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Berliner Zeitung 08.12.2018

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6 8./9. DEZEMBER 2018<br />

Schmarotzer mit<br />

CHARME<br />

Dass man sich vor Weihnachten unter Misteln küssen<br />

soll, weiß fast jeder.Nicht aber,dass sie auch eine<br />

botanische Kuriosität sind<br />

VonSabine Rohlf<br />

Sie sind mystisch, giftig und sehr dekorativ:<br />

Mistelzweige mit ihren glasig-weißen<br />

Beerenperlen, die gerade<br />

vor so vielen Blumenläden liegen.<br />

Viscum album, die weiße Mistel, ist einer der<br />

interessanteren Bestandteile der Vorweihnachtszeit,<br />

nicht zuletzt, weil man sich unter<br />

ihr küssen soll. Oder darf.<br />

Werdas nicht auf ohnehin Liebende beschränken<br />

mag, kann unterm Mistelzweig<br />

eine anspruchsvolle Form der Gender-Etikette<br />

trainieren. Wielässt sich so ein spontaner<br />

Kuss mit Anmut, Respekt und Freundlichkeit<br />

verbinden? Wann empfiehlt es sich,<br />

den Mistelzweig zu übersehen? Undvergessen<br />

Sie nicht, jedes Mal eine Beere zupflücken.<br />

Und ist der Strauch leer, hat auch die<br />

Küsserei ein Ende,sowill es der Brauch.<br />

Dass die kugelige Schmarotzerpflanzegewisse<br />

Abgründe birgt, weiß die Menschheit<br />

schon lange. Die Kelten ließen nur Druiden<br />

mit goldenen Sicheln an sie heran und zwar<br />

vorzugsweise an solche, die auf heiligen Eichen<br />

saßen, am sechsten Tagdes ersten Neumonds<br />

nach der Wintersonnenwende. Unterm<br />

wallenden Umhang des Medizinmannes<br />

vomBaum gebracht, durften Misteln auf<br />

keinen Fall den Boden berühren. Sieschütz-<br />

ten, so nahm man damals jedenfalls an, vor<br />

Blitz, Donner und sonstigen Übeln und gaben<br />

ihre magischen Kräfte an allerlei Tränke<br />

ab,zum Beispiel den des weltberühmten Miraculix.<br />

Man hielt Misteln außerdem für ein<br />

Aphrodisiakum, manche vermuteten in den<br />

schimmernden Beeren gar das Sperma der<br />

Götter.Was auch immer Misteln tatsächlich<br />

enthalten, nachweislich sind Lektone und<br />

Viscotoxine dabei –und das sind sehr unbekömmliche,jagiftige<br />

Substanzen.<br />

Anders als die römischen Überlieferungen<br />

der keltischen Erntemethoden behaupten,<br />

mögen Misteln übrigens Eichen gar<br />

nicht gern. In und um Berlin kann man den<br />

kugeligenWuchs der Mistel in Robinien, Linden,<br />

Pappeln und anderen Laubbäumen bewundern.<br />

Im Sommer zwischen den Blättern<br />

des Wirtsbaums versteckt, leuchtet ihr wintergrünes<br />

Laub nun zwischen kahlen Ästen.<br />

Waswir in Blumenläden kaufen, wurde oft<br />

im Umland oder bei unseren osteuropäischen<br />

Nachbarn von den Bäumen geschnitten,<br />

und zwar zu deren Bestem: Misteln sind<br />

Halbschmarotzer und saugen ihren Wirten<br />

Wasser und Mineralstoffe aus.Immerhin betreiben<br />

sie selbst Photosynthese, wobei ihre<br />

Blätter aber Schatten werfen und ihrem<br />

Baum somit auch Sonnenstrahlen stehlen.<br />

In Zeiten der botanischen Neuigkeiten<br />

über kommunizierende Waldbäume oder<br />

die fürsorgliche Interaktion von Wurzeln<br />

und Pilzgeflechten, die Bestsellerautor Peter<br />

Wohlleben, aber auch die biochemische<br />

Forschung verkündet, fragt sich natürlich,<br />

ob der Wirtsbaum nicht doch irgendwie von<br />

seinem Gast profitiert. Bislang sieht es aber<br />

nicht so aus, esist wohl eher wie mit Bandwürmern<br />

oder Kopfläusen, eine Last. Zu<br />

viele Misteln an einem Baum schwächen<br />

und stören ihn, ja, können ihn töten.Das<br />

feingliedrige Gewächs aus der Familie der<br />

Sandelholzgewächse hat also eine unheimliche<br />

Seite.Doch sein Schmuckwertimwinterlichen<br />

Garten ist groß, so eine grüne Kugel<br />

in der kahlen Baumkrone ist schön anzusehen.<br />

In Gärtnereien gibt es sie nicht,<br />

aber man kann sie durchaus säen, wenn<br />

dieses schnöde Wort für den doch etwas<br />

komplizierten Vorgang überhaupt passt.<br />

Denn der Samen wird nicht in die Erde gelegt,<br />

sondernaneinem Baum befestigt. Dies<br />

geschieht am besten im Februar und März<br />

und zwar mit dem klebrigen Saft der Mistelfrucht.<br />

Derlateinische Name –Viscum –bedeutet<br />

Leim, die alten Römer bestückten<br />

damit Vogelfallen. Und Vögel, die klebrige<br />

Fruchtreste samt Kern an Ästen abstreifen,<br />

sorgen in der Naturauch für die Mistel-Verbreitung.<br />

Der Samen braucht keine schrundigen<br />

oder rissigen Rinden, ja man sollte den Baum<br />

auf keinen Fall einritzen oder anderweitig<br />

verletzen. Den Zugang zum Wirt schafft der<br />

Keimling ganz allein, er stimuliert den<br />

Wuchs eines Übergangsorgans, einer Art<br />

Schwellung aus Mistel- und Astgewebe, in<br />

die er dann seine Wurzeln schiebt. Dieser<br />

faszinierende Vorgang, funktioniertnicht bei<br />

jedem Versuch, und es dauert eine ganze<br />

Weile, bis die Mistelwurzel die Leitbahnen<br />

des Baumes erreicht und die Verbindung der<br />

beiden Geschöpfe vollendet ist. Hatsich aber<br />

eine Mistel auf einem Baum etabliert, beginnt<br />

sie zu wachsen. Damit sie Beeren hervorbringt,<br />

braucht es übrigens ein weiteres<br />

Exemplar –dennMisteln sind zweihäusig, es<br />

gibt männliche und weibliche Pflanzen.<br />

Genauere Informationen und Ratschläge<br />

zur Vermehrung und Pflege gibt es in England<br />

(www.mistletoe.org.uk), wo nie eine<br />

Gartenfrage offen bleibt und die Mistel<br />

schon länger als bei uns zu Weihnachten gehört.<br />

Hier kann man sogar „Grow-Your-Own<br />

Kits“ bestellen und erfahren, wie der Bewuchs<br />

so gesteuert wird, dass er dem Wirtsbaum<br />

nicht schadet.<br />

Obwohl das offenbar machbar ist, sollten<br />

Sie sich vor der Mistel-Aussaat im eigenen<br />

Garten gut überlegen, wie es die Nachbarn<br />

fänden, wenn in ihrem heißgeliebten alten<br />

Apfelbaum plötzlich die kleinen grünen Ohren<br />

einer parasitären Pflanze sprießen. Einmal<br />

da, vermehrt sich die Mistel nämlich<br />

manchmal wie durch Zauberhand und kann<br />

zur grundstücksübergreifenden Plage werden.<br />

In Europa breitet sich sie jedenfalls verstärkt<br />

aus, besonders für Streuobstwiesen<br />

wirddas immer öfter zum Problem. Dasmeldete<br />

der NABU und stellte ein ausführliches<br />

Infopapier ins Netz.<br />

Also fördert der vorweihnachtliche Mistelkauf<br />

nicht nur die besinnliche Stimmung<br />

und zwischenmenschliche Beziehungen,<br />

vertreibt böse Geister und verschönert die<br />

Wohnung, sondernist ökologisch betrachtet<br />

eine gute Tat. Wer braucht da noch einen<br />

Tannenzweig?<br />

Sabine Rohlf würde zu gern mit einer<br />

goldenen Sichel Misteln ernten. Leider<br />

gibt es in ihrem Schrebergarten keine.<br />

ISTOCKPHOTO<br />

BERLINER ENSEMBLE<br />

VonLea Streisand<br />

Alex in der Schneekugel<br />

BLZ/REEG<br />

Montagmorgen. Unsere Küche. Das Radio<br />

läuft. Werbung für dieses kalifornische<br />

Homesharing-Portal. Sie lassen jetzt<br />

<strong>Berliner</strong> ihreeigenenWohnungen anpreisen.<br />

Zumindest soll es so klingen. Ganz authentisch.<br />

Ein Charlottenburger erzählt in astreinem<br />

Hannoveraner Hochdeutsch, er empfehle<br />

seinen Gästen Restaurants.„Diefahren<br />

dann mit einer Plauze wieder nach Hause.<br />

Aber das ist doch ein schöneres Souvenir als<br />

so ein doofer Plastik-Alex.“<br />

Ich stutze. „Was ist denn ein Plastik-<br />

Alex?“, murmele ich. Gibt es einen Lego-<br />

Bausatz „Alexanderplatz“? Oder ist das eine<br />

Schneekugel mit Kaufhof, Weltzeituhr und<br />

Fernsehturm?<br />

Ich lasse das Messer sinken, mit dem ich<br />

mir gerade eine Stulle schmieren wollte.Mir<br />

schwant etwas.<br />

„Paul!“ rufe ich. „Samma, hat der Typin<br />

der Werbung den <strong>Berliner</strong> Fernsehturm gerade<br />

Alex genannt?!“<br />

„Ach so“, antwortet Paul. „Ich hatte das<br />

neulich schon gehörtund nicht mal verstanden,<br />

was der überhaupt meinte.“<br />

Ichbin fassungslos.Arbeiten Werbeagenturen<br />

wirklich so schlampig?<br />

Ich weiß, dass manche Touristen den<br />

Fernsehturm tatsächlich bei dem Namen<br />

nennen, den der Platz auf der anderen Seite<br />

der S-Bahn-Trasse 1805 anlässlich eines Besuches<br />

des russischen ZarenAlexander I. erhielt.<br />

Selbst wer das nicht weiß, sollte sich,<br />

sofernerseine Schulzeit nicht komplett verschlafen<br />

hat, zumindest wundern, wie ein in<br />

den 60ern gebauter Turm Namensgeber für<br />

einen Roman sein kann, den Alfred Döblin in<br />

den 20ernveröffentlichte.<br />

Ist esbloße Ignoranz, die dem Turm den<br />

Personennamen überhilft? Unüberlegtheit?<br />

Oder hat es damit zu tun, dass der Fernsehturm<br />

das Wahrzeichen der Hauptstadt der<br />

DDRwar und nun dasWahrzeichen der bundesdeutschen<br />

Hauptstadt ist und deshalb<br />

anders heißen muss?<br />

Ich hatte eine Diskussion mit einer Frau<br />

auf Twitter, die ab dieser Stelle nicht mehr<br />

mit mir reden wollte.Beim Thema DDR verstehen<br />

die Leute keinen Spaß. Besonders einige<br />

westdeutsche zugezogene <strong>Berliner</strong> offensichtlich<br />

nicht. Die Dame argumentierte<br />

mit der Veränderlichkeit von Sprache. Sie<br />

kenne viele zugezogene Schwaben und<br />

Franken, die das sagten.<br />

Ist die Radiowerbung für das Homesharing<br />

Portal also gar nicht falsch, sondern im<br />

Gegenteil sehr gut recherchiert,dasie genau<br />

die Arroganz der Leute zeigt, die glauben, ihnen<br />

gehöre die Welt, deshalb dürften sie sie<br />

auch neu benennen?<br />

„Alex“ ist ein Eigenname. Das lässt sich<br />

nicht diskutieren.<br />

Wenn ich „auf dem Alex“ stehe, dann befinde<br />

ich mich auf dem Platz, auf dem am 4.<br />

November 1989 die Demonstration stattfand,<br />

die die Wende besiegelte,mit bis zu einer<br />

Million Menschen, die an genau diesem<br />

Ort standen, dessen größenwahnsinnige<br />

Bombastigkeit zum ersten Mal seit der realsozialistischen<br />

Erweiterung eine Funktion<br />

hatte.<br />

Auf den Fernsehturm, welcher selbst übrigens<br />

„am Alex“ und gar nicht drauf steht,<br />

hätten die nämlich gar nicht alle raufgepasst.<br />

Dann wäreder einfach umgefallen.

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