Nr. 23 (IV-2018) - Osnabrücker Wissen
Nr. 23 (IV-2018) - Osnabrücker Wissen Wir beantworten Fragen rund um die Osnabrücker Region. Alle drei Monate als Printausgabe. Kostenlos! Und online unter www.osnabruecker-wissen.de
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KUNST & KULTUR<br />
Vergessene Bücher (11):<br />
Karl von Holteis Erzählung „Der Henker“<br />
Wie blind ist Justitia?<br />
Der schlesische Dichter Karl von Holtei (1798-1880) hinterließ der Nachwelt ein<br />
schier unüberschaubares Oeuvre. Allein die Werkausgabe seiner erzählenden<br />
Schriften, die zwischen 1861 und 66 erschien, umfasste mehr als drei Dutzend<br />
Bände. Im vierten Teil der „Kriminalgeschichten“ publizierte er eine vergleichsweise<br />
kurze Erzählung mit dem Titel „Das wär´ der Henker“, die später als „Der Henker“<br />
erschien.<br />
In der Stadt Grundau ist ein vierzehnjähriges<br />
Mädchen verschwunden.<br />
Der Vater verdächtigt ihren vor<br />
kurzem entlassenen Musiklehrer<br />
Richers. Seine haltlosen Anschuldigungen<br />
finden schnell Gehör.<br />
Der öffentliche Ankläger Streber<br />
ist eifersüchtig auf Richers und<br />
braucht überdies einen prominenten<br />
Fall für die weitere Karriere. Als<br />
die Leiche des Mädchens in einem<br />
Karl von Holtei in der Zeitschrift<br />
„Die Gartenlaube“ (1873)<br />
See gefunden wird, kann der Staatsanwalt<br />
das Gericht überzeugen,<br />
die Todesstrafe zu verhängen. Streber<br />
glaubt sich am Ziel:<br />
„Welches Aufsehen mußte nicht diese<br />
Hinrichtung in einer Stadt machen,<br />
wo seit einem halben Jahrhundert<br />
niemand gehängt worden war! Und<br />
nun gar an einem Menschen, welcher<br />
sozusagen der Künstlerwelt<br />
angehörig, allgemein bekannt,<br />
durch seine musikalischen<br />
Lektionen mit manchen angesehenen<br />
Häusern mehr oder<br />
weniger in Verbindung stand!<br />
Ein schöneres Exemplar konnte<br />
sich der ehrgeizige, öffentliche<br />
Ankläger kaum wünschen.“<br />
Doch der Henker von Grundau<br />
ist schon lange tot, einen<br />
Nachfolger gibt es bislang<br />
nicht. Die städtischen Behörden<br />
sahen hier schlichtweg<br />
keinen Bedarf, so verrät uns<br />
der Erzähler, „da es nicht<br />
in den Gewohnheiten der<br />
Grundauer lag, sich gegenseitig<br />
umzubringen“.<br />
Streber reist ins benachbarte<br />
Landwinkel. Dort scheint sich der<br />
zwielichtige Oskar Seelig seinen<br />
Wünschen zu fügen, doch am Ende<br />
kommt alles anders als erwartet …<br />
Appell oder<br />
Unterhaltung?<br />
Ging es Karl von Holtei – mitten im<br />
19. Jahrhundert - um ein Plädoyer<br />
gegen die Todesstrafe? Oder wollte<br />
er einfach eine spannungsgeladene<br />
Geschichte schreiben? Bei intensiver<br />
Lektüre spricht manches für<br />
die erste Variante, denn der Erzähler<br />
mischt sich mehrfach in den<br />
Fortgang der Handlung ein und<br />
beleuchtet die Schwächen des<br />
Justizsystems ebenso hartnäckig<br />
wie die Unzulänglichkeiten<br />
menschlicher Charaktere. Die<br />
deutlichsten Indizien liefert allerdings<br />
der Tonfall, in dem Holtei,<br />
der auch in religiösen und gesellschaftlichen<br />
Fragen vergleichsweise<br />
liberal dachte, die (dann doch nicht<br />
stattfindende) Hinrichtung inszeniert:<br />
Statue der römischen Göttin Justitia © wikimedia.de, Bild unten links © Karl von Holtei in der Zeitschrift „Die Gartenlaube“, Bild unten rechts © Karl von Holtei, Lithographie<br />
von Joseph Kriehuber (1856)<br />
„Zärtliche Mütter tragen, besorgt,<br />
daß sie sich ja nicht verspäten, ihre<br />
kleinen Kinder hinaus. Alles wandelt<br />
einen Weg. O gewiß ein Volksfest.<br />
Eine sommerliche Morgenfeier. Ein blumengeschmücktes<br />
Wäldchen, wo Musik<br />
ertönt? Nein, nichts von alledem. Es soll<br />
ein armer Sünder aufgehängt werden,<br />
weiter nichts. Aber was tut‘s?<br />
Ist es doch ein Schauspiel wie jedes<br />
andere auch – und gratis obendrein.“<br />
Zu viele Texte<br />
für die Nachwelt?<br />
Karl von Holtei war einer der fleißigsten<br />
Dichter im schreibfreudigen<br />
19. Jahrhundert. Neben zahllosen Erzählungen<br />
und monumentalen Romanen<br />
wie „Die Vagabunden“ und<br />
„Christian Lammfell“ brachte er Gedichte,<br />
Lieder, Theaterstücke und<br />
Opernlibretti zu Papier. Er war mit<br />
Goethe und Eichendorff befreundet<br />
und arbeitete mit Richard Wagner am<br />
Theater in Riga.<br />
Karl von Holtei, Lithographie von Joseph<br />
Kriehuber (1856)<br />
Holtei trug entscheidend dazu bei,<br />
Dialekte literarisch salonfähig zu<br />
machen und schrieb mit „Der Henker“,<br />
„Mord in Riga“ oder „Schwarzwaldau“<br />
einige der ersten Kriminalgeschichten<br />
in deutscher Sprache. Daneben machte<br />
er sich als Autor großer Essays, der<br />
Lebenserinnerungen „Vierzig Jahre“<br />
sowie als Vorleser, Intendant, Regisseur<br />
und Schauspieler einen Namen.<br />
Dass Holteis Mammutproduktion<br />
hier und da qualitative Einbußen zur<br />
Folge hatte, steht außerfrage. Warum<br />
er jedoch fast vollständig aus der öffentlichen<br />
Wahrnehmung verschwand,<br />
lohnt sicher eine eingehendere<br />
Untersuchung. | Thorsten Stegemann<br />
WISSEN KOMPAKT<br />
HOLTEI LESEN<br />
In Sammelbänden, eBooks<br />
und Reprints findet man heute<br />
einige Werke Karl von Holteis –<br />
u.a. auch den „Henker“ - nicht<br />
selten allerdings in zweifelhaften<br />
Fassungen. Die Mehrheit<br />
seines opulenten Schaffens<br />
wurde bei Google Books digitalisiert.<br />
In der Universitätsbibliothek<br />
Osnabrück gibt es viele<br />
Texte in Mikrofiche-Ausgaben.<br />
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