Berliner Zeitung 08.12.2018
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 287 · 8 ./9. Dezember 2018 29 *<br />
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Feuilleton<br />
„Wir haben nicht die Fantasie, mit dem kostbaren Wohnraum vernünftig umzugehen“: VanBoLe-Mentzel.<br />
PAULUS PONIZAK<br />
lichkeit. DasCafé unten haben wir zu<br />
unserem Wohnzimmer erklärt, gegenüber<br />
gibt es ein Restaurant, das ist<br />
unsere Küche. Wir kochen fast nicht<br />
mehr, und wenn man nur 400 Euro<br />
Miete zahlt, kann man sich das auch<br />
leisten.Wirbunkernsoauch nichts in<br />
einem Riesenkühlschrank, und wir<br />
waschen im Waschsalon. Der Gleisdreieck-Park<br />
ist unser Garten. Wieso<br />
brauche ich einen eigenen?<br />
Deröffentliche Raum alsWohnraum?<br />
Wir alle müssen in den öffentlichen<br />
Raum. Anders geht es nicht. Das<br />
tut auch der Wirtschaft gut, dem Miteinander<br />
in den Kiezen, allem.<br />
Waswollen eigentlich alle in Berlin?<br />
Es gibt einen Grund, warum die<br />
Leute in die Stadt ziehen. Weil sie einen<br />
Ort suchen, an dem sie sich verwirklichen<br />
können. Weil sie die Möglichkeit<br />
suchen, auch anonym zu<br />
sein.Wenn du eine Idee hast und etwa<br />
einen Friseurladen eröffnen willst,<br />
dann machst du es einfach mal, und<br />
wenn es nicht funktioniert, bist du<br />
nicht gleich untendurch in der gesamten<br />
Dorfgemeinschaft.<br />
Ziehen die Leute nicht primär in die<br />
Stadt, weil sie dortarbeiten wollen?<br />
Nein. Sonst würden ja alle nach<br />
Wolfsburg ziehen oder nach Sindelfingen,<br />
da gibt es viel Arbeit. Aber wer<br />
will da hin? Die Leute wollen nach<br />
Berlin. Und zwar, weil sie sich verwirklichen<br />
wollen. Du kannst dich<br />
aber nur in einer Nachbarschaft verwirklichen,<br />
die divers ist. Mit verschiedenen<br />
Menschen, die verschiedene<br />
Rhythmen haben, die verschiedene<br />
Sachen machen, verschiedene<br />
Sachen träumen. In diesem bunten<br />
Schwarmkannst du mitschwimmen,<br />
ohne dich entscheiden zu müssen,<br />
was genau du wirst –esgeht da auch<br />
um Identität und das Ausprobieren<br />
verschiedener Identitäten.<br />
In einem Essay, den Sie auf Facebook<br />
veröffentlicht haben, fordern Sie<br />
„Lebenssiedlungen“ statt Wohnsiedlungen.Wieist<br />
das zu verstehen?<br />
Du musst dir das vorstellen wie<br />
verschiedene Bühnen, damit du verschiedene<br />
Theaterstücke spielen<br />
kannst: So eine Umgebung kann<br />
nicht in einer reinen Wohnsiedlung<br />
entstehen. Eine Siedlung sollte möglichst<br />
alles beinhalten, was auch eine<br />
Stadt ausmacht. Mit all der Reibung,<br />
die das ergibt: Wir müssen das Krankenhaus<br />
neben die Kfz-Werkstatt<br />
bauen, die Kita gleich neben dem<br />
Rotlichtbezirk und die Wohnungen<br />
direkt über die Clubs.Wir müssen das<br />
mischen. Dasist Stadt.<br />
Wiesoll dann so eine„Lebenssiedlung“<br />
aussehen?<br />
Ich habe ein Konzept entwickelt,<br />
das ich „Circular City“ nenne. Das<br />
sind Blöcke, 100 mal 100 Meter. Das<br />
erste Geschoss geht durchgängig<br />
durch den gesamten Block und ist<br />
ideal für alles, was hohe Decken<br />
braucht und nicht zwingend Fenster:<br />
Supermärkte,Gastro,Werkstätten, Industrie,<br />
Kinos, Museen, Theater, Diskotheken.<br />
Undauf fünf Meternist ein<br />
Deckel drauf. Darüber sind die von<br />
mir entworfenen„Wonderhomes“.<br />
Wonderhomes?<br />
DasWonderhome ist ganz schmal,<br />
du kannst es in der Halle vorbauen,<br />
das spartKosten –die kleinste Einheit<br />
wird350 Euro warmkosten. Zwei Meter<br />
zwanzig breit, aber wahnsinnig<br />
tief, sieben Meter. Du hast Fenster<br />
nach innen, du hast auch Fenster<br />
nach außen, aber die zeigen nicht auf<br />
die laute Straße,sondernauf das,was<br />
ich Co-Being-Space nenne,Architekten<br />
sagen Laubengang. Derist drei bis<br />
vier Meter breit, da ist viel Platz. Du<br />
musst es dir vorstellen wie einenWintergarten.<br />
Aber er ist auch Verkehrsfläche.Dakannst<br />
du auch einmal um<br />
den ganzen Block laufen.<br />
UndimInneren des Blocks?<br />
Drinnen hast du einen Park. Und<br />
diese Gärten sind miteinander verbunden,<br />
über sogenannte High Lines<br />
Dassind so Stege,dakannst du in den<br />
anderen Garten rüberjoggen. Die<br />
sind auf fünf MeternHöhe.Dukönntest<br />
jedem Garten auch ein Thema<br />
geben: Hier hast du einen Tiny-<br />
House-Garten, dort hast du Urban<br />
Gardening, ein anderer Garten gehört<br />
den staatlichen Museen, da stehen<br />
Skulpturen drin.<br />
Wie viele Leute sollen in einem Block<br />
wohnen?<br />
Das ist eine wichtige Frage, weil<br />
das bei den üblichenWohnsilos überhaupt<br />
nicht berücksichtigt wird: Damit<br />
so etwas wie Nachbarschaft entsteht,<br />
soziales Miteinander, brauchst<br />
du, das sagen Forscher, sozwischen<br />
370 und 740 Personen. Jedenfalls<br />
würden in so einem Circular-Block<br />
370 Wonderhomes auf vier Obergeschossen<br />
Platz finden. Das wären 23<br />
Wonderhomes proEtage.<br />
Dasist eine radikale Idee.<br />
Sehr sozialistisch gedacht. Und<br />
noch nicht bis zum Ende durchgedacht.<br />
Aber so ähnlich könnte es sein.<br />
Es sollten eben keine toten Wohnsiedlungen<br />
entstehen, sondern<br />
kleine,lebendige Stadtzentren.<br />
Wasmuss jetzt sofort unternommen<br />
werden, damit wir das Wohnraumproblem<br />
in den Griff bekommen?<br />
Man muss Experimente mutiger<br />
zulassen. So wie die Behörden mutig<br />
waren, Turnhallen zu öffnen, um vor<br />
Not flüchtende Menschen unterzubringen<br />
–sosollten wir neue Räume<br />
erobern und möglich machen. Nicht<br />
alles verbieten. Wir brauchen ein<br />
neuesVerständnis vonStadtnutzung.<br />
Wersoll das umsetzen?<br />
Als Politiker kannst du Ideen, die ja<br />
darauf basieren, dass man Wohnraum<br />
reduziert, nicht gutheißen, weil<br />
du so nicht wählbar bist. Aber bei einer<br />
Welt, die auf zehn Milliarden<br />
Menschen zugeht, ist es alternativlos.<br />
Gibt es wirklich gar keine Alternative?<br />
Nein. Denn nicht anders ist zu verstehen,<br />
dass Unternehmer wie Elon<br />
Musk oder Richard Branson nachdenken,<br />
auf den Mars zu fliegen.<br />
Wenn wir das Wohnraumproblem<br />
nicht in den Griff bekommen, müssen<br />
wir bald den Mars bevölkern. Ich<br />
will aber nicht auf den Mars weggentrifiziertwerden.<br />
DasGespräch führte Christian Seidl.<br />
Kurze Stücke<br />
voll Trotz und Euphorie<br />
Zum Toddes britischen Punkrockers Pete Shelley<br />
VonAndré Boße<br />
Nach einem Konzert saßen die<br />
Jungs vonden Buzzcocks einmal<br />
vor der Glotze, es lief die Verfilmung<br />
des Musicals „Guys And Dolls“ und<br />
eine der Figuren sagte: „Hast du dich<br />
schon mal in jemanden verliebt, in<br />
den du dich nicht verlieben solltest?“<br />
Pete Shelley, Songwriter der Band<br />
wusste sofort: das ist Refrainmaterial.<br />
Der Song „Ever Fallen In<br />
Love (With Someone You<br />
Shouldn’t’ve)“ wurde 1978<br />
zum größten Hit der<br />
Gruppe – auf dem Papier<br />
ein Punksong, aber wenn<br />
Shelley ihn sang, wurde<br />
daraus großer Pop.<br />
Pete Shelley stammte<br />
aus Manchester. Zwar<br />
wurde der Punk in London<br />
erfunden, doch zogen die<br />
Kerle aus dem Nordwesten Englands<br />
die richtigen Schlüsse daraus.Shelley<br />
war es, der 1976 die Sex Pistols in<br />
seine Stadt holte, und als sie zum<br />
zweiten Malkamen, spielte er mit seiner<br />
Band im Vorprogramm. Die frühen<br />
Buzzcocks spielten Songs über<br />
die Langeweile oder die Freuden der<br />
Masturbation –doch anders als die<br />
anderen Punks hatte die Gruppe wenig<br />
Zerstörerisches an sich. Siehatten<br />
Bock auf Melodien, als „Bubblegum<br />
Punk“ bezeichnete man sie,was Shelley<br />
als Lokalpatriot gar nicht schlimm<br />
Pete Shelley<br />
(1955–2018)<br />
AP<br />
fand, schließlich standen auch die<br />
Hollies aus Manchester für Bubblegum<br />
–und solche Popsongs wollte er<br />
spielen, nur schneller. Zum Vorbild<br />
nahmt er sich die Northern-Soul-Stücke,<br />
kurze Verliererdramen voll Trotz<br />
und Euphorie. „Shelley schrieb perfekte<br />
Drei-Minuten-Popsongs, der<br />
Soundtrack des Daseins als Teenager“,<br />
notierte Tim Burgess von den<br />
Charlatans nach Shelleys Tod.<br />
Auf der Schwelle zu den<br />
Achtzigern beendete Shelley<br />
die Buzzcocks mitten in<br />
Aufnahmen zum vierten<br />
Album und veröffentlichte<br />
mit „Homosapien“ ein Soloalbum,<br />
das mehr nach<br />
Club-Kultur als nach Punkrock-Schuppen<br />
klang. Es<br />
floppte damals, gilt heute<br />
aber als richtungsweisender<br />
Electro-Klassiker. Ende<br />
der Achtziger gründete Shelley die<br />
Buzzcocks neu, die Platten waren<br />
nicht mehr der Rede wert, aber die<br />
Gigs weiterhin Belege für die unendliche<br />
Energie perfekter Popsongs.2012<br />
zog Shelly nach Estland, dem Geburtsland<br />
seiner Frau. Dortstarb er in<br />
der Nacht auf den 6. Dezember vermutlich<br />
an einem Herzinfarkt. Ihr<br />
letztes Konzert spielten die Buzzcocks<br />
Ende August in Belfast, der<br />
letzte Song hieß „Harmony In My<br />
Head“: Kein anderer Titel wird dem<br />
Wirken vonPete Shelley gerechter.<br />
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