09.12.2018 Aufrufe

Berliner Zeitung 08.12.2018

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

8./9. DEZEMBER 2018 7<br />

Mein<br />

LEBEN<br />

und ich<br />

350 Witze auf 200 Seiten: Comic-Romane in<br />

Tagebuchform sind das ganz große Ding bei<br />

jungen Lesern. Aber taugen sie denn was?<br />

VonSchayanRiaz<br />

Fragt man Jeff Kinney nach seinem<br />

Erfolgsrezept, dann zählen für<br />

ihn nur seine Gags. 350 gute<br />

Witzebraucht er proBuch, alles<br />

darunter ist schlecht. Wenn er nur 300<br />

hat, wird ernervös.Wie stellt er also sicher,<br />

dass er am Ende seine Wunschzahl<br />

erreicht?<br />

„Ich gehe mittlerweile sehr systematisch<br />

vor“, sagt der Autor der derzeit erfolgreichsten<br />

Jugendbuchreihe der<br />

Welt. „Es gibt in jeder Geschichte ein<br />

übergeordnetes Thema. Und das gehe<br />

ich vonjeder möglichen Seite an. Ichwäge<br />

Vor- und Nachteile ab. Daraus entstehen<br />

dann dieWitze. Nehmen Siemeine Brille.Ich<br />

denke den Rahmen wegund habe einen Witz<br />

über Kontaktlinsen. Oder ich denke die Gläser<br />

wegund habe einenWitz über Brillen, die nur<br />

als Modeaccessoire genutzt werden. In meinem<br />

nächsten Buch geht es ums Heimwerken,<br />

und mir fallen schon jetzt viele Witze<br />

über Hämmer und Nägel ein. Naja, egal, das<br />

können Sie alles gar nicht fürs Interview verwenden,<br />

oder?“<br />

DER LETZTE SATZ BESCHREIBT JEFF KINNEY<br />

ZIEMLICH GUT. Der Amerikaner hat mit seinen<br />

Comic-Romanen in Tagebuchform eine<br />

Marktlücke entdeckt und dem schwächelnden<br />

Buchmarkt ein völlig neues Segment erschlossen.<br />

150 Millionen Bücher hat der<br />

Mann verkauft, seitdem vorrund zehn Jahren<br />

„GregsTagebuch –Von Idioten umzingelt!“ erschien,<br />

der erste Band einer inzwischen dreizehnteiligen<br />

Reihe.Und trotzdem bleibt Kinney<br />

bescheiden. Keine Spur von Arroganz,<br />

vielmehr ein Hauch von Nervosität. Interessiertman<br />

sich überhaupt für sein Handwerk?<br />

Versteht man seinen Humor?<br />

Richtig erklären kann sich Kinney den anhaltenden<br />

Ansturm auf seine mit dem Ton<br />

und dem Strich eines 13-Jährigen fabrizierten<br />

Diarien nämlich nicht. Wir treffen ihn an einem<br />

sonnigen Herbstmorgen in München,<br />

wo er das neueste Abenteuer des jungen Greg<br />

Heffley vorstellt. „Eiskalt erwischt“ heißt es,<br />

und natürlich ist es schon kurznach der Veröffentlichung<br />

in Deutschland auf Platz eins<br />

der Bestsellerlisten gelandet. Dasalles wegen<br />

350 Witzen? Kinney sagt: „Bei Harry Potter<br />

geht es um einen vermeintlich normalen Jungen,<br />

der plötzlich auf eine Zauberschule geht.<br />

Beiden ,Tributen vonPanem‘ geht es um vermeintlich<br />

normale Jugendliche, die plötzlich<br />

gegeneinander ums Überleben kämpfen. In<br />

,GregsTagebuch‘ geht es tatsächlich um einen<br />

normalen Jungen.“<br />

Vielleicht ist das auch schon das ganzeGeheimnis.<br />

Denn Greg ist im besten Sinne normal:<br />

eine Null im Sport, die Schule ist eine<br />

Qual für ihn, bei den Mädchen blitzt er ab,<br />

und sein missratener 16-jähriger Bruder lässt<br />

keine Gelegenheit aus, ihn zu demütigen. So<br />

kennen das 13-Jährige weltweit. Vondaher ist<br />

jedes „DiaryofaWimpyKid“, wie die Bücher<br />

im amerikanischen Original heißen, im<br />

Grunde ein Trostbuch. Klar,sagt Kinney,„der<br />

Leser ist Greg“. Undalle Kunst seines Schöpfers<br />

besteht darin, den ganz normalen Irrsinn<br />

des Dreizehnjährigseins in schräge Bilder und<br />

Geschichten zu packen –und sie dem Grundsatz<br />

folgen zu lassen, dass alles,was passieren<br />

kann, auch passiert.<br />

Neben alldem ist das Phänomen freilich<br />

auch einer klugen PR-Strategie geschuldet.<br />

Kinder schwören auch deshalb auf „Gregs<br />

Tagebuch“ und davon inspirierte Comic-Romanreihen<br />

wie die britische Variante „Tom<br />

Gates“ oder„Mein Lotta-Leben“ aus Deutschland,<br />

weil die Bände in einem regelmäßigen<br />

Rhythmus erscheinen. Kinney gibt das sympathischerweise<br />

auch zu: „Traditionell kommen<br />

meine Bücher Anfang November raus“,<br />

sagt er.„Dasist perfekt für die bevorstehende<br />

Weihnachtszeit. Jeder weiß, dass dann ein<br />

neues ,Gregs Tagebuch‘ auf dem Marktist. Ich<br />

liebe das Gefühl, die Nummer eins an Weih-<br />

„Blockflötisch<br />

total unbegabt<br />

mit zwei Blödbrüdern“: die Heldin aus<br />

„Mein Lotta- Leben“ (oben), illustriert<br />

von Daniela Kohl.<br />

ARENA VERLAG/PRIVAT<br />

nachten zu sein. Das ist ein Gefühl, das ich<br />

nicht aufgeben kann.“<br />

Kinney ist sich der Treue seiner Fans bewusst,<br />

und er weiß, dass er stets auf sie zählen<br />

kann. Ist man seit 2007 dabei, als das erste<br />

„DiaryofaWimpyKid“ in Amerika erschienen<br />

ist, oder seit 2008 hierzulande, dann muss<br />

man einfach wissen, wie es mit Greg, seiner<br />

dysfunktionalen Familie und seinen Freunden<br />

weitergeht. DieBücher funktionieren für<br />

Kinder und Erwachsene wie gute Serien auf<br />

Netflix oder Amazon Prime. Und: Sie sind<br />

ideal für Leser,die vorkomplexerem Erzählen<br />

mit vielen Buchstaben noch zurückschrecken.<br />

Jeff Kinney sagt: „Bevor man mit anspruchsvolleren<br />

Büchern beginnt, gibt es<br />

„Wir brauchen eine Generation,<br />

die gerne liest, und meine Bücher<br />

können dabei helfen“:<br />

Jeff Kinney, Schöpfer von<br />

„Gregs Tagebuch“ (unten) IMAGO/BAUMHAUS<br />

meine Bücher.Ich biete Kindernund Jugendlichen<br />

lustige Illustrationen und einfache Geschichten.<br />

Sieassoziieren Lesen nicht mit Arbeit,<br />

sondern mit Vergnügen. Das ist spannend.<br />

Und ich glaube, dass das auch etwas<br />

mit meinem Erfolg zu tun hat, weil Kinder<br />

selbst beim Lesen Erfolg spüren.“<br />

DAS SIEHT AUCH DANIELA KOHL SO. Sieist die<br />

Illustratorin von„Mein Lotta-Leben“ der Autorin<br />

Alice Pantermüller; die 2012 gestartete<br />

Reihe bringt es bereits auf 14 Bände.„Vorallem<br />

Kinder mit Leseschwäche lesen gerne<br />

Lotta-Bücher,weilnicht so viel Text dabei ist“,<br />

sagt sie. „Der Text erschließt sich ja über die<br />

Bilder. Und weil es sich um ein dickes Buch<br />

handelt, man ein dickes Buch selbst gelesen<br />

hat, ist man danach stolz auf sich. Dann hat<br />

man keine Hemmungen mehr, ein Buch mit<br />

weniger Bildern zulesen und den Spaß am<br />

Text zu finden.“<br />

Daniela Kohl war als Kind recht begabt.<br />

Ihre Mutter gab ihr entweder keine oder sehr<br />

kleine Pausenbrote mit, also musste sie kleine<br />

Pferdchen für ihre pferdebegeisterten Mitschülerinnen<br />

zeichnen, damit sie von ihren<br />

Pausenbroten abbeißen durfte. Manchmal<br />

bekam sie zehn Pfennig, wenn ihreFreundinnen<br />

kein Essen dabei hatten und trotzdem<br />

eine Zeichnung wollten. Im Religionsunterricht<br />

kam dann Kohls Offenbarung: Auf die<br />

Frage, was sie als Erwachsene werden will,<br />

antwortete Kohl „Malerin“. Sowohl ihre Lehrerin<br />

als auch ihre Eltern waren geschockt,<br />

denn das war kein anständiger Job.<br />

Heute sieht das Ganze anders aus. „Mein<br />

Lotta-Leben“ ist ein echter Dauerbrenner,<br />

und Kohl hat mit ihren Zeichnungen neben<br />

den Geschichten der Autorin Pantermüller<br />

maßgeblichen Anteil daran. Natürlich hat<br />

ihnen Jeff Kinney die Tür geöffnet. Doch die<br />

Geschichten müssen schon stimmen –denn<br />

gerade Kinder merken sofort, ob sie ernst<br />

genommen oder ob sie für dumm verkauft<br />

werden. „Der Markt ist riesig, was Kinderbuchreihen<br />

angeht“, sagt Kohl, „ein unglaublicher<br />

Kampf. Wenn ich auf einer Buchmesse<br />

bin, um Gottes willen, wie will man als kleiner<br />

Verlag sein Buch überhaupt bemerkbar machen?<br />

Dasist ja wie ein Haifischbecken.“<br />

AUCH DAS LEBEN VON LOTTA, einer zehnjährigen<br />

„blockflötisch total unbegabten“ Schülerin<br />

mit „zwei Blödbrüdern“ ist so normal,<br />

dass sich jede zehnjährige Schülerin drin wiederfinden<br />

kann –und an seinen entscheidenden<br />

Unergründlichkeiten soweit ins<br />

Extrem gedreht, dass es für die Leser<br />

ebenso lustig wie tröstlich ist. Für den<br />

Würzburger Arena-Verlag ist „Mein<br />

Lotta-Leben“ der größte Erfolg<br />

seiner jüngeren Geschichte: Die<br />

Übersetzungsrechte wurden in<br />

25 Länder verkauft, allein in<br />

Deutschland fanden die Bücher<br />

drei Millionen Käufer,<br />

vor allem Mädchen beziehungsweise<br />

deren Eltern.<br />

Kohl nimmt inzwischen aber<br />

auch schüchterne Jungs auf<br />

ihrenLesungenwahr.<br />

Undein Ende desHypes ist<br />

nicht in Sicht –imGegenteil:<br />

Im nächsten Jahr wird der Versuch<br />

gestartet, die wunderbar<br />

konfusen Cartoon-Prosa-Konstrukte<br />

von Daniela Kohl und Alice<br />

Pantermüller in einen Kinofilm zu<br />

übersetzen. „In meinem Kopfkino ist<br />

Lotta ja schon höchst lebendig“, sagt Daniela<br />

Kohl,die auch in der Verfilmung für die<br />

eingesprengselten Cartoon-Sequenzen zuständig<br />

ist. Im Kopfkino derjungen Leser natürlich<br />

auch, was die Herausforderung nicht<br />

kleiner macht. Immerhin bekam das Team,<br />

das schon Andreas Steinhöfels Romane um<br />

die Freunde Rico und Oskar erfolgreich auf<br />

die große Leinwand brachte,den Zuschlag für<br />

das Projekt. Anfang September soll „Mein<br />

Lotta-Leben“ in die Kinos kommen.<br />

Jeff Kinney durfte den Wegvom Buch ins<br />

Kino bereits viermal begleiten. Allein die Verfilmung<br />

von „Gregs Tagebuch –Von Idioten<br />

umzingelt!“, den der <strong>Berliner</strong> Regisseur Thor<br />

Freudenthal 2010 inszenierte,spielte weltweit<br />

mehr als 75 Millionen Dollar ein. Auch die Folgefilme<br />

waren globale Erfolge –obwohl man<br />

zum Missvergnügen der Fans für den vierten<br />

Teil den kompletten Cast ausgetauscht hatte:<br />

Die Darsteller von Greg und Co. waren zu alt<br />

geworden.<br />

Auch die Autoren machen die Erfahrung,<br />

dass ihre Bücher bereits zum Erinnerungsschatz<br />

etlicher Erwachsener gehören. Jeff Kinney<br />

etwa, der bei der Einreise nach Deutschland<br />

von einem Beamten so intensiv gemustertwurde,dasserschon<br />

dachte,seinPasssei<br />

abgelaufen. In Wirklichkeit hatte ihn der<br />

Mann wiedererkannt –und ihm nach einem<br />

kurzen Schreck sogleich freudig erzählt, dass<br />

er als Kind ganz vernarrt gewesensei in„Gregs<br />

Tagebuch“. Kinney wurde klar, dass esmittlerweile<br />

eine ganze Generation von Lesern<br />

gibt, die mit seinen Geschichten aufgewachsen<br />

ist. „Ich fühle mich dabei wie ein Großvater,<br />

aberesist cool“, sagt er.<br />

Und dieser Großvater, der gerade mal 47<br />

Jahre alt ist, blickt mit Hoffnung auf die Zukunft.<br />

Schließlich glaubt er,fleißig daranmitzubauen.<br />

Zum Abschied sagt er: „In einem<br />

Land wie Amerika haben wir eine literarisch<br />

gebildete Gesellschaft dringend notwendig.<br />

Werweiß, wie die nächste Generation sein<br />

wird, aber wir brauchen in jedem Fall eine Generation,<br />

die gerne liest. Und meine Bücher<br />

können dabei helfen.“<br />

SchayanRiaz wird seinen Nichten und<br />

Neffen zu Weihnachten den neuen<br />

Band von„GregsTagebuch“ schenken.<br />

OL

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!