./(mal<br />
heits und Kratz°. 25 junge <strong>Reichelsheim</strong>er standen an der<br />
Front, weitere waren in Kasernen als Reserve bereit zum<br />
Einsatz. Viele Familien waren betroffen von diesem<br />
Krieg, der Deutschland schließlich einte, ein Krieg, der<br />
kein Bruderkrieg mehr war, für den man in früheren Generationen<br />
die Söhne ziehen lassen mußte.<br />
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131
Am 3. März 1871 feierten die <strong>Reichelsheim</strong>er den<br />
Sieg, den Frieden mit Glockengeläut, Ansprachen, Musik<br />
und Umzug.<br />
Die Feiern im Andenken des Sieges wurden nahezu<br />
jährlich wiederholt. Der Ort zeigte sich im Flaggenschmuck;<br />
ein Umzug durch die Straßen, als dessen „Attraktion“<br />
jeweils der 1874 gegründete „Kriegerverein“<br />
hervorstach, war „obligatorisch“; die Kinder hatten<br />
schulfrei, durften sich allerding in allen Sparten der körperlichen<br />
„Ertüchtigung“ ihren Eltern präsentieren; patriotische<br />
Lieder wurden gesungen und durchklangen<br />
den ganzen Ort . . .<br />
1886 erhielt der Kriegerverein gar eine Fahne, die<br />
durch den Geistlichen in würdevoller Form geweiht wurde.<br />
Und 1909 wurde beschlossen, 1910 aus Anlaß der<br />
40. Wiederkehr des „denkwürdigen Krieges“ ein Kriegerdenkmal<br />
in <strong>Reichelsheim</strong> zu errichten.<br />
Als am 9. und 10.Juli 1910 das „Kriegerfest“ (Bezeichnung<br />
aus dem Kirehenbuch) zur Einweihung des Denkmals<br />
gefeiert wurde, hielt der damalige Pfarrer Vogel<br />
eine wohl zeit-typische Ansprache, die er in ihrem Kern<br />
in einem Zeitungsartikel wiederholte. Er „mahnte dabei<br />
zu Treue gegen Kaiser und Reich. . . Möge das Denkmal,<br />
das wir inmitten der Gemeinde für unsere toten und lebenden<br />
Veteranen gesetzt haben, uns stets an die Treue<br />
mahnen, die wir bis zum Tode unserem Vaterlande und<br />
dem Hergott dort oben schuldig sind.. . Die Treue und<br />
die Liebe zum Vaterlande über allesl“<br />
Das Denkmal bezeichnete Pfarrer Vogel in seiner Ansprache<br />
„als ein Werk, das uns (= seiner Generation)<br />
zeigt, was uns Deutsche wirklich deutsch und groß gemacht<br />
und den zukünftigen Geschlechtern eine heilige<br />
Mahnung, unserem Vaterlande die Treue zu halten,<br />
Treue bis zum Tode und Liebe bis zum letzten Hauch“<br />
(s. Kirchenbuch, S. 393 f.).<br />
Die vom <strong>Reichelsheim</strong>er Pfarrer gewählte Sprache<br />
wies auf die Zukunft: sie ließ ahnen, daß nach jedem<br />
Wetterleuchten, mag es noch so prachtvoll sein wie das<br />
von 1870, Stürme und vernichtende Unwetter kommen.<br />
Der sich abzeichnende kommende Krieg, in den an<br />
manchen Orten die jungen Menschen blumengeschmückt<br />
geschickt wurden, wurde ein schmerzvoller,<br />
schrecklicher Krieg, schrecklicher als jeder Krieg<br />
zuvor. Manch ein <strong>Reichelsheim</strong>er kehrte aus ihm<br />
nicht wieder in die Heimat zurück, hinterließ Frau und<br />
Kinder.<br />
132
9 Das 20. Jahrhundert<br />
a) Die Ruhe vor dem Sturm<br />
Dieses Jahrhundert, unser Jahrhundert, sollte <strong>Reichelsheim</strong><br />
durcheinandersch ütteln, wie viele andere Gemeinwesen<br />
in Deutschland und Europa auch. 1911:<br />
Zunächst schlief dieser Ort noch seinen „Dornröschenschlaf“,<br />
lebte in einer abgeschlossenen Welt, verhıelt<br />
sich so, als sei die alte Landwehr rund um die Gemarkung<br />
noch immer Schutz vor radikalen Veränderungen<br />
ım sozialen und wirtschaftlichen Bereich.<br />
Natürlich wurde auch in <strong>Reichelsheim</strong> vieles verwirklıcht,<br />
was die Erkenntnisse und Erfindungen der damali- 1912.<br />
gen Zeit möglich und nötig machten:<br />
1909 <strong>Reichelsheim</strong> erhielt ein Wasserleitungssystem,<br />
was vielfach zu Umbauten in den Häusern führte<br />
(Bad/WC). Die alten Brunnen, früher täglicher<br />
Treff der Menschen, wurden stillgelegt.<br />
<strong>Reichelsheim</strong> erhielt ein neues Spritzenhaus, um<br />
den Brandschutz besser gewährleisten zu können.<br />
- Es wurde eine neue Amts-Apotheke gebaut,<br />
was der Gesundheitsfürsorge zugute kam.<br />
- Nach Abriß des alten nassauischen Amtshauses<br />
wurde an gleicher Stelle ein Lehrerwohnhaus errichtet,<br />
was den Ort für qualifiziertes Lehrpersonal<br />
attraktiver machte.<br />
Das alte Pfarrhaus wurde durch ein neues an gleicher<br />
Stelle ersetzt, was dazu führte, daß nun die<br />
Pfarrer nicht nach wenigen Jahren um Versetzung<br />
nachsuchten.<br />
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1912/ Im Sommer 1912 wurden die Arbeiten zur Versor-<br />
1913: gung der Gemeindestraßen und der Häuser mit<br />
Elektrizität begonnen. Den Strom lieferte das<br />
neue „Elektrizitätswerk der Provinz Oberhessen“<br />
in Wölfersheim. „Am l0. Juli 1913 brannte zum<br />
ersten Male Licht in <strong>Reichelsheim</strong>, am 11.Juli waren<br />
abends zum ersten Male die Ortsstraßen erleuchtet“<br />
(s. Kirchenbuch, S. 425).<br />
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„Ich scheide von <strong>Reichelsheim</strong> mit herzlichem Dank<br />
für die vielen Erweise treuer Anhänglichkeit und Liebe<br />
von seiten der Gemeindemitglieder und bitte Gott, daß<br />
er die Gemeinde <strong>Reichelsheim</strong>, die keinen Mangel an irdischen<br />
Gütern hat, auch reich mache an himmlischen<br />
Gütern durch Christus.“<br />
Politisch verhielt man sich, gemäß der eigentumsbezogenen<br />
Interessenlage, nationalkonservativ bzw. nationalliberal,<br />
sobald ein überregionales Parlament zu wählen<br />
war. Lokal bestimmte die Landwirtschaft die Geschicke,<br />
sie stellte die Bürgermeister, wenn dies auch<br />
nicht immer ohne Streit abging. So berichtet das Kirehenbuch<br />
über die Bürgermeisterwahl des Jahres 1903<br />
folgendes (s. S. 351):<br />
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Spritzenhaus, gegemíiber dem Rathaus<br />
an der Kirchhofmauer<br />
Obwohl dic meisten Pfarrer einen starken Einfluß auf<br />
die Gemeindemitglieder hatten: nicht immer waren sie<br />
in jener Zeit mit ihren „Schäfchen“ zufrieden, denn besonders<br />
kirchentreu bzw. freundlich scheinen sie, vor allem<br />
die Verantwortlichen, nicht immer gewesen zu sein:<br />
Pfarrer Fischer schied 91905 aus <strong>Reichelsheim</strong> mit folgendem<br />
Kirchenbucheintrag:<br />
Rinder aufdem Hof Maley, Neugasse.<br />
Rechts besonders stark gebaute Fahrbullen<br />
(Aufnahme am 1920)<br />
134
„Den 22ten August fand Bürgermeisterwahl statt. Mit<br />
Spannung war man diesem Tag entgegengegangen, standen<br />
sich doch zwei ziemlich gleich starke Parteien gegenüber,<br />
die bezeichnender Weise die ›Nassen< und die<br />
›Trockenen< genannt wurden. Diese Benennung ist<br />
nicht, wie man annehmen könnte, auf größeren oder geringeren<br />
Alkoholverbrauch zurückzuführen, sondern<br />
auf die Wiesenbewässerung, welche von den einen angestrebt,<br />
den anderen aber bekämpft wurde.<br />
Das Resultat der Wahl war: Bürgermeister Steten 75,<br />
Karl Schmid II. 69, Schlosser Nohl 14 Stimmen. Da eine<br />
absolute Majorität von keinem Kandidaten erzielt worden<br />
war, mußte die Stichwahl entscheiden. Dieselbe<br />
wurde am 5ten September vorgenommen und ging aus<br />
derselben der seitherige Bürgermeister mit 89 Stimmen<br />
(gegen 80) siegreich hervor.<br />
Es ist nur zu bedauern, daß durch die Wahlagitation in<br />
unsere Gemeinde Uneinigkeit und Streit gebracht worden<br />
sind und daß vielfach die Bande der Freundschaft, ja<br />
der Verwandschaft durch die unselige Wahl zerrissen<br />
worden sind. Wann wird der Friede wieder bei uns einkehren?<br />
Wie`s jetzt ist, ist es äußerst betrübend.“<br />
Bei den Reichstagswahlen standen die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
nahezu geschlossen hinter dem jeweils konservativen<br />
Kandidaten, z. B.:<br />
1898: Wahlkreis <strong>Reichelsheim</strong><br />
Graf Oriola (Nat.-Lib.) 61,12 % 84,97 %<br />
Prinz (SPD) 38,88 % 15,03 %<br />
Bei der Reichstagswahl 1910 sollte der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Pfarrer Vogel (s. Schluß des vorigen Kapitels) gar Kandidat<br />
für die Nationalliberalen im heimischen Wahlkreis<br />
werden, was er aus Gewissensgründen allerdings ablehnte.<br />
Daß bei jener Wahl erstmals ein Sozialdemokrat den<br />
hiesigen Wahlkreis Friedberg/Büdingen gewinnen konnte,<br />
kommentierte Pfarrer Vogel im Kirehenbuch mit folgenden<br />
Worten (s. S. 396):<br />
„So zieht also ein Sozialdemokrat für unseren Wahlkreis<br />
in den Reichstag. Man sieht, wie die Verbitterung<br />
die Massen blind macht.“ ln <strong>Reichelsheim</strong> hatte der Sozialdemokrat<br />
nur wenig Sympathie gewinnen können:<br />
Sein Gegenkandidat erhielt mehr als Dreiviertel aller<br />
abgegebenen gültigen Stimmen.<br />
l lau 1Jt.~'atı'a:-zsı.<br />
Hauptstraße von <strong>Reichelsheim</strong> im Jahre 1912<br />
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Røichøløhøim<br />
LW<br />
135
9. b) Der erste große Krieg<br />
„Es lag im Laufe der letzten Jahre eine gewisse Kriegsstimmung<br />
auf den Völkern Europas. In der Gemeinde<br />
glaubte man nicht daran“, schrieb Pfarrer Vogel, jener<br />
Mann,<br />
- der 4 Jahre zuvor bei der Einweihung des Kriegerdenkmals<br />
dieses Bauwerk „den zukünftigen Geschlechtern<br />
als... heilige Mahnung unserem Vaterlande<br />
die Treue zu halten, Treue bis zum Tode und<br />
Liebe bis zum letzten Hauche“ vorstellte;<br />
- der bei gleicher Gelegenheit „an die deutschen Frauen<br />
und Jungfrauen“ die Bitte gerichtet hatte, „daß<br />
der echt deutsche Geist immer mehr die Leute erfasse<br />
und durchdringe“;<br />
- der dabei die Jugend an die Leistungen der Veteranen<br />
erinnerte, diese ihnen zum „leuchtenden Vorbild“<br />
empfahl, und sie aufforderte, im entscheidenden<br />
Moment wie jene 1870/71 nach der Parole „Sieg<br />
oder Todl“ dem Feind entgegenzustürmen (s. Kirchenbuch,<br />
S. 394/5).<br />
Um die Stimmung im damaligen <strong>Reichelsheim</strong> zu<br />
verdeutlichen, soll Pfarrer Vogel als wesentlicher Meinungsführer<br />
der Bürgerschaft zitiert werden<br />
(s.S.43lff.): „Als am 28. Juli (Dienstag) von Osterreich-Ungarn<br />
an Serbien der Krieg erklärt wurde, wurde<br />
die Spannung, die auf den Gemütern lag, entsetzlich. Da<br />
kam plötzlich die Entladung. Freitag, den 31. Juli, um<br />
6'/2 Uhr, traf uns dahier die Nachricht, daß der<br />
Kriegszustand über Deutschland<br />
verhängt worden sei. Es solle sofort öffentlich in der Gemeinde<br />
verkündet werden durch Trompetensignale oder<br />
Glockengeläute. Junge Männer eilten auf den Turm und<br />
läuteten alle Glocken. Die ganze Bewohnerschaft, auch<br />
die im Felde draußen, kamen, und am Rathaus wurde<br />
von Bürgermeister Karl Schmid die ernste Nachricht verlesen.<br />
Solch eine erschütternde Kunde konnten viele<br />
nicht glauben. Da erfolgte am Samstag, dem 1. August,<br />
auch um 6'/2 Uhr, die Verkündung der Mobilmachung.<br />
Die Leute, besonders die Wehrfähigen, sammelten sich<br />
wieder am Rathaus. Das Lachen war vielen vergangen.<br />
Manches blasse Gesicht kündete innere Kämpfe an. Eine<br />
Anzahl sagte: ,Bis Kirmeß sind wir wieder daheim“ (dem<br />
10. Oktober). Dr. Bun und ich sagten, daß dieser Krieg,<br />
wo wir so viele Feinde hätten, 1'/2 bis 2 Jahre dauern<br />
könnte, was niemand glauben wollte.<br />
Durch Anschlag am Rathaus setzte ich sofort auf<br />
Sonntag, den 2. August, einen Kriegsgottesdienst mit<br />
heiligem Abendmahl fest. ...Zum heiligen Mahl gingen<br />
65 Männer (Krieger) und 39 Frauen. Diesem ersten Todesmahl<br />
folgten am Mittwochabend um 9 Uhr wiederum<br />
71 Gäste in der Kriegsbetstunde, die von mir vom 5. August<br />
an regelmäßig gehalten wurde. Diese Kriegsbetstunden<br />
waren anfangs stets gut besetzt. . .<br />
Die seelische Not und Angst trieb in die Kirche. Am<br />
1. Kriegssonntag fanden 2 Kriegstrauungen statt. Die<br />
Ernte mußte heimgebracht werden. Die meiste Frucht<br />
stand noch auf dem Halm. Da mußte auch Sonntags<br />
gearbeitet werden, wie die Regierung befahl und viele<br />
taten.<br />
Unsere Bahnen (Eisenbahnen) liefen nur noch fürs<br />
Militär. Nur 1 Zug ging vormittags 9 Uhr und kam<br />
abends 9 Uhr zurück. Täglich fuhren unsere Krieger<br />
nach ihrem Gestellungsbefehl fort von uns. Ich begleitete<br />
die meisten bis Friedberg und ging zu Fuß heim. Man<br />
konnte aus Liebe zu seinem Vaterland alles.<br />
Es gab auch sehr herzpackende Szenen. Besonders<br />
war Mittwoch, der 5. August, für die meisten unserer<br />
Krieger der Abschiedstag. Sie alle versammelten sich an<br />
unserem Kriegerdenkmal um 1/2 9 Uhr. Der Musikverein<br />
spielte: ›Jesus, meine Zuversicht< und ›Mein Heiland ist<br />
im Leben
Ansprache, dann zog ein langer Zug zum Bahnhof. Voran<br />
der Musikverein, dann ich vor meinen lieben Kriegern,<br />
und dann folgten die Angehörigen: ernst. sehr<br />
ernst-, manche weinend. Unvergcßlich ist mir der Augenblick,<br />
als Albrecht Ulrich sein Kind am Bahnhof noch<br />
einmal in die Höhe hob und küßte. Zum letzten Mal,<br />
denn Ende Oktober fiel er.<br />
Rauhc Krieger befahlen mir ihre Frauen und Kinder<br />
an, wenn sie draußen sterben müßten. Das waren Erschütterungenl“<br />
Pfarrer Vogel organisierte sogleich alles Notwendige,<br />
um ein Verwundetenlazarett im Pfarrhaus einrichten zu<br />
können. Auch der Apotheker stellte Räumlichkeiten in<br />
seinem Hause zur Verfügung. Die Einwohner <strong>Reichelsheim</strong>s<br />
und der umliegerıden Ortschaften spendeten, was<br />
nur möglich war. Um die Spendenfreudigkeit anzuregen,<br />
veröffentlichte der Pfarrer die Namen der Spender mit<br />
ihren Spenden - mit Erfolg.<br />
Durch die Verwundeten, die ersten kamen bereits am<br />
5. September 1914 (1) hierher zur Pflege, wurden die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Zeuge des Elends des Krieges. Manch eine<br />
Erzählung der Kranken mag eine Mutter. einen Vater,<br />
eine Ehefrau die Angst um das Leben ihres Angehörigen<br />
verstärkt haben.<br />
Wie der seelische Zustand der zurückgebliebenen<br />
Menschen war, zeigt die Schilderung von Pfarrer Vogel<br />
bezüglich der Spionagefurcht (s. 441): „Wir müssen<br />
noch einmal zu den Augusttagen zurückkehren. Was<br />
gab`s da für seelischen Wirrwarrl Vor allen Dingen trat<br />
krankheitsähnlich eine Spionagefurchtí ein. Es wurde<br />
auch behördlich geglaubt, daß von Frankreich her Automobile<br />
ınit Gold nach Rußland unterwegs seien. Jedes<br />
.„›.¬.... -<br />
Die <strong>Reichelsheim</strong>er /l//iinner<br />
ziehen in den Ersten Weltkrieg -<br />
Abschied am Bahnhof<br />
der Gemeincle (5. August 1 914) -<br />
(Besitz der Familie Diel)<br />
137
Automobil wurde angehalten. Auch in unserer Gemeinde<br />
wurden an den Ortsausgängen Schlagbäume errichtet,<br />
wo die zurückgebliebenen Männer bis zu 60 Jahren<br />
Tag und Nacht Wache standen und jedes Fuhrwerk und<br />
Auto anhielten und untersuchten. Alle alten Gewehre<br />
und Flobert (= leichte Handfcuerwaffe, benannt nach<br />
seinem Erfinder, dem Franzosen N. Flobert) wurden instand<br />
gesetzt, um sich wehren zu können.“<br />
„. . . Auch sollten Feinde versuchen, Brunnen zu vergiften,<br />
deshalb wurde die Wasserleitung bei Bisses gewissenhaft<br />
besetzt. Die Feuerwehr wurde deshalb eines Tages<br />
alarmiert. Auch hatte ›man< aıı einem Augusttage gesehen,<br />
wie sich jemand am Haus des elektrischen Lichts<br />
bei der Gänsweide (beim heutigen Kindergarten) zu<br />
schaffen mache. Voller Wut und Zorn eilen Männer und<br />
Frauen mit Gabeln, Stöcken und Steinen bewaffnet dorthin.<br />
Doeh trotz alles Forschens ist nichts Verdächtiges<br />
mehr zu sehen.<br />
Die seelische Erregung war furchtbar in diesen Tagen<br />
der Volksnot! Der Aberglaube fand dabei allenthalben<br />
Einfluß. Die meisten Soldaten, die ins Feld zogen, hätten<br />
›Himmelsbriefe< um, so versicherte man mir. Ein solcher<br />
Brief kam auch eines Tages mit den anderen Sachen<br />
eines Gefallenen von <strong>Reichelsheim</strong> blutig zurück - er<br />
hatte also nicht vor dem Tode schützen können“ (s. Kirchenbuch,S.443)<br />
So wurden die schlimmen Konsequenzen dieses Krieges<br />
auch in <strong>Reichelsheim</strong> deutlich: „Das Schlimmste,<br />
was uns aber in diesen schweren Zeiten traf, waren die<br />
Gefallenennachrichten. Wir konnten`s nicht glauben.<br />
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1 9/5: Jugendwehr bei der<br />
vormilitcirischen Erziehung<br />
im Garten der Gaststätte<br />
„Zur Post“<br />
138
Zuerst kamen Briefe, Pakete zurück mit dem Vermerk:<br />
Gefallen! Verwundet! oder Vermißt! Auch das andere<br />
Wort: Gefangen! Das waren furchtbare Tage und Wochen<br />
für die Angehörigen und uns. 1914 hatten wir 5 Gefallene<br />
und 2 Vermißte sowie einen Gefangenen zu beklagen“<br />
(s. S. 443 f.).<br />
Daß Krieg herrschte, das merkten die Menschen auch<br />
sehr schnell an den steigenden Preisen. lm Frühjahr 1915<br />
wurden bereits die ersten Lebcnsmittelkarten ausgegeben.<br />
„Wir ahnten damals noch nicht, was das Gespenst<br />
des Hungers noch alles über unser deutsches Volk bringen<br />
würde“ (s. S. 455).<br />
Doch schon ein Jahr später werden in den Städten die<br />
Lebensmittel knapp. Die Preise erreichen unvorstellbare<br />
Höhen. Den Bauern wird untersagt, ohne Genehmigung<br />
Hausschlachtungen vorzunehmen -ihre eigenen Vorräte<br />
werden amtlich erfaßt, damit kein Schwarzhandel möglich<br />
wird. Selbst das Obst im eigenen Garten wird amtlich<br />
geschätzt, und es ist den Besitzern nicht erlaubt, über die<br />
Ernte frei zu verfügen.<br />
Und immer wieder kommen die schlimmen Nachrichten<br />
von der Front: Gefallen! Vermißt! Gefangen! Verwundet!<br />
„Seit Ende Februar (1916) tobt die Schlacht bei Verdun<br />
_ . . Der Kanonendonner ist so stark, daß wir ihn hier,<br />
besonders nachmittags, genau hören konnten“ (s. S.<br />
461).<br />
„Es wurden immer mehrjunge und alte Leute eingezogen,<br />
daneben wurden viele Urlaubsgesuche und Reklamationen<br />
eingereicht. .. Es gab da manches Unwahrhaftiges<br />
in diesen Gesuchen. Hierdurch entstand Unzufriedenheit<br />
bei den andern, die Jahr für Jahr im Felde stehen<br />
mußten“ (s. S. 463).<br />
In diesem Zusammenhang machte Pfarrer Vogel aber<br />
folgende Bemerkung: „Es muß freilich aber auch anerkannt<br />
werden, daß durch die Einberufungen sehr große<br />
Lücken entstanden sind. Die ganze Arbeit liegt auf den<br />
Schultern von alten Leuten, die sich vielfach schon zur<br />
Ruhe gesetzt hatten, oder auf den Schultern der Frauen.<br />
Wir haben unter den Frauen manche Heldin aufzuweisen.<br />
So manche ist unter ihrer Last zusammengebrochen,<br />
aber sie mußte weiter schaffen“ (s. S. 464).<br />
Wegen der Knappheit an Rohstoffen mußten alle<br />
Haushaltungen, auch die in <strong>Reichelsheim</strong>, alle Wertstoffe,<br />
Kupfer, Zinn, Zink, Eisen, die irgendwie entbehrlieh<br />
waren, abliefern. Manches Erinnerungsstück wurde anschließend<br />
eingeschmolzen, um Kanone oder Kugel zu<br />
werden. Selbst 37 Zinnpfeifen der Orgel der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Kirche mußten in Friedberg abgeliefert werden,<br />
ebenso eine der Glocken und das kleine Glöckchen am<br />
Rathaus, das „Siegfriedsglöckchen“, das einst der<br />
Schlosser Siegfried Vogt gespendet hatte.<br />
ln <strong>Reichelsheim</strong> wurde es stiller.<br />
1 914: Verwanclete des Ersten Weltkrieges vor<br />
dem Pfarrhaus, in dem Pfarrer Vogel (links) ein<br />
Genesungs-Lazarett eingerichtet hatte<br />
139
Da es in anderen Teilen Deutschlands den Menschen,<br />
vor allem den Kindern, viel schlechter ging, wurden ab<br />
1917 Kinder in <strong>Reichelsheim</strong> aufgenommen: 39 kamen<br />
aus dem Industriegebiet Westfalens hierher.<br />
Und die Preise stiegen weiter, und damit nahm für viele<br />
der Hunger zu:<br />
„Ein furchtbarer Feind, der Hunger, hatte sich in den<br />
Städten eingestellt. Es wurden vom Kreisamt im Januar<br />
die Kartoffeln in den Kellern abgeschätzt, da im Lande<br />
die Kartoffeln sehr knapp waren. In den Städten lebten<br />
die meisten Menschen von Steckrüben (Kohlraben). Bei<br />
uns war die Kartoffelernte recht gut gewesen. Alle Milch<br />
mußte an die Molkerei abgeliefert werden. Vollmilch erhielt<br />
man nur noch gegen ärztliches Zeugnis, ausgenommen<br />
Kinder unter 6 Jahren. Eine Menge Menschen kamen<br />
täglich aus den Städten, um Kartoffeln u. v. m. sich<br />
zu holen. Bleiche, abgehärmte Gesichter“ (s. S. 469).<br />
Ein wenig weiter lesen wir, das Jahr 1917 betreffend, im<br />
Kirehenbuch: „Die Lebensmittelnot nahm in der Stadt<br />
bedrohlichste Formen an: 30-40 Leute, besonders größere<br />
Kinder und Frauen, auch ältere Männer betteln um<br />
Kartoffeln und Brot. An einem Sonntag Morgen, als der<br />
Zug eingefahren war, zählte ich auf der Straße vom<br />
Pfarrhaus nach dem Bahnhof etwa 150 Menschen, die<br />
›hamstern< wollten - mußten. Viele aus besseren Ständen<br />
sind darunter gewesen“ (s. S. 471).<br />
Und dann notierte der <strong>Reichelsheim</strong>er Pfarrer<br />
(s. S. 478): „Die Not greift immer mehr um sich, der<br />
Hunger stellt sich ein bei vielen, die nicht Landwirt<br />
sind. Leider gibt`s Bauernfamilien, die genauso fett und<br />
gut leben als in Friedenszeiten“ (s. S. 478). Wer sich<br />
selbst versorgen wollte, der mußte Anfang 1918 feststellen,<br />
daß ein Ferkel 140-150 Mark, ein Gänschen aus<br />
dem Ei 7 M., ein Entehen 5 M. - Preise, die viele abschreckten.<br />
Als sich das Ende des Krieges zeigte, begann die „Moral“,<br />
die Widerstandskraft der Menschen zu sinken. „Es<br />
ist vom September an furchtbarste Zeit für uns. Die<br />
größte Niedergeschlagenheit bricht sich Bahn, der Krieg<br />
dauert zu lange. Ich hörte Worte wie: ›Gebt den Franzosen<br />
doch alles, was sie haben wollen, damit das Gemetzel<br />
und das Elend aufhört.< Ach, die Heimat wankt und die<br />
Front draußen ist vielfach entblöst. - In der Etappe sitzen<br />
viele und mästen sich. Die Moral ist dahin. Der Krieg<br />
gilt als verloren“ (s. S. 481). „Armes Deutschland! Was<br />
wird werden? Unser Volk fühlt sich von seinen Führern<br />
betrogen, auch von denen ganz oben!! - Die Not wird<br />
größer. Die Revolution bricht aus! Der Kaiser flieht nach<br />
Holland! entsetzlichl“ (s. S. 481).<br />
Kurz danach, am Ende des Jahres 1918, als die Soldaten<br />
nach dem harten Waffenstillstand umgehend aus<br />
dem Frontbereich nach Osten, nach Deutschland, verlegt<br />
werden mußten und auch hier in <strong>Reichelsheim</strong> viele<br />
Einheiten Station machten, waren die Zuhausegebliebenen<br />
entsetzt über das Verhalten der Soldaten. Jene verkauften<br />
auf eigene Kappe die Pferde und die Sättel oder<br />
andere Gegenstände, an denen Interesse bestand. Statt<br />
die Pferde zu füttern und zu bewachen, tanzten sie in den<br />
Gasthäusern bis in den Morgen hinein. „Alle Laster walten<br />
freil“<br />
Vielen <strong>Reichelsheim</strong>er Familien war es wirklich nicht<br />
zum Lachen oder Tanzen zumute: 30 der 130 Soldaten,<br />
die der Pfarrer einst an den Bahnhof von <strong>Reichelsheim</strong><br />
geleitet hatte, kehrten nicht wieder zurück - weitere waren<br />
für den Rest ihres Lebens gezeichnet, hatten an den<br />
Verwundungen schwer zu tragen.<br />
Ehrentafel der Gefallenen und Überlebenden<br />
(han.dschrifllich.e Veränderungen. durch A. Nohl)<br />
140
Der Krieg, der als 1. Weltkrieg in die<br />
Geschichte der Menschheit eingehen<br />
sollte, war ausgelöst und getragen von<br />
Haß; er war allerdings nicht in der Lage,<br />
auch eben diesen Haß zwischen denVölkern<br />
zu beenden. Der 1.Weltkrieg hatte<br />
neue Dimensionen der Kriegsführung<br />
eröffnet. hatte durch die neuen Waffen,<br />
die erstmals in ihm zum Einsatz gekommen<br />
waren - Giftgas, Flugzeuge, Panzer<br />
-, aus einem „Krieg der Heere“<br />
einen „Krieg derVölker“ gemacht. Und<br />
viele Menschen wollten nicht glauben,<br />
daß es an der Unterlegenheit der Deutschen,<br />
an Zahl untl Material gelegen<br />
hatte, daß im Oktober 1918 die kaiserliche<br />
Regierung aul` Bitten der Obersten<br />
Heercsleitung beim Gegner, beim<br />
Feind, uın Waffenstillstand nachsuchen<br />
mußte. Sie glaubten an „\/crrat“, weil<br />
dies am wenigsten der rationalen Erklärung<br />
bedurfte! Man wollte weiter glauben<br />
an solche Sätze, wie sie z. B. 8Jahre<br />
zuvor die geistlichen und weltlichen<br />
Würdenträger in <strong>Reichelsheim</strong> bei der<br />
Einweihung des Kriegerdenkmals ausgesprochen<br />
hatten: „Deutschland,<br />
Deutschland, über alles! Hurral“ oder:<br />
„Sieg oderTod!“<br />
<strong>Reichelsheim</strong> zog sich gedanklich<br />
wieder hinter seine alte Landwehr zurück.<br />
Der „Dornröschensch1af“, der<br />
Schlaf, der die Wirklichkeit mit ihren<br />
Notwendigkeiten vergessen ließ, begann<br />
von neuem.<br />
141
9. c) Eine ungeliebte Zwischenstation: Die Weimarer Republik<br />
Lehrer Keller, der seit 1928 während entscheidender<br />
Jahre in <strong>Reichelsheim</strong> wirkte, hat in seinem 1935 beendeten<br />
„<strong>Heimatbuch</strong>“ das Kapitel der Nachkriegszeit folgendermaßen<br />
begonnen (s. dort S. 67 f.):<br />
„Die Nachkriegszeit mit ihrem politischen und wirtschaftlichen<br />
Niedergang unseres lieben, deutschen Vaterlandes<br />
hat auch in <strong>Reichelsheim</strong> ihre Opfer gefordert<br />
und manchen an den wirtschaftlichen Zusammenbruch<br />
gebracht. Man muß aber den <strong>Reichelsheim</strong>ern lobend<br />
nachsagen, daß sie, trotz des sich überall breit machenden<br />
liberalistischen Gedankens, sich stets einen treuen,<br />
immer dem Vaterland dienenden Sinn bewahrten und<br />
die ›schwarz-weiß-rote< Fahne hochhielten (= die des<br />
Kaiserreiches im Gegensatz zu der republikanischen<br />
›schwarz-rot-goldenem Fahne). Kein Wunder, daß <strong>Reichelsheim</strong><br />
in den umliegenden marxistischen Dörfern als<br />
>ein rückschrittliehes Nest< verschrieen war.“<br />
Und Pfarrer Vogel beschrieb die Situation, wie er sie<br />
unmittelbar nach Kriegsende sah, wie folgt:<br />
„Die Revolution, wo jeder nach Belieben schalten<br />
konnte, zeigte den Menschen mit seinen niedrigsten lnstinkten.<br />
Die meisten haben die Kriegsopfer vergessen.<br />
Wenn sie nur tanzen und sich austoben können. Elender<br />
Verrat! ›Was sind wir gesunken! Wo ist die starke Hand,<br />
die uns führen könnte? Was wird aus Deutschland
ders in unserem kleinen Landstädtchen Auswirkungen<br />
zeigen.<br />
Das Leben der Einwohner hatte sich gegenüber der<br />
Zeit vor dem Kriege verändert. Die Staatsverschuldung,<br />
hervorgerufen durch den Krieg und seine Folgen, steigerte<br />
die schon während des Krieges begonnene starke<br />
Geldentwertung. Da die'Preise für die Lebensmittel<br />
schneller stiegen als die Löhne und Gehälter, gab es<br />
Streiks, die nach Einführung der Tarifautonomie nach<br />
dem Kriege erlaubt waren - für die Bewohner landwirtschaftlich<br />
geprägter Ortschaften etwas Fremdes, Unbegreifliches.<br />
Als 1919 auch wegen eines Bahnarbeiterstreiks der<br />
Bahnverkehr zwischen Friedberg und Nidda ruhte, zeigt<br />
der Pfarrer wenig Verständnis, bekämen sie doch bei<br />
rat<br />
Auch wenn die Zeiten. schlecht waren:<br />
Jubiläen der Vereine wurden gefeiert/<br />
I0. Juli 1920: Festzug zum 75ja`hrigen Bestehen<br />
des Gesangvereins „Liederkranz“<br />
(Foto im Original im Besitz der Familie Winter)<br />
gimıå<br />
einem 8-Stunden-Tag stattliche 370 Mark ausbezahlt. In<br />
seiner Entrüstung über den Streik vergaß er den Widerspruch,<br />
der ihm wenige Zeilen darunter mit der Mitteilung<br />
unterlief: „Die Preise für alle Lebensmittel steigen weiterhin.<br />
Ein Ferkel wird für 250-300 verkauft“ (s. S. 486).<br />
Wie schlecht insgesamt die Nahrungs- und damit die<br />
Gesundheitssituation im Winter 1919/1920 war, das verrät<br />
ein kleiner Hinweis des Pfarrers über die Folgen einer<br />
Grippe-Epidemie: „Im Monat Februar stand ich an 6 frischen<br />
Gräbern“ (s. S. 492).<br />
Daß die Stimmung bezüglich der demokratischen Republik<br />
in <strong>Reichelsheim</strong> wirklich schlecht war, beweisen<br />
Eintragungen in der Kirchenchronik zum sogenannten<br />
Kapp-Putsch im März 1920, mit dem Kapp und General<br />
Lüttwitz verhindern wollten, daß zumindest die Bestimmungen<br />
des Versailler Vertrages betreffend der Stärke<br />
der Reichswehr in Kraft treten würden. Diesen Putsch<br />
nannte Vogel eine „Gegenrevolution“. Und weiter äußert<br />
er, daß sich „viele wegen des seitherigen furchtbaren<br />
Elends und Niedergang Deutschlands“ freuten. Der<br />
Umsturz, an den viele <strong>Reichelsheim</strong>er demnach geglaubt<br />
hatten, fand nicht statt, Kapp flüchtete verkleidet und<br />
maskiert ins Ausland.<br />
Allerdings hatte dieser Putsch zur Folge, daß sich die<br />
großen Parteien in Berlin auf vorgezogene Neuwahlen<br />
zum Reichstag einigten. Sie fanden im Juni 1920 statt:<br />
Ergebnis:<br />
Partei<br />
<strong>Reichelsheim</strong> Reich<br />
DNVP 60,71 % 15,1 %<br />
DVP 13,33 % 14,0%<br />
DDP<br />
1,67 '% 8,4%<br />
Z + BVP (Bayr. Volkspartei) - 22,0 %<br />
SPD 9,52 % 21,6 %<br />
USPD<br />
14,76 '% 18,0 %<br />
KPD (Kommunistische Partei) - 2,0%<br />
143
Dreiviertel der Wählerschaft sprach sich in <strong>Reichelsheim</strong><br />
für die kaisertreue, autoritär-monarchistische<br />
DNVP bzw. die konservativ-monarchistische DVP aus.<br />
Nur jeder 10. Wähler stimmte für eine der Parteien, die<br />
Garanten der demokratischen Ordnung der Weimarer<br />
Republik waren.<br />
Dieser politische Rechtsruck wurde noch deutlicher in<br />
der Wahl zur „Hessischen Volkskammer“, also dem<br />
Hessischen Landtag, am 27. November 1921:<br />
Partei<br />
<strong>Reichelsheim</strong><br />
DNVP 10,44 %<br />
Hess. Bauernbund 57,18 %<br />
DVP 14,10 %<br />
Z 0,26 %<br />
SPD 16,16 %<br />
USPD -<br />
KPD 1,83 %<br />
Der hier als überragender Wahlgewinner aufgeführte<br />
„Hessische Bauernbund“ (seit 1927 „Hessischer Landbund“)<br />
hatte vor allem in unserem Oberhessen sein<br />
Machtzentrum. „Im Gegensatz zu anderen Gegenden<br />
Deutschlands trat diese berufsständische Organisation,<br />
deren Sitz Friedberg war und deren höhere Funktionäre<br />
größtenteils im Kreis Friedberg wohnten, im „Volksstaat<br />
Hessen“ (= ehemaliges Großherzogtum Hessen-Darmstadt)<br />
als Partei auf, die recht beachtliche Erfolge erringen<br />
konnte“ (s. „Hessen unterm Hakenkreuz“, S. 199).<br />
Der Bauernbund verstand sich als eine Interessenvertretung<br />
der in Oberhessen überwiegenden Klein- und<br />
Mittelbauern. Nahezu 80-90 % der evangelischen Bauern<br />
der Wetterau waren Mitglied des Verbandes.<br />
Der Hessische Bauernbund beeinflußte „über die verbandseigene<br />
›Neue Tageszeitung< ›durch hetzerische<br />
Attacken gegen die Landesregierung und die Koalitions-<br />
parteien (in Berlin) sowie durch die Verbreitung völkischer<br />
(= nationalistisch-rassistischer) Parolen< seine Anhänger<br />
in antirepublikanischer und antidemokratischer<br />
Weise und trauerte dem vergangenen Kaiserreich nach“<br />
(s. „Hessen unterm Hakenkreuz“, S. 210).<br />
Die Mitglieder der Reichsregierung wurden in der<br />
„Neuen Tageszeitung“ von Anfang der 20er Jahre an als<br />
„demokratisch-marxistisch-pazifistische Volksverräter“<br />
bezeichnet. Dr. Heinrich Leuchtgens, Leiter des Friedberger<br />
Lehrerseminars, der schon 1919 die Hessische<br />
Volkspartei als Gegengewicht zu der Arbeiterbewegung<br />
gegründet hatte und ab 1922 Fraktionsvorsitzender des<br />
Bauernbundes im Hessischen Landtag war, war einer der<br />
Wortführer. In einer seiner Schriften führte er aus, daß<br />
die schwache Stellung Deutschlands in Europa von den<br />
Regierungsparteien in Berlin durch ihre „internationale<br />
und pazifistische Einstellung, durch ihren unklaren Blick<br />
für die außenpolitischen Realitäten, durch ihre Nachgiebigkeit<br />
und winselnde Versöhnungsbereitschaft einem<br />
galligen, rachsüchtigen Frankreich gegenüber“ selbst<br />
verursacht sei. Leuchtgens forderte stattdessen: „Laßt<br />
uns den starken Staat schaffen! . _ .Laßt stahlharten Willen<br />
die Weichheit und Schlappheit des gegenwärtigen<br />
Regimes ablösenl“ (s. „Hessen unterm Hakenkreuz“,<br />
S. 212 f.). e<br />
Geprägt von diesen Ideen war <strong>Reichelsheim</strong>, waren<br />
seine Bewohner, wie nicht nur das oben angegebene<br />
Wahlergebnis oder die Bemerkungen der Pfarrer Vogel<br />
und Rühl (ab Ende 1922 hier tätig) im Kirehenbuch immer<br />
wieder zeigen. Die Aktivitäten des „Kriegervereins“,<br />
die zusätzlichen Gründungen eines „Frontkämpfer-Vereins“<br />
(1922) und einer Ortsgruppe „Stahlhelm,<br />
Bund der Frontsoldaten“ (1925) verweisen auf antirepublikanische<br />
und zugleich antidemokratische Anschauungen.<br />
Fahnen- oder Bannerweihen dieser Organisationen<br />
144
=<br />
wurden zu Ortsfesten - mit Gottesdienst, Ansprache,<br />
Musik, Umzügen und Tanz. Die Reden glichen in ihrem<br />
Inhalt sehr denen, die vor dem 1. Weltkrieg den Menschen<br />
schon zu Ohren gekommen waren.<br />
Die Gemeindesch wester Lisette Schneider mit<br />
ihrer Kinderschar, die sie nachtmittags betreute,<br />
während sie vormittags ihrer pflegerischen Arbeit<br />
in der Gemeinde nachging (aufgenommen vor<br />
Haus 13 in der Oberen Haingasse)<br />
Doch mit all dem Geschilderten ist nicht alles vom damaligen<br />
Leben in <strong>Reichelsheim</strong> berichtet: Es darf nicht<br />
vergessen werden, daß in jenen Jahren der SV 1920 <strong>Reichelsheim</strong><br />
bzw. der Schützenverein (1921) gegründet<br />
wurden. All diese Gründungen weisen daraufhin, daß<br />
ein besonderes Bedürfnis nach Zusammenhalt, nach Geselligkeit<br />
vorhanden war. Pfarrer Rühl waren allerdings<br />
diese Geselligkeiten zu viel, weil sie ihm zu ausgelassen,<br />
zu wenig begrenzt waren: „In das Jahr 1924 hinüber leitete<br />
eine Reihe von Vereinsfestlichkeiten, die fast jeden<br />
Sonntagabend besetzt hielten; wie es dann hier im Winter<br />
gilt, daß fast jeder Verein: Männergesangverein,<br />
Turnverein, Kriegerverein, Vogelsbergerhöhenclub<br />
(VHC), Land_jugendbund, Frontkämpferverein usw.<br />
sein Wintervergnügen oder gar zwei (der Männergesangverein<br />
mit 2 Konzerten) abhält. Da nun bei der Kleinheit<br />
des Ortes jeder zu jedem Verein gehört, bedeutet dieses<br />
fast regelmäßig ein Aufgebot der ganzen Gemeinde, und<br />
es wird dabei für Getränke und Toiletten unerfreulich<br />
viel Geld verpulvert, ganz abgesehen von anderen Schädigungen.“<br />
Dabei waren die Zeiten schlecht! Erst im November<br />
1923 hatte die Reichsregierung in Berlin eine Währungsreform<br />
durchgesetzt, die die Hyperinflation der Reichsmark<br />
beendete - eine Inflation, die viele Geldbesitzer<br />
enteignet, die die Arbeitnehmer hatte verzweifeln lassen,<br />
wenn sie als Tageslohn Milliarden und Billionen<br />
nach Hause bzw. ins nächste Lebensmittelgeschäft tru-<br />
Bauer Walther bei der Kartoffelernte (1929)<br />
' fIii:~.-A am - -: -<br />
fšfifii. .`Eı, ;<br />
ii-!l¦.Ü!z!=!`::!E "I-Elli<br />
4 vill: I! :¦" .iu<br />
Ii ›-.':;. `-<br />
I..<br />
145
gen; eine Inflation, die das Spekulantentum gefördert<br />
hatte und die die Großen in der Wirtschaft hatte größer<br />
und die Zahl der Kleinen geringer werden lassen!<br />
Die Landwirtschaft kam zwar mit einem „blauen Auge“<br />
davon, manche machten im Bereich des Tauschhandels<br />
sogar gute Geschäfte, doch war auch bei ihnen die<br />
Zukunftserwartung, die Hoffnung auf eine baldige Entschuldung<br />
des Besitzes getrübt.<br />
Doch das Leben ging weiter, und die Landwirte suchten<br />
durch weitere Drainierungen ihre Anbauflächen erneut<br />
zu verbessern. Im Jahre 1924 bildeten sie z. B. eine<br />
Wassergenossenschaft zur Entwässerung von Teilen der<br />
Fluren V, Vl, VII und X1.<br />
Und auch das Bauhandwerk bekam ab 1921, vor allem<br />
aber ab 1924 wieder etwas zu tun: Bis 1929 wurden 20<br />
verschiedene und verschiedenartige Bauanträge gestellt<br />
(Für die Zeit danach bis 1938 liegen keine Unterlagen im<br />
Archiv vorl). Besonders aktiv wurde in diesen „Goldenen<br />
Zwanzigern“ in der Straße nach Bingenheim gebaut<br />
(6 x); aber auch die Neugasse (3 x), die Kirchgasse (2 x),<br />
und die Straße nach Weckesheim (2 x) erlebten erkennbare<br />
Veränderungen.<br />
Bedeutend war auch, daß 1926 endlich der Weg nach<br />
Florstadt befestigt und damit zu einer Straße ausgebaut<br />
wurde. Dies geschah als staatlich geförderte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme,<br />
oder wie man damals sagte: im<br />
Rahmen der „praktizierten Erwerbslo_senfürsorge“.<br />
Eine besonders auffällige Veränderung betraf den<br />
Friedhof unserer kleinen Stadt. Der Weltkrieg hatte ein<br />
verändertes Bewußtsein zum Tod und den Toten geschaffen;<br />
auch die moderne Medizin ließ eine neue Einstellung<br />
zum Leben und Sterben aufl
men den Auftrag, die neugesetzten Bäumchen zu gießen<br />
und eine Reihe älterer Gräber - Pfarrgräber und dergl. -<br />
unter meiner Aufsicht zu säubern und zu pflegen. Die<br />
Folge dieses Vorgehens sahen dann auch eine ganze Reihe<br />
Privatleute sich veranlaßt, bisher verwahrloste Gräber<br />
wieder in Pflege zu nehmen. Auch die alten Amtmannsgräber<br />
aus der nassauischen Zeit sollen wieder in<br />
Pflege genommen werden, um die Erinnerung an die<br />
Vergangenheit der Gemeinde zu erhalten“ (s. Kirchenbuch,<br />
S. 533 f.).<br />
„Wie politisch“ und wie „kaisertreu“ („Schwarz-<br />
Weiß-Rot“) die <strong>Reichelsheim</strong>er waren, das zeigt eine<br />
nette Anekdote, die Pfarrer Rühl im Kirehenbuch vermerkte<br />
und die im Zusammenhang mit der Kirchenrenovierung<br />
des Jahres 1928 steht:<br />
„Schön ist auch gewesen, was mit dem hierunter in<br />
Maschinenschrift beigefügten Artikel aus der (sozialdemokratischen)<br />
›Oberhessischen Volkszeitung< zusammenhängt.<br />
Der Artikel schildert zwar die Sachlage nicht<br />
ganz richtig und vor allem ist die Zusammenstellung (an<br />
den Rippen des Mittelschiffes) nicht schwarz-rot-gold<br />
sondern blau-rot-gelb, aber schön war`s doch:<br />
›<strong>Reichelsheim</strong>. (Flaggenfrage, Kunst und Religion).<br />
Im kerndeutschen Städtchen <strong>Reichelsheim</strong> in der<br />
Wetterau wird zur Zeit die Kirche renoviert. Ein bekannter<br />
Darmstädter Kirchenmaler und Künstler führt<br />
die Arbeiten aus. Unter dem abgeschlagenen alten Verputz<br />
entdeckte er herrliche alte Malereien, die er in<br />
künstlerischer Form zu neuem Glanze erstehen ließ. Zufällig<br />
ergab sich dabei an einem dekorativ wirkenden<br />
Stück in der Mitte der Decke der harmonische Dreiklang<br />
der Farben Schwarz, Rot und Gold. Anstoß daran nahm<br />
weder Professor Walbe, der hessische Denkmalpfleger,<br />
noch der Ortsgeistliche. Die kunstsachverständigen Bauern<br />
jedoch dachten anders. Einen schwarz-rot-goldenen<br />
Erzengel im Zentrum ihrer Kirche? So etwas kann ein<br />
treudeutsches Herz nicht vertragen. Die Farben der Judenfahne<br />
dürfen nicht bleiben. Es gab Proteste, die Mittel<br />
zur Vollendung cler Arbeiten wurden verweigert. Der<br />
Künstler versuchte in einer Versammlung Aufldärung zu<br />
geben, sie wurde sabotiert; auch Vermittlungsversuche<br />
des Ortsgeistlichen und von anderer Seite halfen nichts!<br />
Der Unfug müsse aus der Kirche, sonst könnten sie nicht<br />
mehr hinein, erklärten die Bauern.<br />
Soweit steht die Sachejetzt; über den weiteren Verlauf<br />
darf man gespannt sein
Eine andere, allerdings „unpolitische“ Anekdote soll<br />
zugleich angefügt werden, steht sie doch auch im Zusammenhang<br />
mit der Kirchenrenovierung und verdeutlicht<br />
sie in gewisser Weise doch, die Stimmung im Ort:<br />
„Die Kirchenvorsteher Zinser und Coburger und ich<br />
gingen im Ort eine Hauskollekte erheben. Wir fanden<br />
überraschende Gebefreudigkeit bei den Armen und Geringen.<br />
Im Haus eines als ›rot< verschrienen Arbeiters<br />
gab der Mann seinen Beitrag. Als wir hinausgingen,<br />
stand unter der Küchentüre die Frau und drückte mir<br />
stillschweigend einen weiteren Betrag in die Hand!<br />
Aber es kam auch anders: ›Goldig!< ist das Wort, mit<br />
dem uns ein wohlhabender Landwirt in der _..-gasse<br />
empfing: ›Eich geawe naut! Eich hu(n) naut! Däi Beamte<br />
freasse a1les!< Das galt dem Herrn Postsekretär Zinser<br />
und mir! Stillschweigend klappte ich die Mappe zu und<br />
ging zur Türe hinaus, äußerlich Entrüstung heuchelnd,<br />
innerlich mich krümmend vor Vergnügenl“ (s. S. 541).<br />
Doch wieder zur politischen Entwicklung in <strong>Reichelsheim</strong>:<br />
Schon früh hatten die <strong>Reichelsheim</strong>er Sympathien für<br />
rechtskonservative und völkische Parteiprogramme gezeigt,<br />
wie bereits berichtet wurde. Die „Neue Tageszeitung“<br />
und der „Bauernkalender“ stimmten die Menschen<br />
dieser Region immer wieder auf einen Umbruch<br />
gegen Republik und Demokratie ein. Auch wurde von<br />
diesen Presseerzeugnissen Adolf Hitler, der Führer der<br />
NSDAP, schon früh „salonfähig“ gemacht und als<br />
„Kämpfer für die richtige Sache“ vorgestellt. So hieß es<br />
im „Bauernkalender 1925“ (Friedberg 1924, S. 76):<br />
„Die 28tägigen Verhandlungen des Hitler-Prozesses.<br />
. _ entschleierten rücksichtslos die parlamentarische<br />
Korruption und brachten eine scharfe Abrechnung mit<br />
allen Schuldigen am heutigen Elend . . . Eines kann man<br />
den Männern nicht absprechen: Mut zur Tat. Verant-<br />
wortungsfreudigkeit und zu jedem Opfer bereite Vaterlandsliebe“<br />
(Entnommen: „Hessen unterm Hakenkreuz“,<br />
S. 212).<br />
Der Boden war gut vorbereitet, die Ernte sollte sich<br />
bald zeigen! Bei den Reichstagswahlen 1928, vor der<br />
Weltwirtschaftskrise, waren die Stimmengewinne hier in<br />
Hessen noch recht gering, wenn auch höher als im<br />
Reichsdurchschnitt. Aber es ging augenscheinlich „aufwärts“:<br />
Immer mehr NSDAP-Ortsgruppen wurden gebildet,<br />
immer mehr kam der Hessische Bauernbund bzw.<br />
Hessische Landbund unter Druck - immer aggressiver<br />
wurde vor allem die Agitation gegen die Weimarer Republik<br />
und die sie tragenden Parteien. Nur in den katholischen<br />
Ortschaften blieben die Erfolge der NSDAP mager,<br />
dort konnte sich - aktiv unterstützt von der katholischen<br />
Geistlichkeit - das Zentrum bis in das Jahr 1933 als<br />
klar stärkste Kraft behaupten.<br />
Im Jahr 1930 machte Pfarrer Rühl im Kirehenbuch folgende<br />
Anmerkung:<br />
„Der Herbst des Jahres brachte Reichstagswahlen (14.<br />
September 1930) und damit für <strong>Reichelsheim</strong> eine Flutwelle<br />
des Nationalsozialismus. Die ganze Jugend, aber<br />
auch reife Leute, darunter führende Männer der Gemeinde,<br />
bekannten sich dazu“ (s. S. 551).<br />
lm Reichsdurchschnitt erhielt die NSDAP etwas über<br />
18%, in <strong>Reichelsheim</strong> aber: 39,4%! Die „Frankfurter<br />
Zeitung“ kommentierte das Wahlergebnis u. a. wie folgt:<br />
„Erbitterungswahlen also, in denen eine aus vielen<br />
Ouellen gespeiste Stimmung, durch eine wilde Verhetzung<br />
aufgewühlt, sich in radikalen Stimmzetteln entlud.<br />
Kein positiver Wille, auch nicht der zu einem wirklichen<br />
Umsturz des heutigen Staates, nicht einmal der zu einem<br />
gewaltsamen Versuch des Umsturzes unserer heutigen<br />
außenpolitischen Grundlagen, steht hinter einem großen<br />
Teil dieser radikalnegierenden Stimmen. Ein solcher<br />
148
_ *-<br />
-waııfi<br />
Arbeit und Freizeit<br />
in <strong>Reichelsheim</strong><br />
um 1930
Umsturzwille ist, wir dürfen uns wahrhaftig nicht in Illusionen<br />
wiegen, bei einem Teil sicherlich vorhanden. Der<br />
andere Teil hat lediglich Protest gewollt. Protest. _ . gegen<br />
die Methoden des Regierens und Nichtregierens, des<br />
entschlußlosen parlamentarischen Parlamentierens der<br />
letztvergangenen Jahre . . _ Protest gegen die wirtschaftliche<br />
Not, die fruchtbar ist und die viele, zum Teil aus ehrlicher<br />
Verzweiflung, zum anderen bloß aus Ärger über<br />
diese oder jene Einzelmaßnahme, einfach in die Stimmung<br />
treibt: die Partei, für die sie bisher gestimmt hatten,<br />
habe ihnen nicht geholfen, also versuche man es nun<br />
einmal mit einer anderen Tonart. Hitler verspricht ja<br />
Macht, Glanz und Wohlstand. Alsol“ (Entnommen: W.<br />
Tormin „Die Weimarer Republik“, S. 197)<br />
Die Weltwirtschaftskrise, der die Reichsregierung seit<br />
1930 mit der Politik der „Gesundschrumpfung der Wirtschaft“<br />
begegnen wollte, die aber vor allem zu Firmenzusammenbrüchen,<br />
zu rapide steigender Arbeitslosigkeit,<br />
zu Wohnungslosigkeit (die Mieten konnten nicht mehr<br />
bezahlt werden / neue, billige Wohnungen wurden wegen<br />
fehlender Finanzmittel nicht mehr gebaut) und damit<br />
zu Verzweiflung führte, zumal kaum eine soziale Absicherung<br />
von seiten des Staates gegeben war - dies alles<br />
zeigte bald Wirkung, vor allem dort, wo die Lawine<br />
schon ins Rutschen gekommen war!<br />
Betreffend der sozialen und politischen Situation in<br />
<strong>Reichelsheim</strong> schrieb Pfarrer Rühl: „In diesem Jahr 1931<br />
fing die wirtschaftliche Not an, sehr fühlbar zu werden.<br />
Sogar in unserem landwirtschaftlich noch stark orientierten<br />
<strong>Reichelsheim</strong> wuchs die Zahl der Arbeitslosen und<br />
auch der Bauer kam in Not. Die Steuern wuchsen unaufhörlich,<br />
während die Preise für die Erzeugnisse, Frucht<br />
und Schlachtvieh immer weiter zurückgehen. Man sieht<br />
diese Not z. B. an einem Zeichen: Während es in der Inflationszeit<br />
kaum möglich war, in der Eisenbahn einen<br />
Sitzplatz zu bekommen, ist eben dieselbe oft so leer, daß<br />
wohl kaum die Unkosten für die Züge gedeckt werden.<br />
Die Bahnverwaltung läßt auch die Züge immer kürzer<br />
werden.<br />
ln diese Zeit der Not und die damit verbundene Stimmung<br />
der Niedergedrücktheit und der Verzweiflung hinein<br />
trafdann im Herbst das Einsetzen einer Flutwelle von<br />
nationalsozialistischer Agitation. Unser <strong>Reichelsheim</strong>,<br />
das gewohnt war, sich auch bei großen politischen Versammlungen<br />
zurückzuhalten, bei denen die meisten<br />
Wahlredner-Versammlungen im Wirtszimmer abgehalten<br />
wurden, sah aufeinmal Versammlungen im zum Brechen<br />
überfüllten Saal, erlebte aufeinmal, daß erst junge<br />
Mädchen, später auch verheiratete Frauen zum Zuhören<br />
bei diesen Versammlungen erschienen. Als dann Hitler<br />
selbst in Gießen sprach, fuhr die Hälfte der Einwohnerzahl<br />
dorthin, um ihn zu hören.<br />
_<br />
Am 15. November war dann die Landtagswahl. Sie bedeutete<br />
für <strong>Reichelsheim</strong> den unbestrittenen Einzug des<br />
Nationalsozialismus:<br />
Nationalsozialisten: 340 Stimmen = 68,97 %<br />
Sozialdemokraten: 48 Stimmen = 9,74 %<br />
Landbund: 38 Stimmen = 7,71 %<br />
Kommunisten: 22 Stimmen = 4,46 %<br />
Deutsche Volkspartei: 18 Stimmen = 3,65 %<br />
Deutschnationale VP: 9 Stimmen = 1,83 %<br />
Sozialist. Arbeiterpartei: 7 Stimmen = 1,42 %<br />
Christlich Soziale: 6 Stimmen = 1,22 %<br />
Kommunistische Opposition: 2 Stimmen = 0,41 %<br />
Radikaldemokraten: 2 Stimmen = 0,41 %<br />
Zentrum: 1 Stimmen = 0,20 %<br />
In diesen Zahlen spiegelt sich zugleich die starke Zersplitterung,<br />
ein Zeichen der Ratlosigkeit der Wählerschaft<br />
soweit sie nicht auf Hitlers Seite stand. Unerhört<br />
ist der Rückgang des Landbundes, der bis dahin hier sei-<br />
150
..«/""`\<br />
Reiterfest Anfang der dreißiger Jahre<br />
151
ne Hochburg gehabt hatte. Aber seine Führer selbst<br />
waren mit fliegenden Fahnen zu Hitler übergegangen“<br />
(s. Kirchenbuch, S. 553).<br />
Anmerkung: In diesem Jahr, also 1931, wird in <strong>Reichelsheim</strong><br />
auch eine NS-Ortsgruppe sowie ein SA-Sturm<br />
gebfldet<br />
Wie sehr schon vor der „Machtergreifung“ am 30. Januar<br />
I933 die <strong>Reichelsheim</strong>er Bevölkerung hinter der<br />
„Bewegung“ stand, das zeigt die Schilderung des Lehrers<br />
Kellers in der „Heimatchronik“ zu Ausschreitungen in<br />
<strong>Reichelsheim</strong>. Die Reichsregierung hatte, nachdem sich<br />
die Ausschreitungen bei politischen Veranstaltungen<br />
während des Wahlkampfes um das Amt des Reichspräsidenten<br />
(2. Wahlgang zwischen v. Hindenburg gegen Hitler<br />
am 10. 4. 1932) gehäuft hatte, die SA für die Dauer<br />
vom 13. 4. bis zum 17.6. 1932 verboten. Was in <strong>Reichelsheim</strong><br />
ablief, dazu sei hier also Lehrer Keller das Wort erteilt:<br />
„Der 13. April 1932, ein Ehrentag für <strong>Reichelsheim</strong><br />
Der Chronist hat als Augenzeuge die ganzen Ereignisse<br />
dieses 13. April miterlebt und erzählt darüber folgendes:<br />
Es war ein stiller, dunstiger Apriltag, dieser 13. April,<br />
der sollte zu einem Ehrentag aller vaterländisch gesinnten<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er werden. Die Männer waren zum<br />
größten Teil draußen bei der Frühjahrsaussaat im Felde.<br />
Um die Mittagszeit sah ich zufällig aus dem Fenster meiner<br />
Wohnstube. Da fiel mir ein grünes Auto auf, das vor<br />
dem Hause des Sturmführers A. R. hielt. Am Auto stand<br />
ein Schupo (= Schutzpolizist). Ich dachte mir gleich, da<br />
stimmt etwas nicht und ging sofort aufdie Straße, wo sich<br />
vor dem Hause des Sturmführers schon eine Anzahl Kinder<br />
und Erwachsene, darunter der damalige Beigeordnete<br />
V. eingefunden hatte. Ich erfuhr von ihm, was los war.<br />
Der Hess. Innenminister Leuschner, ein Sozialdemokrat<br />
und ausgesprochener ›Nazifresser< hatte die polizeiliche<br />
Beschlagnahme aller Hakenkreuzfahnen und braunen<br />
Uniformstücke sowie Mitgliederlisten der SA und der<br />
Ortsgruppe der NSDAP angeordnet. Hier in <strong>Reichelsheim</strong><br />
wurde ein Kriminalbeamter und 2 Schutzpolizisten<br />
von Bad Nauheim beauftragt. Ich sah nun auf den Hof.<br />
Auf der Treppe oben stand ein Polizist, während der Kriminalbeamte<br />
und der Polizeidiener die Durchsuchung<br />
vornahmen. Es wurde alles durchsucht nach verbotenen<br />
Gegenständen, auch nach Waffen. Für die Mutter des<br />
Sturmführers, Witwe R., waren es wirklich grauenvolle<br />
Stunden, als dieser eigenartige Besuch in ihrem Hause<br />
alles durchstöberte. Immer mehr Menschen sammelten<br />
sich an, denn wie ein Lauffeuer ging es durch das ganze<br />
Städtchen. „Die Polizei hält Haussuchung abl“ Mißbilligende<br />
und erregte Zurufe wurden laut, denn man konnte<br />
dieses rigorose Vorgehen der Polizei nicht begreifen. Die<br />
Jugend sang Kampflieder, so daß der Polizeidiener erregt<br />
auf die Straße kam und Ruhe bot. Als die Haussuchung<br />
beendigt war, ging es zum Hause von O. P. , dessen<br />
Auto der Beschlagnahme verfiel, da es angeblich im<br />
Dienste der NSDAP Verwendung gefunden hatte. Hierbei<br />
kam es zu erregten Auseinandersetzungen mit der<br />
Polizei. O. P. mußte selbst sein Auto steuern und unter<br />
Polizeilicher Bedeckung nach dem Hofe des Bürgermeisters<br />
S. verbringen, wo es sichergestellt wurde. Unter<br />
lauten Pfuirufen fuhr dann das Auto der Polizeibeamten<br />
weg, um an anderen Orten den Befehl der marxistischen<br />
(korrekt wäre gewesen: sozialdemokratisch geführten)<br />
Regierung auszuführen. Allmählich kehrte wieder Ruhe<br />
in die Stadt ein, nur hier und da standen einzeln Gruppen<br />
in erregter Aussprache beeinander.<br />
Ich ging ins Pfarrhaus zu Pfarrer Rühl, der damals als<br />
einer der wenigen Geistlichen sich schon zu Adolf Hitler<br />
bekannte. Frau Pfarrer Rühl war zur Witwe R. gegan-<br />
152
gen, um etwas Trost zu sagen. Gerade kam sie von ihrem<br />
Besuche die Straße herauf, als 2 Schutzpolizisten in<br />
schnellem Tempo auf einem Motorrad anfuhren. Der<br />
Soziusfahrer, der mir persönlich bekannt war, schwang<br />
seinen Gummiknüppel. Ich lief hinaus und ging mit ihnen<br />
in den Hof des Bürgermeisters. Der eine Schupo<br />
sprang in das Auto des O. P. und stellte den Motor an.<br />
Das Auto sollte abtransportiert werden. Inzwischen hatte<br />
sich draußen in der Kirchgasse vor der Bürgermeisterei<br />
eine Menge erregter Menschen eingefunden, die den<br />
Abtransport des Autos nicht zugeben wollte. Als der<br />
Bürgermeister das Tor öffnete und einen Wagen herausschob,<br />
schrie die Menge auf ihn ein. Die 2 Schupobeamten<br />
und der Bürgermeister zogen sich bald darauf in das<br />
Haus zurück, denn sie sahen ein, daß gegen diese Hunderte<br />
von Menschen sich nichts ausrichten ließ. Um nun<br />
den Abtransport des Autos gänzlich unmöglich zu machen,<br />
wurden aus den umliegenden Bauernhöfen Wagen,<br />
Pflüge, dicke Holzbalken, Steine u. a. m. herbeigeschafft<br />
und die Kirchgasse beiderseitig gesperrt.<br />
Inzwischen hatten die Schupobeamten von dem Bürgermeisteramt<br />
aus telefonisch ein Überfallkommando<br />
herbeigerufen. Ehe es ankam, hatten mutige junge Leute<br />
eine Hakenkreuzfahne herbeigeschafft und zuerst auf<br />
einer Linde auf dem Kirchplatz dann aber droben am<br />
höchsten Fenster des Kirchturms gehißt.<br />
Da ertönten auch schon laute Rufe: „Das Überfallkommando<br />
kommtl“ Es wurde mit dem Horst-Wessel-<br />
Lied und „Heil-Hitlerl“-Rufen empfangen. Ängstliche<br />
waren schon in die Seitenstraßen geflüchtet. Ich stand<br />
auf dem Kirchplatz. Das große, grüne Schupo-Auto<br />
hielt! Über 20 Uniformierte sprangen ab. Kommandorufe<br />
der beiden Schupooffiziere! Ein schnelles Ausrichten!<br />
Die Gewehrkammern wurden rasselnd aufgerissen,<br />
scharf geladen, die Gewehre geschultert, die Gummiknüppel<br />
gepackt! Und nun wird die Meute auf die begeisterte<br />
Menge losgelassen. Laute Pfui-Rufe ertönen! Nur<br />
langsam weichen die Reihen zurück. Dabei zeigt es sich,<br />
daß junge <strong>Reichelsheim</strong>er Mädchen furchtloser und mutiger<br />
sind als mancher starke Jüngling!<br />
Ein Ziel des Überfallkommandos hat indessen die<br />
Barrikaden beiseite geschafft und eine Gasse für das abzutransportierende<br />
Auto geschaffen. Dieses fuhr alsbald<br />
ab und wurde einigeWochen in Bad Nauheim sichergestellt.<br />
Bald darauf fuhr auch das Überfallkommando davon<br />
und bekam einige Abschiedsgrüße in Form von harten<br />
Chausseesteinen nachgesandt.<br />
Es war Abend geworden. Da schmettert ein Trompetensignal<br />
durch die Straßen. Die ganze Gemeinde wird<br />
zu einer öffentlichen Bürgerversammlung im Saale des<br />
Gasthofs ,Zur Post“ eingeladen. Man will nochmals Stellung<br />
nehmen zu dem aufregenden Ereignis des Nachmittags.<br />
Mehrere Sprecher verhehlen nicht ihre Erschütterung<br />
über das provozierende Verhalten der Schupo. Alle<br />
mahnen aber zu Ruhe, Einigkeit und Besonnenheit. Da<br />
dringt die Nachricht in den Saal, daß das Überfallkommando<br />
zum 2ten Male in der Kirchgasse erschienen sei.<br />
Da sprechen auch schon 2 Schupo-Offiziere beim Gastwirt<br />
vor. Nachdem die sich davon überzeugt haben, daß<br />
alles in Ruhe abläuft und keine Unruhen mehr zu befürchten<br />
sind, rückt das Überfallkommando ab in seine<br />
Kaserne nach Butzbach.<br />
Hatte die marxistische Regierung geglaubt, durch die<br />
harten Maßnahmen dem Nationalsozialismus einen tödlichen<br />
Schlag zu versetzen, so hatte sie sich gewaltig<br />
getäuscht. Gerade die Vorkommnisse in <strong>Reichelsheim</strong><br />
führten der NSDAP am hiesigen Platze neue Freunde<br />
zu. Dies zeigt sich vortrefflich bei den Wahlen, bei<br />
denen die nationalsozialistische Stimmenzahl dauernd<br />
wächst.<br />
153
Eine Anklage gegen 38 <strong>Reichelsheim</strong>er, darunter auch<br />
mein Junge, Schüler der Augustinerschule in Friedberg,<br />
wegen Landfriedensbruchs und Widerstands gegen die<br />
Staatsgewalt anläßlich der Vorkommnisse am 13. 4.<br />
bringt in den Monaten des Jahres 32 viel Unruhe und<br />
manche Sorge in dieses oderjenes Haus. Nur einem günstigen<br />
Umstande ist es zu danken, daß das Gerichtsverfahren<br />
nicht zur Durchführung kam.. . Durch geschickte<br />
Maßnahmen des nationalsozialistischen Verteidigers<br />
wird der bereits festgelegte Termin der Gerichtsverhandlung<br />
immer wieder hinausgeschoben. Endlich sollte im<br />
Januar die Aburteilung der Angeklagten erfolgen. Da<br />
kam im Dezember, einige Tage vorher, der Amnestie-<br />
Erlaß der Reichsregierung! Das Verfahren wurde eingestelltl“<br />
(s. H. Keller, „Heimatchronik“, S. 102-107)<br />
Anmerkung:<br />
Die Maßnahme der Reichsregierung und in Folge davon<br />
der Polizei konnten nicht verhindern, daß nun (nach<br />
dem Uniformverbot) SA-Stürme in geschlossener Formation<br />
mit nacktem Oberkörper durch die Dörfer zogen.<br />
Es zeigte sich im Gegenteil, daß das Vorgehen der<br />
Behörden gegen die Nationalsozialisten tatsächlich eher<br />
eine unkritische Solidarisierung der Menschen mit dieser<br />
„Bewegung“ bewirkte. Der Boden war bereitet- es kam,<br />
was anscheinend kommen mußte!<br />
Luftaufnahme von <strong>Reichelsheim</strong> 1930<br />
(Besitz der Familie Rohde)<br />
154
155
9. d) Die Zeit der Verblendungz das „3. Reich“<br />
SA -A ufmarsch in <strong>Reichelsheim</strong><br />
1933 (rechts der umfriedete Kirchhof)<br />
„Es ist der 30. Januar. Da kommen die Schulkinder<br />
der höheren Schule von Friedberg nachmittags mit Nachrichten<br />
heim, die wir nicht glauben wollen. Aber eine<br />
Stunde später, wir sitzen gerade wieder beim Kaffee zusammen,<br />
wie einst, als die Polizei zur SA-Auflösung vorfuhr,<br />
diesmal im Hause des Lehrers Keller zu einem kleinen<br />
Familienfest- da geht der Ortsdiener mit der Schelle<br />
durch die Straßen. Gerade vor dem Fenster, an dem wir<br />
saßen, machte er Halt zur Bekanntmachung:<br />
„Der Herr Reichspräsident hat den Führer der<br />
NSDAP, Adolf Hitler, zum Reichskanzler ernanntl“<br />
Was er weiter noch sagte, ging unter in dem Jauchzen<br />
von Kindern und Erwachsenen“ (s. .Kirchenbuch,<br />
S. 563).<br />
In <strong>Reichelsheim</strong> kam es am 26. Februar 1933 zum Bürgermeisterwechsel,<br />
da der bisherige Bürgermeister ver-<br />
storben war. Er war es gewesen, der im April 1932 bei<br />
der „Revolution“ die Seite der Ordnung und des Rechts<br />
mitvertreten hatte, der aber seit jenem Tage in den Augen<br />
der meisten <strong>Reichelsheim</strong>er „durch mancherlei Umstände<br />
und Irrgänge des Lebens in die falsche Bahn geraten“<br />
war (s. Kirchenbuch, S. 563); betrübt seien die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
wohl gewesen, weil man aufihn „einst große<br />
Hoffnungen gesetzt“ hätte.<br />
Am 26. Februar 1933 wurde Bürgermeister Veith gewählt.<br />
Da die von Hitler durchgesetzte Reichstagswahl<br />
unmittelbar bevorstand (5. März), die Euphorie vom<br />
30. Januar durch die gelenkte Presse noch wirkungsvoll<br />
am Leben gehalten worden war, galt diese Bürgermeister-Wahl<br />
in <strong>Reichelsheim</strong> als „Stimmungsbarometer“<br />
für die Zustimmung der Bevölkerung zur NSDAP.<br />
Im Kirehenbuch ist darüber zu lesen: „Am 26. Februar<br />
wurde Bürgermeister Veith gewählt. Acht Tage vor der<br />
großen Reichstagswahl (5. lII.): es war die letzte Bürgermeisterwahl<br />
in Hessen: Bürgermeister V., der erste nationalsozialistische<br />
und der letzte ›gewählte< Bürgermeister<br />
Hessensl“ Daß der berichtende Pfarrer das Wort<br />
„gewählte“ in Anführungszeichen gesetzt hatte, weist<br />
wohl auf die Häme hin, die gemäß der Auffassung der<br />
Hitler-Partei dem demokratischen Prinzip einer Mehrheitsentscheidung<br />
zugedacht war.<br />
lm Kirehenbuch wird weiter ausgeführt: „Er (Bürgermeister<br />
V.) hat von seinem Amt sofort entschlossen Gebrauch<br />
gemacht. Als nach der Reichstagswahl man zu<br />
ihm kam und die schwarz-rot-goldenen Fahnen (= die<br />
der demokratischen Republik) forderte, um sie zu verbrennen,<br />
. _ . da waren sie schon nicht mehr da; er hatte<br />
sie schon verbrannt“ (s. S. 564).<br />
Pfarrer Rühl, der seine Rolle in <strong>Reichelsheim</strong> als wichtiger<br />
Meinungsführer seit der absehbaren Wende zum<br />
Nationalsozialismus nicht mehr nur als Pfarrer gesehen<br />
156
'<br />
hatte, war 1932 erst dem NS-Lehrerbund, dann der<br />
NSDAP als Mitglied beigetreten; bald engagierte er sich<br />
in dieser „Bewegung“ auch als „Schulungsleiter der HJ“<br />
(= Hitler-Jugend) für mehrere Gemeinden in der<br />
Wetterau und schließlich auch als Mitglied des Oberbannstabes<br />
Oberhessen.<br />
Wenn überlegt wird, daß der beliebteste Lehrer und<br />
der geachtete Ortspfarrer sich gemeinsam für eine Sache,<br />
für eine totalitäre Parteiideologie engagieren, so<br />
wird eine spürbare Auswirkung auf die Einstellung der<br />
Einwohner der Gemeinde, in der sie wirken, nicht ausbleiben<br />
können.<br />
In <strong>Reichelsheim</strong> zeigte sich die Wirkung nicht nur vor<br />
1933, sondern auch sogleich danach. Zwei Objekte wurden<br />
von ihnen initiiert oder zumindest aktiv unterstützt:<br />
1. Der Umbau der gepachteten „Bingenheimer Mühle“<br />
an der Straße nach Blofeld im Norden des Ortes zu<br />
einer „Herberge und Schulungsstätte der neuen deutschen<br />
Jugerıd“, benannt nach Peter Gemeinder, dem<br />
verstorbenen NS-Gauleiter von Hessen-Nassau; und<br />
2. die Errichtung eines „NS-Ehrenmales“ auf dem Lugbzw.<br />
Lochbcrg, dem ehemaligen Weinberg der Gemeinde<br />
<strong>Reichelsheim</strong>. Lehrer Keller, der Initiator<br />
und Gestalter dieses „Mahnmals“, konnte nach Aussagen<br />
von Zeitzeugen nahezu jeden Tag dabei beobachtet<br />
werden, wie er mit dem NS-Jungvolk und/oder<br />
der Hitler-Jugend an der „Baustelle“ wirkte.<br />
Daß die Idole des neuen Regimes für die Menschen in<br />
<strong>Reichelsheim</strong> stets gegenwärtig waren, dafür sorgte aber<br />
noch mehr die Tatsache, daß die wichtigsten Straßen auch<br />
neue Namen erhalten hatten: Die Dorn-Assenheimer Straße<br />
(heute Florstädter Straße) von der Kirche an lautete nun<br />
„Adolf-Hitler-Straße“, die Bingenheimer Straße wurde in<br />
„Hermann-Göring-Straße“ und die Weckesheimer Straße<br />
in „Horst-Wessel-Straße“ umbenannt.<br />
R<br />
Nazi-Gedenkstätte auf dem Lugberg<br />
bei <strong>Reichelsheim</strong> (1933 wurde dieses „Ehrenmal“<br />
errichtet, 1945 kurz vor Eintreffen der Alliierten<br />
wieder abgerissen)<br />
Ein Jahr nach dem politischen Wandel in Deutschland<br />
kam es in <strong>Reichelsheim</strong> zu einem Wechsel im Pfarramt:<br />
Der seit 1922 hier tätige Pfarrer Rühl wurde nach Friedberg<br />
an die Stadtkirche und zugleich zum Dekan berufen.<br />
Sein Nachfolger wurde Pfarrer Louis Carl, der bis<br />
1958 (mit Ausnahme der Zeit, als er als Soldat Dienst leistete,<br />
hier seinen Dienst tat. Pfarrer Carl, der dem neuen<br />
Regime auch positiv gegenüberstand, wenn auch nicht<br />
derart fanatisch wie sein Vorgänger, bemühte sich ernsthaft<br />
darum, mit Kulturveranstaltungen das Gemeinde-<br />
-~›w.,"<br />
157
leben in <strong>Reichelsheim</strong> zu bereichern. Als Pfarrer mußte<br />
er aber bald mit tiefem Bedauern feststellen, daß es<br />
zwischen politisch-weltlicher Gemeinde und Kirche zu<br />
einer Entfremdung kam. Daß diese Trennung besonders<br />
von dem herrschenden System gefördert wurde,<br />
mußte ihn besonders gekränkt haben, sah er doch<br />
selbst offiziell keinen Widerspruch zwischen christlichevangelischer<br />
Anschauung und NS-Ideologie; und er<br />
glaubte wahrscheinlich auch an die Aussagen Hitlers<br />
in seiner Regierungserklärung vom 1. Februar 1933,<br />
daß „das Christentum als Basis unserer gesamten Moral“<br />
anzusehen sei bzw. daß „beide christliche Konfessionen<br />
wichtigste Faktoren der Erhaltung unseres<br />
Volkstums“ seien (s. E. Aleff „Das Dritte Reich“,<br />
S. 49).<br />
Carl mußte feststellen, daß immer mehr Menschen<br />
aus seiner Kirche austraten; auch wurde auf Druck der<br />
Kreisleitung der NSDAP der damalige Bürgermeister<br />
veranlaßt, seine Funktion als Vositzender des Kirchenvorstandes<br />
aufzugeben, weil sich angeblich die Mitgliedschaft<br />
im Kirchenvorstand mit dem nationalsozialistisch<br />
geprägten Bürgermeisteramt im Dritten Reich<br />
nicht vereinbaren ließe. Damit war ein Bruch in die<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Tradition eingetreten, wonach der<br />
Bürgermeister stets Mitglied, sehr häufig auch Vorsit-<br />
zender des Kirchenvorstandes war - ein Bruch, der<br />
Wirkungen auf das Verhältnis zwischen weltlicher und<br />
kirchlicher Gemeinde haben mußte. Wie sehr dieser<br />
Bruch von der NS-Bewegung gewollt war, zeigt die<br />
Tatsache, daß ab Frühjahr 1938 kein Pfarrer mehr Religionsunterricht<br />
an den Schulen erteilen durfte - auch<br />
nicht Pfarrer Carl, was diesen sehr betrübte.<br />
Doch dies trübte nicht das Verhältnis der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
zum herrschenden Regime. Die NS-Propaganda<br />
sorgte durch die unendliche Reihe von „Erfolgsmeldungen“,<br />
daß die Stimmung insgesamt optimistisch blieb.<br />
Daß vieles gar nicht selbst erzielt, sondern Ergebnis<br />
einer verbesserten Weltkonjunktur war, das wurde -<br />
wenn überhaupt - nur am Rande erwähnt. Daß die Senkung<br />
der Arbeitslosenzahlen auch etwas damit zu tun<br />
hatte, daß der Arbeitsdienst eingeführt worden war, daß<br />
die Frauen aus den Stellungen im öffentlichen Dienst<br />
oder die jüdischen Mitbürger nach und nach aus allen Bereichen<br />
des Arbeitslebens verdrängt wurden - das wurde<br />
nicht gemeldet. Statt dessen wurden „Arbeitsdienst“,<br />
der Bau von Kasernen, Flugplätzen, Autobahnen propagandistisch<br />
herausgestellt und immer und immer wieder<br />
bejubelt. Der Glaube an den herbeigesehnten Aufschwung<br />
wurde festgehalten - auch wenn in den Lohntüten<br />
der einfachen Menschen keine Steigerung erkennbar<br />
war!<br />
„Arbeitsleben/A rbeitsdank “, Mitte der 30er Jahre<br />
(Bilder im Besitz der Familie Diel)<br />
158
zi<br />
j J r<br />
159
Nachdem sich Hitler schon am 1. August 1934, dem<br />
Tage des Todes des Reichspräsidenten v. Hindenburg,<br />
verfassungswidrig und damit widerrechtlich die Funktionen<br />
des Staatsoberhauptes zugeordnet hatte, ließ er sich<br />
die „Richtigkeit“ dieser verfassungsändernden Maßnahme<br />
durch eine Volksabstimmung bestätigen.<br />
Bürgermeister V. konnte am Abend des 19. August<br />
dem Kreisleiter in Friedberg folgendes Ergebnis aus <strong>Reichelsheim</strong><br />
durchtelefonieren:<br />
„Gesamtzahl der Stimmberechtigten: 632<br />
Gesamtzahl der überhaupt abgegebenen<br />
Stimmen: 621<br />
Zahl der gültigen Ja-Stimmen: 600<br />
Zahl der Nein-Stimmen: 21 “<br />
98,26 % der Abstimmungsberechtigten waren demnach<br />
in das Wahllokal gegangen, und von diesen sagten wiederum<br />
96,62 % „Ja“ zum „Gesetz über das deutsche<br />
Staatsoberhaupt“ und legitimierten damit die Ausweitung<br />
der Macht des Diktators (s. hierzu Unterlagen im<br />
Archiv der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>).<br />
Das Schicksal Deutschlands warf seit 1935 seine ersten<br />
Schatten voraus, aber sie wurden völlig im Geiste der<br />
Zeit erkannt:<br />
„Eine große Überraschung erlebten wir am Montag,<br />
dem 18. März, als es hieß: Morgen bekommen wir Einquartierung.<br />
Zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder<br />
einmal Soldaten im Dorf. Zwei Tage blieben sie hier. Für<br />
die Kinder und die Jugend ein ungewohnter Anblick, für<br />
die Älteren eine Erinnerung an große und schwere Zeiten,<br />
für uns alle eine Hoffnung auf eine ehrenvollere Zukunft<br />
unseres Vaterlandes. Am 16. März, dem Vortag<br />
des Heldengedenktages, hatte Adolf Hitler die Fesseln<br />
des Schmachvertrages von Versailles abgeschüttelt und<br />
die allgemeine Wehrpflicht eingeführt“ (s. Kirchenbuch,<br />
S. 575).<br />
Im gleichen Jahr, also 1935, wurden auch die ersten<br />
jungen <strong>Reichelsheim</strong>er Rekruten zur Wehrmacht und<br />
zum Arbeitsdienst eingezogen. Von Jahr zu Jahr steigerte<br />
sich die Zahl der jungen Leute, die für den neuen<br />
Krieg, für „eine ehrenvolle Zukunft“, für die immer und<br />
immer wieder geforderte Gewinnung von „Lebensraum<br />
für das deutsche Volk“ ausgebildet wurden.<br />
1936 wurden die <strong>Reichelsheim</strong>er erneut zu einer<br />
Reichstagswahl gerufen. Es gab zwar seit dem 14. Juli<br />
1933 in Deutschland durch Gesetz nur noch eine erlaubte<br />
Partei, die NSDAP, doch sollte dem In- und vor allem<br />
dem Ausland gezeigt werden, wie sehr das deutsche Volk<br />
den Führer und seine Politik unterstützte. Da man bei<br />
dieser „Wahl“ kein Risiko eingehen wollte, schrieb z. B.<br />
das Friedberger Kreisamt an alle Gemeinden des Kreises:<br />
„Friedberg, den 17. März 1936<br />
Betr.: Reichstagswahl am 29. März 1936<br />
An alle Ortsgruppen- bzw. Stützpunktleiter der NSDAP<br />
Für die Reichstagswahl am 29. März 1936 sind für die einzelnen<br />
Abstimmungsbezirke Abstimmungsvorsteher<br />
und Stellvertreter von uns zu berufen. Wir beabsichtigen<br />
als Abstimmungsvorsteher den Bürgermeister und als<br />
Stellvertreter des Abstimmungsvorstehers den Ortsgruppenleiter,<br />
bezw. den Stützpunktleiter zu ernennen.<br />
In den Orten, in denen der Bürgermeister zugleich Ortsgruppenleiter<br />
bezw. Stützpunktleiter ist, kommt als<br />
Stellvertreter der erste Beigeordnete in Frage. Falls uns<br />
bis spätestens 21. März 1936 keine gegenteilige Äußerung<br />
zugeht, unterstellen wir Ihr Einverständnis.<br />
Heil Hitler“<br />
(s. Unterlagen im Archiv der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>).<br />
Der <strong>Reichelsheim</strong>er Ortsgruppenleiter, also der Parteivorsitzende<br />
der NSDAP, wurde damit als der eigentliche<br />
Verantwortliche für die Wahlorganisation und<br />
160
-durchführung von der Aufsichtsbehörde gesehen, nicht<br />
der offizielle Verwaltungsleiter der Gemeinde, also der<br />
Bürgermeister. Der damalige <strong>Reichelsheim</strong>er Ortsgruppenleiter<br />
bestätigt durch Unterschrift: „Zur Kenntnis genommen“.<br />
Betreffend 1937 ist über die Errichtung eines Flugplatzes<br />
für die Luftwaffe in unserer Gemarkung zu berichten,<br />
und zwar in den Wiesen zwischen <strong>Reichelsheim</strong> und<br />
Leidhecken. Da Wasser in jenem Wiesenbereich „reichlich“<br />
vorhanden war, mußte eine Pumpstation eingerichtet<br />
werden. Seit der Eröffnung des Platzes kamen immer<br />
wieder einmal Übungsstaffeln nach <strong>Reichelsheim</strong>. Ein<br />
Einsatzflugplatz wurde zum Glück für den Ort und die<br />
Region nicht aus jener Anlage.<br />
11938 wurde der Ort nach längerer Zeit wieder einmal<br />
von Epidemien und Seuchen heimgesucht: Zu Beginn des<br />
Jahres waren viele Einwohner an Keuchhusten erkrankt,<br />
16 mußten gar ins Krankenhaus eingeliefert werden.<br />
Im Frühjahr und Spätherbst wurde der Viehbestand in<br />
<strong>Reichelsheim</strong> von der Maul- und Klauenseuche befallen:<br />
Für manch einen Bauern war damit ein herber Verlust<br />
verbunden!<br />
Doch neben dem Schrecken und Leid, welehe Epidemie<br />
und Seuche gebracht hatten, fühlten sich die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
stolz, daß „wieder Weltgeschichte“ erlebt<br />
werden durfte. „Die Zeit ist vorrüber“, so schrieb der<br />
Ortspfarrer ins Kirchenbuch, „daß Deutschland nichts<br />
mehr zu sagen hat. Nach 20 Jahren Not kehrten die Sudetendeutschen<br />
heim in das Reich. Von <strong>Reichelsheim</strong> waren<br />
verschiedene Reservisten und Landwehrmänner eingezogen“<br />
(s. Kirchenbuch, S. 595 f.).<br />
(Wer konnte damals ahnen, daß aufgrund der aggressiven<br />
„Raum-Politik“ Hitlers 8 Jahre danach viele<br />
Sudetendeutsche in <strong>Reichelsheim</strong> Unterschlupf suchen<br />
mußten?)<br />
Diese Einberufungen erinnerten manch einen <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
an das Leid des Ersten Weltkrieges. „Die<br />
Wunden des Weltkrieges sind noch nicht verheilt“,<br />
schrieb Pfarrer Carl treffend. Die Erinnerung an jene bedrückende<br />
Zeit mag auch dadurch wach geworden sein,<br />
daß nunmehr auch im ländlichen <strong>Reichelsheim</strong> Kurse zur<br />
Ausbildung im Luftschutz stattfanden.<br />
Während in Zeiten der Angst und Unsicherheit die<br />
Menschen vermehrt Kraft und Hilfe in der Kirche suchen,<br />
so wurden in diesen Monaten, gefördert und gefordert<br />
von der NSDAP, die Kirchenaustritte zu einer „Alltäglichkeit“.<br />
„Bis Anfang August (1939) traten insgesamt<br />
30 hier wohnende <strong>Reichelsheim</strong>er aus. Es sind alles<br />
Leute, die in der NS-Bewegung einen Posten haben. Die<br />
Leute wurden von mir nicht besucht“ (s. S. 597). ..<br />
.<br />
-.0-*"'<br />
- M ,ll .<br />
Hitler-Jugendheim in <strong>Reichelsheim</strong>, erbaut 1939,<br />
nachdem die Bingenheim.er Miihle nicht mehr zur<br />
Verfiigung stand<br />
(Nach dem Kriege zuerst von den Mechanischen<br />
Werkstiitten <strong>Reichelsheim</strong> - „M WR “ - genutzt,<br />
dann zum Kindergarten der Stadt umgebaut)<br />
\"""<br />
"lu<br />
___.<br />
161
'<br />
V<br />
9. e) Der 2. Weltkrieg<br />
„Die Heuernte ging gut vorrüber. Das Wetter war<br />
günstig. Als die Getreideernte begonnen war, gab es Regenwetter.<br />
Vom ll.-21. war das Wetter sehr günstig. In<br />
dieser Zeit wurde der größte Teil der Frucht abgemacht<br />
und eingebracht.<br />
In der ganzen Zeit aber lag auf uns der Druck der außenpolitischen<br />
Lage: Danzig und der Korridor u.s.w.<br />
sollen wieder zu Deutschland. Das Unrecht des Versailler<br />
Vertrages muß wieder gut gemacht werden.<br />
Wann wird es losgehen`?“<br />
So lautet die Darstellung des damaligen Ortspfarrers<br />
über den Sommer 1939 (s. Kirehenbuch S. 599).<br />
Alltägliches neben der Erwartung von Schrecklichem,<br />
das allerdings als nicht schrecklich, sondern als „historisch<br />
notwendig“ angesehen wurde. Doch klang auch die<br />
Furcht vor Schrecken und Tod aus den Zeilen: „Wann<br />
wird es losgehen'?“<br />
Der Bericht geht weiter:<br />
„Da kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel am Samstag,<br />
um 3 Uhr morgens, die geheime Mobilmachung. Am<br />
selben Tage schon mußten die Leute zum Teil einrücken,<br />
am nächsten Tag mußten die Pferde abgeliefert werden“<br />
(s. Kirchenbuch, S. 599 f.).<br />
Wie sehr sich die Menschen in jener Zeit von der Kirche<br />
- nicht nur in <strong>Reichelsheim</strong> - entfernt hatten, zeigt<br />
ein kurzer, aber verzweifelter Eintrag des Pfarrers. Er<br />
macht deutlich, wie sehr sich die Menschen mittlerweile<br />
in ihrer Haltung zur Kirche gegenüber 1914 unterschieden:<br />
„Am vorigen Sonntag, also am 2. Mobilmachungstag,<br />
waren im Gottesdienst 18 Leute. Ist das nicht furchtbar!<br />
In Leidhecken war nur ein Mann in der Kirche _ .. Deutsche<br />
Christenheit, weißt Du nicht, daß angesichts eines<br />
drohenden Krieges das Bedürfnis lebendig sein muß, vor<br />
Gottes Angesicht gemeinsam zu treten?!“ (s. S. 600 f.).<br />
Qimtiiciie<br />
1<br />
ß_efaııııimıidJiiiıa.<br />
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er mit ıimmıuiiıiıit. ue aoırmıiiien auf ue fmenuıı<br />
. ííailuwcn biniiiwetilen.:<br />
_ .. I I, *__<br />
1.. tqngianb iii, ıniimf (lirwnrtnr. aldi! gemliit. ben Rrirg- gegen<br />
mcuiidgiınıtı uıı-fμıgcbc-ii.. Es iii i›.alm¬ mit einer langen Ri-icçu›~<br />
iınmr in r-ıdiaın. iiiriilmc ıınıtiiılıe Ruııbgcbııııgııi. hai; im. Strict;<br />
im weiten vorüber ici., in-üflc-n helm: als iibırly mit mıgciıbeıı uıerheıı.<br />
. 2. 'flieınıniiμrcciwib werben bie Itıiuinı-ı in im-n Heiraten ßebiıien in<br />
an-im er-iirle lıı.i-mitm, :mb es iii mit wıiiır-cn Einberufungen 3::<br />
H :träum ßcriuiiiiiien warnen nicht uerii-flrfililidjt meriicn._<br />
1 _ _ . ,„u\ _ - rl, 1<br />
"3. iiiiiuls :mb Siıgiıilrmsıaga fiub, wie MJ liıriıuıgeiiılit bat, ııiçii-t<br />
in hei: Enge, íiufiangriife gu uırbiııbıım aber nuflulgalteii. wie<br />
muiiilemng hat fid; bin-aiif ciııguiieilım. __<br />
I. äisijır iiniı lı-«mitn in ilb-cr 70 imiiid,mı ëıíübien ıııiiiiiiriiılı-ii flirletie<br />
bıirıh ßıımbcıi.-nııgıriflc miiiirt markiert. 311 aber bei Mt iebter<br />
- _ B-hihi befinbııı fiel), wie iıher ißuitsgmniic we-iii, Qiningcn, bie nis<br />
mliiiiiriidj-0 üblen: nniiuwre-dien ilnb. Sie in fluluııft mit einer<br />
'ırbı-hlijiiı-u íiunniııne her britiídyin mit-angriff: gu redμıın iii,<br />
eridμiııi es anne-rmcihiidj, hai; fait alle heiitidyı iäiiibic iıı iiifiiiiıiliicıiı<br />
Idguii geμigcn werben.<br />
_<br />
er iii ber äiiiiruin ıinmögiiiiı, time weitere mit noch<br />
einidtnei beiıbere øiiier ieiıeø einteiııen Iiniiøfieııolien ben<br />
firleg iıieiieniiiiiiireııı fnivie eiiirimgen in hat Metten<br />
eeiıieieiı iii unieriiiniieıı.. er iıiirb lieben Iioliøgaıviieıı<br />
iiııiıeimgeiieili, aus tiefer Rage bie ibm notitieiıiiia ırliliciiıenbeıi<br />
eiiiliille fiir iciııe iiiniiige išiniieiliiiiø iii gießen.<br />
" 410<br />
Flugblatt der engl. Propaganda 1941 (entnommen:<br />
„Heil Beil “ - Flugblattpropaganda im<br />
11. Weltkrieg, S. 117).<br />
ı-<br />
162
_<br />
1;-i._'.`_ f':";'¦~.'.'..,'I;.""'¦l."¦:~.;'~i;.,"-1,'"¦_;¦l;-l1l:-_fI§I'll'I11'~I;fl1'¦:-i¦í:i:_l;f:"`;-Li:'-i;l::;Z_?-1-i-""'-" ""'_'-""-3'-'-ii-3:-._:;I_.fi-ii.-1;!':f'f.-,í1'-I-1'.-ii".¦íí' ' ' _ -~ - -- " *_<br />
Die Menschen hinter der Front wurden auch von der<br />
Feindseite „informiert“ über den Stand des Krieges, das<br />
Verhalten der Soldaten hinter der Front oder die Versorgungslage<br />
mit Lebensmitteln. Auf beiden Seiten lautete<br />
die neue Strategie: Durch Flugblätter und durch Bomben<br />
die Menschen in ständiger Angst, in ständiger Verunsicherung<br />
zu halten, also ihre „Moral“ zu zerstören.<br />
Pfarrer Carl, der trotz seiner tiefen Enttäuschung über<br />
die Haltung seiner nationalsozialistischen „Schäfchen“<br />
zur Kirche treu zum Regime stand, berichtete, daß auch<br />
über <strong>Reichelsheim</strong> Flugblätter abgeworfen worden seien,<br />
seines Erachtens „verfaßt von deutschen Emigranten<br />
und Juden“.<br />
Wie sehr die Menschen in jener Zeit propagandistisch<br />
aufgeputscht waren, zeigt eine andere Bemerkung des<br />
Ortspfarrers vom 11. 9. 1939:<br />
„In unserer Zeit beginnen die Kriege wie eine Krankheit.<br />
Sie fängt langsam an und steigt bis zur Krise. Noch<br />
hoffen viele, daß es zu keiner Auseinandersetzung mit<br />
den Waffen zwischen uns und den westlichen Gegnern<br />
kommt. Die entscheidende Frage für die jetzige Lage ist:<br />
WER GEWINNT DEN KRIEG VON 1914-19l8?“<br />
(s. S. 602)<br />
„Wer gewinnt den Krieg von 1914-l9l8?“<br />
Dieser neue Weltkrieg soll nur eine Fortsetzung des<br />
1. Weltkrieges gewesen sein? Nur eine Revanche? Nur<br />
eine Möglichkeit zur „Wiedererlangung der nationalen<br />
Ehre“?<br />
Der Krieg gegen Polen war bald gewonnen, war bald<br />
abgehakt und aus dem „Bewußtsein der Angst“ verdrängt.<br />
Angst bestand aber darüber, ob und wann der<br />
Krieg gegen England und vor allem Frankreich beginnen<br />
würde.<br />
<strong>Reichelsheim</strong> erlebte den Krieg durch Einquartierungen<br />
von Soldaten aus anderen Teilen des Reiches. Ge-<br />
_ . _ Ü' - '<br />
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iilgııeil ııııb gt-ıi_ilii.ı_n_l,i_;i_l_ti_iii'iip_:1__ıiii“b_'_ reihe-' im Iintırriilit lgıinııbigı<br />
'ilııieiiıinlimıi im-.it fi“.-iı_~i_cI,`i«ı›L_ _\!I'_iii__1_“¦__ı'ı_jliıi-M. W buirır " lıimmii "ii_rıı 1 Iınih<br />
ins ßinriılıbutiıiilııií-. 1Iı'ıb"- in-ri-r im ltliııirlıblintailio-ıı ijt, im iii<br />
-uiıiibienıbıiiıf-n Efliriıiiıimfiüiırırbilb. _ _ ' 1<br />
iaıımaiafiiiıiııiiuı :mitm .aufgeiiuii,i imma an mimini<br />
_\'ıi;rıe_ilı~.r Nıiilililıuiı' triiigii illb' ' geiıtw im-da 9t_uí1tııu-.bi--M« im<br />
.tja-mina-ııbeu-1: im 'Sitten wartet ' iıbun., *mr ıuirli bein--miuriily<br />
i¦§;._Üiiii-uit!-ou, in -mie. er Iııırımt, gl-leid) um hem `íE'_i~l~ıiı\iir'iıl)' an jiii'<br />
!Dı_ı_rd,ıbrmhii'cIle -- unit ich»-n bull im bıln§.ı\__9i._ufiınlıbußi -_-fåiı-`ifi__<br />
____!§ei'iı -iii -mm --'lıe.iıi ßnıııtj iii auf --~-±- ii_ırliı_-'ßııl-r Mıııilii -,iu _-_%`-L;<br />
iıııiíı üiiimrbiib iii bir auf alle 'äilll-ı i-i_i!,ıeı:..~-'_ Mr. -_ aber ti-einen<br />
ri»i=u=ii=~~- . S ._ ; 1 ;<br />
íitieiıri. Iμıii 'ini "&liid.', bııuiı Iømııil`i."bıi. in ein 2usiıı¬c`tt.) 11.-nit<br />
iiıb er- 1-im -1 Riı; ııfirit ge in ii§`l_i ii ita -lit-e~ı:._i ii Init c<br />
benimmt infnıt 1 una íeil_,ııer"_ $ı_ııc[μ_ıı_g`ı.'~<br />
In m ıı u ıı le Ii n s 3- ii ij i: ë___r lı tl li *in ii-er ıiınielilgerı 'Huawführıi-ng,<br />
I8 :ic 26 mariídjıiirıı'-5' aber [en-iii, in it Ii er fig ıi nutiiinbigcn<br />
uiniqridgriit bu {§il`lμ'*ı-ı1ı'__- in<br />
füıliimilc. 1 1 '_ _<br />
mit bu aber ißedj -~ b›:_ııı~u erijaltim beine .fiiintırb-liicbcnııı<br />
im rgiiimıbiin. _ 1 *A „ _<br />
i'§ni'gıımc. wiuiiinuciı [ie-lien .jut 3ı_ii 91i'ariıiıbutnl_iInnı'~|ilı<br />
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Flugblatt<br />
der englischen Kriegspropaganda 1943<br />
(Entn. s. 0., S. 148)
`<br />
_<br />
spürt wurde er auch dadurch z. B., daß der Eisenbahnverkehr<br />
nicht mehr in gewohnter Weise verlief. Anfang<br />
1940 notierte Pfarrer Carl:<br />
„Große Eisenbahnunglücke haben sich ereignet. Bei<br />
Gentin in der Mark sind 200 Personen ums Leben gekommen.<br />
Bei Nieder-Wöllstadt fuhren ein Personenund<br />
ein Güterzug ineinander. Es hat mehrere Tote gegeben.<br />
Mindestens 10 Eisenbahnunglücke haben sich ereignet.<br />
Die Zeitungen schreiben kaum darüber. Zensurl“<br />
(s. S. 608).<br />
Trotz aller Angst machte man sich Mut, stärkte die<br />
Hoffnung, der Krieg würde, wenn er dann richtig (also<br />
gegen den Westen) begonnen hätte, nicht lange dauern:<br />
„Im allgemeinen hört man vom Krieg folgende Ansicht:<br />
›Der Führer hat gesagt: Der Krieg ist bis August<br />
(- 1940) fertig! also wird es bald losgehen! Dabei werden<br />
wir eine ganz furchtbare Waffe anwenden.< Den Optimisten<br />
stehen die Pessimisten gegenüber, die sagen: ›Das<br />
kennen wir vom vorigen Krieg noch her!
„Die Amtsbrüder haben aber wahrscheinlich keine Eintragungen<br />
in die Chronik gemacht, weil sie Sorge hatten,<br />
die Chronik könnte von den nationalsozialistischen Machthabern<br />
beschlagnahmt werden und die Eintragungen dem<br />
Chronisten zum Verhängnis werden“ (s. S. 618).<br />
Diese Sätze weisen nicht nur auf einen Gesinnungswandel<br />
des Pfarrers hin, sie verraten auch, daß die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
aus ihrem Traum endgültig erwacht waren,<br />
daß sie die NS-Lehre als Irrlehre durchschaut hatten.<br />
Vielleicht hatte ihnen der Flugzeugabsturz über <strong>Reichelsheim</strong><br />
im Mai 1944 einen letzten Schock versetzt,<br />
über den folgendes zu berichten ist: Ein feindlicher, in<br />
einer Luftschlacht angeschossener Bomber „verhakte“<br />
sich mit einer Tragfläche am Schornstein der Molkerei<br />
(bei der Genossenschaft) und stürzte auf das gemeindeeigenen<br />
Haus in der Bahnstraße, das als „Kinderschule“<br />
und Verwaltungsgebäude genutzt wurde.<br />
Glück im Unglück war, daß der Absturz in der Mittagszeit<br />
passiert war - als das Gebäude menschenleer<br />
war.<br />
Doch mehr werden die vielen Todes- und Vermißtennachrichten,<br />
die Nachrichten über Gefangenschaft oder<br />
Verwundung das Denken der Menschen in <strong>Reichelsheim</strong><br />
und anderswo beeinflußt haben: Mögen sie anfänglich<br />
den Haß auf die Kriegsfeinde gestärkt haben; mit Zunahme<br />
des Krieges richtet sich dieser auch gegen die eigene<br />
Führung. Denn in über 30 Fällen erhielten die Familien<br />
die Nachricht:<br />
„Ihr Mann /Ihr Sohn/ Ihr Bruder ist den Heldentod gestorben<br />
-für Führer, Volk und Vaterlandl“<br />
In ungefähr 20 Fällen erhielten die Familienangehörigen<br />
keine Auskunft - es hieß nur: „Vermißt!“ Das ließ<br />
zwar noch ein wenig Hoffnung offen, oft noch für viele<br />
Jahre nach der Kapitulation; doch der Schmerz blieb um<br />
so länger wach!<br />
In vielen Häusern unseres kleinen Ortes hatte man die<br />
Hoffnung, den Mann, den Sohn, den Vater doch noch in<br />
die Arme schließen zu können, hieß es doch, der Angehörige<br />
sei in Gefangenschaft geraten. Doch auch von ihnen<br />
kehrten nicht alle zurück, hatten nicht die Möglichkeit<br />
wie Pfarrer Carl für seine Nachkommen zu schreiben:<br />
„Am 29. 6. 1945 kam ich in Aalen (Württemberg) zur<br />
Entlassung. Per Lastauto ging es über Würzburg nach<br />
Aschaffenburg. Von hier fuhr ich zunächst bis nach Hanau<br />
und dann abends um ll Uhr von Hanau nach Friedberg:<br />
Hier erfuhr ich, daß in <strong>Reichelsheim</strong> durch Kriegsereignisse<br />
kein Schaden entstanden war. Nach der Sperrstunde,<br />
die bis 5 Uhr dauerte, lief ich von Friedberg aus<br />
heim . _. So kam ich denn am 30. 6. 45 heim. Das erste,<br />
was ich sah, war der Kirchturm. Am Schlusse des Krieges<br />
bin ich also noch sehr gnädig geführt worden“ (s. S. 616).<br />
„Das erste, was ich sah, war der Kirchturm“, so Pfarrer<br />
Carl. Die 60 Männer aus <strong>Reichelsheim</strong>, die in jenem<br />
unsinnigen, mörderischen und verbrecherischen Krieg<br />
ihr Leben oder für Jahre ihre Freiheit lassen mußten -<br />
wie hatten sie sich nach dem Anblick jenes Bauwerks gesehnt,<br />
das über Jahrhunderte den Menschen Symbol des<br />
Zuhauses, der Heimat, der Sicherheit gewesen war!<br />
„Das erste, was ich (von <strong>Reichelsheim</strong>) sah, war der<br />
Kirchturml“<br />
Das mögen allerdings auch die Menschen später erzählt<br />
haben, die als Evakuierte aus den zerbomten Großstädten<br />
des Rhein-Main-Gebietes aufs Land geflüchtet<br />
waren. Für ungefähr 150 Personen, meist Frankfurter,<br />
mußte Quartier gefunden werden. Das war nicht leicht,<br />
zumal es sich um Menschen handelte, die neben ihrem<br />
Hab und Gut oft auch Angehörige bei den flächendekkenden<br />
Bombardements verloren hatten. Sie kamen<br />
hierher, zu Familien, deren Versorgung auch stark ein-<br />
165
geschränkt war, deren Angehörige noch „im Felde“ standen<br />
oder bereits gefallen, vermißt, verwundet oder gefangen<br />
waren. _ _<br />
Nach Ende des Krieges kehrten die meisten dieser evakuierten<br />
Familien wieder zurück in ihre Heimatstädte,<br />
hoffend, dort - wo sie aufgewachsen waren - ein neues<br />
Leben leichter beginnen zu können.<br />
Doch kaum hatten die Evakuierten <strong>Reichelsheim</strong> verlassen,<br />
hatten sie ihre Notunterkünfte, ihre Zimmer und<br />
Kammern geräumt, da kamen andere Landsleute. Menschen<br />
aus den Gebieten, deretwegen Hitler angeblich<br />
schon früh den Krieg riskiert hatte: Sudetendeutsche<br />
z. B. Aber es kamen auch Vertriebene und Flüchtlinge<br />
aus anderen Gebieten, die aufgrund der Beschlüsse der<br />
Sieger in Potsdam im Sommer 1945 von Deutschland ab-<br />
getrennt wurden und aus denen die Deutschen ausgesiedclt<br />
werden sollten: aus Ost- und Westpreußen, aus<br />
Schlesien, aus Litauen, Polen, Rumänien oder Jugoslawien.<br />
„<strong>Reichelsheim</strong> hatte vor dem Krieg 1939 = 890 Einwohner,<br />
jetzt mindestens l550“, notierte Pfarrer Carl ins<br />
Kirehenbuch. Um ungefähr 75 % war die Einwohnerzahl<br />
gestiegen - aber kein Haus war bisher zusätzlich gebaut<br />
worden!<br />
Doch eins war damit klar: 1. Diese Menschen würden<br />
<strong>Reichelsheim</strong> nur zum geringen Teil verlassen und<br />
2. <strong>Reichelsheim</strong> würde durch diese Leute niemals mehr<br />
so sein können, wie es war.<br />
Der Umbruch zu einem neuen <strong>Reichelsheim</strong> war gegeben.<br />
...„.„... .„._..............„„..<br />
ñrufi aus Reı<br />
›››»-~»›.-.-. ..›.›,- „ _ _ _ .._„<br />
W<br />
166<br />
Ansichtskarte von <strong>Reichelsheim</strong>,<br />
um 1940. (So mögen die<br />
eingezogen.en Soldaten<br />
<strong>Reichelsheim</strong> in Erinnerung<br />
behalten haben)
9. f) Bruch mit der Vergangenheit- und aktiver Neubeginn<br />
„Endlich nähert sich dieser Wahnsinn seinem Ende.<br />
Es kommt in <strong>Reichelsheim</strong> mit der Besetzung durch<br />
amerikanische Truppen im April 1945. Vor dem Einmarsch<br />
haben beherzte Einwohner auf dem Kirchturm<br />
und an ihren Häusern die weiße Fahne gehißt, um anzuzeigen,<br />
daß kein Widerstand zu erwarten ist, um so <strong>Reichelsheim</strong><br />
vor der Zerstörung zu bewahren“ (W. Coburger<br />
„Der Weg der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche durch 5 Jahrhunderte“,<br />
S. 47).<br />
<strong>Reichelsheim</strong> wurde also nicht durch Befehl „zur<br />
Frontstadt“ erklärt- es öffnete sich und sicherte sich damit<br />
seine Zukunft. Die <strong>Reichelsheim</strong>er mußten wahrnehmen,<br />
daß sie neue kommunalpolitische Wege gehen<br />
mußten, daß sich ihre kleine Stadt wirklich „öffnen“<br />
mußte. Und das geschah.<br />
Neue Ideen waren von den Einwohnern gefordert -<br />
und neue Ideen wurden in der nun beginnenden Nachkriegszeit<br />
im engen Rahmen der knappen öffentlichen<br />
Gelder umgesetzt.<br />
Wesentliche Probleme waren, wie schon berichtet, die<br />
vielen Hunderte von Vertriebenen und Flüchtlingen.<br />
Andere Dialekte, andere Gewohnheiten, andere Lebensauffassungen<br />
und auch andere Konfessionen wurden<br />
zur Alltäglichkeit, und sie wurden vertraut, wurden<br />
fast selbstverständlich. Ende 1947 gab es in <strong>Reichelsheim</strong>,<br />
dieser „ur-protestantischen“ Gemeinde, 475 Katholiken!<br />
Vor dem Krieg konnte man die Anhänger dieser<br />
Glaubenskonfession nahezu an einer Hand abzählen!<br />
Konsequenterweise öffnete man die evangelische Kirche<br />
den Christen dieser Glaubensrichtung, damit auch sie ihren<br />
Gottesdienst feiern konnten. Durch diese Öffnung<br />
wurde - wie selbstverständlich - die <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche<br />
das Gotteshaus für alle alten und neuen <strong>Reichelsheim</strong>er.<br />
Doch die Menschen hatten es in diesem kleinen Dorf<br />
(seit 1937 war es nach Einführung der „Deutschen Gemeindeordnung“<br />
durch die nationalsozialistische<br />
Reichsregierung nicht mehr „Stadt“) nicht leicht: Wie<br />
überall in Deutschland konnte die Ernährung der vielen<br />
Menschen (nahezu täglich wurden es mehr) auch in <strong>Reichelsheim</strong><br />
nur äußerst schwer gewährleistet werden. Die<br />
alte Reichsmark war nichts mehr wert, die Lebensmittelkarten<br />
teilten bis auf das Gramm genau jedem einzelnen<br />
seine magere Existenzgrundlage zu.<br />
Wer Acker und Stall sein Eigen nennen konnte, der<br />
hatte es gewiß besser, der konnte nicht nur unabhängig<br />
von den Lebcnsmittelkarten Nahrungsmittel auf den<br />
Tisch seiner Familie stellen, der konnte auch im<br />
„Tausch-Verfahren“ manches erwerben, von dem andere<br />
träumten. Doch leicht war es für keinen in jenen Jahren.<br />
Die am 20. Januar 1946 demokratisch gewählten <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Kommunalpolitiker hatten keine leichte<br />
Aufgabe übernommen. Um 75% hatte die Einwohnerschaft<br />
zugenommen! Woher Wohnraum für die Menschen,<br />
woher Schulraum für die Kinder, woher Arbeit<br />
für die Erwachsenen nehmen? Die Kirche half bei der<br />
Versorgung der Flüchtlinge und Vertriebenen durch das<br />
„Hilfswerk der evangelischen Kirche“, so gut sie nur<br />
konnte. Über andere Hilfsorganisationen fanden die<br />
amerikanischen „Care-Pakete“ ihren Weg auch nach<br />
<strong>Reichelsheim</strong> zu den bedürftigsten Familien: Pakete mit<br />
Mehl, Milchpulver und manchmal sogar mit Käse und<br />
gesalzener Butter.<br />
Die Ende 1946 / Anfang 1947 sich konstituierende<br />
Staatsgewalt des neugegründeten Staates Hessen versuchte<br />
durch Sonderprogramme, die Gemeinden aktiv<br />
bei der Bewältigung der enormen Probleme zu unterstützen.<br />
Doch erst die Währungsreform im Sommer 1948<br />
167
ließ wirklich Hoffnung aufkommen, dies besonders nach<br />
dem harten Winter '1947/48, in dem die Menschen freiwillig<br />
zusammenrückten, um ja nicht zu erfrieren.<br />
Um die Ernährungssituation zu verbessern, gelang es<br />
schließlich der politischen Gemeinde, Ackerland auf der<br />
Unterbeunde von der Kirche anzupachten, um dieses als<br />
Gartenland an die Heimatvertriebenen weiterzugeben.<br />
Dies brachte Besserung in die Ernährungslage, aber es<br />
brachte in vielen Fällen auch Anerkennung: Die Alt-<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er sahen mit Verwunderung und Achtung,<br />
was die neuen Mitbürger aus ihren kleinen Stücken<br />
durch Sorgfalt, Kenntnisreichtum und vor allem Fleiß<br />
herauszuholen imstande waren! Manch ein Kontakt bildete<br />
sich, sah man doch, daß die „Eingeplagten“, wie die<br />
Vertriebenen und Flüchtlinge von Mißgünstigen genannt<br />
wurden, kräftig zupackten, wenn sie die Möglichkeit dazu<br />
erhielten.<br />
Da die Wohnungsnot nicht abnahm, sondern sich eher<br />
von Monat zu Monat verschlechterte, bildete sich eine<br />
„Wohnungsgesellschaft“. Noch vor der Währungsreform<br />
trat sie an die Kirche heran, um in den Besitz von<br />
Land im Bereich „Haingraben“ zu kommen: Nach vielem<br />
Hin und Her gelang es, zu einem Übereinkommen<br />
zu gelangen: Die Kirche, der es durch Kontrollratsgesetz<br />
der Siegermächte nicht erlaubt war, Gelände zu verkaufen,<br />
verpachtete einen Streifen Land durch den alten<br />
Pfarrgarten, um einen Zugang zur Oberen Haingasse zu<br />
ermöglichen. So konnten bald die ersten Häuser gebaut<br />
werden. <strong>Reichelsheim</strong> begann sich nach Westen hin auszudehnen.<br />
In dieser Zeit erblühte auch langsam wieder das Vereinsleben.<br />
Manch ein Zugezogener fand durch die Vereine<br />
Zugang in die Häuser und die Herzen der Alteingesessenen.<br />
Aber auch sonst schien wieder alles „normaler“ zu<br />
werden: Vom Kirchturm läuteten seit 1947 bereits wieder<br />
2 Glocken zu den festgesetzten Zeiten, nachdem eine<br />
der 1940 abgelieferten Glocken unversehrt wieder ihren<br />
Wirkungsort im Kirchturm bekommen hatte. Und auch<br />
sonst schien sich das kirchliche Leben zu normalisieren,<br />
traten doch wieder viele der Gemeinschaft der evangelischen<br />
Christen bei, nachdem sie einige Jahre zuvor aus<br />
politischen Erwägungen ihr den Rücken gekehrt hatten.<br />
Und zur Zufriedenheit des Pfarrers fanden sich genügend<br />
Gemeindemitglieder, die bereit waren, für ein ehrenamtliches<br />
Mandat in der Kirchenvertretung oder gar<br />
im Kirchenvorstand zu kandidieren.<br />
Durch die große Zahl von Neubürgern entwickelte<br />
sich die Schulsituation zu einer Katastrophe: Im Historischen<br />
Rathaus, das in seinem 1. Stock nur zwei Schulräume<br />
beherbergte, gab es anfänglich gar keinen Unterricht,<br />
weil es durch den Krieg überhaupt keine Lehrer<br />
gab. Doch dann sollten in diesen 2 Räumchen 200 Schulkinder<br />
Platz finden! Es blieb nur eine organisatorische<br />
Lösung: Unterricht rund um die Uhr, also in zwei oder<br />
gar drei Schichten! Um das leisten zu können, wurde zusätzlich<br />
ein Raum im Lehrerwohnhaus (Florstädter Straße<br />
/ Neugasse) in ein Klassenzimmer umgewandelt. Die<br />
Eltern, die sich gewiß Besseres und Schöneres für ihre<br />
Kinder vorgestellt hatten, unterstützten die Lehrer, die<br />
anfänglich meist nur Hilfslehrer oder „Schulamtsanwärter“<br />
waren, nach besten Kräften, damit sie die Schülergruppen<br />
von meist 40 Kindern pro Klasse im „Griff“ behalten<br />
konnten.<br />
Schon 1949 begann wegen der unbeschreiblichen<br />
Raumnot die Planung für ein neues Schulgebäude. Doch<br />
es dauerte noch mehrere Jahre, bis es zum ersten Spatenstich<br />
für das Gebäude kam. Die Bürgerschaft war nämlich<br />
geteilter Auffassung über den rechten Standort:<br />
168
Sollte es in den Bereich des neuen Baugebietes am Heingraben<br />
kommen, oder sollte es in unmittelbarer Nähe<br />
des Lehrerwohnhauses stehen? Sechs Jahre stritt ein<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Bürger gegen die beschlossene Absicht<br />
der politischen Gemeinde, das Gebäude in die Lehrergärten<br />
an der Florstädter Straße/Ecke Roßgasse zu errichten.<br />
Sechs lange Jahre wurde hartnäckig und stur aut<br />
ı<br />
den eigenen Positionen beharrt, wurden alle Rechtsmittel<br />
und -wege ausgeschöpft: Widerspruch beim Kreisaussch<br />
uß - Klage vor dem Landgericht- Klageverfah ren vor<br />
dem Oberlandesgericht - Klage vor dem Bundesgerichtshof<br />
in Karlsruhe - Zurückverweisung an das Landgericht<br />
- Entscheidung schließlich durch das Oberlandesgericht.<br />
_ _ ! Endlich (1) erhielt die Gemeinde das Nutzungsrecht<br />
im ehemaligen Lehrergarten zugesprochen!<br />
1955 wurden die Pläne der neuen Schule zur Genehmigung<br />
beim Kreis eingereicht - und am 2. Oktober 1956<br />
konnte sie in einer Feier den Lehrern übergeben werden.<br />
*Mm<br />
Fä<br />
Die neue Schule an der Florstädter Straße<br />
Die 3. Glocke wird in den Turm der Kirche gezogen
Seit 1955 ertönten die Glocken der Kirche wieder so,<br />
wie es die älteren <strong>Reichelsheim</strong>er Mitbürgerinnen und<br />
Mitbürger von klein auf gewöhnt waren, nämlich im<br />
Dreiklang: 10 Jahre nach dem unseligen Krieg war es der<br />
Gemeinde möglich, eine dritte, eine neue Glocke wieder<br />
im Kirchturm zu befestigen. Die „Normalität“ war einen<br />
Schritt weiter gekommen!<br />
Doch alles war nicht so „normal“ wie vor dem Krieg.<br />
Die Menschen hatten sich verändert, auch jene, die hier<br />
geboren worden waren. Zu viel hatten sie in den 2 Jahrzehnten<br />
zuvor erleben müssen, zu sehr waren „Ideale“<br />
als Irrlehren entlarvt. Und so kam es auch zu kleinen<br />
oder größeren Reibereien zwischen der politischen und<br />
der kirchlichen Gemeinde, zwischen den Repräsentanten<br />
dieser zwei Gemeinden innerhalb des Ortes. So ärgerte<br />
es den Pfarrer sehr, daß der Kirchplatz (Besitz der<br />
politischen Gemeinde), der eigentlich zu jener Zeit noch<br />
bis zum Schulhausneubau nicht nur Spielplatz sondern<br />
auch Schulhof war, von den Bauern auch als „Verladerampe<br />
für das Vieh“ genutzt wurde. Was Pfarrer Carl besonders<br />
ärgerte, war, daß sogar sonntags dort das<br />
Schlachtvieh verladen wurde (am Römerberg, unmittelbar<br />
an der Kirchenmauer, befindet sich noch heute das<br />
Wiegehäuschen). „Als sogar während des Sonntagsgottesdienstes<br />
Tiere dort verladen wurden, bin ich zum Bürgermeister<br />
Marloff hingegangen und habe um Abstellung<br />
des Übels gebeten. Er erklärte, die Bürger verlangten<br />
das, daß der Kirchplatz als Verladerampe benützt<br />
wird. Daraufhin habe ich die Behörde in Darmstadt um<br />
Abstellung des Übelstandes gebeten“ (s. Kirchenbuch,<br />
S. 636).<br />
Die Stellung des Pfarrers in der Gemeinde hatte sich<br />
seit Beginn des Dritten Reiches gewandelt, und das Ansehen<br />
der Kirche war erheblich gesunken. Schon bei seiner<br />
Rückkehr aus dem Krieg hatte Pfarrer Carl feststel-<br />
len müssen, daß nahezu alle Fenster des Gotteshauses<br />
eingeschlagen worden waren. _. Und als er den damaligen<br />
Bürgermeister einmal ansprach, die Gemeinde möge<br />
doch wieder eine 3. Glocke für die Kirche anschaffen, erhielt<br />
er nach eigenen Worten nur folgende barsche Antwort:<br />
„Wir brauchen keine Glocke; wir gehen doch nicht<br />
in die Kirche !“ (s. Kirchenbuch, S. 636). Hier klingt einwenig<br />
das Verhalten von „Don Camillo und Pepone“<br />
durch _ _ _<br />
Der Ort hatte sich gewandelt: Durch die größere Bevölkerungszahl<br />
war auch eine größere Geschäftigkeit zu<br />
spüren: Es gab zahlreiche kleine Geschäfte und seit Mitte<br />
der 50er Jahre auch 2 Tankstellen in <strong>Reichelsheim</strong><br />
(Weckesheimer Straße und Bingenheimer Straße) - auch<br />
dies Zeichen eines aufkommenden Wohlstandes in der<br />
Bevölkerung.<br />
Politisch hatte sich auch einiges verändert: T1956 wurden<br />
die Sozialdemokraten erstmals stärkste Fraktion im<br />
Gemeinderat. „Bei den Kommunalwahlen am 28. Oktober<br />
wurden nur noch 9 Gemeinderatsmitglieder gewählt.<br />
Es erhielten die Arbeiter und ein Teil der Heimatvertriebenen<br />
(sozialdemokratisch) 4 Sitze, die Handwerker und<br />
freien Berufe _ _ _ 3 Sitze und die Bauern nur noch 2 Sitze.<br />
Hieraus kann man die Zusammensetzung des Dorfes<br />
<strong>Reichelsheim</strong> heute erkennen.<br />
Die Wahl des Bürgermeisters erfolgte durch den Gemeinderat.<br />
Dieser wählte zum neuen Bürgermeister Installationsmeister<br />
Otto Nohl, der seither erster Beigeordneter<br />
war. Der seitherige Bürgermeister Wilhelm<br />
Marloff wurde zum ersten und der Angestellte Willi Nohl<br />
zum 2. Beigeordneten gewählt“ (s. Kirchenbuch,<br />
S. 651).<br />
Daß die neue, die „moderne“ Zeit nicht an <strong>Reichelsheim</strong><br />
vorbeigegangen war, ergibt sich aus folgenden Anmerkungen<br />
und Mitteilungen: „Seit 1955 gibt es im Ort<br />
170
einen Mähdrescher“ - „Die Landwirtschaft wird immer<br />
mehr technisiert“ - „Seit einiger Zeit gibt es Fernsehgeräte<br />
im Ort, 1957 sind schon ca. 50 Geräte im Gebrauch“.<br />
Neue Zeiten verlangen bekanntermaßen oft auch neue<br />
Symbole. Für <strong>Reichelsheim</strong> bedeutete dies einen Wechsel<br />
auf dem Kirchturm : der alte Turm- oder Wetterhahn,<br />
der über Jahrhunderte das Ortsgeschehen überblickt<br />
hatte, wurde durch einen neuen ersetzt- der alte kam ins<br />
Museum nach Friedberg!<br />
Der alte Turm- und Wetterhahn der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Kirche, der bis 1958 die Geschicke des Ortes<br />
iiberwachte (Foto: H. Haag)<br />
Hierzu vielleicht eine kleine informative Anmerkung:<br />
ln früheren Zeiten wurde ein Kirchturm- und Wetterhahn,<br />
bevor er befestigt wurde, durch den ganzen Ort getragen.<br />
Allen Menschen, ob jung oder alt, wurde er gezeigt.<br />
Ein solcher Hahn galt nicht nur als „Wächter der<br />
Gemeinde“ (höchster Platz im Ort - damit beste Übersicht<br />
über denselben), nicht nur als „christlicher Bewahrer<br />
vor dem Bösen“ und als „Symbol der Buße“ (im Zusammenhang<br />
mit der Verleugnung des Petrus), seit dem<br />
Mittelalter gilt der Hahn als „Symbol des Predigers, der<br />
in der Finsternis der Sünde wacht“, sich stets gegen den<br />
Wind kehrend und die Sünder der Gemeinde erweckt.<br />
Der Hahn auf dem Dach bzw. auf dem Kirchturm soll<br />
dem Haus oder der Gemeinde allerdings auch Fruchtbarkeit<br />
schenken!<br />
Der neue Hahn wurde von einem einheimischen<br />
Schlossermeister (Karl Heß) hergestellt und am 28. Juni<br />
1958 auf die Turmspitze der Kirche gesetzt.<br />
Vielleicht war es dem alten Wettcrhahn auch ganz<br />
recht, abgelöst zu werden - vielleicht verstand er seine<br />
Welt, „seinen“ Ort <strong>Reichelsheim</strong>, auch gar nicht mehr:<br />
Überall wurde gebaut, ein regelrechter Bau-Boom war<br />
seit Mitte der 50er Jahre festzustellen, erst in der Bingenheimer<br />
und Weckesheimer Straße, dann aber nach Westen<br />
zu, wo ein ganz neues Wohngebiet „lm vorderen<br />
Bahngewann“ entstand! Neue Straßennamen tauchten<br />
auf, wie z. B. „Am Haingraben“, „Am Feuergraben“,<br />
„Sudetenstraße“, „Friedensstraße“, „Am Hans-Geis-<br />
Küppel“. Die Straßen waren beidseitig mit kleinen Einfamilienhäusern<br />
bebaut, errichtet meist von den Vertriebenen<br />
und Flüchtlingen, die hier wirklich ihre neue, ihre<br />
2. Heimat gefunden hatten.<br />
Für die, die nicht in der Lage waren, ein eigenes Häuschen<br />
zu errichten, baute die Gemeinde in den folgenden<br />
Jahren mehrere Mehrfamilienhäuser und trug damit dazu<br />
bei, daß die Wohnverhältnisse langsam aber sicher<br />
menschenwürdiger wurden.<br />
171
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Friedensstraße zu Baubeginn<br />
Kinderspielplatz mit dem neuen Kindergarten im<br />
und nach der Fertigstellung<br />
Hintergrund sowie das Aussehen des Gehindes<br />
Anfang der 60er Jahre (Fotos: W. Nohl) vor der Neugestaltung im Jahre 1963<br />
(Fotos: W. Nohl)<br />
172
l<br />
Das Hauptaugenmerk der politischen Gemeinde galt<br />
aber den Gemeinschaftseinrichtungen: 1956 wurde, wie<br />
bereits berichtet, die Schule gebaut, und 1963 wurde beschlossen,<br />
das im 3. Reich am Zimmerplatz errichtete<br />
Hitler-Jugend-Heim, das zwischenzeitlich gewerblich<br />
genutzt worden war, in einen städtischen Kindergarten<br />
umzubauen. Damit hatte <strong>Reichelsheim</strong> nach vielen Jahren<br />
wieder eine pädagogisch betreute Bleibe für die Kinder<br />
im Vorschulalter.<br />
Im gleichen Jahr wurden auch die Pläne für den Bau<br />
eines modernen Kinderspielplatzes neben dem neuen<br />
Kindergarten und dem bestehenden Sportplatz in die<br />
Wirklichkeit umgesetzt.<br />
1964 wurden für die Feuerwehr in der Neugasse neue<br />
Räumlichkeiten geschaffen.<br />
Ein Jahr später wurde der Wunsch vieler Menschen erfüllt:<br />
Aufdem erweiterten und neu eingefriedeten Friedhof<br />
wurde eine Aussegnungshalle errichtet, die die 1949<br />
provisorisch errichtete Trauerhalle ersetzte.<br />
1966 entstand der neue Sportplatz für den SV 1920<br />
<strong>Reichelsheim</strong> und 1970 das Naherholungsgebiet mit<br />
Teich, Wegeanlage und Kinderspielbereich.<br />
Da Ende der 60er/ Anfang der 70er Jahre im Neubaugebiet<br />
„Am Lehmberg“ mit Ring- und Ulmenstraße,<br />
Birken-, Tannen- und Lindenweg noch mehr Menschen<br />
- nun z. T. „Großstadtflüchtlinge“, die für ihre Kinder<br />
ein „bißchen heile Welt suchten“ - damit begannen,<br />
Eigenheime in <strong>Reichelsheim</strong> zu errichten, sah sich die<br />
Gemeinde gezwungen, auch eine Halle für Vereins- und<br />
Familienfeiern oder kulturelle Veranstaltungen zu errichten:<br />
die Mehrzweckhalle! Dieser 1970 durchgeführte<br />
Bau geschah auch zur großen Freude der Kindergartenund<br />
der Grundschulkinder, durften sie die Halle vormittags<br />
doch auch als eine Art Sport- und Festhalle<br />
benutzen.<br />
\<br />
Mehrzweckhalle kurz n.ach. der Einweihung 1970<br />
(Foto als Ansichtskarte im Archiv der Stadt)<br />
Somit hatte sich <strong>Reichelsheim</strong> in dem Vierteljahrhundert<br />
nach dem schrecklichen Krieg ein neues Aussehen<br />
gegeben. Manch einen älteren Bewohner mag der rasante<br />
Wandel irritiert haben. Denn tatsächlich hatte sich<br />
<strong>Reichelsheim</strong> in jenen 2'/2 Jahrzehnten mehr in Aussehen<br />
und Zusammensetzung der Bevölkerung verändert<br />
als von den Jahren seiner ersten Blüte zur Zeit der Mitte<br />
des 17. Jahrhunderts, als dem „Flecken“ Stadt- und<br />
Marktrechte verliehen worden waren, bis 1945.<br />
In dieser Zeit der „2. Blüte“ gelang es dem eifrigen<br />
Bürgermeister Otto Nohl auch, für <strong>Reichelsheim</strong> jene historischen<br />
Stadtrechte wiederzuerlangen. Ca. 25 Jahre,<br />
nachdem die Reichsregierung des Dritten Reiches 1937<br />
allen kleinen Gemeinden alte, historisch bedeutsame<br />
Stadtrechte aberkannt hatte, bestätigte die Regierung<br />
des Landes Hessen im Gesetz- und Verordnungsblatt:<br />
<strong>Reichelsheim</strong> darf sich wieder, wie seit 1665, „Stadt“<br />
nennen, genau gesagt: „Stadt <strong>Reichelsheim</strong>/Wetterau“.<br />
173
10. Das Ende der Selbständigkeit<br />
- Beginn der „Gesamtstadt <strong>Reichelsheim</strong>/Wetterau“<br />
„Am 1. Februar 1972 wurde die Zusammenlegung der<br />
Orte Blofeld, Beienheim, Heuchelheim, Dorn-Assenheim<br />
und <strong>Reichelsheim</strong> wirksam. Am 31. 12. 1971 waren<br />
die Verträge mit <strong>Reichelsheim</strong> unterzeichnet. Jetzt liegt<br />
die Genehmigung des Landes Hessen vor.<br />
Seit Tagen steht immer wieder ein Landwirt mit<br />
Schlepper und Anhänger vor dem Rathaus und lädt<br />
Blechschrank und Möbel nebst Akten aus den eingemeindeten<br />
Orten hier ab. Die ganze Verwaltung wird zusammengefaßt“<br />
(s. Kirchenbuch, S. 691).<br />
Weckesheim kam im Laufe des Jahres per Gesetzesbeschluß<br />
hinzu. Damit bildeten nunmehr 6 ehemals selbständige<br />
Ortschaften eine gemeinsame politische Gemeinde!<br />
Als Bezeichnung wurde schließlich einvernehmlich<br />
der Name „Stadt <strong>Reichelsheim</strong>/Wetterau“ gewählt,<br />
obwohl zwischenzeitlich auch „neutralere“ Namen<br />
ins Gespräch gebracht worden waren.<br />
Der Beginn war nicht leicht. Sechs verschiedene Gemeinden,<br />
sechs verschiedene „kommunale Individuen“<br />
mit völlig verschiedenem historischen Hintergrund, mit<br />
unterschiedlichen konfessionellen und politischen<br />
Grundeinstellungen wurden zusammengefügt und sollten<br />
nun zusammenfinden!<br />
Altes Konkurrenzdenken, vor allem aber Vorurteile,<br />
die z. T. seit Jahrhunderten bestanden, aber zumindest<br />
seit Jahrhunderten sorgsam in dem Bestreben nach Abgrenzung<br />
„gehegt und gepflegt“ worden waren, sie sollten<br />
nun, wenn möglich äußerst schnell und „vernünftig“,<br />
überwunden werden. Es sollte gar erstrebt werden, daß<br />
ein „Wir-Gefühl`“ von Beienheim bis nach Blofeld, von<br />
Dorn-Assenheim bis nach Heuchelheim, um einmal die<br />
Eckpunkte der Gesamtstadt zu nennen, entsteht.<br />
Und durch das Bestreben vieler, die ehrenamtlich in<br />
den politischen und/oder kirchlichen Gremien, in Gesang-<br />
und/oder Sportvereinen tätig waren und sind, ist<br />
das Ziel, das damals, 1972, von Optimisten gezeichnet<br />
wurde, nahezu erreicht:<br />
Es gibt 20 Jahre nach der Zusammenlegung der selbständigen<br />
Gemeinden Beienheim, Blofeld, Dorn-Assenheim,<br />
Heuchelheim, <strong>Reichelsheim</strong> und Weckesheim die<br />
Akzeptanz der Zusammengehörigkeit und zugleich den<br />
Willen, den jeweils eigenen Dorfcharakter zu erhalten!<br />
So ist es vielleicht symbolhaft für die gegenwärtige Situation<br />
in der Gesamtstadt „Stadt <strong>Reichelsheim</strong>/W.“,<br />
daß <strong>1992</strong><br />
1. die gemeinsame Grundschule eingeweiht wird, so daß<br />
in Zukunft alle Kinder im Grundschulalter aus allen 6<br />
Ortsteilen in demselben Gebäude unterrichtet werden,daß<br />
2. die Programme zur Dorferneuerung in verschiedenen<br />
Ortsteilen anlaufen und daß<br />
3. in diesem Jahr der erste exakte Stadtplan der „Gesamtstadt<br />
<strong>Reichelsheim</strong>“ an alle Haushalte verteilt<br />
werden konnte.<br />
Die Stadt <strong>Reichelsheim</strong>/Wetterau, der Zusammenschluß<br />
von 6 Gemeinden mit dem Verwaltungszentrum<br />
<strong>Reichelsheim</strong>, ist für die Zukunft gerüstet- als Lebens-,<br />
Wohn- und Arbeitsumfeld.<br />
Möge es so bleiben!<br />
174
l<br />
l<br />
l<br />
'<br />
II. Wichtiges und Interessantes<br />
1. Aus dem Alltagsleben der <strong>Reichelsheim</strong>er - a) Der Hausbau<br />
Wenn in <strong>Reichelsheim</strong> vor 100 Jahren oder früher ein<br />
Haus gebaut werden sollte, so war dies aus Kostengründen<br />
meist ein Fachwerkhaus.<br />
Nachdem das Erdreich für den Keller ausgeschachtet<br />
worden war, wurde ein Basaltstein-Mauerwerk bis ungefährt<br />
50 bis 120 cm über Straßenhöhe errichtet. Die benötigten<br />
Basaltsteine wurden aus dem im Gemeindewald<br />
liegenden Steinbruch, zeitweise auch vom Lochbcrg<br />
(= Luh- oder Lohberg), als dieser nicht mehr als Weinberg<br />
genutzt wurde, gebrochen und dort schon in brauchbare<br />
Brocken zugeschlagen, was eine äußerst zeit- und<br />
vor allem kraftraubende Arbeit war. Der Kellerboden<br />
des Hauses selbst wurde nicht versiegelt. Die dadurch<br />
meist gleichmäßige Temperatur der Kellerräume und die<br />
stets vorhandene natürliche Feuchtigkeit war günstig für<br />
die Lagerung der rohen oder eingemachten Feld- und<br />
Gartenfrüchte. War das Basaltmauerwerk hochgezogen,<br />
begann der eigentliche Hausbau. Oft hatten die Bauherren<br />
sich die notwendigen Hölzer von alten Anwesen „auf<br />
Abriß ersteigert“. D. h.: wollte irgendwer irgendwo sich<br />
ein neues Haus bauen. versteigerte es das „Haus auf Abriß“.<br />
Der Ersteigerer konnte sich das Holz und manchmal<br />
sogar einen Teil der Basaltsteine des Kelle rbereiehes<br />
von der Abbruchstcllc holen.<br />
(Das alte Pfarrhaus wurde im Jahre 1622 durch Vermittlung<br />
der Enkel des ersten evangelischen Pfarrers von<br />
<strong>Reichelsheim</strong> aus einer ersteigerten Abrißmasse eines<br />
Hauses in „Hunstadt im Kirchspiel Gríiwenwicsbacli“ erstellt.<br />
Als dieses l9l2 nicht mehr nutzbar war, wurde es<br />
zum Preise von 500 Mark an den <strong>Reichelsheim</strong>er Schlossermeister<br />
Adolf Nohl „auf Abriß verkauft“. Dieser<br />
verwendete die noch brauclıbaren Hölzer für den west-<br />
.S`chıtı/fıusflug zmn .S`teı'nl›ruch<br />
Kessel „Am Ast“ in der<br />
Nähe des Bingen/ıeiı~ner<br />
Kreuzes, wo <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
= Bauwiilige ihre Basahsreine<br />
brachen (A ufnahme aus<br />
dem Jahre 1931 / Foro<br />
im Besitz der Familie Rohde)<br />
A175
lichen Anbau an das heutige Haus Schauermann an der<br />
Ecke Bingenheimer Straße / Bad Nauheimer Straße. -<br />
Auch die alte Pfarrscheune, die lange im Pfarranwesen<br />
gestanden hatte, war auf Abriß verkauft worden und<br />
steht heute am Römerberg und ist im Besitz der Familie<br />
Rohde.)<br />
de meist direkt vor der Baustelle auf der Straße durchgeführt.<br />
W-<br />
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(42<br />
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t Y<br />
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l<br />
Zimmerleute bei der Arbeit im Ortsmittelpunkt<br />
Die alte Pfarrscheıme aufdem Römerberg<br />
(Foro G. Wagner)<br />
Die fehlenden oder durch neue zu ersetzenden Balken<br />
mußten von Zimmerleuten auf dem „Zimmerplatz“ zugeschlagen<br />
werden (Zimmerplatz nennt sich noch heute<br />
der Bereich östlich der Brücke über die Horloff beim<br />
Kinderspielplatz bzw. Bauhof der Stadt). Die Stämme<br />
für die Balken hatten sich die bauwilligen Ortsbürger zuvor<br />
mit Genehmigung des Bürgermeisters (früher der<br />
„l\/Iarkmeisters“ oder des „Markgerichtes“ in Bingenheim)<br />
im Gemeindewald bzw. Markwald geschlagen.<br />
Der Feinzuschnitt der Balken auf Paßgenauigkeit wur-<br />
Die Errichtung der „Fache“ erforderte große handwerkliche<br />
Geschicklichkeit und gute Grundkenntnisse<br />
der Statik eines Gebäudes. Wegen der Stabilität, aber<br />
auch, um möglichst viel Wohnraum zu schaffen, wurden<br />
„Verkragungen“ vor allem zur Straßenseite hin vorgenommen,<br />
d. h. das obere Stockwerk überragte das Erdgeschoß<br />
und erhielt dadurch einen größeren Grundriß.<br />
Die „\/erkragungen“, also die überragenden Balken,<br />
schafften eine größere Verspannung innerhalb des gesamten<br />
Holzwerkes.<br />
Seit Beginn des letztes Jahrhunderts wurden diese<br />
Überhänge immer geringer; sie waren auch immer weniger<br />
notwendig, weil die Stadtmauer ihre Bedeutung verloren<br />
hatte und deswegen nicht mehr jeder Quadrat-<br />
176
Zentimeter Boden innerhalb der Stadt bestmöglich ausgenutzt<br />
werden mußte - unter der Berücksichtigung, daß<br />
die Straßen und Gassen bis zu einer Höhe von gut 3 Metern<br />
mindestens „Fuhrwerksbreite“ haben mußten!<br />
Horloffaue oder am Ortenberggraben ausreichend vorhanden<br />
war, gedeckt. Doch nach dem großen Brand des<br />
Jahres 1665, wenige Monate nach Verleihung der Stadtrechte,<br />
wurde vom damaligen nassauischen Graf zuerst<br />
die Abdeckung der Wohnhäuser mit Stroh, später auch<br />
die Abdeckung der Wirtschaftsgebäude mit diesem Material<br />
bei Strafe untersagt. Schiefer oder „gebrannte Ziegel“<br />
mußten seither genommen werden ; in <strong>Reichelsheim</strong><br />
wurde lange der rotgebrannte „Biberschwanz“ bevorzugt<br />
Nach der Dachdeekung wurden die Gefaehe gefüllt:<br />
Stecken aus Weiden oder besser aus zäher Hainbuche<br />
wurden „verschränkt eingeklemmt“.<br />
Wandaufbau „Standerbau“ nennt man eine<br />
Fachwerkhaus -Konstruktion, deren senkrecht<br />
stehende Hölzer (Stander) durch alle Geschosse<br />
bis zur Decke hindurch reichen<br />
(entn.: „Die Wetterau“, S. 106)<br />
„Stockwerkbau“ wird die Fach werkkonstruktion<br />
genannt, bei der jedes Stockwerk für sich<br />
gezimmert, als selbständig ist<br />
(entn. : „Die Wetterau“, S. 106)<br />
Hatte der wackere <strong>Reichelsheim</strong>er Ortsbürger bzw.<br />
hatten die Zimmerleute das Gebälk gerichtet, so galt es,<br />
das Dach zu decken. Ursprünglich wurden die Häuser in<br />
<strong>Reichelsheim</strong> mit Stroh oder Riedgras, das in der<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Bauern bei Abgabe „wichtiger<br />
Kommentare“ bedeutender Ereignisse<br />
(= Zuschauer bei einer Hochzeit<br />
Anfang der 50er Jahre /<br />
Foto im Besitz der Familie Rohde)<br />
177
Nach dieser mühsamen Arbeit, die für die spätere Stabilität<br />
der Wände wichtig war, wurde alles mit einem<br />
Lehm-Stroh-Brei fest und fugenlos verschmiert. Den<br />
Lehm hatte sich der Bauherr mit Genehmigung der Bürgermeisterei<br />
aus der gemeindeeigenen „Lehmkaute“ geholt.<br />
Diese Lehmkaute befand sich an der ehemaligen<br />
Straße nach I)orn-Assenheim, etwa l5() Meter südwestlich<br />
vom Ortsausgang entfernt.<br />
Der mit Stroh vermengte Lehmbrei klebte schnell fest.<br />
Wenn er ausgetroeknet war, stellte er eine gute Isolierung<br />
gegen Hitze und Kälte dar.<br />
Wenn Schreiner und Glaser auch ihr Werk getan hatten,<br />
also Fenster und Türen gesetzt waren, konnte das<br />
Haus bald bezogen werden. Lag das Haus an der<br />
„Hauptstraße“, so befand sich der Treppenaufgang mit<br />
seinen drei bis acht Sandsteinstufen, die der Steinmetz<br />
geliefert und verlegt hatte, auch stets zu dieser hin, es sei<br />
denn, das Haus war Teil einer Hofreite mit einer großen<br />
Einfahrt zum Hofe hin. Dann befand sich der Eingang -<br />
wie sonst meist nur in den schmalen Gassen, wo die Fuhrwerke<br />
nicht behindert werden durften - seitlich des Hauses<br />
iın Hof (,„Hoftore“ gab es früher in der Regel nicht;<br />
somit war auch dann der Hauseingang zugänglich, wenn<br />
der Hauseingang seitlich des Hauses angebracht war).<br />
Mit dem Bau der „modernen“ Ziegelei an der Straße<br />
nach Weckesheim gegen Ende des letzten Jahrhunderts,<br />
aber auch schon zuvor, als westlich der heutigen Bahnstraße<br />
Lehmziegel hergestellt wurden, änderte sich der<br />
Hausbau in <strong>Reichelsheim</strong> ganz gewaltig: Nun brauchten<br />
nicht mehr die harten Basaltsteine im Steinbruch gcschlagen<br />
werden. Und manch ein <strong>Reichelsheim</strong>er begann<br />
zu überlegen, ob er nicht das ganze Haus „hochmauert“<br />
und die Zimmerleute nur noch um Errichtung<br />
des Dachstuhles bittet. Weil dies tatsächlich immer mehr<br />
Ortsbürger taten oder zumindest die Fache ausmauer-<br />
I<br />
ten, wurde die erwähnte Lehm kautc auch kaum noch genutzt:<br />
deswegen wurde sie im Interesse der wachsenden<br />
Bevölkerung im Rahmen der „Feld-“ bzw. Flurbereinigung<br />
1897/98 mit Mutterboden verfüllt und damit in Akkerland<br />
umgewandelt.<br />
178
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Beispiele von Hauseingcingen<br />
in <strong>Reichelsheim</strong><br />
(Foto G. Wagner)<br />
Restauriertes Fachwerkhaus<br />
in Reichelsheirn<br />
(Florstädter Straße 5 / Foto G. Wagner)
) Obst - ein wichtiger Vitaminspender für jung und alt<br />
Wer sich noch einmal die alte Karte aus dem Jahre<br />
l76l anschaut (s. Kapitel „Das Mittelalter“), die <strong>Reichelsheim</strong><br />
mit seiner von einer Landwehr umgrenzten<br />
Gemarkung zeigt, der sieht, daß dieser Ort nach Norden,<br />
Westen und Süden von großen Streuobstwiesen umgrenzt<br />
war. Sie bestanden, mit Ausnahme des nördlichen<br />
Bereiches (Bingenheimer Straße/Bahngebiet) bis in unser<br />
Jahrhundert hinein. lm Kirehenbuch wird indirekt<br />
über den Obstbaumbestand des Jahres 1880 im Zusammenhang<br />
mit der Wiedergabe des Ergebnisses der „Constatierung<br />
des Frostschadens“ im Winter zuvor berichtet:<br />
Dort heißt es:<br />
„Apfelbäume: l 128 erfroren, 1607 noch vorhanden -<br />
Birnenbäume: 349 erfroren, l4l5 nicht -<br />
Zwetschen: 3045 erfroren, 2487 nicht -<br />
Nußbäume: 9 erfroren, 2 nicht -<br />
Von Aprikosen und Pfirsiclıbäumen: erfroren 18, erhalten<br />
3.“<br />
Also waren ca. 45% aller Bäume in jenem Winter erfroren,<br />
wozu der Pfarrer allerdings den Hinweis machte,<br />
daß der wirkliche Schaden noch nicht abgesehen werden<br />
könne, da in den folgenden Monaten gewiß noch weitere<br />
Bäume Schäden zeigen würden.<br />
Durch diese Zahlen wissen wir heute-, daß es vor dem<br />
harten Frost des Winters l8'~)7/98 über ltltlótl Obstbäume<br />
in und um <strong>Reichelsheim</strong> gab! Mehr als 12 Bäume sorgten<br />
im Durchschnitt pro Einwohner für eine wichtige Lebensgrundlage.<br />
(Nicht umsonst haben die Pfarrer für<br />
jedes Jahr das Ergebnis der Obsternte vermcrktl)<br />
Albert Nohl, im Jahre 1893 in <strong>Reichelsheim</strong> geboren,<br />
hat als pensionierter Lehrer sich die Mühe gemacht, aufzuschreiben,<br />
was er über das Obst in und um <strong>Reichelsheim</strong><br />
und die Obstverwertung aus der Zeit um die Jahrhundertwende<br />
noch wußte. Hier sein (leieht gekürzter)<br />
Bericht:<br />
„Von den Obstbäumen:<br />
Rings um den Ort <strong>Reichelsheim</strong> waren Obstbäume in<br />
sehr großer Zahl zu finden. An Steinobst gab es hauptsächhch:<br />
Pflaumen, hier Krichen genannt, die eine runde, fast<br />
kugelige Form hatten. Sie kamen anfangs August mit ihrer<br />
Reife und waren nur zum Frischessen geeignet. Man<br />
konnte sie nicht lange aufheben.<br />
Eine sehr wässrige Frucht, die schnell verdarb, waren<br />
die tü rkischen Krichen, die man in manchen Haus-<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Frauen beim Zwetschenkernen,<br />
um 1937 (Foto im Besitz der Familie Winter)<br />
l 80
gärten pflanzte. Sie wurde auch türkische Kirsche genannt<br />
In reichem Maße war die Zwetsche vorhanden. Die<br />
Zahl der Bäume war außerordentlich groß. Die Frucht<br />
eignete sich vorzüglich zu Kuchen. Um die Reifezeit<br />
wurde in allen Familien der schmackhafte Zwetschenkuchen<br />
gebacken.<br />
Der weitaus größte Teil der Ernte wanderte in die Kessel<br />
der Küchen, in denen oft tagelang Zwetsch enh<br />
oi n g k gekocht wurde. Aus einem Kessel schöpfte man<br />
dann 20 und mehr Steintöpfe voll Latwerg. Bekannte<br />
oder verwandte Familien trafen sich um diese Zeit oft<br />
mehrere Abende im trauten Kreise zum Zwetschenkernen.<br />
Nach Beendigung dieser Arbeit gab es dann oft noch<br />
Kaffee und Kuchen zum Abschied.<br />
Viel Arbeit erforderte schließlich das Rühren im Kessel<br />
beim Kochen des Latwerges, und manche Nacht verbrachte<br />
die Familie, sich mehrfach ablösend, beim Rühren<br />
am Hoingk-Kessel. Wenn man da nicht bei der<br />
Hand war und das Rühren versäumte, brannte der ,Sud“,<br />
so nannte man die kochende Masse, an. Die zeigte sich<br />
einmal, daß der Zwetschenbrei auf dem Boden des Kessels<br />
fest anhing und daß sich ein Brandgeruch im Raum<br />
verbreitete. Stolz füllte dann am Ende der Kochzeit die<br />
Bäuerin die Steintöpfe mit dem sämigen Mus.<br />
Die Zwetsch e n ke rn e wurden manchmal unter dem<br />
Kessel im Feuerraum verbrannt, denn sie gaben ein gutes<br />
Heizmaterial ab. Oft wurden sie auch zu allerhand<br />
Scherzzwecken verwandt, indem sich die Jugend erlaubte,<br />
die Kerne Bekannten vor das Hoftor zu schütten.<br />
(Zusätzlicher Hinweis: Es gab aber auch den Brauch, ein<br />
„Pädche“ mit den Kernen zwischen die Häuser zweier -<br />
noch „geheim“ - verliebter junger Leute zu legen, was<br />
diese meist besonders „freute“.)<br />
Kirschen gediehen in und um <strong>Reichelsheim</strong> so gut<br />
wie gar nicht, weil der Lehmboden zu fett und zu wenig<br />
steinreich war. An Hängen, die nach Westen gerichtet<br />
waren, traf man auch keine Kirschbäume und auch nicht<br />
im ebenen Gelände der Wetterau. Hingegen auf steinigen<br />
Hügeln (Assenheim) oder auf felsigen, nach Osten<br />
gerichteten Abhängen gedieh die Kirsche bestens (Rodenbach,<br />
Rosbach und Ockstadt). Aus diesen Orten kamen<br />
um die Kirschenzeit Händler und boten ihre Kirschen<br />
an.<br />
Selten traf man um die Jahrhundertwende in den Gärten<br />
Mirabellen oder Reineklauden-Bäume an.<br />
Letztere nannte die Mundart „Rennekloe“.<br />
Kernobst gab es um 1900 reichlich. An Apfelsorte<br />
n waren fast nur Hausmannssorten, die schon vor<br />
Jahrhunderten gezüchtet worden waren, vorhanden.<br />
Welche Apfelsorten kannte man um 1900 im Heimatort<br />
<strong>Reichelsheim</strong>:<br />
1. Die einzige frühe Apfelsorte, die ich kannte, waren<br />
der „Haferapfel“. Wie schon sein Name sagt, fiel die Reife<br />
in die Zeit der Haferernte.<br />
2. Späte Apfelsorten waren a) der „Karthäuser“, ein<br />
Apfel weiß bis gelb in der Farbe und ganz vorzüglich im<br />
Geschmack. Nur war er verhältnismäßig klein. b) War es<br />
der rote „Madapfel“, der sich nicht so lange aufbewahren<br />
ließ und bald mehlig wurde. c) Ihm glich an Größe und<br />
Dicke der „Weißapfel“. Beide Sorten verwendete man<br />
im Herbst zur Apfelweinbereitung. d) Wenig vertreten<br />
war der „Rheinische Bohnapfel“, der sich weniger durch<br />
seinen Geschmack als durch seine sehr lange Haltbarkeit<br />
auszeichnete.<br />
Neue Sorten waren mir nur zwei bekannt: a) die Goldparmäne.<br />
Von diesen gab es zwei Arten, eine Sommerund<br />
eine Wintergoldparmäne. Letztere war viel besser<br />
im Geschmack als die Sommerparmäne. b) In die Rubrik<br />
181
der späten Sorten gehörte noch der „Gelbe Mecklenburger“,<br />
der eigentlich „Jakob Lebel“ hieß.<br />
Nun komme ich zu den B i rn e n :Auch hier gab es fast<br />
nur Jahrhunderte alte Hausmannssorten. Die Bäume<br />
dieser Obstart waren mächtig hoch und breit.<br />
An Frühsorten kannte man die zarte „Kornbirne“, die<br />
sehr, sehr süße „Zuckerbirne“, die saftige „Scheibelsbirne“<br />
und die gute „Bestebirne“. Ein Baum dieser Sorte<br />
stand auf dem Spielplatz um die Kirche. Korn- und Zukkerbirne<br />
hatten ihren Standort am Westende des Ortes.<br />
Die süßen und saftigen Früchte dieser Obstarten wurden<br />
von der Dorfjugend immer begehrt.<br />
Eine mittelfrühe Birne war die „Graubirne“. Sie<br />
wurde in der Hauptsache zu Latwerge, in Oberhessen<br />
„Hoingk“ genannt, verwandt. Bei der Ernte dieser Birnen<br />
wurde ein Teil des Ertrages gut gewaschen, dann ge-<br />
kocht und warm gekeltert. Den Saft, den es beim Keltern<br />
gab, brachte man in den gut gereinigten Kupfer- oder<br />
Emaillekessel. Den Ernterest schälten die Frauen und<br />
schnitten die vom Kernhaus gesäuberten Teile in mehrere<br />
Stücke. Die Birnstücke leerte man in den Kessel zu<br />
dem Saft. Auch jetzt wurde wie bei den Zwetschen die<br />
Masse zum Kochen gebracht. Auch der Birnsud mußte<br />
mindestens 310-12 Stunden fleißig gerührt werden, damit<br />
es nicht anbrannte und im Kessel anhing. Dieser Birnhoingk<br />
war fast von schwarzer Farbe und schmeckte<br />
sehr sehr süß und wurde besonders von den Kindern<br />
einer Familie sehr geschätzt.<br />
Die in der Wetterau heimischen Winterbirnen wurden<br />
auch zu Latwerg gekocht, genau in der Art, wie man<br />
auch die Graubirnen verwendete. Nur eine Winterbirne,<br />
die „Apothekerbirne“, war auch gut zum Essen.“<br />
182
2. Lehrer Keller berichtet iıı seiner „Heimatchronik“ aus dem Jahre 1935<br />
a) Von den <strong>Reichelsheim</strong>er Vereinen -<br />
Den „Organisatoren“ des geselligen und kulturellen<br />
Lebens im früheren <strong>Reichelsheim</strong><br />
Vereine führen Menschen zusammen, sie organisieren<br />
das gesellige und kulturelle Leben in einer Gemeinde.<br />
Neben den bestehenden Familien- und Freundschaftskontakten<br />
zwischen den Häusern einer Gemeinde knüpfen<br />
sie die „Bande“ zwischen den Menschen in einer<br />
Stadt oder einem Dorf. Hier lernt man sich, auf der Basis<br />
einer gleichartigen Anschauung oder einer gleichen Vorliebe<br />
(also Hobbys), kennen und achten, unabhängig von<br />
Beruf und sozialer Stellung.<br />
In <strong>Reichelsheim</strong> gab es in früherer Zeit keine Vereine<br />
in unserem Sinne. Die Familienbande waren allerdings<br />
über den ganzen Ort so eng, daß zusätzliche An- und<br />
Verknüpfungspunkte nicht notwendig erschienen. Außerdem<br />
war die Kirche noch derart ein Monopol in ihrer<br />
Stellung, daß wohl auch keiner in einem Städtchen wie<br />
<strong>Reichelsheim</strong> auf die Idee kam, „Vereine“ zu bilden.<br />
Doch nach den „Befreiungskriegen“ gegen das napoleonische<br />
Frankreich, nach dem allgemeinen Versuch der<br />
Menschen in Stadt und Land, Mitsprache in allen gesellschaftlichen<br />
Fragen zu erlangen, da entstanden überall erste<br />
Vereine. Nachdem I832 in allen Ländern des Deutschen<br />
Bundes die politischen Vereine verboten worden waren<br />
und die adligen Herrscher sich stets bemühten, die<br />
nach dem Sieg über Napoleon gewährten Freiheiten wieder<br />
aufzuheben, schlossen sich die Menschen in Vereinen<br />
zusammen. „Nach dem Bundesverbot aller politischen<br />
Vereine vom Juli 1832 nutzen national und demokratisch<br />
Gesinnte die allerorten entstehenden Gesangvereine, um<br />
politische Kontakte in unverdächtigem Rahmen fortzuführen“<br />
(s. „Chronik Hessens“, S. 230).<br />
In dieser Zeit, nämlich 1844, entstand auch der erste<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Verein, der Gesangverein „Liederkranz“.<br />
Es war der national gesinnte Pfarrer Frankenfeld, der ihn<br />
begründete, ein Mann, der sich - geprägt von nationalem<br />
Denken und Fühlen seiner Zeit - auch als erster um die<br />
Aufarbeitung der Geschichte von <strong>Reichelsheim</strong> bemühte.<br />
Er war zwar kein Demokrat im heutigen Sinne, aber doch<br />
ein Mann, der Änderungen im politisch-gesellschaftlichen<br />
System der Länder des Deutschen Bundes (wie der Staatenbund<br />
Deutschland damals offiziell hieß) herbeisehnte.<br />
lm Ort ergriff er, der Pfarrer, die Initiative - und behielt somit<br />
den Überblick über „seine Schäfchen“.<br />
Lehrer Heinrich Keller hat in seiner 1935 fertiggestellten<br />
Heimatchronik über die Vereine von <strong>Reichelsheim</strong> berichtet.<br />
Sie ist zwar nicht vollständig, denn er geht zum Beispiel<br />
nicht auf den „Reit- und Fahrverein <strong>Reichelsheim</strong> und<br />
Umgebung“ ein. Dennoch sei seine „Vereins-Chronik“<br />
hier auch abgedruckt:<br />
„ 1. Der Gesangverein , Liederkranz '.<br />
Der älteste der <strong>Reichelsheim</strong>er Vereine ist der Gesangverein<br />
,Liederkranz`. Er ist 1935 90 Jahre alt geworden.<br />
Am 21. Februar 1844 gründete Pfarrer Frankenfeld den<br />
Verein. Der erste Dirigent war Lehrer Huth, der 1844 mit<br />
seiner eigentlichen Tätigkeit begann. Im Jahr 1846 erhielt<br />
der Verein seine erste Fahne, die in Wiesbaden für 160<br />
Gulden hergestellt wurde. Der Vereinsdiener Joh. Klotz<br />
holte sie zu Fuß in Frankfurt a. M. ab, wohin sie mit der Eisenbahn<br />
befördert worden war.<br />
Der ,Liederkranz° kann auf eine erfolgreiche Tätigkeit<br />
zurückblicken, sei es, daß er bei festlichen Anlässen den<br />
Gottesdienst durch Liedvorträge verschönern half oder<br />
daß er bei sonstigen Veranstaltungen mitwirkte. Bei Gesangswettstreiten<br />
und Wettsingen, die er besuchte, war<br />
ihm manch schöner Erfolg beschieden. Im kulturellen Leben<br />
der Gemeinde hat er zu allen Zeiten eine bedeutsame<br />
Rolle gespielt. Ein Markstein in seiner Geschichte bedeu-<br />
183
tet sein 85stes Geburtstagsfest, das er im Jahr 1930 feierte.<br />
Leider wurde der ,Liederkranz“ von einem schweren<br />
Unheil getroffen, als er am 13. Mai 1934 bei der Heimkehr<br />
vom Wertungssingen in Butzbach zwei seiner besten<br />
Sänger durch einen Sturz vom Motorrad für immer verlor.<br />
Der 18 Jahre alte Sohn des Vereinswirts Walter Sprengel<br />
und der 26 Jahre alte 2te Baßsänger Karl Löffler, die<br />
tödlich verunglückten, bedeuten für den Verein einen<br />
unersetzlichen Verlust.<br />
Das Motto des ,Liederkranzes“, das auf der alten Fahne<br />
von 1846 und auf der neuen von 1930 eingestiekt ist,<br />
lautet:<br />
,Gesang und Liebe im schönen Verein,<br />
erhalten dem Leben Jugendscheinl“<br />
2. ,Der Frauen- und Mädchenverein'<br />
Haben wir als ersten Verein den ältesten genannt,<br />
so wollen wir an 2ter Stelle gleich den jüngsten erwähnen,<br />
der ebenfalls der edlen Sangeskunst huldigt: der<br />
,Frauen- und Mädchenchor“. Wie manchmal hat er unter<br />
der glänzenden Stabführung von Frau Pfarrer Rühl<br />
durch Liedvorträge die Gottesdienste verschönern helfen<br />
und die Herzen der Zuhörer warm und weich gemacht.<br />
Leider ist durch die Versetzung von Pfarrer Rühl<br />
nach Friedberg diese kleine Sängervereinigung schlafen<br />
gegangen. Es wäre aber sehr zu wünschen, daß sie bald<br />
wieder ins Leben tritt.<br />
8<br />
'-'/.<br />
~_„-_<br />
Reiterverein <strong>Reichelsheim</strong><br />
- „Reit- und Fahrverein“<br />
/Aufnahme aus dem Sommer<br />
1922 anläßlich des Turnerfestes<br />
184
3. , Der Musikvereirf<br />
Auch dem 1892 von Louis Schiel gegründeten Musikverein,<br />
dessen Kapelle gleichzeitig die Musikkapelle der<br />
Freiwilligen Feuerwehr ist, müssen wir Beachtung schenken,<br />
hat er doch auch wie der ,Liederkranz“ bei freudvollen<br />
oder ernsten Veranstaltungen in der Gemeinde stets<br />
mitgewirkt. Seine Leitung liegt schon lange Jahre in den<br />
Händen des 1. Vorsitzenden Theodor Fleischhauer und<br />
des bewährten Kapellmeisters Heinrich Ulrich.<br />
4. ,Der Leseverein“<br />
ln <strong>Reichelsheim</strong> besteht auch ein Leseverein, der über<br />
eine ansehnliche Volksbücherei verfügt und somit sorgt<br />
für die Volks- und Weiterbildung der Gemeindeglieder.<br />
5. ,Der Turnverein ›Germania
Vorschuss- u. Creditverein<br />
e. G. m. b. H.<br />
<strong>Reichelsheim</strong><br />
(Wette rau)<br />
empfiehlt sich als<br />
Sparkasse<br />
Bankanstalt<br />
wäre vor allem das obige ganz bedeutende Finanzinstitut<br />
unseres Städtchens zu nennen. Er wurde 1865 gegründet<br />
und zählt heute (1934) 405 Mitglieder und verfügt über<br />
ein Garantiekapital von 607500 Mark. Er wird vorzüglich<br />
geleitet, besitzt ein eigenes Bankgebäude und genießt<br />
das Vertrauen der Bevölkerung <strong>Reichelsheim</strong>s und<br />
der umliegenden Gemeinden.<br />
9. ,Der Konsum verein“<br />
Nicht ganz so große Ausdehnung wie die Creditgenossenschaft<br />
besitzt der 1899 entstandene ,Konsumverein“,<br />
der den Bezug und den Absatz aller möglichen Handelsartikel<br />
und landwirtschaftlichen Erzeugnisse Sorge trägt.<br />
ln Adolf Coburger I. besitzt dieser Verein schon 34 Jahre<br />
einen treuen Sachwalter und Direktor.<br />
I0. ,Die Molkereigenossenschaft`<br />
Die 1892 mit 52 Mitgliedern gegründete Molkereigenossenschaft<br />
hat in den letzten Jahren ungeheuren Auf-<br />
für <strong>Reichelsheim</strong> und Umgegend<br />
Reiciıelsheim<br />
M„;k,_.„,<br />
420 Mitglieder.<br />
Gesamtgarantiekapital: RM. 700 000.-<br />
Anzeige des „ Vorschuß- und Creditvereines“<br />
aus dem Jahre 1930<br />
Molkerei <strong>Reichelsheim</strong> (erbaut 1892, als Molkerei<br />
den Betrieb J 962 stillgelegt/ Aufnahme kurz vor der<br />
Jahrhundertwende)<br />
186
'<br />
_<br />
schwung genommen. Durch das neue Milchwirtschaftsgesetz<br />
vom J. 1934 wurden der Molkerei einige neue Gemeinden<br />
zugeteilt, so daß die Genossenschaft heute über<br />
500 Mitglieder hat.<br />
I I _<br />
,Der Vogelsberger Höhenclub ( V. H. C. )'<br />
Auch einen Wanderverein besitzt <strong>Reichelsheim</strong>, den<br />
,VHC“. Er besteht schon lange Jahre und nennt als Gründer<br />
den allseits beliebten, langjährigen Postmeister<br />
Theodor Zinser, der Inhaber des ,Goldenen Abzeichens“<br />
des VHC (= nach 50jähriger Mitgliedschaft) ist. Nunmehr<br />
wird diese Vereinigung <strong>Reichelsheim</strong>er Wanderfreunde<br />
von dessen Sohn Karl Zinser geleitet. Ein Teil<br />
der VHC-Brüder trifft sich jeden Samstag Abend im<br />
Stammlokal ,Gasthof zur Post“. Der Stammtisch, der seit<br />
einigen Jahren den vielsagenden Namen ,Messerspitze“<br />
führt, hatte einstens größere Bedeutung als heute. Am<br />
Stammtisch in der ,Post“ trafen sich da am Mittwoch<br />
Nachmittag die ,Schullehrer“, die ,Pfarrer`, die ,Doktor“<br />
und der ,Apotheker beim Kegel-, Würfel- oder Skatspiel<br />
und politisierten und kritisierten, rissen „faule“ Witze<br />
und schmokten die langen Pfeifen in der ,Herrenstub“,<br />
während der bekannte Postwirt Wilhelm Sprengel einen<br />
vortrefflich schmeckenden Äppelwoi kredenzte.<br />
Heute ist davon nur ein kümmerlicher Rest übriggeblieben.<br />
Neue Zeiten, neues Denkenl Wenn einmal die<br />
paar Alten gegangen sein werden, wird auch dieses Stück<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Ortsgeschichte zu Ende sein, und es wird<br />
heißen: ,Es war einmal!` Mit seinem Verschwinden wird<br />
das Denken, Fühlen und Wollen eines kleinbürgerliehen<br />
Lebenskreises, wie ihn in vergangenen Zeiten jede deutsche<br />
Kleinstadt besessen, abgeschlossen sein.“<br />
So berichtete, wie gesagt, 1935 der ehemalige <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Lehrer Keller für die Nachwelt- also für uns!<br />
__ ' ııııııııı..... _ ._ ı... _ .. . ıııııııııııflııııiı _! : \ııı'__;'..„;_..:' __<br />
Jlíflllwrei-fiemıssımstlıatt<br />
i _ ' = J? I lg* I el G' ml hı H' H' 'H I I 2<br />
~ g ig, Itettlıelsheimılvett.<br />
xi Teieíon 134 ' I , _. __<br />
, Z “ H t-:mug: μm: ııezéft wgıtqii in-ich - _<br />
. '<br />
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' l = _<br />
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O Frische Trinkmildı i 7<br />
O Sd1_la_g-Sahne "<br />
O :Sauer-Ràhıiı<br />
O-Dielımildıtl<br />
I 'Buttcrınildı ~~<br />
__ Q _'Dc-utsdie" Markenbultter l'<br />
o saeımouafk 40%- ı=.i.'r.<br />
Q jttghıμ-Quark 2o°l. F.i.T.s<br />
Ä. 10% T.1 -1<br />
-§pciscfQtjark : - l'<br />
I Kodıkäse in Dosen 110°/ıı F.i.'I_'.<br />
I -K0d1l
2. b) <strong>Reichelsheim</strong> und seine Schulen - eine wechselvolle Geschichte<br />
In früherer Zeit, als es beschwerlich und zeitraubend<br />
war, von einem Ort zum nächsten zu gelangen, hatte jedes<br />
Dorf seine eigene Schule. Und gab es einen weltoffenen<br />
Landesherren und / oder einen aktiven und einflußreichen<br />
Pfarrer (Schulaufsicht war bis Ende des 19. Jahrhunderts<br />
Angelegenheit der Kirchen), so gab es auch in recht kleinen<br />
„Flecken“ bekannte Schulen, die nicht nur das große<br />
oder kleine ABC vermitteln wollten und konnten, sondern<br />
die zur wissenschaftlichen Bildung befähigten.<br />
Die Zeit der Reformation „bewegte“ einiges in dieser<br />
Richtung. ln den protestantischen Herrschaftsgebieten gab<br />
es keine Klöster und Klosterschulen, die sich der Bildung<br />
der Jugend annehmen konnten. Doch man benötigte auch<br />
in den reformierten Ländern Pfarrer, Lehrer, Amtsverweser<br />
und dergl. mehr. Die Einrichtung von Hochschulen unterstand<br />
den adligen Landesherrn. So entstanden konsequenterweisc<br />
injener Zeit die Universität Marburg und die<br />
Hochschule Herborn, worüber an anderer Stelle dieses Buches<br />
berichtet wurde. Da aber an diese Hochschulen nur<br />
junge Leute mit entsprechender Vorbildung aufgenommen<br />
werden konnten, mußte das ländliche Schulwesen<br />
entsprechend ausgebaut werden.<br />
Über die historische Entwicklung des <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Schulwesens, soweit Kirehenbuch und Stadtartehiv Auskunft<br />
geben können, hat der frühere <strong>Reichelsheim</strong>er Lehrer<br />
Heinrich Keller eine Kurzchronik verfaßt, die an dieser<br />
Stelle wiedergegeben werden soll:<br />
„Von den <strong>Reichelsheim</strong>er Schulen<br />
Über der Geschichte der <strong>Reichelsheim</strong>er Schulen liegt<br />
eine gewisse Tragik! ln der 2ten Hälfte des 16. Jahrhunderts<br />
besaß <strong>Reichelsheim</strong> neben einer allgemeinen<br />
Volksschule eine weithin berühmte Lateinschule, errichtet<br />
von dem vortrefflichen <strong>Reichelsheim</strong>er Pfarrer und<br />
nassauischen Generalsuperintendenten Laurentius Ste-<br />
phani, dem Sohne des ersten evangelischen Geistlichen<br />
in <strong>Reichelsheim</strong>, Jakobus Stephani. Zu Zeiten des Sohnes<br />
des Laurentius Stephani, Gottfried Stephani (1616-<br />
1635) berichten Amtskeller, Bürgermeister und Kirchensenioren<br />
zu <strong>Reichelsheim</strong> an diesen: ›Wir wissen<br />
uns guter Maßen zu erinnern, wie vor Zeiten in unser<br />
Schul, bey einem gar geringen Salario und Einkommens<br />
eines Schulmeisters, die ,Studio liberalium artium“ und<br />
sonderlich ,Grammatica, Musica und Arithmetica`,<br />
sampt anderen ,pietatis` und gottseligen Übungen also<br />
florirt und fortgetrieben worden, daß nicht allein die umliegenden<br />
Flecken, sondern auch aus der Stadt Frankfurt<br />
etliche, mit großem Ruhm und Verwunderung ihre Kinder<br />
hierher geschickt und informiren lassen, wie dann<br />
noch viele Schulgenossen hier und anderswo solches mit<br />
ihrem Exembel erweisen und dankbarlich darzuthun und<br />
zu rühmen wissen. Dahero dann Euer Ehrwürden lieber<br />
Vater, Herr Laurentius Stephani, nicht geringe Ursach<br />
und Anlaß bekommen, zu Erhaltung solcher Studien und<br />
Fleißes, die jährlichen Gefälle einem Schulmeister allhie<br />
zu augiren, inmaßen dann Euer Ehrwürden weit mehr als<br />
das halbe Theil verbessert und aus beiden, der Kirchenund<br />
dem gemeinen Kasten (= Kasse) zufließen lassen.<<br />
Neben dieser (nur kurzzeitig blühenden) ,Lateinschule“<br />
(= Latein war zu jener Zeit die Sprache der Wissenschaft)<br />
bestand gegen Ende des 16. Jahrhunderts eine besondere<br />
Schule für Mädchen. Der Sehulhalter (= Lehrer)<br />
empfing 2 Achtel Korn (= 1 Achtel entsprach einer<br />
Größenordnung von 5 kg) und 5 Gulden an Geld, sowie<br />
von jedem Kind 1 Gulden Schulgeld. Im Jahre 1618 versuchte<br />
man die inzwischen eingegangene Mädchenschule<br />
wieder zu errichten. Der Superintendent Stephani schlug<br />
vor, des Magisters Johannes, des Schulmeisters, Ehefrau<br />
möge sie übernehmen, da sie einem Bericht ihres Mannes<br />
›mit Zwirn und Stricknadeln wohl umzugehen wuß-<br />
188
te
I<br />
c) Geschichte der <strong>Reichelsheim</strong>er Post<br />
(Nach Aufzeichnungen von H. Keller- 1935)<br />
„Die vorteilhafte zentrale Lage des bis 1866 nassauischen<br />
Städtchens <strong>Reichelsheim</strong> inmitten zahlreicher<br />
Wetterauer Dörfer. an der Straße Lauterbach-Schotten-<br />
Nidda-Assenheim-Vilbel-Frankfurt bedingte schon<br />
frühzeitig die Einbeziehung des Fleckens in den ,Thurn<br />
und Taxis`scherı Postverkehr“. Gar oftmals mag im 16.<br />
oder 17. Jahrhundert Freund ,Schwager` auf dem hohen<br />
Bock der Postkutsche draußen vor den spitzbogigen<br />
Festungstoren <strong>Reichelsheim</strong>s sein Horn angestimmt haben.<br />
Drinnen in der Stadt auf dem breiten Marktplatz<br />
vor der ,Lilie“ wurde ausgespannt und den Passagieren<br />
und Pferden ein paar Stunden Ruhe gegönnt. Dies wurde<br />
anders, als im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts die Posten<br />
auf die einzelnen Staaten übergingen. Iın Jahre 1844<br />
erhielt <strong>Reichelsheim</strong> eine selbständige Postanstalt unter<br />
der Leitung von Johannes Conrad, Herzoglich-Nassauischer<br />
Postexpeditor. Ihm folgte 1857 bis 1877 Franz Conrad.<br />
Nach einjähriger Verwaltung wurde der Postverwalter<br />
Theodor Zinser aus Schotten, der z. Z. in Ruhestand lebende,<br />
weithin bekannte Mitbegründer des VHC, mit<br />
der Leitung des <strong>Reichelsheim</strong>er Postamtes betraut. Er<br />
hat dieses Amt vom 31.Mai 1879 bis 30. November 1919,<br />
also über 41 Jahre, in Treue geführt. Unter den widrigsten<br />
Verhältnissen, man denke nur an die Jahre 1914-18,<br />
verstand er es, dank seiner ausgezeichneten Auffassung<br />
von Beruf und Pflicht, sich die Achtung seiner Vorgesetzten<br />
in seltenem Maße zu erwerben. Dies bezeugt<br />
nach seiner Pensionierung am 1. 12. 1919 die Ernennung<br />
seines Sohnes Karl Zinser zum Postmeister von <strong>Reichelsheim</strong>.<br />
Die Geschichte der <strong>Reichelsheim</strong>er Post ist sehr wechselreich.<br />
Es gab eine Zeit, da herrschte reges Leben auf<br />
1<br />
dem <strong>Reichelsheim</strong>er Postamt, mußte doch von <strong>Reichelsheim</strong><br />
aus die Postbestellung fast all der umliegenden Ortschaften<br />
geschehen. Zeitweise waren über 10 Beamte in<br />
Dienst gestellt, die z. T. die weiten Landpostfahrten tätigen<br />
mußten. Anfangs waren 2 Postverbindungen nach<br />
' _¬_†:':' .. Ä'„.-.._._-ıııı _. ;*3ııı_ . ıııııı _ -<br />
ı<br />
ßclwırıtttiıuıtjuııg, bie Y ëtrtctytung einer álšrfiertttäittoıt .gun äteiıtyrtßtpetm bttrtfferıb, _<br />
68 mirb íptermif 'gar öfihıtlidgcn .ttruıım-tfi geítrartıt. ;ba§ in lâlicíiíyrlëfíiritn eine álšofiertirbittøtt<br />
i-„~<br />
errichtet werben tft.<br />
J J l Fbarmftatıt ben. 1.0. ittomnße;_1843.<br />
ürvfibergegttdi 1 tßeffifdife åíötterälšeaftsfflıtfiaecttun.<br />
7 ="nnn'*.§uber. ~*<br />
~<br />
„Bekanntm.achung, die Errichtung einer Postexpedition zu <strong>Reichelsheim</strong> betreffend“<br />
(Besitz der Familie W. Dörr)<br />
190
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›<br />
Friedberg und Echzell und eine nach Ranstadt eingerichtet.<br />
Zweimal ging die Fahrt, hin und zurück.<br />
Dies hörte auf, als am 1. November 1897 die Nebenbahn<br />
Friedberg-Nidda eröffnet wurde. Am 30. September<br />
abends fuhr die Landpost zwischen Friedberg - <strong>Reichelsheim</strong><br />
und Echzell zum letzten Mal. Dies war der<br />
Abschluß eines Stückes <strong>Reichelsheim</strong>er Postgeschichte.<br />
Dieser mußte durch eine festliche Veranstaltung besonders<br />
festgehalten werden. Sämtliche <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Vereine mit Lampions und viele Einwohner holten die<br />
letzte Postkutsche vor der Stadt ab und geleiteten sie<br />
durch die Hauptstraße, voran eine Musikkapelle. Rektor<br />
Kramer von der Höheren Bürgerschule hielt eine feierliche<br />
Ansprache und gedachte der ,guten, alten Zeit“.<br />
_ 3.<br />
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_<br />
Mannigfache Anderungen traten infolge des Weltkrieges<br />
ein. Die i. J. 1906 errichteten Landpostfahrten wurden<br />
1922 wieder aufgehoben. Seit der Verkraftung der<br />
Post (= Einsatz von Kraftfahrzeugen) hat <strong>Reichelsheim</strong><br />
aufgehört Zentrale der Brief- und Paketbestellung für<br />
die umliegenden Ortschaften zu sein. Nur als Zentrale<br />
für das Fernsprechwesen der mittleren Wetterau besitzt<br />
<strong>Reichelsheim</strong> noch hervorragende Bedeutung. Am 7.<br />
November 1904 wurde hier eine öffentliche Fernsprechstelle<br />
mit 6 öffentlichen Sprechstellen und 6 Teilnehmern<br />
eröffnet. Im Laufe der Jahre wurde das Fernsprechamt<br />
immer weiter ausgebaut. Im Jahre 1917 besaß <strong>Reichelsheim</strong><br />
42 Teilnehmer und 2 Nebenstellen. und 1930 wurden<br />
l56 Teilnehmer und 12 Nebenanschlüsse. Ursprünglich<br />
befanden sich die Posträume im ,Gasthof zur Post“,<br />
heute sind sie im unteren Stockwerk des Postsekretär i.<br />
R. Theodor Zinser gehörigen Hauses untergebracht. _ _<br />
So bildet auch die Geschichte des <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Postwesens ein Stück Heimat- und Zeitgeschichte und<br />
verdient daher festgehalten zu werden.“<br />
ll<br />
._ '~›--~<br />
Postkutsche<br />
der Deutschen Reichspost nach 1871<br />
Blick in die Bingenheimer Straße mit dem<br />
Gasthaus „Zur Post“ (Aufnahme um 1950)<br />
192
3. Sitten und Bräuche in <strong>Reichelsheim</strong><br />
Sind „Anhaltspunkte“ im Jahresablauf, also besondere<br />
Daten, für den einzelnen Menschen wichtig?<br />
Ostern, Pfingsten, Erntedankfest, Weihnachten und<br />
Silvester sind solche „Fix-Punkte des Jahres“. Viele Erwachsene<br />
sagen allerdings heute, am Ausgang des 20.<br />
Jahrhunderts, daß diese Feste eigentlich nur noch für<br />
Kinder von Bedeutung seien. Der geplante Urlaub, vielleicht<br />
die beabsichtigte große Party zu einem „runden“<br />
Geburtstag werden eher als „wichtige“ Daten angesehen,<br />
als Daten, an die man schon lange denkt, die man<br />
gedanklich, stimmungsmäßig, aber auch organisatorisch<br />
lange zuvor vorbereitet. Andere Daten? Nein, die anderen<br />
Daten - wenn man keine Kinder oder Enkelkinder<br />
hat. _ .<br />
Natürlich erinnert man sich gerne an seine eigene<br />
Kindheit, erinnert sich an die Familienfeiern, zu denen<br />
man sich bei den Festen des Jahresverlaufes oder bei denen<br />
des Lebenslaufes eines der Familienmitglieder traf<br />
und die meist so „herrlich hektisch - harmonisch“ waren!<br />
Früher spielten Feste und besondere Daten, seien sie<br />
christlich-kirchlicher, familiärer oder jahreszeitlicher<br />
Art, eine bestimmende Rolle im Leben der Menschen.<br />
Die Einhaltung der traditionellen „Regeln“ war in einem<br />
Städtchen wie <strong>Reichelsheim</strong> eine real existierende Notwendigkeit<br />
für jeden einzelnen. Eine Flucht in die Anonymität,<br />
in „ein Leben für sich allein oder zu zweit“, so<br />
etwas war vor Beginn des „Falls der Stadtmauern“, vor<br />
Beginn der großen Freizügigkeit, also vor Beginn der allgemeinen<br />
Mobilität, die durch die Kraftfahrzeuge ermöglicht<br />
wurde, nicht möglich und für die meisten auch<br />
gar nicht vorstellbar.<br />
Wer sich ausschloß, wer sich den Riten des Jahresoder<br />
des Lebenslaufes nicht anschloß, der mußte in bestimmten<br />
Epochen unserer Stadtgeschichte sogar Angst<br />
haben, als „Freund des Teufels“, als „Feind der Chri-<br />
›<br />
`<br />
.,<br />
li<br />
Storchenturm “<br />
am Ausgang der Kirchgasse.<br />
(Bis vor 40 Jahren rıistete auf diesem<br />
Turm ein Storcherıpaar)<br />
Ark*<br />
'~)'š
stenheit“, als Feind der von Gott geschaffenen Menschheit<br />
„verschrien“, bzw. er mußte Angst haben, als Feind<br />
der Volksgemeinschaft angesehen zu werden.<br />
Sitte und Moral wurden, wie schon in den Kapiteln<br />
„Mitte1alter“, „Kirche“ und „17. Jahrhundert“ beschrieben<br />
wurde, von der Kirche und ihrem jeweiligen Amtsträger,<br />
dem Pfarrer, repräsentiert. In „Visitationen“ des<br />
Superintendenten, die jedes Jahr mindestens einmal<br />
durchgeführt wurden, wurde das „Wissen“ der Gemeindemitglieder<br />
öffentlich überprüft, wurde bezüglich des<br />
allgemeinen Lebenswandels Beschwerde erhoben oder<br />
Lob erteilt. („Es bestanden die Männer und Schüler<br />
wohl, die Weiber aber gar übel“, schrieb z. B. Pfarrer<br />
Frech über die am 10. September 1644 durchgeführte Visitation<br />
in seinen Bericht, der sich in der Kirchenchronik<br />
noch heute wiederfindet.)<br />
Wie die Meister oder Obermeister entschieden, ob<br />
einer ihres Handwerks das Recht verloren habe, weiterhin<br />
„zünftig“ zu sein, also Mitglied der zutreffenden<br />
Zunft (ein Ausschluß kam einem Berufsverbot in der<br />
Gemeinde gleich), so entschied der Pfarrer, ob sich eine<br />
Frau oder ein Mann noch weiterhin als Mitglied der<br />
christlichen Gemeinschaft betrachten durfte (s. Kapitel<br />
„Hexenwahn in <strong>Reichelsheim</strong>“).<br />
Die „Fesseln“, die dem Menschen in früheren Jahrhunderten<br />
in einer solch kleinen Stadt wie <strong>Reichelsheim</strong><br />
auferlegt waren, sie waren eng!<br />
Doch es darf hier nicht vergessen werden zu erwähnen:<br />
Die meisten Regeln machten das Leben der „Nachbarn“<br />
(so nannten sich früher alle Leute eines Ortes)<br />
„kalkulierbar“ oder zumindest berechenbarer. Damit erhielten<br />
die bestehenden Regeln/Vorschriften zum Jahres-<br />
und zum Lebensablauf nicht nur den Charakter von<br />
Fesseln, sie gaben vielen Menschen auch Orientierung<br />
und Halt.<br />
Nach zwei Gesprächsrunden mit Hilda Rohde, Werner<br />
Coburger und Ilse Erdmann, kenntnisreiehe Seniorinnen<br />
und Senioren aus <strong>Reichelsheim</strong>, habe ich versucht,<br />
das noch vorhandene Wissen über frühere Sitten<br />
und Bräuche in diesem kleinen Landstädtchen aufzuzeichnen.<br />
Ergänzungen dazu fand ich in den Büchern,<br />
die einiges über Alt-<strong>Reichelsheim</strong> zu berichten wissen:<br />
vor allem die Kirchenchronik und Georg Schäfers Buch<br />
„Der wilden Frauen Gestühl“.<br />
a) Sitten und Gebräuche: der Jahresablauf<br />
JAHRESWECHSEL:<br />
In nahezu jedem Haushalt wurde „Mäusekuchen“ gebacken,<br />
der bei frisch aufgegossenem Kaffee verzehrt<br />
wurde. Für die Spinnstuben galt folgende Regel: Eines<br />
der Mädchen (immer ein anderes) buk den Mäusekuchen<br />
(s. hierzu auch das besondere Kapitel „Der Mäusekuchen<br />
~ eine <strong>Reichelsheim</strong>er Besonderheit“), die Burschen<br />
kauften die Kaffeebohnen, so daß ein gemütliches<br />
und auch lustiges Schmausen möglich war.<br />
I. JANUAR:<br />
Das Mittagsmahl (Neujahrsmahl) bestand aus Weißkraut<br />
als Zeichen dafür, daß man beabsichtige, im neuen<br />
Jahr sparsam mit seinen Mitteln umzugehen - in der<br />
Hoffnung, durch solch ein Verhalten zu wirtschaftlichem<br />
Erfolg zu gelangen.<br />
22. FEBRUAR: PETR]-TAG (Pı`dderschd0ag“):<br />
An diesem Tag wurden zum ersten Mal im neuen Jahr<br />
um 4 Uhr nachmittags die Glocken geläutet. Damit wurde<br />
offiziell das Frühjahr eingeläutet.<br />
An diesem Tag umband man die Obstbäume mit<br />
Strohseilen, um aufsteigendes Ungeziefer abzufangen.<br />
Auch sollte man sich in der Scheunentenne wälzen, „um<br />
Rückenschmerzen im Arbeitsjahr zu verhindern“ (bzw.<br />
194
um sich für die anstehenden Frühjahrsarbeiten in Haus<br />
und Flur „fit“ zu machen).<br />
Eine Kuriosität, die jedes Jahr vor allem die Kinder in<br />
Erstaunen setzte, war: Die Eier, die die Gänse (früher<br />
hatte nahezu jeder Hof Gänse) am Pidderschdoag legten,<br />
verschwanden! Nie wurde eines wiedergefunden . . .<br />
I. MÄRZ:<br />
An diesem Tag kam der „Märzhase“. Von der engsten<br />
Verwandschaft (Eltern, Großeltern und Paten) wurden<br />
die Kinder mit einem Ei oder höchstens zwei Eiern beschenkt.<br />
Diese Eier waren im Gegensatz zu den Ostereiern<br />
nicht bunt bemalt; sie wurden in Zwiebelschalen<br />
gekocht, wodurch sie eine schöne braune Farbe erhielten.<br />
Am 1.. März machten sich die Buben und Burschen bei<br />
den Mädchen auch gerne den Scherz, ihnen unbemerkt<br />
die Schürze, die obligatorisch getragen werden mußte,<br />
aufzuschnüren, um dann spitzbübisch oder auch etwas<br />
hämisch zu rufen:<br />
„Heut ist l. März!<br />
Mädel, bind geschwind dei Schörzl“<br />
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„Ganz <strong>Reichelsheim</strong> feiert“, Aufnahme aus den Zwanziger Jahren<br />
(Besitz der Familie Dörr)<br />
195
I. APRIL:<br />
Was gab es Schöneres, als jemanden „in den April zu<br />
schicken“?<br />
„Am 1. April,<br />
do schick ich den Narr wohin ich will!<br />
Schick ich ihn weit:<br />
wird er gescheit;<br />
schick ich ihn noh:<br />
ist er bald widder do !“<br />
PALMSONNTAG:<br />
„Kreppelsonntag“! In jedem Haus wurden (oft riesige<br />
Mengen) Kreppel gebacken, so daß es im ganzen Ort<br />
danach roch.<br />
GRÜNDONNERSTAG:<br />
Vormittags war Feiertag, die Arbeit ruhte. Für die<br />
Jugend (ab Konfirmation bis zur Eheschließung) galt es,<br />
zum Beichtgottesdienst zu gehen.<br />
Zum Mittagessen gab es entweder „Grüne Soße“ oder<br />
Spinat.<br />
'<br />
KARFREITAG:<br />
Die Gemeindemitglieder gingen zum Abendmahl in<br />
die Kirche. Die Pfarrer notierten in der Kirchenchronik<br />
genau die Zahl der Männer und Frauen, die an diesem<br />
Gottesdienst teilnahmen.<br />
Zum Mittagessen gab es meist Nudel und Obst (Dörrobst)<br />
- niemals Fleisch.<br />
OSTERN:<br />
Dieses Fest der Freude war auch in <strong>Reichelsheim</strong> ein<br />
Freudenfest der Kinder: Bunt gefärbte Eier wurden versteckt-<br />
und mit Erfolg gesucht. Danach ging es mit dem<br />
Körbchen zu den Paten und meist auch zu den unmittel-<br />
baren Nachbarn und engsten Verwandten. Die Patenkinder<br />
bekamen jeweils 4 Eier geschenkt; in anderen<br />
„Beziehungsfällen“ füllten nur jeweils 1 Ei oder zwei<br />
Eier die Körbchen. „Liebe“ Kinder mußten mit Hilfe der<br />
Schürzen- oder anderer Taschen schon einmal Platz im<br />
Körbchen schaffen, wollten sie nicht zwischenzeitlich<br />
einmal nach Hause laufen, um die vielen geschenkten<br />
bunten Eier abzuladen.<br />
Doch noch an eine andere Gewohnheit sei erinnert:<br />
Kinder armer Familien, meist aus denen der Arbeiter<br />
und Tagelöhner, gingen zu den Bauern und fragten:<br />
„Hot d`r Hoas gelegt?“ Oft waren sie erfolgreich und<br />
konnten je Frage ein oder zwei Eier in ihr Körbchen<br />
legen.<br />
LETZTER OSTERFEIER TAG (Osterdienstag):<br />
An diesem Tag machten sich die Kinder und Jugendlichen<br />
auf zur „Lenze-Wiese“ (an der Horloff gelegen,<br />
dort wo jetzt die Mehrzweckhalle steht): „Eierwerfen“<br />
war angesagt! Die Jungen übten sich im Wettkampf:<br />
Wer am weitesten warf, bekam jeweils die geworfenen<br />
Eier der Konkurrenten. Für die Mädchen war dies meist<br />
nur eine vergnügte Art, die Eier zu öffnen. Es soll nach<br />
glaubhaften Schilderungen bei den Jungen und Mädchen<br />
vorgekommen sein, daß sie an einem solchen Tag so viele<br />
Eier „öffneten“ und dann verspeisten, daß sie ihr Lebtag<br />
keine gekochten Eier mehr essen wollten. . .<br />
HIMMELFAHRTSTAG:<br />
An diesem Tag wurde in den nahe gelegenen Wald gegangen.<br />
Noch vor hundert Jahren wurden an Himmelfahrt<br />
auch bestimmte Kräuter gesammelt, wie Georg<br />
Schäfer in seinem Buch „Der wilden Frauen Gestühl“<br />
berichtet: Brandosten, Baldrian, Waldmeister und Maiblumen<br />
wurden in der mitgebrachten Tasche verstaut.<br />
196
Nach dem Kräutersammeln ging es nach Blofeld zu Äppelwoi<br />
und Handkäs mit Musik! Mit wirklicher Musik<br />
lockten die verschiedenen Wirte zum Tanz in ihre Lokale.<br />
In früheren Zeiten gab es im Blofelder Wald, nahe<br />
„Der Wilden Frauen Gestühl“, einen Tanzplatz, um den<br />
herum die Blofelder Wirte ihre Speisen und Getränke<br />
anboten.<br />
PFINGSTEN:<br />
Früher war immer an Pfingsten Konfirmationsfeier, an<br />
der meist der ganze Ort teilnahm. Wer nachmittags nicht<br />
irgendwo zu Kaffee und Kuchen eingeladen war, ging an<br />
diesem Tag im nahen Wald spazieren.<br />
ERNTEDANKFEST:<br />
Alle Gemeindemitglieder gingen in die Kirche, die zuvor<br />
von den Konfirmanden mit Feld- und Gartenfrüchten,<br />
die sie selbst gesammelt hatten, geschmückt worden<br />
war. Im Anschluß an diesen Dankgottesdienst wurden<br />
die Gaben der Natur an die Kinder bedürftiger Familien<br />
verteilt.<br />
KIRMES/KERB;<br />
Sie erstreckte sich von Sonntag auf Montag. Es wurde<br />
in den Sälen der jeweils vorhandenen Wirtshäuser getanzt<br />
und dabei manches Techtelmechtel zwischen Burschen<br />
und Mädchen begonnen. Kerbeburschen und Kerbebaum<br />
sind erst spät von anderen Gemeinden übernommen<br />
worden; so etwas gab es früher in <strong>Reichelsheim</strong><br />
nicht.<br />
Allerdings war es über eine lange Zeit auf Bitten der<br />
Pfarrer verboten, Kirmes schon am Sonntag, der ein besinnlicher<br />
Tag zu Ehren Gottes sein sollte, gefeiert wurde.<br />
Deswegen gab es die Verfügung, Kirmes erst dienstags<br />
zu feiern. Da die Bevölkerung zu jener Zeit ihren<br />
Arbeitsplatz im Ort hatte, war dieses Gebot gewiß nicht<br />
schwer einzuhalten.<br />
NACHKERB:<br />
Bis in unser Jahrhundert hinein war es Brauch, 4 Wochen<br />
nach der eigentlichen Kerb eine „Nachkerb“ zu feiern.<br />
Vor allem die jungen Leute trafen sich in den Wirtshäusern,<br />
um noch einmal vor Beginn der dunklen und<br />
trüben Jahreszeit nach Herzenslust zu tanzen.<br />
II. NOVEMBER - MARTINITAG:<br />
In alter Zeit war dies der Tag, an dem bestimmte<br />
Abgaben, bestimmte „Zehnte“, an die Herrschaften<br />
geleistet werden mußten. Bis in die Gegenwart hinein<br />
ist es Brauch, an diesem Tag die Pachtzahlungen zu erledigen.<br />
TOTENSONNTAG:<br />
Seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts werden<br />
an diesem Novembertag die Gräber der Angehörigen<br />
geschmückt. Die gesamte Gemeinde traf sich zum Gottesdienst<br />
in der Kirche, während dessen die Namen<br />
der im Kirchenjahr verstorbenen Mitbürger verlesen<br />
wurden.<br />
Zu dem Thema Grabpflege sei an dieser Stelle eine<br />
Anmerkung gemacht: Früher wurde die Grabpflege<br />
nicht sehr ernst genommen, meist wurde sie vom Totengräber<br />
übernommen. Pfarrer Rühl schrieb im Jahre<br />
1927, also vor erst 65 Jahren, folgendes in die Kirchenchronik<br />
(s. S. 533 f.): „Der Dorfkirchenvorstehertag. . .<br />
fand in diesem Jahre in Wölfersheim statt, und es nahmen<br />
außer dem Kirchenvorstand auch der Beigeordnete<br />
Karl Veith daran teil, da dieser Vorsitzender unserer<br />
Friedhofskommission ist, und in Wölfersheim über<br />
diese Frage verhandelt werden sollte. Pfarrer Köhler,<br />
197
Nidda, hielt ein eingehendes, sehr wirkungsvolles Referat,<br />
das dann auch in mehreren Auszügen in den „Wetterauer<br />
Heimatglocken“ erschien. Der Erfolg war in<br />
<strong>Reichelsheim</strong> ein mehrfaches Zusammentreten der<br />
Friedhofskommission und anschließend eine gründliche<br />
Säuberung und Herstellung des Friedhofs. Auch eine<br />
Reihe von Bäumen wurde gesetzt. Die Konfirmanden<br />
bekamen den Auftrag, die neugesetzten Bäumchen zu<br />
gießen und eine Reihe älterer Gräber - Pfarrgräber und<br />
dergl. - unter meiner Aufsicht zu säubern und zu pflegen.<br />
Als Folge dieses Vorgehens sahen dann auch eine<br />
ganze Reihe Privatleute sich veranlaßt, bisher verwahrloste<br />
Gräber wieder in Pflege zu nehmen. Auch die alten<br />
Amtmannsgräber aus der nassauischen Zeit wurden wieder<br />
in Pflege genommen, um die Erinnerung an die Vergangenheit<br />
der Gemeinde zu erhalten.“<br />
NIKOLA US:<br />
Dieser Abend wurde nur im Familienbereich gefeiert:<br />
Es wurde gesungen, und die Kinder sagten brav ihre<br />
Gedichtchen auf.<br />
Auf den Straßen machten sich allerdings die 16- bis<br />
18jährigen Burschen vermummt den Spaß daraus, ihre<br />
kleinen Mitbürger in Angst und Schrecken zu versetzen.<br />
24. DEZEMBER:<br />
Dies war ein besonderes Familienfest! Abends gab es<br />
gutes Essen. Nach dem Gottesdienst wurden die Kinder<br />
beschert. Nicht in allen Häusern gab es Tannenbäume,<br />
nicht jede Familie konnte sich diesen „Stimmungsmacher“<br />
leisten.<br />
In der Adventszeit waren viele Kekse gebacken worden.<br />
Die Bäcker des Ortes übertrumpften sich mit dem<br />
Backen der beliebten Lebkuchenherzen, die sich viele<br />
Kinder so sehr wünschten.<br />
I. WEIHNACHTSTAG:<br />
Die Kinder gingen nach dem Gottesdienst zu ihren<br />
Paten, um sich ihre Geschenke abzuholen.<br />
„ZWISCHEN DEN JAHREN“<br />
(Zwischen Weihnachten und Neujahr):<br />
Es sollte eine besonders ruhige Zeit sein. Es durfte keine<br />
Wäsche gewaschen werden. Um zu verhindern, daß<br />
man im neuen Jahr Geschwüre bekomme, durfte in diesen<br />
Tagen kein Hemd gewechselt werden. . .<br />
b) Der Lebenslauf<br />
GEBURT:<br />
Die Kinder wurden zu Hause geboren. lm Ort gab es<br />
eine Hebamme, die von der Gemeinde ausgesucht worden<br />
war. Wer Hebamme war, der war angesehen. Deswegen,<br />
aber auch wegen des zusätzlich sicheren Einkommens,<br />
war dieser Posten begehrt.<br />
WÖCHNERINNEN-ZEIT:<br />
Die Mutter des Neugeborenen mußte 9 Tage im Bett<br />
bleiben. Besucher der Wöchnerin bekamen von ihr als<br />
Dank für den Besuch und das mitgebrachte Geschenk<br />
einen Streuselkuchen (ein ganzes Blech) als Gegengabe<br />
- allerdings nur, soweit der Besuch vor der Taufe stattfand.<br />
Kinder, die auch in das Haus der Wöchnerin zu Besuch<br />
kamen, um das Neugeborene zu sehen, durften in die<br />
Wiege greifen: dort fanden sie Süßigkeiten, „die der<br />
Storch mitgebracht hatte“ (der vom „Storchenturm“).<br />
TA UFE:<br />
In <strong>Reichelsheim</strong> war bis vor wenigen Jahrzehnten die<br />
Haustaufe üblich. Dies war zwar nicht immer so, wurde<br />
198
aber vor allem damit begründet, daß die Mutter durch<br />
die Geburt für einen Gang in die Kirche noch zu geschwächt<br />
sei. Andererseits wurde immer wieder die<br />
Angst ausgesprochen, daß ungetaufte Kinder auf ihrem<br />
Weg in die Kirche von bösen Geistern angefallen werden<br />
könnten (in Heuchelheim trug deswegen die Hebamme<br />
das Neugeborene unter ihrem Mantel versteckt in die<br />
Kirche). Angestrebt wurde auf jeden Fall eine sehr<br />
schnell vollzogene Taufe, damit das Kind nicht lange<br />
außerhalb der christlichen Gemeinschaft stehe.<br />
Zur Haustaufe kam der Pfarrer immer in Begleitung<br />
des Kirchendieners, der die Taufschale und den Krug mit<br />
dem Taufwasser trug.<br />
Unmittelbar nach vollzogener Taufe feierte die Familie<br />
mit den Paten bei Kaffee und Kuchen.<br />
Die Paten wurden in der Regel von den Eltern aus dem<br />
Kreise derer ausgesucht, die sich beim ersten Besuch<br />
nach der Geburt angeboten hatten, „das Kind aus der<br />
Taufe zu heben“. Wer oft zum Paten oder zur Patin erwählt<br />
worden war, der konnte dies als ein Beweis seiner/<br />
ihrer Beliebtheit ansehen.<br />
Um die Bindung des Kindes an den Paten, die Patin<br />
oder die Paten zu verdeutlichen, erhielt es oft deren<br />
Namen als Beinamen.<br />
In <strong>Reichelsheim</strong> wurden, wie die Kirchenchronik verdeutlicht,<br />
die Taufen auch einmal später durchgeführt.<br />
Pfarrer Kayser (1880-1883) war über viele kirchliche<br />
Gewohnheiten in diesem Ort enttäuscht. Er schrieb<br />
(s. S. 268):<br />
„In der Regel läßt man die Kinder 4~6 Wochen lang<br />
liegen, was schon dem herrschenden Geiste gemäß auf<br />
die Gleichgültigkeit gegen das Sacrament hinweist.“<br />
Pfarrer Kayser und seine Nachfolger wie aber auch<br />
seine Vorgänger bemühten sich immer wieder, den Zeitraum<br />
zwischen Geburt und Taufe so eng wie möglich zu<br />
hahenf“<br />
EINSCHULUNG:<br />
Die Schulanfänger erhielten von ihren Eltern eine in<br />
den örtlichen Bäckereien gebackene große Brezel.<br />
KONFIRMA TION:<br />
Die ganze Kirchengemeinde nahm an dem Einzug der<br />
Konfirmanden in die Kirche teil. Der Einzug glich oft<br />
einem kleinen Umzug: vorne der Pfarrer und der Kirchenvorstand,<br />
dann die Eltern, dann die Konfirmanden.<br />
VERLOBUNG:<br />
Der Tag des Heiratsversprechens, die Verlobung, war<br />
als Tag wesentlicher als der Hochzeitstag. Alle rechtlichen<br />
und wirtschaftlichen Fragen waren bis zu diesem<br />
Tage von seiten der Elternhäuser der Brautleute geregelt.<br />
War man sich einig geworden, wurde die Verlobung<br />
gefeiert. Am Vorabend der offiziellen Verlobung fand<br />
das „Dippe-Werfen“ statt. Vor dem Haus der Brautleute<br />
hatten sich die jungen Leute versammelt und sangen Lieder,<br />
deren Texte noch manchen älteren Mitbürgerinnen<br />
und Mitbürgern geläufig sind:<br />
„Als ich dich zum ersten Mal erblickte<br />
Als ich dich zum ersten Mal erblickte<br />
diesen Abend, den vergeß ich nie!<br />
Als mich deine Gegenwart entzückte,<br />
da war es mir, ich weiß ja gar nicht wie.<br />
Ach wie gerne hörte ich dich nennen,<br />
wenn du freundlich warst, da freut ich mich.<br />
Hätt ich”s an jenem Abend wagen können,<br />
dir zu sagen: Ach, ich liebe dich!<br />
199
Einen Kuß von deinem roten Munde,<br />
einen Gruß von deiner zarten Hand -<br />
dies erinnert mich an jene Stunde,<br />
wo mein Herz dich einst durch Zufall fand.<br />
Wenn ich einst verscharrt im tiefen Sande,<br />
wenn der Tod mein mattes Auge bricht:<br />
Ach, so pflanz an meines Grabes Rande<br />
mir zum Gedenk nur ein Vergißmichnicht.“<br />
Ein anderes Lied lautete:<br />
„Mir gefällt das Ehstandsleben<br />
Mir gefällt das Ehstandsleben<br />
besser, als ins Kloster gehn, ja Kloster gehn.<br />
In das Kloster mag, ja mag ich nicht,<br />
ich bin zu der Eh verpflicht, ja Eh verpflicht.<br />
Leute tut euch doch erbarmen<br />
und verschafft mir einen Mann, ja Mann,<br />
der mich küßt und drückt an seine Brust,<br />
denn zum Heiraten hab ich Lust, ja hab ich Lust.<br />
Ach, was wird die Mutter sagen,<br />
wenn ich sie verlassen muß, ja lassen muß?<br />
Sie mag sprechen, reden, was sie will:<br />
ich tu heiraten in der Still, ja in der Still.“<br />
Wenn die Lieder abgesungen und alle „Dippe“ zerschmettert<br />
waren, dann lud der Bräutigam die jungen<br />
Leute zu einem Umtrunk in das Wirtshaus ein.<br />
HEIRA T:<br />
Die „Copulation“, wie die Pfarrer bis vor 60 Jahren<br />
stets ins Kirehenbuch schrieben, fand selbstverständlich<br />
in der Kirche statt (standesamtliche, sogenannte Zivil-<br />
Trauungen gibt es erst seit gut 120 Jahren). Gefeiert wurde<br />
stets im Hause der Braut.<br />
Wollten die Frischgetrauten den Kirchplatz verlassen,<br />
so mußten sie sich „freiwerfen“, indem der Bräutigam<br />
Münzen in die Luft warf, die die Kinder, die ein Seil gespannt<br />
hatten, eilig rafften, dabei allerdings das Seil fallen<br />
lassen mußten (ein Brauch, den nicht alle Pfarrer gerne<br />
sahen).<br />
Der Hochzeitszug von der Kirche zum Hause der<br />
Braut war nach folgendem Gesichtspunkt aufgebaut: je<br />
näher die Verwandtschaft, desto näher durften sie vorne<br />
beim Brautpaar sein; eine entsprechende Regelung galt<br />
für die Freundinnen bzw. Freunde.<br />
TOD und BEGRÄBNIS:<br />
War im Ort jemand gestorben, so ging ein Verwandter<br />
oder befreundeter Nachbar, angetan mit schwarzem Anzug<br />
und Zylinder, durch den Ort, um die zur Beerdigung<br />
Geladenen „anzusprechen“. Vor allem galt es, Männer<br />
aus der Nachbarschaft „anzusprechen“, damit sie zum<br />
Tragen des Sarges bereit sind.<br />
Der Beerdigungszug ging stets vom Haus des oder der<br />
Toten aus, von dort, wo der Körper drei Tage geruht hatte.<br />
Die Träger des Sarges waren mit einem stark duftenden<br />
Myrthensträußchen, das am Revers befestigt war,<br />
geschmückt. War der Weg vom Haus der oder des Toten<br />
zum Friedhof weit und zugleich die Leiche schwer, so begleitete<br />
der Schreiner, der den Sarg angefertigt hatte,<br />
den Trauerzug mit zwei Stühlen, auf die der Sarg zwischenzeitlich<br />
abgesetzt werden konnte.<br />
Die auswärtigen Trauergäste wurden nach der Beerdigung<br />
beim Verlassen des Friedhofes durch zwei Angehörige<br />
der beigesetzten Person besonders „auf einen Totenweck“<br />
eingeladen.<br />
200
c) Kirchliche Vorschriften zu den Feiern des Lebens-<br />
Iaufes aus dem 18./19. Jahrhundert<br />
Pfarrer Frankenfeld fand mehrere kirchliche Verordnungen<br />
aus dem Jahre 1760, die Pfarrer Hoffmann, einer<br />
seiner Amtsvorgänger, auszuführen hatte. Diese Aufzeichnungen<br />
seien hier auszugsweise wiedergegeben:<br />
„Eine dritte (Verordnung) bezieht sich auf die Hochzeiten,<br />
Kindtaufen, Beerdigungen und die gesetzliche<br />
Trauerzeit.<br />
Bei Hochzeiten sollen höchstens 12 Gäste eingeladen<br />
werden. Diesen dürfe vor dem Kirchgang kein<br />
Frühstück gereicht werden. Bei der Mahlzeit dürfe<br />
kein Überfluß in Essen und Trinken sein; auch solle<br />
keine Speise nach Hause geschickt, kein Bettler hinzugelassen<br />
werden und die Feierlichkeit nicht länger dauern<br />
als bis den Abend 10 Uhr. Auch sei das Hemmen<br />
(= Seilspannen) des Brautpaares, das den unverheirateten<br />
Gästen abgenöthigte Schenken von Wein und<br />
Zuckerwerk an die anwesenden Weiber, das sogenannte<br />
Tischrücken den Sonntag nach der Hochzeit<br />
und das Geben von sogenannten Brautstücken an das<br />
Gesinde untersagt.<br />
In Ansehung der Kindtaufen wurde festgesetzt, die<br />
Kinder sollten schon den dritten Tag nach der Geburt getauft<br />
und dabei höchstens drei Taufzeugen genommen<br />
werden. Die Taufzeugen konnten ein Geschenk geben,<br />
alle weiteren Geschenke für die Pathen zum Neuenjahr<br />
u.s.w. wie in das Kindbettenhaus mußten unterbleiben.<br />
Weder vor dem Kirchgang dürfe ein Frühstück noch<br />
nach demselben eine Mahlzeit gereicht werden. Verboten<br />
sei auch die Taufe im Hause, wenn es die Noth nicht<br />
erfordere.“<br />
Ebenso wurden über die Beerdigungen folgende Bestimmungen<br />
getroffen:<br />
„Die Todten sollten den dritten Tag ohne unnöthigen<br />
Kostenaufwand beerdigt, die Todten in ein Hemd von<br />
geringem Leinwand gekleidet, in einen Sarg von tannen<br />
oder sonst gemeines (= billiges) Holz gelegt werden. Alle<br />
Trost- und Leichenschmäuse sollten aufliören bei zehn<br />
Gulden Strafe.<br />
Trauerkleider sollten nur anlegen Eheleute, Eltern,<br />
Großeltern, Kinder, Enkel, Schwiegersöhne und -töchter,<br />
Geschwister, Schwäger und Schwägerinnen auch deren<br />
Eltern, Geschwister und und deren Ehegatten, dergleichen<br />
die eingesetzten Erben; und zwar Eltern für<br />
Kinder, welche das 25. Jahr erreicht haben: Kinder für<br />
Eltern, Ehegatten für einander auf 6 Monat (nach Verlauf<br />
von 3-4 Monat soll abgetrauert werden); Eltern für<br />
Kinder, welche das 14. Jahr erreicht haben, wie auch alle<br />
andern vorgenannten Personen, sollten nur 3, 2, 1 Monat<br />
halbe Trauer anlegen. Für Kinder aber unter 14 Jahr gar<br />
nicht getrauert werden durch Trauerkleidung.“<br />
Pfarrer Frankenfeld führt in seiner Sprache des letzten<br />
Jahrhunderts eine weitere Verordnung aus dem Jahre<br />
1768 auf, die festlegt, daß „Leichenbegängnisse der unter<br />
6 Jahren verstorbenen Kinder untersagt“ werden _ _ .<br />
Daß diese Verordnung wirklich in Kraft trat und das<br />
Leben bestimmte, ja, daß Beerdigungen im letzten<br />
Jahrhundert in einer Form abgehalten wurde, wie wir<br />
heutigen Zeitgenossen es uns gar nicht mehr vorstellen<br />
können, das zeigt ein Eintrag des Pfarrers Ludwig<br />
W. Tecklenburg in die Chronik aus dem Jahre 1856<br />
(s. S. 180 f.):<br />
„Seit 1815 wurden, wie die Leute sagen, die Toten nur<br />
in Begleitung der sogenannten Todtenfrau hinausgetragen<br />
und beerdigt. Alle meine wiederholt angestellten<br />
Versuche, diese Art des Begrabens der Leichen, welche<br />
aus einer Zeit ansteckender Krankheiten herrühren<br />
möchte, in öffentliche Leichenbegräbnisse zu verwan-<br />
201
deln. scheiterten an dem eigensinnigen, hartnäckigen<br />
Festhalten der gewohnten Sitte und an dem tiefen Unwillen<br />
und der Ärgernis, mit der diese Versuche jedes<br />
Mal von den Leidtragenden aufgenommen wurde.<br />
Endlich ergab sich ein Fall, der mir besonders günstig<br />
schien, bei den Trauernden mir die völlige Zustimmung<br />
zur Vornahme eines öffentlichen Begräbnisses<br />
zu erwirken. Ich holte die Leiche am Hause ab, begleitet<br />
unter einem großen Trauerzug und Zulaufen der<br />
Menge zum Grabe, hielt dort eine Leichenrede und<br />
segnete die Leiche ein.<br />
Die Vorliebe und das Hangen an dem alten Gebrauch<br />
war bei dem nächsten Sterbefall nun schon nicht mehr so<br />
groß. Wenn auch nur wenige der Leiche folgten, so hatten<br />
sie doch nichts dagegen, als ich im Augenblicke, wo<br />
sie dieselbe wegtragen wollten, erschien, vor dem Sarge<br />
herging und am Grabe eine kurze Rede hielt.“<br />
Der Nachfolger von Pfarrer Tecklenburg im <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Pfarramt, Pfarrer Snell, vermerkte die Veränderung<br />
durch folgenden Eintrag in die Kirchenchronik<br />
(s. S. 223):<br />
„Es herrschte in diesem Winter bis in das Frühjahr hinein<br />
eine große Sterblichkeit unter den kleinen Kindern,<br />
und die Gestorbenen werden auf Verlangen der Eltern<br />
fast sämtlich öffentlich von mir beerdigt, was früher hier<br />
nicht üblich war.“<br />
Wie vor ungefähr 110 Jahren die Begräbnisse in <strong>Reichelsheim</strong><br />
durchgeführt wurden, das hielt Pfarrer W.<br />
Kayser. der Nachfolger von Pfarrer Snell, für die Nach-<br />
welt, also für uns und unsere Kindeskinder, wie folgt fest<br />
(s. S. 269 f.):<br />
„Die Begräbnisse sind sehr nüchtern und entbehren<br />
vieler Feierlichkeit, die sich sonsten findet. Es mag dies<br />
darin seine Erklärung finden, daß in Folge von Epidemien<br />
in alter Zeit die öffentlichen Leichenfeiern ganz abgestellt<br />
worden waren. Bis vor nicht langer Zeit blieb die<br />
Leichengesellschaft in dem Sterbehaus, während der<br />
Geistliche allein mit den Trägern die Leiche zum Kirchhofe<br />
brachte. -Jetzt gehn wohl mehr oder weniger Leute<br />
bei jeder Leiche mit. An vielen Orten wird, sobald ein<br />
Glied der Gemeinde gestorben ist, dies derselben durch<br />
Glockengeläute angezeigt, wobei ja nach der Glocke,<br />
mit welcher angefangen wird oder aus den Absätzen des<br />
Geläutes, sofort das Alter des Verstorbenen ersichtlich<br />
wird; an anderen wird ›ins Grab geläutet
d) „Der Mäusekuchen“ -<br />
eine <strong>Reichelsheim</strong>er Besonderheit<br />
Wer sich mit Alt-<strong>Reichelsheim</strong>ern über Besonderheiten<br />
des Ortes unterhält, der erfährt sehr schnell etwas<br />
über den „<strong>Reichelsheim</strong>er Mäusekuchen“.<br />
Vor 10 Jahren hatte sich ein Neubürger der Gesamtstadt,<br />
Helmut Haag, einmal alle Mäusekuchcn-Geschichten<br />
erzählen lassen. Daraus formulierte er für die<br />
„Wetterauer Zeitung“ folgenden Bericht für die Ausgabe<br />
vom 31. Dezember 1982, als die Silvester-Ausgabe.<br />
Dieser „Bericht“ lautete folgendermaßen:<br />
„›Mäusekuchen< als Silvesterschmaus<br />
- Ein jahrzehntelange-r Brauch zum Jahreswechsel,<br />
der nur noch in <strong>Reichelsheim</strong> gepflegt wird<br />
Kaum war die Hektik der Weihnachtstage überstanden,<br />
stand den <strong>Reichelsheim</strong>er Einwohnern erneut Betriebsamkeit<br />
ins Haus. Galt es doeh, zum Jahreswechsel<br />
Verwarıdtc und Bekannte nach alter Sitte mit einer<br />
lukullischen Rarität zu erfreuen, die seit Jahrzehnten als<br />
>Mäusekuchen< bekannt ist. Viele Geschichten ranken<br />
sich um dieses Backwerk, das unseres Wissens nur noch<br />
in <strong>Reichelsheim</strong> zu Silvester hergestellt wird.<br />
Vor Jahren versuchte der inzwischen 90jährige Lehrer<br />
Albert Nohl diesen ländlichen Brauch zu ergründen.<br />
Ohne seine Erfahrung wäre ein Bericht über den Mäusekuchen<br />
nicht denkbar. Als gründlicher Kenner der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Geschichte konnte aber auch er nicht genau<br />
ergründen, woher dieser >alte Brauch des Backens und<br />
Verzehrens des Mäusekuchens< stammt. Wenn wir aber<br />
davon ausgehen, daß er als alteingesessener <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
sehon vor Jahrzehnten Eltern, Bekannte oder ältere<br />
Mitbürger befragen konnte, so muß der Mäusekuchen<br />
eine weit über l00jährige Geschichte haben. Seit dieser<br />
Zeit entsteht dieser Kuchen nur ein Mal im Jahr, um in<br />
den folgenden 12 Monaten auf seine Wiedergeburt zu<br />
warten.<br />
Über die Entstehung des ›Mäusekuchens< muß man<br />
auch heute noch rätseln. Unter Berücksichtigung der<br />
Angaben von Albert Nohl läßt sich vielleicht die folgen-<br />
Herstellung eines „Miiusekuchens“ in der<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Bäckerei Capretti-Krieg/<<br />
203
de Entstehungsgeschichte rekonstruieren: Auf dem Lande<br />
war es Sitte, daß die Haushalte etwa zwei bis drei Wochen<br />
vor Weihnachten Hausschlachtungen vornahmen.<br />
Diese Hausschlachtungen dienten dazu, vor allem den<br />
Großfamilien mit den ›Tagelöhnern< den Nahrungsbedarf<br />
zu decken. Natürlich war das bevorstehende Weihnachtsfest<br />
für jedermann Anlaß genug für ein Schlachtfest.<br />
Die nach dem Schlachten übrige Bratwurst muß nun<br />
nach einem unbekannten ›Erfinder< zum Mäusekuchen<br />
verwertet worden sein. Jener Einwohner muß auf die<br />
Idee gekommen sein, die Bratwurst in Teig zu legen und<br />
zu backen. Wie man weiß, wurde neben der Hausschlachtung<br />
früher auch das Brot zumeist selbst gebakken,<br />
so daß der heutige ›Mäusekuchen< seine Entstehung<br />
vielleicht der Tatsache verdankt, daß beide vor dem<br />
Weihnachtsfest nötige Arbeitsgänge zusammen ausgeführt<br />
wurden: Die Wurst und der restliche Teig wurden<br />
im glühenden Ofen zu einem neuen Schmaus.<br />
Doch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachte<br />
man den zu Hause hergestellten Kuchenteig mit der<br />
Wurst zum Bäcker. Der Teig mußte nur gewälzt und die<br />
frische oder leicht geräucherte Bratwurst eingewickelt<br />
werden. Naeh dem ›Aufenthalt< im Ofen sah der dunkelbraune<br />
Kuchen wie ein Landbrot aus. Schnitt man ihn<br />
quer durch, so sah man an der Schnittstelle ein Loch /zuweilen<br />
auch zwei), in dem ein Stück Bratwurst steckte.<br />
Der Zwischenraum zwischen Teig und Wurst ließ den<br />
Eindruck entstehen, als säße eine Maus in ihrem Loch.<br />
Und so hatte sich in der Bevölkerung <strong>Reichelsheim</strong>s über<br />
die Jahrzehnte der Begriff des ›Mäusekuchens< gefestigt,<br />
der neben seinem Ruf als Delikatesse auch wesentliche<br />
Bedeutung für das gesellschaftliche Leben gewann.<br />
Am Silvesterabend nämlich kam der Mäusekuchen auf<br />
den Tisch, wurde aber an den folgenden Tagen nicht nur<br />
im Familienkreis verzehrt, sondern früher auch in den<br />
›Spinnstuben
kuchen stiften mußte und die jungen Bohnenkaffee mitbrachten.<br />
So zog sich das Mäusekuchenessen zumeist<br />
eine ganze Woche im neuen Jahr hin, wobei neben Spinnen,<br />
Stricken und Kartenspielen wohl auch der eine oder<br />
andere Partner fürs Leben gefunden wurde.<br />
Vielleicht ist auch mit dieser Vermutung ein Grund gegeben,<br />
daß ein nach auswärts verzogener <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
am Jahreswechsel nicht auf seinen ›Mäusekuchen<<br />
verzichten wollte und sich von seinen Angehörigen einen<br />
ganzen Kuchen oder wenigstens einen Teil davon schikken<br />
ließ. Zum Jahreswechsel eine ausgesprochen<br />
schmackhafte Erinnerung an die Heimatgemeinde.“<br />
Eine engagierte <strong>Reichelsheim</strong>er Landfrau (Elli Schäfer)<br />
stellte vor einigen Jahren für die Sendung „Hessen 3<br />
unterwegs“ einmal das richtige Rezept zusammen.<br />
Zur Anregung sei es hier abgedruckt:<br />
„Zutaten:<br />
1 Pfund Mehl,<br />
50 g Zucker,<br />
80 g Schweinesehmalz,<br />
1 Würfel Hefe,<br />
1/4 l Milch,<br />
1 geräucherte Bratwurst (40 cm lang).<br />
Zubereitung:<br />
Aus Mehl, Zucker, Fett, Hefe und Milch einen Hefeteig<br />
kneten, gehen lassen und ca. 1/2 em dick ausrollen. Die<br />
geräucherte Bratwurst darin ausrollen. Den Mäusekuchen<br />
auf ein gefettetes Backblech legen, mit dem Küchenmesser<br />
einstechen und nochmals gehen lassen. Bei<br />
Mittelhitze 45 Minuten backen. Der heiße Kuchen wird<br />
mit kaltem Wasser abgepinsel (›gefrischt
4. Von Petschau und anderswo nach <strong>Reichelsheim</strong><br />
- ein Weg in eine neue Heimat<br />
„Am 25. Juni 1966 sind es zwanzig Jahre, daß wir, aus<br />
unserer Heimat Petschau kommend, hier als Heimatvertriebene<br />
aufgenommen wurden.<br />
Wir haben hier in <strong>Reichelsheim</strong> eine neue Heimat gefunden<br />
und sind mit ihr fest verwurzelt. Das bezeugt, daß<br />
wir nun schon zwanzig Jahre hier wohnen.<br />
Für das uns damals und auch weiterhin entgegengebrachte<br />
Vertrauen und Entgegenkommen sagen wir lhnen<br />
und allen <strong>Reichelsheim</strong>ern herzlichsten Dank.<br />
Im Auftrag der ._ _ 30 ehemaligen Petschauer<br />
gez. Franz Hubl - Altbürgermeister der Stadt Petschau.“<br />
So schrieben 1966 30 ehemals Vertriebene aus der heutigen<br />
Tschechoslowakei an den Bürgermeister und den<br />
Stadtverordnetenvorsteher Otto und Willi Nohl der<br />
Stadt <strong>Reichelsheim</strong>.<br />
Ein schöner Brief, ein Brief, der aber gewiß auch<br />
manch eine unschöne Erinnerung verdrängte. Aber insgesamt<br />
ein Brief, der zeigt, daß sich die Petschauer wie<br />
viele andere Heimatvertriebene und Flüchtlinge auch,<br />
die <strong>Reichelsheim</strong> nach dem entsetzlichen Kriege als<br />
Wohnort zugewiesen bekamen, hier „einlebten“. Mehrere<br />
hundert Menschen aus den östlichen Teilen des<br />
Siedlungsraumes der Deutschen kamen in diesen kleinen<br />
Ort, kamen hierher, in einen „geschlossenen Ort“, einen<br />
Ort mit festen Strukturen und traditionellen Verhaltensweisen.<br />
Sie kamen hierher, meist noch nicht realisierend,<br />
daß sie ihre alte, ihre gewohnte und geliebte Heimat nie<br />
wieder sehen würden - sie kamen hierher in der Hoffnung,<br />
hierfür eine Übergangszeit ohne Angst überleben<br />
zu können.<br />
Doch als ihnen klar wurde, daß sich der „Eiserne Vorhang“<br />
zwischen West und Ost für sie nie wieder derart<br />
öffnen werde, daß sie wieder heimkehren könnten, da<br />
entfalteten sie hier ihre Aktivitäten, packten sie hier ihr<br />
Schicksal „am Schopfe“.<br />
Die <strong>Reichelsheim</strong>er versperrten sich ihnen im großen<br />
und ganzen nicht. Sie wußten Arbeit zu schätzen und<br />
schätzten deswegen all die, die bereit waren zu arbeiten.<br />
Als sie z. B. sahen, daß und vor allem WIE die „Neubürger“<br />
die ihnen zur Verfügung gestellten Gärten bearbeiteten,<br />
wie diese sich untereinander halfen, um die größte<br />
Not zu besiegen, wie dankbar sie waren, wenn man ihnen<br />
am Ort Arbeit und damit eine geringe Verdienstmöglichkeit<br />
gab - da waren die Alteingesessenen auch bereit,<br />
sich zu öffnen, die Neuen zu akzeptieren, sie tatsächlich<br />
als Mitbürger anzuerkennen.<br />
Bald wurden die ersten Pläne entworfen, um vermehrten<br />
Wohnraum zu schaffen. Die ersten Häuser im Bereich<br />
„Haingraben“ entstanden; dann - Mitte der 50er<br />
Jahre - die gesamte Siedlung zwischen Feuergraben, Sudetenstraße,<br />
Friedensstraße und Hans-Geis-Küppel.<br />
Wie gut das Verständnis auch damals sehon war, das verdeutlicht<br />
die Tatsache, daß sich auch Alt-<strong>Reichelsheim</strong>er<br />
- mit Erfolg - um Grundstücke in diesem Wohngebiet bewarben.<br />
„Berührungsängste“ gab es also schon nach wenigen<br />
Jahren nicht mehr. Dies verstärkte die Intregration der<br />
Heimatvertriebenen und Flüchtlinge. Eine Ghettobildung<br />
fand nicht statt. Wie sehr die Neubürger „Ja“ zu dieser neuen<br />
Heimat sagten, zeigten ihre Aktivitäten in den Vereinen<br />
und in den kommunalpolitisehen Organen der Stadt, vor<br />
allem der Stadtverordnetenversammlung.<br />
Heute? Heute spricht ein Teil der Kinder der Heimatvertriebenen<br />
aus dem Sudetenland oder Schlesien, aus<br />
Ost- oder Westpreußen, aus Pommern oder Siebenbürgen<br />
besseres <strong>Reichelsheim</strong>er Platt als die Kinder der Alt-<br />
Bürger. Heimat ist der Ort allerdings nunmehr für die<br />
Kinder beider Bevölkerungsgruppen - dies wohl auch<br />
deswegen, weil sie alle wissen, daß durch die Arbeit ihrer<br />
Eltern <strong>Reichelsheim</strong> seit 1945 sich mehr verändert hat als<br />
in vielen Jahrhunderten zuvor.<br />
206
5. Hynmen und Gedichte an die Heimatstadt <strong>Reichelsheim</strong><br />
Manch einem unter uns Zeitgenossen mag es vielleicht<br />
merkwürdig erscheinen, wenn man über den Heimatoder<br />
Wohnort ein Gedicht vorgelegt oder gar vorgelesen<br />
bekommt. Aber warum eigentlich? Derartige Verse<br />
drücken doch ein positives Gefühl gegenüber der Heimatgemeinde<br />
aus, sagen Dank für die Erlebnisse, die<br />
man vor allem in der eigenen Kindheit und Jugend in<br />
„ihren Mauern“ haben durfte. Darf man Dankbarkeit,<br />
ganz individuell ausgeprägte Dankbarkeit nicht zeigen,<br />
nicht niederschreiben und anderen Menschen mitteilen?<br />
Es existieren drei Gedichte, eines davon hat sogar die<br />
Überschrift „Hymne“, von denen hier zwei wiedergegeben<br />
werden. Zwei der drei dichtete Wilhelm Muhl, der<br />
1871 in <strong>Reichelsheim</strong> geboren worden war. Er verließ<br />
zwar schon nach der Schulzeit im Jahre 1885 seinen Geburtsort,<br />
um Lehr- und dann Arbeitsstelle in verschiedensten<br />
Städten in Deutschland anzunehmen; doch in<br />
Gedanken blieb er <strong>Reichelsheim</strong>er. Nahezu 80jährig<br />
wandte er sich an den damaligen Bürgermeister Marloff<br />
und sandte ihm ein in heimisehem Dialekt geschriebenes<br />
Gedicht, was bewies, daß er nach all den Jahrzehnten seine<br />
„Muttersprache“ nicht vergessen bzw. verlernt hatte.<br />
Wenig später übersandte er Bürgermeister Marloff ein<br />
zweites Werk, allerdings in Hochdeutsch verfaßt, was<br />
aber wiederum seine innere Verbundenheit mit <strong>Reichelsheim</strong><br />
verdeutlichte.<br />
Damit jenes Mundartgedicht von Wilhelm Muhl nicht<br />
im Archiv der Stadt verstaubt, sei es hier ebenso abgedruckt<br />
wie jenes von Adolf Maley, einem heimischen<br />
Landwirt, der von seiner Geburt im Jahre 1898 bis zu seinem<br />
Tode im Jahre 1983 hier lebte.<br />
H à í m w i e h<br />
(Wilhelm Muhl)<br />
Schund goarschelang iés wirrer her,<br />
Wäi aich ién Reihlsem woar,<br />
Weil väiles geng ién die Quer<br />
Sé öffne des Stoadt-Tor.<br />
Die Morrersprog velent mer näid<br />
voh àím zoum annen Dog;<br />
Mer muß do siénge väil á Läid<br />
ién seiner Morrersprog.<br />
Daß uhs als Kiend ies iéngebregt,<br />
Kann mer näid vergiässe,<br />
Wann aag des Hàímwieh uhs uffregt,<br />
Domet derf mer näid measse.<br />
Des Hàímwieh deat maich quehle oarg,<br />
Aich glaab, aich weann noch krank;<br />
Bestänn brauch aich dadrinn kän Soarg,<br />
Zoum Sterwe iés noch lang.<br />
Etz sài aich öwwser doch so weit<br />
Se gieh nog Reihelsem,<br />
de Fialdweg ie's näid goascheweit,<br />
Mér gieht iwwer Weckelsem.<br />
Wäi aich do kohm bei Weand ean Storm<br />
O Heuchelem vebei,<br />
Konnt aich schund sieh de ronde Torm,<br />
ohm Kirchhob ganz nohbei.<br />
Die Steag, wu weann dann däi etz sài?<br />
Kahn Stoag hunn aich eándeckt,<br />
Däi weann gewiéß wuh annesch sài<br />
Owwer däi hunn sich vesteggt.
Vom Neast söh mer bahl goanaut mich,<br />
Doas sài goar schlägte Sache.<br />
Aich glaab, do lacht doas Ferrervieh.<br />
Wann mir és Neast au mache.<br />
Wu kehme dann die Kienn all her,<br />
Wann uhse Steag näid weann?<br />
Do kennt mer laafe kreuz ién quer<br />
Eann kennt do doch kah fiénn.<br />
Etz geng aich wirrer weirer fott<br />
Met meine meure Bàh,<br />
Aich wollt de ahle Krätzerdott<br />
Döch aage Gemoje sàh.<br />
Sé woar iém Goate schund ganz freuh,<br />
eann göb dé Heuer Freasse,<br />
Donog geng äi noch bei de Keuh,<br />
Däi doat se' näid vegeasse.<br />
Di Krätzerdott wear goanäid faul,<br />
Se ärwet immerzou,<br />
Sé ärwet immer wäi à Gaul,<br />
Noch mie als wäi à Kouh.<br />
Di Dott woar immer gout zou mir.<br />
Gout wäi à ahjen Morrer,<br />
Sé lud maich immer ién zou ihr,<br />
Sé easse Weck met Borrer.<br />
So gout wäi uhse Krätzerdott<br />
woan all die Frahe - ién<br />
Uhsem schiene Hàímetsott<br />
fier Ahle ién fier Kienn.<br />
Oh Reihelsem, dou Hàímetsott<br />
Deaf aich Daich wirrersieh?<br />
Om läibste do megt aich sofott<br />
Zou dir noch àh-mohl gieh!<br />
(Hinweis: Vokale mit ` gekennzeichnet werden lang ausgesprochen,<br />
jene mit ' gekennzeichnet kurz)<br />
<strong>Reichelsheim</strong> (AdolfMaley)<br />
<strong>Reichelsheim</strong>, dich will ich preisen<br />
Heimatstädtchen, lieb und wert,<br />
Dir, dir gelten meine Weisen<br />
Bist ein fruchtbar Flecken Erd.<br />
Bauernfleiß und Saat und Sonne<br />
weben in der Sommerzeit.<br />
Es zu schau`n ist eine Wonne<br />
Deiner Fluren schönstes Kleid.<br />
Richolf hat in alten Zeiten<br />
Hier gebaut, das ist bekannt. _.<br />
Und man hat den Ort bescheiden.<br />
nach ihm Rieholfsheim benannt.<br />
Und er mehrte sich und blühte<br />
Nährte seine Bürger gut,<br />
Denn sein Boden hatte Güte.<br />
Seine Bürger Lebensmut.<br />
Jahre gingen, .lahre kamen,<br />
Ach sie flossen schnell dahin.<br />
Richelsheim war jetzt dein Name.<br />
Bürgerfleiß und Arbeitssinn<br />
Bauten Mauern, Tore, Türme<br />
Ragend in des Himmels Blau.<br />
Trotzten schweren Zeiten Stürme<br />
Grüßen still die Wetterau.<br />
Grüßend schaut es in die Ferne<br />
Unser liebes <strong>Reichelsheim</strong>.<br />
Ja, wir loben dich so gerne,<br />
Unser Städtchen, unser Heim.<br />
Wünschen ihm für alle Zeiten<br />
Wachsen, Blühen und Gedeih`n.<br />
Sehlimmes möge dich stets meiden<br />
Lang bestehe <strong>Reichelsheim</strong>!<br />
208
6. Abschließende Frage: Was heißt das eigentlich:<br />
„<strong>Reichelsheim</strong>er Stehkragenbauer“?<br />
Wer sich in den Nachbarorten nach <strong>Reichelsheim</strong> und<br />
die <strong>Reichelsheim</strong>er erkundigt, der wird möglicherweise<br />
gesagt bekommen, dort lebten die „Stehkragenbauern“,<br />
zu hochdeutsch: die „Feinen auf dem Kutschbock“!<br />
Manche werden das hämisch/abschätzig und mit einem<br />
„gewissen“ Unterton sagen - so wie nun einmal über die<br />
Leute „auf der anderen Seite des Grabens“ gesprochen<br />
wird . _ .<br />
Und wenn man dann nach <strong>Reichelsheim</strong> kommt und<br />
die Menschen hier nach der Bedeutung oder der Herkunft<br />
dieser Bezeichnung fragt, dann wird man entweder<br />
(meist) ein Schulterzucken als Antwort auf diese Frage<br />
bekommen oder aber man wird folgendes erleben: Der<br />
angesprochene <strong>Reichelsheim</strong>er - es kann in dem Fall nur<br />
ein Alt-<strong>Reichelsheim</strong>er im Rentenalter sein - wird sich<br />
gerade aufrichten, tief durchatmen, auf dem Stuhl nach<br />
hinten rücken und dann mit ernstem Gesicht beginnen:<br />
„Also, das mit den Stehkragenbauern, das ist den heutigen<br />
Menschen nicht leicht zu erklären, weil das nur durch<br />
einen Rückblick in unsere Vergangenheit erklärt werden<br />
kannl“<br />
Tja, und dann wird unser Gesprächspartner oder besser:<br />
unser Erzähler mit einem „Intensivkurs <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Geschichte“ begründen, warum das Wort „Stehkragenbauer“<br />
auf jeden Fall kein Schimpfwort ist, sondern<br />
eine sachliche Kennzeichnung des <strong>Reichelsheim</strong>er Ortsbauern<br />
früherer Zeit. Vielleicht erfährt der Zuhörer<br />
dann z. B. folgendes:<br />
Für Kaufleute, die aus dem Norden und Nordosten<br />
über den Vogelsberg herunter nach Frankfurt zogen, ist<br />
<strong>Reichelsheim</strong> der letzte feste Platz vor dem Ziel gewesen.<br />
Gar manchmal, wenn die Bauern vom Feld mit ihren<br />
Ackerwagen heimfuhren, zogen mit ihnen auch die Wagen<br />
der reisenden Kaufleute in die Stadt ein, um Schutz<br />
und Unterkunft für die Nacht innnerhalb der starken<br />
Stadtmauern zu suchen. An der breiten Hauptstraße und<br />
einzelnen Nebengassen (z. B. Schweizergasse) waren gute,<br />
behäbige Gastwirtschaften mit großen Höfen. Da<br />
stellte der Fuhrknecht unter, dieweil die Herren ins<br />
Wirtszimmer gingen und Essen und Trinken bestellten.<br />
Dann fanden sich auch die <strong>Reichelsheim</strong>er ein, und alle<br />
waren froh und guter Dinge. Dabei erzählte man von Begebenheiten<br />
aus nah und fern und suchte Kurzweil, vor<br />
allem aber Unterhaltung. Da waren die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
zu der lebenslustigen, spottsüchtigen Art gekommen, die<br />
sie auch heute oft nicht lassen können („<strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Spötter“). Aber sie wurden auch durch diesen Verkehr<br />
zu Menschen, die einen weiteren Blick als ihre Nachbarn<br />
haben, denn sie blieben so immer auf dem Laufenden<br />
(Diese Darstellung ist- sprachlich leicht abgeändert -jene,<br />
die W. Coburger in: „Der Weg der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Kirche durch 5 Jahrhunderte“, S. 41, niederschrieb).<br />
Aber nicht allein die Tatsache, daß man glaubte, durch<br />
die stationmachenden Kaufleute über das Geschehen in<br />
der Welt besser unterrichtet zu sein als die Menschen in<br />
den abgelegeneren Nachbargemeinden, führte zu dem<br />
Bewußtsein, daß man sich abheben könne, ja: müsse. Es<br />
war vor allem das „Städtische“, das <strong>Reichelsheim</strong> nun<br />
einmal ausgemacht hatte, das es über mehrere Jahrhunderte<br />
geprägt hatte und auf das die <strong>Reichelsheim</strong>er, und<br />
nicht nur die reichen und die reicheren unter ihnen, ehrlich<br />
stolz waren. Verneinen wollte man dieses Gefühl,<br />
Stadt-Mensch zu sein, wahrlich nicht; im Gegenteil:<br />
Manch ein Bauer ist nach glaubwürdigen Berichten Anfang<br />
dieses Jahrhunderts nur dann vom eigenen Hofgegangen<br />
oder gefahren , wenn ihm zuvor seine Bäuerin bestätigt<br />
hatte, das „der Binder“ bzw. „die Schleife“ um<br />
den weißen Stehkragen gerade sitzt! Oder sollte man<br />
nicht mehr zeigen dürfen. wer man war und woher man<br />
kam?<br />
209
Daß sich dieser Begriff auch im Ort unterschiedlicher<br />
Interpretationen „erfreute“, das lag wohl mit daran, daß<br />
es zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen, zwischen<br />
den „Reichen“ und „Armen“ vor allem, lange Zeit<br />
eindeutige Distanz gegeben haben soll: Die einen gingen<br />
in die eine, die anderen in die andere Wirtschaft - zusammen<br />
saß man nicht unbedingt aus freien Stücken, so, wie<br />
es schon in der Geschichte vom „Hexenmeister von <strong>Reichelsheim</strong>“<br />
von Karl Becker beschrieben wurde oder wie<br />
Lehrer Keller es 1935 in seiner Chronik über die Vereine<br />
<strong>Reichelsheim</strong> bezüglich des „Herrenzimmers“ in der<br />
Gaststätte „Zur Post“ angedeutet hatte.<br />
Der Zuzug der Vertriebenen und dann der der „Großstadtflüchtlinge“<br />
sowie der allgemein gewachsene Wohlstand<br />
ließen die gesellschaftlichen Grenzen innerhalb<br />
der Bevölkerung fallen - ein Grund dafür, daß nur noch<br />
wenige unter uns, die wir heute dieses Buch lesen, etwas<br />
mit dem Begriff „<strong>Reichelsheim</strong>er Stehkragenbauer“ anfangen<br />
können.<br />
Ist das zu bedauern?<br />
210
Anhang:<br />
Flur- und Gewann-Namen aus dem Schatzungsbuch von 1734 bzw. 1721<br />
(zusammengestellt von H. Keller)<br />
Die Namen von Fluren und Gewannen sagen viel über<br />
die früheren Zeiten eines Ortes aus. Wo heute Felder<br />
stehen, verrät der erhalten gebliebene historische Name,<br />
daß dort vielleicht einmal ein See war oder Gärten oder<br />
nasse Wiesen lagen. Das Studium einer Flurkarte ist für<br />
einen geschichtlich orientierten Bürger deswegen unbedingt<br />
„Pflicht“.<br />
Im <strong>Reichelsheim</strong>er Stadtarchiv befindet sich aus dem<br />
Jahre 1858 in der Abteilung II, Konvolut 3, Faszikel 13<br />
das „Namensverzeichnis der verschiedenen Teile der<br />
Gemarkung mit offiziellen Namen und Namen in der<br />
Volksaussprache“.<br />
Dieses sehr wichtige Dokument wartet noch darauf,<br />
einmal intensiv aufgearbeitet zu werden.<br />
Vor einigen Jahrzehnten hat sich Albert Nohl, in <strong>Reichelsheim</strong><br />
geboren und <strong>Reichelsheim</strong>er geblieben, auch<br />
wenn er die meiste Zeit seines Lebens in Oppenheim als<br />
Lehrer wirkte, die Mühe gemacht und alle Flur- und Gewann-Namen<br />
aufgelistet.<br />
Vor ihm hat sich auch der schon mehrfach zitierte Lehrer<br />
Heinrich Keller im Rahmen seiner „Heimatchronik“<br />
mit diesem Themenkomplex beschäftigt. Da seine Auflistung<br />
aus dem Jahre 1935 am übersichtlichsten ist, sei sie<br />
hier für alle Interessierten abgedruckt:<br />
Flur I (Acker, Baumstücke und Wiesen):<br />
Auf dem alten Dorf Hinter der Mühl<br />
In den Hasengärten Auf dem Oberwirr<br />
Hinter den Stammgärten In den untersten Wiesen<br />
Die Haingärten<br />
Auf der Roßgasse<br />
Hinter der Gänspfuhl Die Gänswiese<br />
Die Lehngärten (neu !) Auf dem Hain<br />
Der Oberhain Die nassen Gärten (neu !)<br />
Flur II:<br />
Im Mühlahl<br />
Auf der Oberbeunde<br />
( = beune)<br />
Der mittelste Ortenberg<br />
Flur III:<br />
Am Weckesheimer Weg<br />
Flur IV:<br />
Beim Henkbaum<br />
Am Katzenloh<br />
Am Hansgeißküppel (neu)<br />
Am Friedberger Weg<br />
Flur V:<br />
Im Schnellensee<br />
Im Ahl<br />
An der Teufelsmutter<br />
(neu !)<br />
Am hintersten Pfluggewann<br />
Flur VI:<br />
Beim Massenheimer Pfad<br />
(alt)<br />
Beim Großen See<br />
Im Zehntfreien Gewann<br />
Flur VII:<br />
Die Kettenweiden<br />
Am spitzen Stein<br />
Auf dem Plaul<br />
Am Massenheimer Zehnten<br />
In den sieben Gräben<br />
Auf dem vordersten<br />
Ortenberg<br />
Unterbeunde.<br />
Heuchelheimer Hohl<br />
Der hinterste Ortenberg<br />
Auf der Schanze<br />
Am Schützensee<br />
Am Pflugweg<br />
Bei der Lehmkaute<br />
In den Gänsgräben<br />
Im Pfeifensack<br />
Die Schmalzäcker<br />
Im Kleinen See<br />
Beim Großen Seebrucklein<br />
(alt)<br />
Im Schweichert<br />
Am Bernhardspfad<br />
Am Schlag<br />
In den Pfingstgärten<br />
Bei der Flurscheid
Flur VIII:<br />
Am Bauchbornsgraben<br />
(neu)<br />
Am Grasweg<br />
In den Fuchslöchern<br />
Im Wolfgartensee<br />
Aufdem Berg<br />
Im langen Gewann<br />
Im Weinberg<br />
Beym Kuhbrücklein<br />
Beym Sauerbronnensteg<br />
Hinter der Gült<br />
Beim Pfeifensack<br />
Hinter den Girrn<br />
Aufs Galgenhaus<br />
Am Weyergarten<br />
Auf der Hohl<br />
Flur IX:<br />
Am Galgenpfad<br />
In den Galgenwiesen<br />
Im Mähried<br />
Flur X:<br />
Am Florstädter Weg<br />
Flur XI:<br />
Am Bärbehain<br />
Am Großensee-Weg (alt)<br />
Aufder Mittelbeunde<br />
Flur Xll:<br />
Der Kuhweg (alt)<br />
Die Unterbeunde<br />
Die untersten Wiesen<br />
Bei der Glockenwiese<br />
Hinter den Hütten<br />
Flur XIII:<br />
Auf dem Oberwirr<br />
Auf dem Unterwirr<br />
In den Weidländern<br />
Im Galgengrund<br />
Im Riegel<br />
Auf der Platte<br />
Beim Heiligenhaus<br />
Am Beunderain<br />
Die sauren Wiesen<br />
Hinter dem Entenfang<br />
Die Weideneek<br />
Hinter der Höh<br />
Beim Ulmensteg<br />
Alte, ausgestorbene Flur- und Gewann-Namen:<br />
Beim Krackesteg Auf den Feuergräben<br />
Bey der Bauehborn Auf der Landwehr<br />
Bey Kaysers Weiden Bey den Zänkweiden<br />
Beym Kolbenbronnen In den sieben Gräben<br />
So weit die Darstellung von Heinrich Keller.<br />
Einige Gewann-Namen lassen den Leser gewiß<br />
stutzen:<br />
„Heiligenhaus“? In der Auflistung von 1858, die wie<br />
erwähnt im Stadtarchiv lagert, heißt es dazu: „Es soll<br />
ehemals in derselben ein Heiligenhaus gestanden haben.<br />
„Massenheimer Pfad“ ? Dorn-Assenheim hieß früher<br />
einmal „Massenheim“.<br />
„Henkbaum“? Dazu heißt es 1858 als Erläuterung:<br />
„Der District soll seinen Namen daher haben, daß<br />
ehemals Jungen, die dort Vieh gehütet, sich abwechselnd<br />
an einen Baum aufgehangen und wieder losgemacht<br />
haben. Als aber ein Has gekommen und die<br />
Jungen solchem nachgelaufen, hing derjenige, weleher<br />
gerade Wache hatte, bei der Rückkunft der anderen<br />
leblos am Ast.“<br />
„Massenheimer Zehnte“? „Der Zehnte aus diesem<br />
District gehörte ehemals dem Freiherrn von Frankenstein<br />
als Herr zu Dorn-Assenheim“.<br />
„Bei der Glockenwiese“? Obwohl manch eine der<br />
<strong>Reichelsheim</strong>er Glocken in <strong>Reichelsheim</strong> von einem<br />
angereisten Glockengießer gegossen worden ist, hat<br />
dieses Gewann seinen Namen nicht daher, sondern:<br />
„Als ehemaliger Besoldungstheil des Glöckners so<br />
genannt“, heißt es in der offiziellen Darstellung von<br />
1858.<br />
„Hinter den Girrn“ ? Früher „Gürn“ genannt. - Dazu<br />
hieß es: „Mehrer dreieckige Stücke, welche mit den<br />
212
spitzen Winkel auf einen Punkt zusammenstoßen.“<br />
- „Pfeifengewann“? Früher wohl „Pfaffengewänd“ genannt.<br />
„Diese Gewänd gehörte früher dem Kloster<br />
Arnsburg“, heißt es 1858.<br />
Wie gesagt: Die Namen der Fluren und Gewanne gehören<br />
intensiv erforscht, weil sie uns über <strong>Reichelsheim</strong><br />
viel verraten. Nicht immer kann man genau erkennen,<br />
was gemeint ist, weil sich die Namen änderten, weil der<br />
inhaltliche Bezug durch geschichtlichen Wandel verloren<br />
ging. Auch gibt es in zwischen den verschiedenen Darstellungen<br />
der Gewannbenennungen Abweichungen,<br />
die auf Klärung warten.<br />
Aber auf eines sei noch hingewiesen: Sehr oft taucht in<br />
allen Auflistungen die Bezeichnung „See“ auf: Großer<br />
See, Kleiner See, Sehnellesee, Schützensee, Wolfgartensee<br />
usw. Das „Mähried“ wird auf einer alten Karte als<br />
„Meerried“ bezeichnet. Wasser, so kann man daraus<br />
schließen, gab es in früheren Jahrhunderten in der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Gemarkung mehr als genug: Die Drainierungen<br />
der Wiesen und Felder, die Begradigung der<br />
Horloff, die Grabung des Flutbaches haben unsere<br />
Landschaft gravierend und unwiederbringlich verändert.<br />
Gut für die Landwirtschaft- schlecht z. B. für die einstmals<br />
hier heimischen Störche.<br />
213
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