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Berliner Zeitung 08.12.2018

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10 8./9. DEZEMBER 2018<br />

The Pogues &Kirsty<br />

MacColl: „Fairytale<br />

of NewYork“<br />

Das schönste aller Pop-<br />

Weihnachtslieder spielt<br />

in New York. Dortsitzt an<br />

Heiligabend ein irischer Einwanderer<br />

in einer Ausnüchterungszelle<br />

und weint seiner verlorenen Heimat und<br />

seinen geplatzten Träumen hinterher –und seiner großen<br />

Liebe, der er einst versprach, sie zur „Queen of<br />

New York City“ zu machen. Die holt ihn denn auch am<br />

Ende ab –verbunden mit dem Wunsch: „HappyChristmas,<br />

you arse, Ipray godit’sour last.“<br />

John Lennon: „Happy<br />

X-Mas (War Is Over)“<br />

John Lennon wareine widersprüchliche<br />

Figur:<br />

Mal träumte er von<br />

einer Welt ohne Himmel<br />

und ohne Religion, dann wieder<br />

wünschte er der Welt fröhliche Weihnachten und<br />

behauptete in einem Interview mit der BBC:<br />

„Ich bin einer der größten Fans von Christus.“<br />

Wiesich das zusammenreimt,<br />

wusste er vermutlich selber nicht. Und zumindest<br />

die Welt aus „Imagine“ ist auch bis heute ein<br />

frommer Wunsch geblieben. Dafür sind fröhliche<br />

Weihnachten dank der von Phil Spector produzierten<br />

Pomp-Arie „HappyXmas (War Is Over)“<br />

für immer garantiert.<br />

Glüh im<br />

LICHTE<br />

Alle Jahre wieder kramen die Radiostationen<br />

die immer gleichen saccharinsüßen<br />

Weihnachtshits aus der Kiste.<br />

Die meisten sind schrecklich.<br />

Ein paar sind jedoch moderne Klassiker geworden.<br />

Hier sind die zehn besten<br />

VonChristian Seidl<br />

David Bowie &Bing Crosby:<br />

„Little Drummer Boy“<br />

Bing Crosbyund der Thin White Duke? Die göttliche<br />

Fügung wollte es, dass Crosbys traditionelle<br />

Weihnachtsshow 1977 umstandshalber in London<br />

aufgezeichnet werden musste und keiner<br />

seiner arrivierten Landsleute die langeReise<br />

machen wollte. Also kam ein unbesungener<br />

Redakteur auf die Idee, den Briten David Bowie<br />

als Duettpartner von Onkel Bing zu engagieren.<br />

Das Ergebnis warein echtes Weihnachtswunder.Wikipedia<br />

listet 82 Versionen von<br />

„Little Drummer Boy“ auf, einem von der singenden<br />

Trapp-Familie in den 50er-Jahren populär gemachten<br />

Weihnachtslied tschechischen Ursprungs.<br />

Diese hier ist die mit Abstand ergreifendste.<br />

Frankie Goes to Hollywood:<br />

„The PowerofLove“<br />

Frankie Goes to Hollywood waren die Band für die ganz<br />

großen Themen der Zeit: Nach Sex („Relax“) und Krieg<br />

(„Two Tribes“) warzum Abschluss ihres Hit-Zyklus die Religion<br />

an der Reihe. Oder die Erlösung.Oder das Heil der<br />

Welt. Vielleicht auch alles zusammen –und zusammengehalten<br />

von Streichern, Flügelklängenund<br />

Holly Johnsons Zeile „A<br />

force from above/Cleaning<br />

my soul“. Ein bisschen<br />

klebrig für die Verhältnisse<br />

der Liverpooler<br />

Fünferbande –dafür<br />

absolut feuerfest: Seit<br />

34 Jahren lässt „The<br />

Power of Love“ die Herzen<br />

brennen.<br />

Destiny’sChild:<br />

„Carol of the Bells“<br />

Dieses ukrainische Volkslied<br />

heißt im Original „Schtschedryk“<br />

und erzählt die Geschichte<br />

einer Schwalbe, die<br />

zu einem Mann fliegt und ihm<br />

ein gutes neues Jahr verheißt.<br />

Über Migranten kam es in die<br />

USA und dortals „Carol of the<br />

Bells“ ins Weihnachtsprogramm –<br />

nicht zuletzt durch den Einsatz in dem<br />

Film „Kevin –Allein zu Haus“. Richtig gefühlsecht<br />

ist das Lied eigentlich nur als vierstimmiger<br />

Chorgesang.Die drei Mädchen<br />

von Destiny’sChild bekamen es trotzdem<br />

hinreichend himmlisch hin.<br />

Jona Lewie: „Stop the Cavalry“<br />

Die Toten Hosen: „Auld Lang Syne“<br />

Das beste Weihnachtslied, das nie ein Weihnachtslied<br />

war. Gedacht war„Stop the Cavalry“<br />

von seinem Schöpfer Jona Lewie als<br />

Protestsong gegenden damals besonders<br />

kalten Krieg. Doch einer der wundersamen<br />

Zufälle, die es nur im Popgibt, wollte es,<br />

dass der Song am 8. Dezember erschien –<br />

dem Tag, an dem der Weihnachtsonkel John<br />

Lennon (siehe oben) ermordet wurde. Sogleich<br />

hatte die weinende Welt ihren Trauermarsch.<br />

Und singt bis<br />

heute alljährlich<br />

im Dezember:<br />

Dub- a-<br />

dub- a-<br />

dumdum!<br />

Band Aid: „Do TheyKnow<br />

It’sChristmas?“<br />

Bob Geldof von den Boomtown Rats und<br />

MidgeUre von Ultravox steckten in der<br />

Lebenskrise: Nichts als Müll, Hunger und<br />

Not auf der Welt, und sie besingen blöde<br />

Montageund die Schönheit von „Vienna“!<br />

Da schüttelten sie dieses Lied aus dem<br />

Sack, trommelten alles zusammen, wasim<br />

englischen PopRang und Namen hatte –und<br />

erfanden den Charity-Rock, die Superstar-<br />

Kollaboration und das „Stille Nacht“ des<br />

modernen Gutmenschen.<br />

Feed the<br />

world!<br />

José Feliciano: „Feliz Navidad“<br />

Bereits 1970 aufgenommen,<br />

schlummerte dieses<br />

Kleinod mehr als<br />

25 Jahre lang<br />

vor sich hin –<br />

ehe es Ende<br />

1997 unvermittelt<br />

in den<br />

britischen<br />

Charts auftauchte:<br />

eine<br />

weihnachtliche Erscheinung,deren<br />

Ursprung<br />

nicht restlos geklärtwerden<br />

konnte. Vermutlich wardas Interesse<br />

am Werk des puerto-ricanischen Musikers<br />

José Feliciano jäh angestiegen,<br />

nachdem er einen Auftritt in dem<br />

schneeverwehten Hollywood-Thriller<br />

„Fargo“ hatte. Seit den 2000er-Jahren<br />

beehrt„Feliz Navidad“ allweihnachtlich<br />

auch die deutsche Hitparade. Eine<br />

schöne Bescherung für den Sänger.Und<br />

ein Hauch Karibik am Glühweinstand.<br />

Wham: „Last Christmas“<br />

Ursprünglich hieß das Lied „Last Easter“<br />

und sollte ein Abgesang auf eine enttäuschte<br />

Liebe sein. Letzteres ist es geblieben,<br />

nur der Titel wurde umgeschrieben,<br />

als sich GeorgeMichael entschloss,<br />

das Ganze auf die B-Seite der Single<br />

„Everything She Wants“ zu packen, die im<br />

Dezember 1984 erschien. Welcher Radio-<br />

DJ auf die Idee kam, die Platte umzudrehen,<br />

ist nicht überliefert. Jedenfallsentwickelte<br />

sich die bescheidene Weise zum<br />

unkaputtbaren Skihüttenklassiker.Das<br />

„White Christmas“<br />

der<br />

Generation<br />

Föhnfrisur.<br />

Eigentlich ist „Auld Lang<br />

Syne“ ein schottisches<br />

Trinkerlied.<br />

In den<br />

Kanon kam<br />

es erst,<br />

nachdem<br />

es in der<br />

Schlussszene<br />

des<br />

Weihnachtsfilms<br />

„Ist das<br />

Leben nicht schön?“<br />

gesungen wurde –als Insider-Gruß an den<br />

aus dem grimmigen Norden Britanniens<br />

stammenden Schauspieler HenryTravers,<br />

der den trinkfesten Engel Clarence spielt.<br />

Werdie Toten Hosen nicht mag –die Straßenmusiker-Combo<br />

Pink Martini hat eine<br />

herrlich heilsameeartigeVersion im Repertoire:<br />

We'll tak acup o' kindness yet!<br />

ULLSTEIN; IMAGO (6); GETTY IMAGES; BRIAN ARIS; ABACA;<br />

Gutsch<br />

Leo<br />

Ich saß in einem Flugzeug, das von Berlin<br />

nach Zürich flog, und wollte schlafen. Aber<br />

immer, wenn ich gerade dabei war, einzunicken,<br />

kam jemand vorbei und redete.<br />

Dasmachte mich missmutig.<br />

Zuerst wurden Essen und Getränke verkauft.<br />

Dann kam der Parfümverkauf. Warum<br />

sollte man im Flugzeug Parfüm kaufen?<br />

Diese Sitte erschien mir schon immer unnütz<br />

und dumm, es sei denn, man müffelt<br />

auffällig vor sich hin und möchte diesen beklagenswerten<br />

Zustand sofort beenden.<br />

Dann kam der Spendenaufruf für Unicef. Anschließend<br />

dachte ich: Okay. Das wars. Endlich<br />

Ruhe.Leider meldete sich nun der Flugkapitän<br />

und wollte was zur Reiseroute sagen.<br />

Warum das denn?, dachte ich. Du sollst fliegen<br />

und nicht den verdammten Reiseführer<br />

spielen! Wäre ich geschäftstüchtig und kein<br />

fauler,kurzbeiniger Ostdeutscher,würde ich<br />

soforteine Fluglinie gründen, wo das oberste<br />

Gebot der Schweigefuchs ist: Silent Jet. Innerlich<br />

aufgewühlt, begann ich <strong>Zeitung</strong> zu<br />

lesen. Anscheinend beschäftigten sich alle<br />

<strong>Berliner</strong> Blätter an diesem Tagmit Boris Palmer,<br />

dem Bürgermeister von Tübingen.<br />

Warum? Palmer hatte gesagt, er findet Berlin<br />

doof. „Immer wenn ich dort ankomme,<br />

denke ich: Vorsicht, Sie verlassen den funktionierenden<br />

Teil Deutschlands.“ Sofort gab<br />

es empörte <strong>Zeitung</strong>skommentare, Lokalpolitiker<br />

meldeten sich zu Wort,der Tagesspiegel<br />

räumte sogar die Titelseite frei.<br />

Da wurde meine Laune gleich viel besser.<br />

Ichstellte mir eine Redaktionssitzung bei der<br />

NewYorkTimes vor. EinRedakteur sagt: „Ein<br />

Lokalpolitiker aus dem OrtDeepshit in Massachusetts<br />

hat gesagt, dass er NewYorknicht<br />

mag.“ Daraufhin puhlt der Chefredakteur<br />

mit einem Zahnstocher gelangweilt in den<br />

Zähnen, wo noch ein Stückchen New-York-<br />

Cheesecake vomFrühstück steckt, und sagt:<br />

„Sowhat?“ Daswürde ich mir in Berlin auch<br />

mal wünschen. So what. Daranerkennt man<br />

eine Großstadt –niemand heult rum, wenn<br />

einem der Provinzkläffer ans Bein pisst.<br />

Die Lässigkeit<br />

des Provinzlers<br />

VonJochen-Martin Gutsch<br />

Ich mag es sehr, andere Städte und ihre<br />

Einwohner zu beleidigen. Oder beleidigt zu<br />

werden. Da ich oft auf Lesereise bin, komme<br />

ich in Kaffs, Kuhdörfer, ins unfassbar hässliche<br />

Ruhrgebiet oder ins schrottfinstereKöln,<br />

eine Stadt, die man sofortanBelgien verkaufen<br />

müsste, damit Deutschland ein schönerer<br />

Ort wird. In Tübingen, bei Boris Palmer,<br />

war ich noch nie, gönne mir aber die großstädtische<br />

Überheblichkeit, nicht genau zu<br />

wissen, wo Tübingen überhaupt liegt, weil es<br />

völlig unwichtig ist, wo Tübingen liegt, außer<br />

für die 350 Tübinger.<br />

Eines aber habe ich am Arsch der Welt gelernt:<br />

DerProvinzler reagiertmeist lässig und<br />

sogar selbstironisch, wenn man ihn hübsch<br />

beleidigt. Eine äußerst sympathische Eigenschaft.<br />

Frage ich in Darmstadt, welche Sehenswürdigkeit<br />

es sich lohnt, hier zu betrachten,<br />

dann ruft das Darmstädter Publikum:<br />

„Keine!“<br />

Sage ich in Oberhausen, dass ich in ihrer<br />

deprimierenden Stadt nicht übernachten<br />

möchte, wegen Suizidgefahr, sondern lieber<br />

in Düsseldorf, dann ruft das Oberhausener<br />

Publikum: „Wir kommen mit!“<br />

In Berlin aber bekommen Journalisten<br />

und Lokalpolitiker gleich die empörte<br />

Schnappatmung und kläffen mimosenhaft<br />

herum, wenn jemand ihre Stadt nicht mag.<br />

In Sachen Selbstbewusstsein liegt Berlin ein<br />

ganzes Stückchen hinter Darmstadt.<br />

Am Abend landete ich dann in Zürich.<br />

Dasist auch eine echt beschissene Stadt. Die<br />

Menschen hier riechen nach dem vergorenen<br />

Käsefondue, dass ununterbrochen aus<br />

ihren hässlichen Mäulerndampft. Siesagen,<br />

man spräche hier Deutsch, aber es klingt wie<br />

kehliges Berg-Albanisch, das stotternde<br />

Dorftrottel vorsich hin murmeln.<br />

Darauf angesprochen, sagt der Züricher<br />

nichts.Weil er so schweinehöflich ist. Aber in<br />

seinen Augen lese ich: So what?<br />

Leo &Gutsch lesen am 6. Januar um 20 Uhrinden Wühlmäusen<br />

aus ihremBuch „Es ist nur eine Phase, Hase“.

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